Dr. Rebecca Böhme
Mind your Glücksschwein
Mit der Kraft positiver Erwartungen das Leben verändern
C.H.Beck
Wie wir die Kraft positiver Erwartungen für unser Lebensglück nutzen können
Unsere Erwartungen beeinflussen unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Zuweilen setzen sie sogar Selbstheilungsprozesse in Gang. Dann sprechen wir von Placebo-Effekten. Doch wie funktionieren diese genau und wie lassen sie sich einsetzen, um ein besseres, gesünderes oder glücklicheres Leben zu führen? Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme zeigt, was wirklich funktioniert und wie wir das Glücksschwein in uns aktivieren können.
«Alle Schweine, groß und klein, möchten gern ein Glücksschwein sein.» – Helme Heine
Rebecca Böhme ist Neurowissenschaftlerin und forscht am Zentrum für soziale und affektive Neurowissenschaften in Linköping, Schweden. Bei C.H.Beck sind von ihr lieferbar: Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist (2019); Resilienz. Die psychische Widerstandskraft (2019).
Ein paar Vorbemerkungen
Will das Gehirn die Schokolade essen und ist das Selbst eine Illusion?
Was dieses Buch möchte – und was nicht
Fast schon Hellseher – Wir sind Experten im Vorhersagen
Teil 1: Wie unsere Erwartungen unsere Wahrnehmung beeinflussen
Physiologische Erwartungen und die Evolution unserer Sinnesorgane
Erwartungen unseres Nervensystems
Illusionen
Selektive Wahrnehmung
Vorannahmen, Neugierde und Überraschung
Das Regulationsprinzip – geteilte Wirklichkeit
Teil 2: Wie unsere Erwartungen unser Verhalten beeinflussen
Placebo und Nocebo
Gibt es Placebo und Nocebo wirklich?
Wie funktionieren Placebo- und Nocebo-Effekte?
Können wir Placebo-Effekte für uns nutzen?
Sich selbst erfüllende Prophezeiungen
Positiv denken
Priming und unbewusste Wahrnehmungen
Nudging
Mind Reading
Teil 3: Wie wir die Kraft positiver Erwartungen nutzen können
Geistige Autonomie
Nudging erkennen und selbst nutzen
Mehr Einfühlungsvermögen, mehr Verbundenheit
Shoshin
Spiritualität
Chancen für das Glücksschwein
Welche Pflege braucht ein Glücksschwein?
Anmerkungen und Literaturhinweise
Bildnachweis
Für meine Glücksschweine Andrew, Eric und Vincent
Manche Menschen bezeichnen sich als Glückspilze, andere sind überzeugt davon, dass sie als Pechvögel durchs Leben gehen müssen. Wir wünschen einander Glück, wir tragen einen Talisman mit uns herum und haben unzählige Symbole, die Glück bringen oder auch Pech bedeuten. Viele dieser Symbole und Verhaltensweisen sind so normal und häufig, dass jeder sie kennt, zum Beispiel vierblättrige Kleeblätter, Glücksschweine und Schornsteinfeger, oder wenn wir auf Holz klopfen, um ein Unglück abzuwehren. Viele Menschen hegen und pflegen persönliche Rituale, die ihnen Glück bringen oder Missgeschicke abwenden sollen. Doch wie und warum ist solcher Aberglauben überhaupt entstanden, welchen Zweck erfüllt er und warum behalten wir – aufgeklärte und vernünftige Personen, die wir sind – solche Rituale bei?
