Über das Buch

Bücher haben ihre Schicksale – das des »Wundertäters III« wird hier dokumentiert.

Erwin Strittmatter stellte Auszüge aus seinen Tagebüchern zusammen, die die mehr als siebenjährige Vorgeschichte seines Romans beschreiben. Als er im Januar 1973 mit dem Diktat begann, wusste er, dass der Roman etliche Tabus der DDR-Geschichtsschreibung verletzen würde. Er schrieb, wie er schreiben musste: fünf Jahre in ständiger Anspannung und strengster Selbstkontrolle. In den Notizen sind diese Anstrengungen beeindruckend festgehalten, ebenso wie das qualvolle Warten auf die Druckgenehmigung, bis das Buch nach einer Odyssee durch die Instanzen 1980 dann doch noch zu seinen Lesern kam.

Über Erwin Strittmatter

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).

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Erwin Strittmatter

Die Lage in den Lüften

Aus Tagebüchern

Mit einem Interview Heinz Plavius – Erwin Strittmatter (1980)

Inhaltsübersicht

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1980

Interview Heinz Plavius – Erwin Strittmatter im Januar 1980

Impressum

Januar 1973

Bald nach Neujahr begannen wir mit Eva die Fabel für den dritten WUNDERTÄTER zusammenzusetzen. Wir fragten einander gegenseitig ab und versuchten dialektisch zu bauen, versuchten Selbstbetrug auszuschließen. Es gibt allerdings auch Doppelselbstbetrug, aber nicht so häufig.

19. Januar

Dieser Fabel-Aufriss für den Roman WUNDERTÄTER III umfasst einundzwanzig Schreibmaschinenseiten. An den Rand einer jeden Seite klebte ich ein leeres Blatt für Erweiterungen. Ein Fabelwesen von einer Fabel entstand. Jedenfalls sind wir seit TINKO nie wieder so sorgsam mit einer Fabel umgegangen.

25. Januar

Ich probiere Roman-Anfänge. Gestern versuchte ich es mit dem zweiten. Nach jedem Anfang muss ich etwas warten, bis er mir missfällt.

28. Januar

Ich las Eva die zweite Variante des Anfangs vor. Sie war nicht unzufrieden, aber auch nicht zufrieden. Eine Möglichkeit. Es werden noch bessere kommen.

31. Januar

Nach den Experimenten mit dem Anfang machte ich einen Anlauf für die Handlung. Die Schilderung einer Lokalredaktion in einem Braunkohlen-Ort in den fünfziger Jahren.

Zunächst versuche ich diesen Roman im Präsens zu schreiben. Er scheint mir dadurch mehr Tempo und Gegenwärtigkeit zu erhalten.

1. Februar

Nicht viel weitergekommen, musste mit Evchen in den Dorfkonsum fahren. Habe deshalb bisher nur an dem vorhandenen Text herumkorrigiert.

2. Februar

Wieder ein Stück auf Band diktiert, auch ein Stück vom Band abgeschrieben. Das Gespräch, das Stanislaus mit der Frau eines alten Genossen auf der Redaktionstreppe führt. Der Inhalt der Urfaust-Rezension, der Auftritt des Mephistodarstellers in der Redaktion. Alles noch wenig pointiert und geschmeidig.

Obwohl man weiß, dass noch mehrmals umgearbeitet wird, dass Passagen, die nicht passen, später wegfallen, hat man anfangs beim Schreiben eines Romans die Vorstellung, etwas Endgültiges, Unabänderliches zu tun. Eine unangenehme Hürde, die man täglich nehmen muss.

3. Februar

Nur eine Schreibmaschinenseite Band handschriftlich korrigiert.

Die Szene mit dem Mephisto-Darsteller behagte mir noch nicht. Im Gange des Tages traf ein Verbesserungseinfall ein. Die neue Methode fängt mir an zu gefallen. Man hat eine gesicherte Fabel. Man kann sich Zeit, viel Zeit lassen. Ein gutes Gefühl.

4. Februar

Mit dem Roman eine Seite weitergekommen. Ein Einfall: Der Redaktionskurier, ein ausgedienter Eisenbahner, verlangte in das Ensemble der neuen Romanfiguren aufgenommen zu werden. Ich war ihm zu Willen.

Dass gleiche Gedanken über bestimmte Phänomene und Gegenstände bei mir und bei anderen gleichzeitig oder nacheinander auftauchen, sollte eigentlich beweisen, dass es eine Gedankenlandschaft gibt, in der wir pflückend umhergehen, und dass einer pflückt, wo auch schon ein anderer pflückte.

9. Februar

Zwei Seiten ins Rohe geschrieben. Es geht langsam, aber die Seiten des Anfangs sind bei mir immer die schwierigsten, weil ich möchte, dass sie das Stadium der Endgültigkeit erreichen.

10. Februar

Die erste Seite wieder dramaturgisch umgestellt. Den nächtlichen Auftritt des Redaktions-Kuriers szenisch bearbeitet und an den Anfang des Romans gestellt.

Mann o Mann, wie rinnen dir die Tage unter den Füßen weg, und immer die Frage, ob du sie genügend nutztest, Erkenntnisse zu machen.

11. Februar

Ich las L. und J. ein paar Seiten vor und bemerkte, welch ein Wunder immer wieder!, beim lauten Vorlesen die Schwäche des bisher Geschriebenen. Es wird zu lang geschildert, ohne dass die Schilderung von Handlung unterbrochen wird. Ich muss also wieder zertrümmern und Handlung und Schilderung mischen.

