Über das Buch

Als eine Art Notizbuch entstand dieser Band: eine Sammlung von Sentenzen und Aphorismen, poetischen und humorvollen Betrachtungen über die Natur, das Schreiben und über das Leben. Es sind unmittelbare Einblicke in Erwin Strittmatters Welt-Anschauungen, bevor sie ins epische Werk eingingen.

»Ich setzte mich ganz früh am Morgen hin und konzentrierte mich darauf, an etwas zu denken, was über den Tag hinausreichte. Man nennt das wohl auch meditieren!«

Über Erwin Strittmatter

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).

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Erwin Strittmatter

Selbstermunterungen

Für Eva

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Impressum

Ich stehe nicht an, Dichtern genauso zu traun wie Wissenschaftlern, weil ich erfuhr, daß in jedem echten Wissenschaftler ein Poet und in jedem echten Poeten ein Wissenschaftler steckt, und die echten Wissenschaftler wissen, daß ihre Hypothesen dichterische Ahnungen sind, und die echten Dichter wissen, daß ihre Ahnungen unbewiesene Hypothesen sind, und weder die einen noch die anderen lassen sich von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verwirren oder halten einander für Kontrahenten.

Der Sinn meines Lebens scheint mir darin zu bestehen, hinter den Sinn meines Lebens zu kommen.

* * *

Allein, allein – die Stille singt.

* * *

Ich will von jetzt an so hastlos arbeiten, als ob ich bereits meinen Lebensabend genösse und als ob ich zusätzliche Gedanken produzieren würde, die ich eigentlich habe mit ins Grab nehmen wollen.

* * *

Ich will die Menschen, die sich zu Mächtigen machen, nicht mehr fürchten; sie haben ihrerseits ihre Furcht, die man ihnen einjagt, wenn man sie nicht fürchtet.

* * *

Wenn mir der Morgen nicht bringt, was ich brauche, will ich es dem Nachmittage abverlangen.

* * *

Und ich will die Dinge so lange anschauen, bis sie zu sprechen anfangen.

* * *

Die Blume in meinem Fenster hat grüne Blätter, doch sie arbeitet und arbeitet, um mit Hilfe von ein paar roten Blättern Erfüllung zu erlangen.

* * *

Die Welt ist mir ein kaltes Haus ohne die gleichmäßige Wärme jenes Ofens, den man Liebe nennt.

* * *

Ich will achtgeben, daß mich die Tage nicht überfallen und daß ich bestimme, wie meine Abende sind.

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Und ich will danach trachten, daß mein Tagwerk wenigstens um eine Winzigkeit anders ist als das des Vortags!

* * *

Meine Gewohnheiten haben zwei Gesichter.

* * *

Ich will auf jeden neuen Tag neugierig sein und den Morgen eines jeden Tages feiern.

* * *

Als wir den ersten Baum fällten, damit sein brennendes Holz uns wärme, wähnten wir, der Holzvorrat der Erde sei unerschöpflich.

Als wir die erste Rakete ins All schossen, um unser Wissen von den Sternen zu erweitern, wußten wir, daß die Materie, aus der unsere Erde besteht, nicht unerschöpflich ist …

* * *

Aber dann gibts diese Katastrophen: Eine Unbedachtheit, einen Zorn, einen Wutanfall …, und das Landstück Weisheit, das ich den Lebenswogen abgekämpft hatte, wird wieder hinweggerissen.

Wie viele Stunden und Tage wirds brauchen, bis da wieder ein Landstück entsteht, auf dem ich fußen kann!

* * *

Wie viele meiner täglichen Taten überlasse ich dem Zufall, den sich anbietenden Gelegenheiten!

Wie wenig Zeit verbringe ich damit, zu tun, was ich tun müßte!

* * *

Ich hör andere von der »goldenen Jugend« erzählen; mir aber wird die Zeit, die mir auf Erden noch bleibt, täglich goldwerter.

* * *

Unter welchen liebenswürdigen Vorwänden die Zeiträuber auch zu mir kommen, wie sie meiner Eitelkeit auch schmeicheln mögen, ich will ihnen widerstehen, will hart mit ihnen umgehen, sie abstoßen; vielleicht, daß ich ihnen zu sich selber verhelfe.