Erklärungen dafür finden wir möglicherweise, wenn wir uns näher ansehen, wie wir Menschen emotionale Ereignisse verarbeiten und wie das Gehirn Geschehnisse in unserer Umwelt vorhersagt und verarbeitet. Selbst wenn der Fokus hierbei häufig auf den neuronalen Vorgängen, also den Aktivitäten des Nervensystems liegen wird, ist es immer wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass das Gehirn nicht allein in den Weiten des Weltalls schwebt, sondern eines von vielen Organen ist, ein Teil eines größeren Ganzen, das uns als Person ausmacht. Man liest häufig, das Gehirn mache dies und das, würde sich für die Schokolade entscheiden und gegen den Sport – doch säße es isoliert in einem Glasbehälter, würde es sich gar nicht für Schokolade und Sport interessieren. Das Gehirn und seine Leistungen können nur im Gesamtzusammenhang verstanden werden, also im Zusammenspiel mit dem übrigen Körper – und im Verhältnis zur Lebenswirklichkeit. Dies gilt auch, wenn ich das Gehirn um der besseren Lesbarkeit willen personalisiere und zum Beispiel schreibe: «Das Gehirn versucht vorherzusagen, was als Nächstes passiert» oder «Das Gehirn möchte, dass wir die Schokolade essen». Natürlich möchte das Gehirn an sich gar nichts, nur wir als Individuen können etwas wollen.
Viele Neurowissenschaftler:innen vertreten die Ansicht, das Gehirn wäre der eigentliche Macher, der geheime Strippenzieher im Hintergrund, der eigene Ziele oder Wünsche hat und diese uns dann bloß als die unseren vorgaukelt. Dieses bedauerliche Missverständnis, dass unser Gehirn eine eigenständige Einheit mit geheimen Absichten sei, dem unser bewusstes Ich nur oben aufsitzt, führt zu dem Schluss, das Selbst sei eine Illusion und wir hätten keinen freien Willen. Wie kommt es zu diesem Missverständnis? Ambitionierte Forscher:innen, zu denen auch ich gehöre, möchten gerne die neurowissenschaftliche Basis ergründen von … ja, eigentlich von allem. Doch das setzt voraus, dass man etwas messen kann. Möchte man etwa sehen, was im Gehirn vor sich geht, wenn man einer Versuchsperson ein Muster aus waagerechten oder senkrechten Streifen präsentiert, ist das noch recht einfach. Es wird schon komplizierter, wenn man versucht, die Farbwahrnehmung zu messen (mehr dazu später). Richtig kompliziert wird es, wenn Forscher:innen sich komplexeren Emotionen und Konzepten zuwenden. Denn es fällt uns Menschen zwar sehr leicht, im Alltag die Bedeutung der Wörter «Liebe», «Sorge», «Bewusstsein» oder «Ich» zu verstehen, doch diese zu definieren und dann womöglich noch in einem Experiment greifbar, also messbar zu machen – ist das überhaupt möglich?
Bei einem so komplizierten Konzept wie dem Selbst genügt ein kurzer Seitenblick auf Philosophie und Psychologie, um zu sehen, dass wir uns nach wie vor nicht einig sind, wovon wir eigentlich sprechen. Die Neuroforschung sucht trotzdem nach der neurophysiologischen Entsprechung für abstrakte Konzepte wie «Selbst» oder «Liebe». Erfolgreich kann dieses Unterfangen nur unter der Voraussetzung sein, dass das Gehirn das Selbst irgendwie hervorbringt oder produziert. Das aber setzt wiederum voraus, dass dieses «Selbst» separat, vom Gesamtzusammenhang getrennt, erforscht werden kann. Und genau hier liegt das Missverständnis: Das Selbst lässt sich nicht quantifizieren und in physikalischen Einheiten messen. Das Selbst lässt sich nicht finden, indem man es immer mehr in seine Einzelteile zerlegt und versucht, diese im Gehirn zu lokalisieren. Denn das Selbst entsteht ja erst durch Synthese: durch die Zusammenführung von Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken, mit Gefühlen, Erinnerungen, Hoffnungen, Sehnsüchten und vielem mehr. Das, was wir als «Selbst» bezeichnen, ist unsere Subjektivität, sind unsere eigenen, persönlichen Empfindungen und unser Bezugsmittelpunkt zur Lebenswelt. Das Selbst wird also nicht durch die Aktivität der Nervenzellen erschaffen, vielmehr ist das Selbst diese Aktivität. Es ist aber noch mehr: dazu gehören auch die Vorgänge in unserem Körper, das persönliche Erleben unserer Umgebung und das In-Beziehung-Treten mit unseren Mitmenschen. Das Selbst ist zeitlich und räumlich ausgedehnte Subjektivität.