Sich stets vergegenwärtigen, dass alle Dinge, Zustände und Menschen eine Innen- und eine Außenseite haben.

14. Februar

Zwei Tage keinen Strich am Roman gemacht, aber in Gedanken bin ich gar oft in dem neuen Arbeits-Zuhause.

15. Februar

Mit Mühe die ersten fünf Seiten umdiktiert und abgeschrieben. Dann musste ich in den Konsumladen ins Dorf. Evchen musste Kuchen holen für einen Besuch, der sich angemeldet hat.

21. Februar

All die Tage nichts am Roman getan. Ein Interview mit Plavius machte sich wichtig. Auch das Redigieren eines Diskussionsbeitrages in Sachen Literaturkritik, schließlich ein Nachdruck der BLAUEN NACHTIGALL, der durchgesehen werden musste für die Aufnahme in eine Anthologie.

Aber ist das eigentlich stichhaltig? Hätte ich nicht auch diese Art von Abhaltungen beiseite geschoben, wenn ich mit dem Roman schon im Schwunge gewesen wäre?

23. Februar

Seit zwei Tagen hämmere ich wieder am Roman. Wieder sieht es so aus, als ob an den ersten vier Seiten nichts mehr zu bessern wäre. Bis übermorgen vielleicht.

24. Februar

Der Anfang des Romans, wie er nun dasteht, hält schon den zweiten Tag stand. Ich kann weitergehen und neue Szenen erfinden. Der Fehler der bisherigen Anfänge war: Handlung und Milieubeschreibung waren zu wenig kontrapunktisch.

Die leisen Erschütterungen, die meine Holzschuhe der Erdoberfläche beibringen, können nicht verloren sein. Wenn wir annehmen, dass sie doch verloren sind, lassen wir uns von der Masse, die der Erdball ist, zu Denkfehlern verleiten. Schwingungen, ob groß, ob klein, ob laut, ob leise, setzen sich fort.

25. Februar

Endlich aus dem Buddel des Anfangs heraus. Nun kann es fließen und muss auch.

Soeben wirds hell. Es liegt eine dünne Schicht Schnee auf dem gefrorenen Erdreich, mehr grau als weiß. Im Hochwald erwacht die Amsel, zetert eine Weile und singt dann. Die erste Amsel dieses Frühlings.

26. Februar

Hab erwogen, ob ich den Roman nicht wieder mit einem Vorspiel beginnen lasse. Für ein erstes Kapitel wird die Einführung zu umfangreich, jedenfalls ein Stückchen weitergekommen.

Wie eng die Erde dem Menschen auch mit der Zeit werden möge – für Gedanken wird immer noch Platz sein.

28. Februar

Ein Stück weitergekommen. Den Anfang werde ich doch Vorspiel nennen. Morgen wird das Vorspiel fertig sein. Die erste kleine Etappe! Ich habe die Braunkohlenstadt in Gedanken so auf- und ausgebaut, dass das Kulissenmachen einfach sein dürfte.

Das merkt euch: Ein Sechzigjähriger hats mit nichts mehr eilig, sogar mit dem Sterben nicht.

2. März

Das Vorspiel Eva und den Jungen vorgelesen. Dabei entdeckte ich einige Längen und kleine dramaturgische Ungeschicklichkeiten. Ich ging an die Arbeit.

Die beiden vorabgedruckten Passagen des WUNDERTÄTER II in der NDL beginnen in der Öffentlichkeit zu wirken.

Verfolge dein Ziel Tag für Tag beharrlich! Mögen die Worte, mit denen das gesagt wird, konventionell wirken, es gibt nur diesen Weg, zu dir selber zu kommen.

3. März

Jetzt stehen die ersten fünfzehn Seiten. Es kann sich nur um einzelne Worte handeln, die hie und da ausgetauscht werden müssen. Ich war zufrieden, als ich mir den Text vom Band entgegenspielte.

Sobald du einen Weg betrittst, bist du mit allen Wegen, die die Erde wie ein Netz überziehen, verbunden.

8. März

Einige Tage nicht am Roman gearbeitet. Das Vorspiel befriedigt mich noch immer.

Mit dem Diktieren des ersten Kapitels begonnen. Von jetzt an will ich nicht mehr selber vom Band abschreiben, sondern ein Band besprechen und es in Berlin abschreiben lassen. Die erübrigte Zeit will ich nutzen, um Briefschulden abzutragen.

Die Erde ist ein Wandelstern, und nur Grobgesinnte können behaupten, ein Tag sei wie der andere.

9. März

Ein Stück weiter diktiert. Bevor ich mit dem Diktat beginne, weiß ich nicht, wie die Handlung weiterläuft. Dann aber ists, als ob ich mit scharfen Gedanken das Reservoir anbohre, in dem sich der Roman (im Weltraum) befindet.

10. März

Am Tage nicht zum Schreiben gekommen. Plötzlich gabs starke Zahnschmerzen bei Jakob, mit dem Auto am halben Vormittag in die Poliklinik nach Gransee. Dafür diktierte ich abends noch ein Stück. Das strengt mich mehr an als ein Diktat am Morgen. Ich konnte nicht einschlafen, musste damit rechnen, dass auch die Produktion des nächsten Tages ausfallen würde. Ich nahm ein Schlafmittel.

Was ich am Abend diktierte, kam mir allzu sachlich vor. Ich weiß kein anderes Wort. Der Passus vom Abend wies wenig interessante (oder originelle?) Ecken auf.