* * *

Ich sah ein Theaterstück. Es war fünfzehn Jahre alt, und es war ein Stück von mir: Eine alte, abgestoßene Haut von mir wurde ausgebreitet, eine alte Haut aus Gedanken und Worten, und sie lag da als Ding für sich selbst, und sie ging mich nichts mehr an; denn ich geh mit einer Haut von neuen Gedanken umher, und auch diese Gedanken fasse ich in Worte, und eines Tages werde ich, hoff ich, auch sie abstreifen.

* * *

Und vielleicht bin auch ich eine Art von Spinne wie jene dort, die sich kopfunter vom Baum seilt. Und vielleicht webe auch ich da und dort mein dünnes Netz und spanne es in den Schneisen aus, und einige meiner Mitmenschen stehen vor dem Gewebe und bewundern es, und anderen ist es nichts als eine Belästigung für ihre Wimpern und Nasenspitzen.

* * *

Wir verbrauchen, wie ich sehe, Kohle, Holz, Erd-Öl, Salze, Uran und all das, aber wir entnehmen ihnen nur, was uns gefällt, und was uns von ihnen nicht gefällt, lassen wir entweichen.

Wäre ich ein Erfinder, erfände ich Katalysatoren, die das, was von all diesen Stoffen davonfliegt, zurückhielten. Von einer neuerlichen Synthese und Verwendungsmöglichkeit der aufgefangenen Stoffe bin ich überzeugt.

Aber ich bin ein Laie; Erfinder werden mich belächeln. Es bleibt mir nur der Trost: In der Geschichte der Wissenschaften wurden Ahnungen von Laien auch anderswann belächelt, bis die Zeit heran war, in der diese Ahnungen Wirklichkeiten wurden. Nein, ich denke nicht nur an die Atomtheorie.

* * *

Ein Atom vereinigt sich mit anderen Atomen, wird Mensch und versucht in dieser Gestalt etwas über sich zu erfahren.

Wo bleibt die Erfahrung, wenn die Atome wieder auseinander streben? Bleibt ein Teilchen Erfahrung in jedem Atom? Oder fährt die Erfahrung nur in die Summe der Atome ein? Fährt sie wieder aus, wenn die Atomversammlung sich auflöst? Wenn es so wäre, hätte man es da nicht mit dem verschrienen Deus ex machina zu tun?

* * *

Ich war nicht hier, nun bin ich hier, und dann werde ich nicht mehr hier sein. Da ich mir meines Vorseins nicht bewußt bin und meines Nachseins nicht bewußt sein werde, mir aber wohl meines Hierseins bewußt bin, scheint mir wichtiger, unablässig danach zu forschen, wozu ich hier bin, als mein Hiersein damit zuzubringen, den Mitmenschen, die sich zu meinen Beherrschern aufschwangen, zu gefallen.

* * *

Mehr als die großen Vorgänge auf dieser Welt beobachte ich die kleinen, die in ihrer Summe die großen sind.

Ich nehme das erste kleine Zittern wahr, und das große Beben überrascht mich nicht.

* * *

Sollte auf dem Mond doch noch ein Stoff entdeckt werden, der sich auf der Erde verwenden läßt, so wird er nach allem, was man bisher über den Erwerb von Bodenschätzen »zum Wohle des Menschen« kennt, nicht ohne vorherigen Krieg heruntergeholt werden können.

* * *

Komm mit mir in die Stille, liebe Freundin! Dort liegt der Block des Ungestalteten. Laß uns winzige Stücke aus ihm brechen, laß sie uns zu Gedanken und Liedern formen! Laß uns nicht aufhören, in dieser Weise nützlich zu sein!

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Wer weiß, zu was für einem »Gegenstand« im Makrokosmos wir mit unserer Erde gehören? Vielleicht ist der Abstand zwischen Erde und Mond, der Abstand zwischen den Himmelskörpern überhaupt, in der Relation dem Abstand von Atom zu Atom im Mikrokosmos ähnlich …

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Ich habe Erinnerungen, die so prall sind, daß sie nach Gestaltung verlangen, und solche, die mager sind wie Spießergespräche. Seit ich das weiß, übe ich Erinnerungsdiätetik.

* * *

Es lag Staub auf meinem Sattel, als ich aus der Stadt kam. Sie läßt mich nicht kalt, unsere Hauptstadt, doch es lag Staub auf meinem Sattel, als ich von dort kam.