Nicht jedes Konzept, für das wir Wörter haben, lässt sich wissenschaftlich quantifizieren und «physikalisieren». Wenn man dies versucht, entstehen leider Fehlschlüsse und Kategorienfehler, die schwerwiegende Folgen für unser Selbstverständnis als Menschen haben können. Besonders deutlich wird dies an der Behauptung, wir hätten keinen freien Willen, weil unsere neuronalen und biologischen Vorgänge uns steuern würden. Diese Behauptung impliziert, dass wir eine von diesen biologischen Vorgängen getrennte Einheit sind. Versteht man jedoch, dass wir, dass dieses «Selbst», das wir ja ganz deutlich in uns spüren, diese biologischen Vorgänge enthält, dann sollte klar werden, dass unsere Willensentscheidungen sehr wohl die unsrigen sind. Tatsächlich ermöglicht uns unser hochentwickeltes Nervensystem genau dies: freie Entscheidungen zu treffen, basierend auf Abwägen, Nachdenken, Innehalten.[1] Wir sind eben nicht wie simplere Lebensformen einfachen Reflexbögen ausgeliefert, die im Sinne von «Wenn … dann» funktionieren, sondern können (zumindest in den meisten Fällen) Entscheidungen treffen, und zwar auf der Basis unserer subjektiven Wahrnehmung und unserer Involviertheit in die Welt.
Die Vorgänge im Gehirn stehen in Zusammenhang mit Vorgängen in unserem Körper und natürlich auch in unserer Umgebung. So ist unsere Wahrnehmung von unserem Atemrhythmus und unserem Herzschlag abhängig,[2] so beeinflussen Millionen von Bakterien, die in unserem Darm und auf unserer Haut leben, wie es uns geht.[3] Und so ist die Vagusnerv-Verbindung von unserem Darm zum Hippocampus, der Gedächtnisregion im Gehirn, notwendig dafür, sich Neues merken zu können,[4] und vermag unsere Stimmung zu beeinflussen[5] – um nur einige Beispiele zu nennen.
Je mehr wir uns mit den Funktionsweisen des Gehirns beschäftigen, desto deutlicher wird, dass wir es eher als eine Art Umschlags- und Integrationsplatz für alle Ereignisse und Reize um uns herum und in uns drinnen ansehen sollten. Das Gehirn ist, wie der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs so treffend schreibt,[1] ein Beziehungsorgan: es vermittelt unseren Bezug zur Welt und zu unseren Mitlebewesen. Dabei ordnet es die Eindrücke, denen wir ausgesetzt sind – und wie es diese ordnet, hängt beispielsweise davon ab, ob wir uns selbst als einen Glückspilz oder einen Pechvogel sehen. Was das bedeutet und wie wir dieses Wissen für unser Wohlergehen nutzen können, davon handelt dieses Buch.
Noch eine Bemerkung vorab: Dieses Buch zu schreiben war ein Drahtseilakt. Ich will wissenschaftlich fundiert informieren, ohne falsche Hoffnungen zu vermitteln und ohne profitgierige Quacksalber:innen zu legitimieren. Gleichzeitig möchte ich unterhaltsam und lesbar schreiben, und das bedeutet auch, Forschungsergebnisse zu verallgemeinern und nicht seitenlang gegeneinander abzuwägen.
Bei der Interpretation von Forschungsergebnissen gilt immer zu bedenken, dass diese häufig korrelativ sind, nicht kausal, dass sie also Zusammenhänge aufzeigen, nicht zwangsläufig eindeutige Ursache-Wirkungs-Verhältnisse. Mit dem Verwechseln von Korrelation und Kausalität hat man in der Forschung häufig zu tun. Folgendes Beispiel veranschaulicht die Problematik gut: Daten besagen, dass das Einkommen der Menschen mit ihrer Schuhgröße zusammenhängt. Daraus könnte man nun schlussfolgern, dass Menschen, die auf großen Füßen leben, auch mehr Geld verdienen. Doch dies bedeutet nicht, dass eine große Schuhgröße auch die Ursache für ein höheres Einkommen ist. Der Zusammenhang ist aber auch nicht zufällig, sondern vermittelt durch den Geschlechterunterschied im Einkommen: Männer haben im Durchschnitt größere Füße und verdienen besser als Frauen.