11. März

Ein Stück Roman auf Tonband diktiert. Sobald ich mir den Apparat über die Schulter hänge und rundum im Zimmer zu gehen beginne, fließt heran, was ich für den Fortgang der Handlung benötige. Es ist jetzt mein Spaß, auf das neugierig zu sein, was da kommt.

Man kann Stunden seiner Lebenszeit damit verbringen, verfahrene Zustände und Mängel zu kennzeichnen, aber das ist, als ob man überhöhte Preise von Waren nennt, die man sich sowieso nicht kaufen kann.

15. März

Ich las zwölf Seiten vom Band Abgeschriebenes. Es kam mir gespreizt und umständlich vor. Ich ging sogleich mit Bleistift und Radiergummi hinein und hatte erst Ruhe, als drei Seiten so waren, wie ich sie mir wünschte. Zunächst natürlich.

16. März

Ein Stück weiter diktiert. Aris Flaschenhalsabtrinken, die Beschäftigung der Redakteure mit dem FAUST.

Seite sechs bis neun vom ersten Kapitel nach der Abschrift korrigiert. Es geht langsam, aber es geht weiter.

Es gibt Kräfte, die wir nicht benutzen können, wenn wir uns verkrampfen und Willen demonstrieren. Der wirkliche Wille ist das Zusammenklingen unserer Absichten mit unbekannten Kräften. Wenn wir uns ihnen entspannt und mit etwas Geduld überlassen, gelingt uns manches.

17. März

Etwas weiterdiktiert. Ich fürchtete, alles dreht sich zu sehr auf der Stelle.

Die Befürchtung erwies sich als unberechtigt. Drei Seiten Abschrift gestrafft und korrigiert.

Ich sehe nicht mehr, dass der Mensch die Erde beherrscht, sondern sehe nur, dass er sich in seiner Überheblichkeit in die Funktionen der Erde einmischt und deren Ablauf stört. Die Erde ist weiser als wir. Eines Tages wälzt und schüttelt sich dieses weise Ungeheuer und zerquetscht seine menschlichen Parasiten.

18. März

Weiter auf Band diktiert. Drei Seiten Abgeschriebenes korrigiert. Die Arbeit strengte mich an. Ich war müde. Das Herz arbeitete zu langsam. Föhnwind.

Noch mehr auf die stillen Kräfte aus sein, sich dazu stille und wartend verhalten. Der Wille soll nur reden, wenn das nächste geistige Ziel deutlich erkannt ist.

20. März

Weiter diktiert. Versucht, den Unterschied zwischen Durchgeistigung und Intellektualisierung in der Romanhandlung sichtbar zu machen, gutes Gefühl in bezug aufs Gelingen. Die Ärztin in Kohlhalden macht sich zu einer wichtigeren Figur, als vorgesehen war.

Wir geben viel halbgare Gedanken mit unserem täglichen Geschwätz aus. Man sollte jedesmal, wenn man den Mund zum Reden öffnen möchte, erwägen, ob sich nicht von allein versteht, was man sagen will.

21. März

Ein Stück weiterdiktiert. Leise Zweifel, ob nicht alles zu intellektuell wird. Eine knappe Seite Tonbandabschrift korrigiert.

Denk nicht, das Leben käme ohne dich aus. Es ist nicht gewohnt, mit Lücken zu arbeiten. Aber ob du etwas mehr bist als ein Lückenfüller, liegt an dir. Da liegt deine Freiheit.

22. März

Weiterdiktiert. Das erste Erscheinen des Meisterfauns im dritten Band. Eine Episode ergibt sich aus der anderen, wie es zu sein hat. Wichtig ist, sich Leichtigkeit zu bewahren und daran zu denken, dass alles ausstreichbar ist.

Im Tierreich kann es keinen Teufel geben. Nur der Mensch ist mit Fluch und Segen versehen.

23. März

Weiter diktiert. Mir ist unbehaglich. Die Handlung scheint auf der Stelle zu stehen. Stanislaus muss jetzt einen Roman schreiben. Die Handlung muss von den Redakteurs-Alltäglichkeiten weg. Ich weiß noch nicht, wie das umzusetzen sein wird und wie man in diesem Falle Zeit macht.

Die Hauptsache: Jetzt nicht zum Stillstand kommen. Nicht Vorwände suchen und finden, die Arbeit liegenzulassen.

Man darf Wunder vom Leben erwarten. Allerdings sehen sie nicht so aus, wie man sie sich in der Jugend vorstellt. Wenn man nicht schweigend aufmerkt und auf sie passt, kanns geschehen, dass sie uns ganz und gar entgehen.

24. März

Weiter diktiert. Ich hoffe, die drohende Erstarrung zerbrochen zu haben. Beim Diktieren des zweiten WUNDERTÄTERS benötigte ich für das Besprechen eines Stundentonbandes vier Tage. Jetzt lasse ich mir Zeit, höre mir das am Vortage Diktierte an und gehe auch während des Diktats immer mal wieder zurück. Mithin benötige ich für das Stundentonband an vierzehn Tage.

Ein Buch soll wie ein Blitz sein, die in vielen Tagen, Wochen, Monaten und Jahren komprimierte Energie eines Menschen, die als Zündfunke in die Menge der Leser fährt.

27. März

Die Tonbandaufnahmen vom 25. und 26. März waren auf dem kleinen Tonband nicht auffindbar. Der Apparat muss versagt haben.

Ironie: Es war auch ein kleines Loblied auf eben diesen Apparat unter den Diktaten. Er tat jetzt zwei Jahre Dienst, ohne zu versagen.