* * *

Ich will nur noch aufschreiben, was ich wirklich sehe, und ich will aufschreiben, was ich wirklich weiß, und ich will aufschreiben, was ich wirklich fühle. Das ist nicht leicht, aber ich hoffe, damit aufzuschreiben, was nur ich aufschreiben kann.

* * *

Bevor ich selber etwas schrieb, las ich die verschiedensten Bücher. Man hatte mir gesagt, ein angehender Schriftsteller müsse sich durch Lesen Anregungen verschaffen, doch bald erkannte ich, daß meine Schreibereien nach dem Befolgen dieses Ratschlags nur ein Aneinanderreihen fremder Gedanken waren. Das machte mich unzufrieden, und ich hörte auf mit dem Viel-Lesen, und ich fing an, das Leben in seiner Mannigfaltigkeit zu beobachten. Das war schwerer als Lesen, aber es machte mich selbständig.

* * *

»Ich habe mich totgelacht.«

»Das hat mich umgeworfen.«

»Ich konnte nicht mehr vor Lachen.«

Übertreibungen, Überhöhungen, doch die, die sich ihrer täglich bedienen, pochen auf »Realismus«, wenn ich beim Schreiben überhöhe, um zu verdeutlichen.

* * *

Ich spüre, ich bin beauftragt, Kunde über mich selber einzuholen, und darin besteht meine Einmaligkeit, und das ist das Ziel meines Hier- und Daseins.

* * *

Meine Sinne sind grob, meine Antennen fürs Geistige sind oft nicht eingeschaltet, ich bin täuschbar, und dieser Umstand kann zur Negation meiner selbst und zur Selbstvernichtung führen.

* * *

Ich will von jetzt ab mehr von einem jeden meiner Tage erhalten, will eine Tagstunde nichts als müßig sein und die Eindrücke, die mir tagsüber wurden, überdenken.

* * *

Es ist mir nie schwergefallen, bescheiden zu sein, nur jenes meiner Mitbringsel, das Phantasie geheißen wird, läßt sich auf keinerlei Bescheidenheit ein. Wenn wir es hier auf Erden nicht bald zu einem beständigen Frieden bringen, sagt sie mir, kann der Raketenschuß, den wir vor Tagen auf die Venus abfeuerten, der Anfang zu einem außerirdischen Kolonialsystem gewesen sein.

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Ich kann mir vorstellen, wie es hier ist, wenn ich nicht mehr bin, doch ich kann mir nicht vorstellen, wie es dort ist, wo ich sein werde, wenn ich nicht mehr bin, obwohl ich von dort kam und hier nur durchreise.

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Wie tief die Wolken auch über der Erde hängen, der Flieger sieht die Sonne. Da ich kein Flieger bin, will ich wenigstens meine Gedanken nicht wühlen, sondern fliegen lassen.

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In der Morgendämmerung atmete ich den Gesang der Heidelerche ein. Ich wußte nicht, ob es die erste Morgenstrophe oder die letzte Nachtstrophe der kleinen Lerche war, aber der Gesang tötete den Zorn über »verlorene Zeit« in mir: Ob erste Tagstunde, ob letzte Nachtstunde – es ist jederzeit möglich, Entscheidendes zu tun, sogar noch einen Tag vor dem Tode, sagte ich mir.

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Mit ruhigen, wohlgeordneten Gedanken schlafe ich ein, mit Gedankengewirr erwach ich; also muß ich trachten, Kontrolle über die Nachtarbeit meiner Gedanken zu erlangen!

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In christlichen Zeiten wurden die Wissenschaftler als Ketzer bezeichnet; im wissenschaftlichen Jahrhundert bezeichnet man die Christen als Ketzer. Da stimmt was nicht; da fehlt was Übergreifendes, denk ich.

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Zu meinem Arzt habe ich noch immer ein Buschmann-Medizinmann-Verhältnis, aber nicht ich allein, und er zu mir auch.

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Ich sage: Himmel, und ich sage: Erde, obwohl ich weiß, daß Erde verdichteter Himmel ist, und ich laß damit die Zerstückelung des Weltalls zu. Eine Erscheinungsform ergibt sich aus der anderen, ein Begriff aus dem anderen, und zuweilen drohen mich Erscheinungsformen und Begriffe in ihrer Mannigfaltigkeit zu ersticken.

Aber ich kämpfe dagegen an, verschaffe mir Stunden, in denen ich mich wieder auf den unverdichteten Himmel