Weiterhin ist es wichtig, dass Forschungsergebnisse auf Stichproben beruhen, die kaum repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ausgewählt wurden. Tatsächlich nehmen an den meisten psychologischen Studien vor allem Psychologiestudent:innen teil. Es ist aber nicht sicher, ob die Ergebnisse sich auch auf Physikstudent:innen oder Menschen, die nicht studieren, Menschen aus anderen Gesellschaftsschichten, ja aus anderen Ländern verallgemeinern lassen. Das ist ein bekanntes Problem, und immer mehr Studien versuchen, bessere, also repräsentativere Stichproben zu rekrutieren. Erkundigen Sie, liebe Leser:innen, sich doch gerne einmal bei einer Universität in Ihrer Nähe, ob gerade Versuchspersonen gesucht werden – insbesondere, wenn Sie nicht Psychologiestudent:in sind.
Aufgrund dieser und weiterer Faktoren muss eine wissenschaftliche Denkweise immer durch Offenheit gekennzeichnet sein – Offenheit dafür, dass aktuelle Ergebnisse möglicherweise in Zukunft widerlegt werden und dass es andere Erklärungen oder weitere Phänomene geben kann, die wir noch nicht verstehen, da wir sie noch nicht experimentell untersucht haben. Genauso wie früher das heliozentrische Weltbild als irrtümlich angesehen wurde, sehen wir womöglich heutzutage Phänomene als Hirngespinste an, für die sich in der Zukunft eine wissenschaftliche Erklärung finden wird.
Wer sich über den Placebo-Effekt und die Kraft positiver Gedanken informiert, wird schnell sehen, dass diese Konzepte leider häufig missbraucht werden. Zum Beispiel, indem man kranken Menschen Heilung, verzweifelten Menschen Erfolg oder einsamen Menschen Liebe verspricht – und diese Hoffnung teuer verkauft. Das ist insbesondere deshalb unglücklich, weil es durchaus solide wissenschaftliche Forschung zu diesen Themen gibt, und zwar Forschung, die zeigt, dass der Placebo-Effekt existiert (ebenso wie der Nocebo-Effekt) und unsere Erwartungen physiologisch messbare Wirkungen haben können. Werden solche Ergebnisse jedoch mit Pseudowissenschaft und Parapsychologie vermischt und zu unwiderlegbaren Gesetzen erklärt, leidet darunter die Forschung ebenso wie die seriöse Anwendung dieser Effekte.
Hoffnung und positive Erwartungen können einiges bewirken, aber keine Wunder. Auch ist es nicht leicht, während weltweiter Krisen eine optimistische Einstellung zu bewahren. Ich würde niemals behaupten, dass wir allein durch positive Gedanken zu Erfolg und Liebe kommen oder aktuelle globale Probleme lösen können. Ich möchte ebenso wenig raten, auf ein notwendiges, geprüftes Medikament zu verzichten und sich nur auf den Placebo-Effekt zu verlassen. Vielmehr hoffe ich, dass es mir gelingt zu zeigen, wie wir durch unsere Erwartungen das Potential der Fähigkeiten und Hilfsmittel, die uns zur Verfügung stehen, voll ausschöpfen und so ein Leben mit einem Glücksschwein an unserer Seite führen können.