Die ersten Seiten des ersten Kapitels zu Ende korrigiert und auf Band gesprochen, weil der korrigierte Text, den ich zum Abschreiben nach Berlin schickte, verlorengehen könnte.

28. März

Das erste Mal (in diesem Jahr) im Wald diktiert. Ich hatte das kleine Taschen-Tonbandgerät bei mir. Wildtauben gurren dazu, und die Heidelerche säumt jeden Satz mit Gesang. Daheim umdiktiert, aufs größere Band. Zufrieden.

Wenn die Räume zwischen den Himmelskörpern von Antimaterie gefüllt sind, bewahrheitet sich, was ich als Junge schon dachte: Das Weltall ist ein Gewebe, und Kontakte, die wir noch in den Bereich der Metaphysik verweisen, sind erklärbar. Die Dummheit besteht darin, dass man erst glauben darf, wenn die Wissenschaft es gestattet.

29. März

Wieder im Wald diktiert. Unterwegs sah ich zum ersten Male den Paarungstanz der Buntspechte. Ich diktierte die Passage, in der sich Stanislaus eine Kaninchenhöhle gräbt. Von dort aus beobachtet er die Tiere. Ich konnte den Paarungstanz der Buntspechte, den ich zum ersten Mal im Leben gesehen hatte, gleich in die Handlung hineinnehmen. Das Umdiktieren von Band zu Band lässt sich nicht übel an.

Die meisten unserer Pflichten sind eingebildete. Mit ihrer Hilfe (oder unter ihrem Schutze) weichen wir unserer Hauptpflicht, Erkenntnisse zu machen, aus.

30. März

Trotz Abhaltungen eine halbe Spule Tonband volldiktiert. Es müsste etwa drei Schreibmaschinenseiten ausmachen. Mit der Übertragung aufs größere Band macht es sich nach wie vor gut.

Am Abend Eva das bisher Vordiktierte vorgespielt. Nicht schlecht. Über den endgültigen Charakter der Doktorin Sawade habe ich noch keine Klarheit.

Sie prognostizieren dies, sie prognostizieren das, bestimmen im voraus, wieviel Getreide sie 1985 ernten werden und wie viele Autos zu dieser Zeit unsere Landstraßen unbegehbar gemacht haben werden. Aber ein paar Hagelstürme, ein Erdbeben, und ihre Prognostik war nichts als ein Beschäftigungsspiel, doch sie behaupten weiter: Wir werden auch die Gewitter in die Hand bekommen. Aber, was sie in der Hand haben: Das Gewitter in ihrem Nachttopf.

31. März

Weiterdiktiert und umdiktiert. Ich denke tagsüber oft an kleine, in der Fabel nicht aufgeführte Details des Romans. Das tat ich früher nicht. Ich begann erst zu konzipieren, wenn ich vor der Schreibarbeit saß.

1. April

Trotz der üblichen Sonnabendfahrt in den Dorfkonsum mein Pensum diktiert und umdiktiert.

Abends die am Vormittag diktierten Passagen aus der Kindheit abgespielt. Die Handlung läuft gut.

Erwogen, ob man nicht mit drei bis fünf Sätzen das gleiche aussagen könnte.

Die Absicht verworfen. In dieser Verkürzung ginge den Episoden ihre Beweiskraft verloren.

3. April

Weiter diktiert. Stanislaus sucht Lesepublikum. Er liest der Wetterzeube, Ramona und Frau Doktorin Sawade vor.

Erst am Abend zum Umdiktieren gekommen, weil ein Freund ins Diktat hineinplatzte.

Meine Achtung vor den Vertretern der Wissenschaft wird geringer und geringer. Diesen oder jenen Wissenschaftler achte ich zwar als Persönlichkeit, aber den meisten ist jene dummerhafte Überschätzung ihres Tuns eigen, und die meisten liefern ihre Forschungsergebnisse ab, ohne sich darum zu kümmern, in welcher Weise sie in der Wirtschaft oder im Kriegswesen missbraucht werden. Da kann man doch keinen Respekt mehr haben.

3. April

Weiter diktiert. Die Jugendweihe der Enkelkinder bei den Steils. Das Gefühl gehabt, eine Spinne zu sein, die ihr Netz webt, die ihre Strebfäden nach allen Seiten ausspannt und die nun diese Strebfäden mit dem ersten Rund verbindet.

Flecke auf der Sonne lösen Wirbelstürme auf der Erde aus. Wirbelsturm entwurzelt einen Baum. Der entwurzelte Baum erschlägt einen Menschen. Wieso hatte der Stern Sonne nichts mit dem Schicksal des erschlagenen Menschen zu tun?

8. April

Nichts am Roman getan. Die Figuren werden sich meiner entwöhnen.

Ein eigenes Innenreich haben, in dem man herrscht, dennoch menschenfreundlich sein, anderen die Einreise in dieses Reich nicht verwehren, aber durch Ignorieren annullieren, was stört.

9. April

Knapp eine Seite Bleistiftkorrektur, nur dass ich die Arbeit einmal berührte, um den Kontakt nicht zu verlieren.

Draußen: Klassischer Apriltag mit allen Niederschlags- und Windformen eines Vorfrühlings. Das Plus: Niemals ists am Himmel so lebendig, nie sind die Wolkenkonstellationen so mannigfaltig wie an solchen Tagen.

Die erste Morchel.

10. April

Zwei Seiten Bleistiftkorrektur. Tagespensum auf Tonband diktiert. An eine matte Stelle gekommen. Es wird ein Schnitt nötig sein.

Picasso gestorben.

Nichtstun und Unterhaltung strengen mich an; bei der Arbeit ruhe ich mich aus, sagte er einmal.

Das dürfte in jedem Falle so sein, in dem Beruf und Berufung zusammenfallen.

Je mehr wir uns der Pseudozivilisation verschreiben, desto weniger werden Beruf und Berufung der Menschen aufeinanderfallen. Daraus resultiert das Unbehagen der Jugend.

11. April

Etwa eine Seite Bleistiftkorrektur. Das Pensum vom Vortag vom kleinen auf den größeren Tonbandapparat umdiktiert. Die Fabel vorgenommen und über den weiteren Lauf der Handlung nachgedacht.

Im Nachruf der Kommunistischen Partei Frankreich für Picasso heißt es: Es wird der Partei immer zur hohen Ehre gereichen, dass ihr ein Mann und ein Künstler wie Picasso angehörte. Kurt Hager in einer Sitzung zu Schriftstellern: Ihr müsst bedenken, dass ihr alles, was ihr seid, durch die Partei seid.

Das erste – klassischer Kommunismus.

Das zweite – Stalinismus.

15. April

Mein Pensum abdiktiert, dabei über die Kahlschläge hinter den Dorfwiesen gewandert und nebenbei Morcheln gesammelt, einen Milan gesehen. Am Abend umdiktiert.

16. April

Nichts am Roman getan, Sonntag gefeiert, Beethoven-Klaviersonaten gehört, das Pflichtbewusstsein abgeschaltet.

Man sagt, der Sozialismus hat das Stadium der Utopie verlassen, man hätte ihn in die Wissenschaft erhoben. Aber wo kämen unsere Oberfunktionäre hin, wenn das stimmte?

17. April

Tagespensum im Wald diktiert. Abends umdiktiert. Wenn ich auch die strenge Übersicht dadurch, dass das Unabgeschriebene unterwegs ist, ein wenig verlor, neues Material, das man weiter bearbeiten kann, kommt doch jedesmal beim Diktieren dazu.

Eine Studentenfrau aus Magdeburg schrieb: Sie und ihr Mann wären Studenten im dritten Studienjahr, drei Jahre verheiratet, beide Verehrer meiner Bücher. Nunmehr hätten sie sich veruneinigt, der Mann hätte sie noch gern, doch er hätte Prinzipien, wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben. Nur eines könne ihre Ehe wieder glücklich machen, schreibt die Studentin, wenn sie ihrem Mann den zweiten Teil des WUNDERTÄTERS vorzeitig verschaffen könne. Im Monat Juli, wenn der WUNDERTÄTER II im Verkauf wäre, käme er wahrscheinlich zu spät.

Liegt hier ein Trick von Geheimdienstleuten vor, an ein Manuskript zu kommen?

20. April

Korrektur gelesen, aber vom WUNDERTÄTER II. Am Frühabend brachte ein Autobote die ersten einhundertachtundzwanzig Seiten Fahnenabzug vom Verlag. Der größere Rest soll nach Ostern, das heißt, am fünfundzwanzigsten April folgen. Am zweiten Mai aber wollen wir nach Ungarn. Leider, leider habe ich es übernommen, für die Akademie dort hinzureisen. Ich weiß nicht, ob ich die gesamte Korrektur vor der Ungarnfahrt schaffe.

Mit welcher Macht dich auch der von Menschen veranstaltete Wirrwarr umbrandet, erhalte dir im Innern eine stille Stelle, von der du nicht weichst, von der aus du dem Wirrwarr entgegentrittst und ihn geistig überwältigst.

21. April

Den ganzen Tag an den Korrekturfahnen für WUNDERTÄTER II gesessen. Viele Druckfehler, die Arbeit vieler unqualifizierter Setzer. In der Polygraphie fehlen die Leute. Wir bildeten keine aus, Planfehler. Ein Planfehler nach dem anderen. Die Parteigelehrten fangen an zu beweisen, dass die Planfehler (das heißt, die Unfähigkeiten) zum Sozialismus gehören. Stark!

22. April

(Ostern.) Mit den vorläufig vorhandenen Korrekturfahnen des WUNDERTÄTER II fertiggeworden. In den Wald gegangen und das Pensum für WUNDERTÄTER III diktiert. Am Abend umdiktiert. Großes Bedauern, dass ich nun nach Ungarn fahren muss und dass die Arbeit am Roman mindestens einen Monat ruhen wird.

26. April

Weitere Druckfahnen sind vom WUNDERTÄTER II eingetroffen. In den nächsten Tagen werde ich vor diesen Fahnen sitzen und den Druckmaschinen meine Opfer bringen.

27. April

Müde von der strapaziösen Autofahrerei am Vortage schlafe ich beim Korrigieren ein. Druckfehler über Druckfehler. Man arbeitet in der Polygraphie mit ausländischen Hilfskräften, heißt es. Vorwärts zum Sieg des Sozialismus!

28. April

Den ganzen Tag vor den Korrekturfahnen vom WUNDERTÄTER II gesessen. Wenn der Schlaf kam, schnell etwas anderes getan.

29. April

Druckfahnen korrigieren. WUNDERTÄTER II. Die Welt verschwindet hinter Buchstaben, der Inhalt des Buches aber hält stand. Nun kommts drauf an, selber standzuhalten, wenn die Kritiker anfahren werden.

30. April

Mit der Durchsicht der Druckfahnen für WUNDERTÄTER II fertig geworden. Überanstrengt, zanksüchtig.

Allen geistigen Schwingungen nähere dich, allen ungeistigen Schwingungen entziehe dich. Alles andere regelt sich von selber.

26. Mai

Im NEUEN DEUTSCHLAND besprach Dr. Simon die Mainummer der NDL. Das Interview, das ich Dr. Plavius in Sachen Literatur und Kulturpolitik gab, wurde nicht erwähnt. Es hat also Missfallen erregt. Sie verschweigen mich schon wieder.

5. Juni

Am 20. Juli soll nun endlich der Auslieferungstermin für den zweiten WUNDERTÄTER sein, wurde mir geschrieben.

6. Juni

Auch ohne Romanschreiben vergeht die Zeit, die man noch zu leben hat. Sie fliegt in kleinen Fetzen davon. Langsam kriechen die Vorwürfe heran: Gibst du deine schönen letzten Jahre nicht zu billig aus?

Es eilig haben, heißt eine Sache überbewerten, heißt sein Leben falsch führen.

14. Juni

Wovon soll ich schreiben, da ich nicht schreibe? Soll ich davon schreiben, wie mir beim Morgengang mit dem Hund die Frische durch die weißblau gestreifte Packerjacke dringt und dass Frische etwas anderes ist als Kühle? Wie der Tau an den Grasknospen hängt und die Halme herunterzieht? Wie leichtes Reifgrau über den Wiesen liegt und dass es dem verletzlichen Grau gleicht, das reifenden Hauspflaumen im Frühherbst eigen ist? Wie meine Hände sich wohlfühlen, wenn sie in die Grashaufen auf der Tenne fahren und das Gras in den Korb aus Weidenruten packen und portionsweise an die Kaninchen verfüttern? Wie ein kleiner Rosenstrauch, einer von den Hunderten der Hecke, mich morgens bei den Freiübungen auf sich aufmerksam macht und zu sich lockt, weil er überschüttet ist von kleinen, vergänglichen Rosensternen? Wie die Krähen das Anwesen kontrollieren und sich davonmachen und nicht wiederkommen, wenn ich morgens als erster aus der Haustür trete und in meinen holländischen Klompen durch den zweiten auf den ersten Hof gehe? Alles das geschieht jeden Tag, und jeden Tag ein wenig anders, und es wird noch zu beschreiben sein, wie es im Pferdestall ist, wenn man morgens hineingeht.

25. Juni

Ich sah nach Monaten wieder in den dritten WUNDERTÄTER hinein. Am Vorspiel nichts auszusetzen. Am ersten Kapitel werden Straffungen nötig. Die folgenden Seiten müssen umdiktiert werden. Ein entscheidender Tag.

26. Juni

So ist es immer: Sobald ich mich aufs neue in die Arbeit bohre, entdecke ich unelegante Stellen. Jetzt entdecke ich eine im Vorspiel, das mir gestern noch gefiel. Jedenfalls versuche ich die Stellen, die mir nicht mehr zusagen, auf die erforderliche Eleganz zu bringen. Man kommt aus der Übung, wenn man längere Zeit aus der eigentlichen Arbeit heraus war.

27. Juni

Mich in den Roman hineingebohrt. Elegantere Wendungen für holprige Stellen und Passagen fallen mir schon wieder schneller ein. Die Arbeit fängt an zu schmecken.

In den Sitzungen, an denen ich teilnehme, bin ich der Mensch, der ich vor fünfundzwanzig Jahren war.

30. Juni

Ein wenig gefeilt und gestrafft, noch mal zum Anfang vorgegangen, aber das war beim zweiten Band auch so. Wie oft habe ich da den Anfang umgeschrieben!

Das Adjektiv lihmig, das wir in der Heimat verwendeten, wenn wir ausdrücken wollten, eine Flüssigkeit sei trüb oder undurchsichtig, heißt hier an der Grenze Mecklenburgs löhmerig. Man erkennt die Ableitung von lehmig, eine mit Lehm versetzte Flüssigkeit also.

Das Adjektiv steht weder im DUDEN noch im DORNSEIF. Ein solches Totschweigen plastischer Wörter, weil sie aus Mundarten stammen, macht mich unglücklich, beunruhigt mich.

2. Juli

Feil-Arbeit am Roman. Bin in kurzer Zeit ein großes Stück weitergekommen, weil ich mich nicht verkrampfe. Nachmittags eine Weile Romankorrektur abgeschrieben.

Trachte, dass dein Panzer gegen das Uneigentliche täglich stärker wird!

Ich suchte im zweiten WUNDERTÄTER nach einer Passage zum Vorlesen in Weimar und wurde mir nicht schlüssig. Eva half mir. Sie las laut vor, und wenn sie liest, werde ich zu einem wirklichen Zuhörer. Die Verfremdung wird vollkommen. Ich erlange Objektivität meiner Arbeit gegenüber. Wir einigten uns fürs Vorlesen auf jene Stelle des Romans: Stanislaus’ Drama DEIN LÄCHELN ROSARIA wird aufgeführt.

Ferner fanden wir den Anfang des dritten WUNDERTÄTERS, den wir gleichfalls fürs Weimar-Vorhaben überprüften, nicht mehr in Ordnung und beschlossen, ihn vom Präsens ins Imperfekt zu übertragen.

Dabei waren wir uns vor Monaten darüber einig: Der dritte WUNDERTÄTER sollte im Präsens geschrieben werden, um ihn in eine aktuelle Sphäre zu transponieren. Aber nun fanden wir mit eins wieder: Das Imperfekt produziert mehr epischen Charakter, und was erzählt wird, gerät politisch unanfechtbarer, weil es besonders für Literaturunkundige in der Vergangenheit liegt und den Autor gegen Dummschlaue schützt.

16. Juli

Wieder mit dem Romananfang begonnen. Auf Evas Ausstellungen eingegangen. Ich versuche, wenigstens jetzt, am Anfang, etwas weniger knapp zu sein. Vielleicht gelingts, das Aussehen von Ungemachtheit zu erlangen.

Ich lasse mich treiben und versuche die Leichtigkeit zu gewinnen, die man an Ferientagen produziert.

17. Juli

Die ersten drei Seiten des WUNDERTÄTER III scheinen mir nunmehr die Haltung auszudrücken: Geht her, setzt euch, ich will euch was erzählen.

Mit den folgenden Seiten wird nur nötig sein, sie ins Imperfekt zu übertragen. Das Merkwürdige daran: Wie viele Male ging nun schon Befriedigung von den Seiten dieses Vorspiels aus, und sie währte doch niemals lange.

19. Juli

Mit dem Roman ein Stückchen weitergekommen. Die Arbeit fängt an, wieder Spaß zu machen. Ich glaube Eleganz zu erkennen. Die Frage: Wie lange?

Eine der größten Denkverkehrtheiten im Menschenleben, zu glauben, keine Zeit zu haben: nicht warten können.

23. Juli

Aus der Arbeit am Roman wurde nicht viel, aber an sich fängt mir die Arbeit immer mehr an Spaß zu machen. Das Vorspiel ist gründlich überarbeitet.

Er sagt zwar, was er denkt, aber er denkt nicht, was er sagt.

24. Juli

Wenn Gedanken, die man anderen einpflanzen möchte, erst einmal von diesen anderen besichtigt werden sollen, müssen sie sprachlich logisch formuliert sein. Ihr Wortkleid muss die Hand des Aussenders verraten. Überdies sollen sie entweder durch Kürze und Prägnanz überraschen oder mit Musikalität bestechen. Von diesen Forderungen kann ich mich (noch?) nicht lösen, obwohl ich weiß, dass für große Gedanken solche Äußerlichkeiten nicht erforderlich sind. Auch Jakob Böhme, der Görlitzer Schuhmacher, stammelt, spricht zuweilen gespreizt und wenig deutlich, aber wer sich müht, kommt doch hinter seine Gedanken und seine inneren Erlebnisse.

Vielleicht ist die Arbeit, die ich an meine Schreibereien wende, ein Zugeständnis an die Zeit, in der ich lebe, ein Trick, eine Falle, um die hastenden Menschen unserer Überzivilisation erfolgreicher auf das aufmerksam zu machen, was ich zu sagen zu haben glaube.

26. Juli

Jetzt sind das Vorspiel und das erste Kapitel des Romans überarbeitet. Ich spüre, dass sie unterderhand die Diktion der BLAUEN NACHTIGALL-GESCHICHTEN annahmen. Die Diktion, die ich schon in den zweiten WUNDERTÄTER hinübernehmen wollte, aber ich war damals bereits zu weit in diesem Wundertäterteil drinnen, der war schon selbstherrlich und ließ nicht zu, dass ich etwas von dem Schmetterlingspastell der BLAUEN NACHTIGALL-GESCHICHTEN auf ihn übertrug.

Jetzt beginnt das Neusichten und Neuanordnen des Materials, von dem schon neunzig Seiten vorliegen, und ich stecke in dem Zustand, in dem ich, wo ich auch bin und was ich auch tue, am Roman arbeite. Die herrliche, qualvolle Zeit! Der Zustand, der stets auch von der Eifersucht überlagert ist, dieses Im-Roman-Sein nicht durch dumme Tagesforderungen zu verlieren.

27. Juli

Ein entscheidender Tag: Das Vorspiel, das erste Kapitel und die ersten Seiten des zweiten Kapitels sind überarbeitet. Eva las am Abend vor. Meine erste Überprüfungsmöglichkeit. Die Melodie ist gefunden. Der Stoff schien wirklich die Melodie der NACHTIGALL-GESCHICHTEN zu verlangen, oder es ist die Melodie meiner jetzigen Lebensperiode. Glücksgefühl für einige Stunden.

28. Juli

Zwei Seiten an der Romanhandlung weitergebaut, das Rohmaterial verwendet, das ich vor Monaten diktierte. Es war wirklich nur Rohmaterial, wie sich herausstellte.

Du wirst an vier Blumengärten nicht mehr Freude haben als an einem. Freude entsteht, wenn du dich innig auf die Dinge einlässt, die sie dir geben sollen.

29. Juli

Die am Vortage umdiktierten zwei Seiten perfekt gemacht. Dabei fiel mir ein, dass man den Meisterfaun wieder einmal auftreten lassen könnte. Er sollte jetzt die Figur eines Genossen mit Schlips, Kragen, Maßanzug und Parteiabzeichen annehmen und Stanislaus im Sinne eines Funktionärideals belehren. Das wäre das Rechte für Stanislaus’ innere Verfassung, denn er ist in der Partei, ist Tugendwächter, sitzt in der Redaktion der Parteizeitung, und sein Ideal ist: Der vollkommene Genosse.

31. Juli

WUNDERTÄTER II. Ich machte mir ein Vergnügen daraus, das neue Buch mal hier und mal dort aufzuschlagen und mich ein Stück hineinzulesen. Es hielt stand. Ich fand (noch) keine Stelle, die ich heute anders gemacht hätte.

Ich weiß noch nicht, ob ich die Kraft haben werde, die Kritiken in Zeitungen und Zeitschriften ungelesen zu lassen. Am besten wärs, ich ließe es bleiben. Ich bin von der Notwendigkeit all des, was ich schrieb, überzeugt. Das sollte mir genügen. Wenn der und der sich getroffen fühlt, so wars so, dass ich ihn treffen wollte.

2. August

Zwei Seiten weitergekommen. Den Meisterfaun wie geplant zum Meisterfunktionär gemacht. Es scheint sich anzulassen.

Viele große, aber auch kleine Ereignisse meines Lebens bekommen jetzt schon nach einigen Tagen oder Wochen einen poetischen Schimmer. Wirkt da die Wehmut des alt werdenden Mannes, der erkennt, wie alle seine Erlebnisse letztmaliger werden?

3. August

Ein zerstörerischer Dämon geht in mir um. Ich weiß noch nicht, ob ich es verhindern kann, dass er ausbricht. Ich weiß auch nicht, wo er sein Nest hat, ob die falsche Konzeption einer Figur (Doktorin Sawade) im dritten WUNDERTÄTER der Grund ist ... Jedenfalls will der Dämon mich zwingen, etwas Frevelhaftes zu tun, fortzureisen oder mich zu betrinken, mich auf ein fremdes Weib zu werfen oder Selbstmord zu verüben. Dies hier ist ein Versuch, diesen dämonischen Wirbel zu bannen.

4. August

Den Dämon paralysiert und seine Kraft mit einigem Erfolg in die Fabel des Romans geleitet.

Ich werde versuchen, die Doktorin Sawade zwiespältig anzulegen. Ihre Jugend verlief musisch und ihr Studium entpoetisierend rationalistisch. Sie vermag beide Haltungen zur Welt nicht in sich zur Harmonie zu bringen.

5. August

Mit Eva beim Frühstück über die beabsichtigte Veränderung der Doktorin Sawade gesprochen.

Nun kommts auf den Versuch an. Mir schien, dass die Fabel insgesamt vereinfacht werden müsste. Eva will sie sich noch einmal daraufhin ansehen.

8. August

Endlich angefangen, die Doktorin Sawade umzukonstruieren. Der innerliche Widerstand gegen derlei Manipulationen ist nicht leicht zu überwinden. Man muss sich erst zu einem stinkenden Faultier erklären, ehe man sich an die Arbeit heranbekommt.

9. August

Mitten in der stinkenden Tätigkeit wurde ich ans Telefon gerufen. Lektor Günter Schubert teilte mir aus Berlin mit, es stünde ein großer Tag vor mir. Das Zentralorgan und die Berliner Zeitung (unsere ISWESTIJA) hätten wohlwollende Rezensionen über den WUNDERTÄTER II veröffentlicht.

Eva schickte Matthes zur Post um die Zeitungen. Sie wollte den Briefträger nicht abwarten und tat, als ginge es um ihre eigenen Angelegenheiten. So teilnehmend ist sie in bezug auf mein Werk. Bin ichs nicht? Doch, ich bins wohl auch. In der Kunst gibt es kein ich und kein du.

Es wurde mir für ein paar Stunden leicht, nicht, weil die hauptstädtischen Rezensenten den Roman wohlwollend besprachen, sogar lobten, nein, aber ich hatte diese Tatsache für unmöglich gehalten. Da war eine Kraft am Werk, wohl die Kraft der Kunst selber. Sie hat den Rezensenten die Augen mit einer Gazebinde bedeckt, hat die Burschen in Ratlosigkeit versetzt. Sie waren (wie zwei Verabredete) darauf aus, in dem Roman des Königs sozialistische Kleider zu sehen.

Nun will mir scheinen, es wird auch möglich sein, den dritten Teil meines Romans zu meinen Lebzeiten herauszubringen.

Dankbar ging ich am Nachmittag auf den Wegen im Wald, rechts vom Thörnsee, spazieren, auf denen ich vor zwei Jahren energisch anfing, am WUNDERTÄTER II weiterzuarbeiten. Dort ging ich damals umher und diktierte und ahnte und glaubte nicht, dass ich das fertige Buch schon nach zwei Jahren in der Hand halten würde.

18. August

Endlich den Stau durchbrochen: Eine neue Doktorin Sawade hergestellt, sie auch in eine neue Umgebung gesetzt. Weil ich zweimal unterbrochen wurde, flüchtete ich vor dem Abendbrot in die Wiesen und diktierte dort die Sawade-Szene zu Ende.

Wenn es soweit ist, entsteht, was entstehen soll, unter allen Umständen.

19. August

Ein Stück weitergekommen. Die Arbeit am Roman kommt in Fluss. Die Hypnoseszene mit Lothar Rosendorn gemacht. Der Roman fängt wieder an, meine Gedanken zu beherrschen, und es werden weniger Nebengedanken produziert.

Das Kranichpaar aus den Woz-Wiesen macht Übungsflüge. Es hat dieses Jahr zwei Jungvögel aufgezogen. Zum ersten Male hörte ich, dass die Jungen während des Fluges piepen wie Gans-Junge. Die Alten knurren ihnen etwas Beruhigendes zu.

20. August

Mit der Arbeit ein Stück weitergekommen. Wie befriedigt man ist, wenn man das vermerken kann. Ein paar Seiten neu konzipiert, nun werde ich die erst gängig machen.

22. August