Eine wichtige, ja überlebenswichtige Funktion unseres Nervensystems ist die Fähigkeit, vorherzusagen, was in der Welt um uns herum als Nächstes geschehen wird. «Als Nächstes» können wir in diesem Zusammenhang einerseits zeitlich verstehen: das, was im nächsten Moment geschehen wird. Der Philosoph Edmund Husserl hat gezeigt, dass wir das Jetzt als einen ausgedehnten Moment erleben. Das bedeutet, wir sind nie nur direkt im Jetzt, in eben dieser Millisekunde. Unser Erleben ist nicht die Wahrnehmung vieler einzelner, voneinander unabhängiger Momente und Sinneseindrücke, sondern unser Empfinden von «jetzt» erstreckt sich über einen gewissen Zeitraum (Studien legen nahe, dass es sich hierbei um ein paar Sekunden handelt). Husserl benennt drei Zutaten zum erlebten Jetzt: die Retention, die Impression und die Protention. Wir behalten eine Wahrnehmung im Bewusstsein, wir nehmen etwas wahr und wir nehmen etwas vorweg. Wie richtig diese Überlegungen sind, lässt sich am Musikhören zeigen: Wenn wir einem Musikstück lauschen, hören wir nicht bloß die einzelnen Töne. Die Melodie entsteht aus der spezifischen Tonfolge – und wir haben unbewusst eine Erwartung darauf, welcher Ton als Nächstes folgen sollte. Kommt hingegen ein anderer, unerwarteter Ton, klingt es oft schief. Genauso verhält es sich auch mit der Sprache: Um einen Satz zu verstehen, integrieren wir die Wörter über einen bestimmten Zeitraum hinweg und können häufig vorwegnehmen, was als Nächstes gesagt werden wird.
Wir können die Notwendigkeit, vorherzusagen, was als Nächstes geschieht, auch räumlich verstehen und meinen dann, was in direkter Nähe zu unserem Körper geschehen wird. Das Gehirn verarbeitet Reize, die in direkter Nähe zu unserem Körper auftauchen, anders als Reize, die weiter weg sind. Wir reagieren auch anders auf solche Sinneseindrücke. Ist beispielsweise ein Geräusch in direkter Nähe zu unserem Arm zu hören, feuern Neurone, die sonst nur auf die Berührung des Arms reagieren.[6] Zudem reagieren wir dann schneller auf eine Berührung am Arm. Den Bereich um unseren Körper nennt man den peri-personalen Raum. Es ist der Raum, in dem etwas mit uns in Berührung kommen kann oder in dem wir mit Objekten oder Lebewesen interagieren können. Auch hier handelt es sich also um eine Vorhersage: Es ist sozusagen der Raum der möglichen körperlichen Interaktion.
Viele Neurowissenschaftler:innen erklären diese räumlichen und zeitlichen Vorhersagen so, dass das Gehirn «ein Modell» der Welt erstellt. Anhand eines solchen Modells versucht das Gehirn kontinuierlich, vorherzusagen, was als Nächstes und in der nahen Umgebung passieren wird. Dafür stellt unser Nervensystem Verbindungen zwischen den eigenen Handlungen und den Reaktionen der Umwelt oder auch unseres eigenen Körpers her. Diese Verbindungen bilden sich aus, während ein Kleinkind die Welt erkundet: Wenn ich mich kratze, hilft das gegen den Juckreiz. Wenn ich meine Schwester kratze, schreit sie. Fällt eine Reaktion stark aus, sei es nun positiv oder negativ, oder ist ein Ereignis unerwartet, schenken wir diesem Ereignis besondere Aufmerksamkeit und behalten es auch eher im Gedächtnis.
Vorhersagen über die Umgebung und den eigenen Organismus zu treffen ist eine so grundlegende und überlebenswichtige Fähigkeit, dass wir sie bereits bei den einfachsten Lebensformen finden. So benötigen alle, selbst die einfachsten Lebewesen, ein inneres Gleichgewicht zum Überleben, zum Beispiel eine bestimmte Konzentration von Salzen und anderen Nährstoffen, einen bestimmten pH-Wert, eine bestimmte Temperatur. Je komplexer ein Lebewesen, desto besser kann es diese Bedingungen selbst regulieren. Schon einfache Einzeller können ihren eigenen pH-Wert in einem für sie angenehmen Bereich halten, indem sie ihren eigenen Stoffwechsel an die Umgebung anpassen.[7] Hierfür müssen sie wissen, welcher pH-Wert ihnen guttut. Mit anderen Worten, sie müssen eine Erwartung für einen pH-Wert haben. Und sie müssen in der Lage sein, Schwankungen dieses pH-Wertes auszugleichen. Dies ist eine einfache Wenn-dann-Reaktion: Eine Veränderung des pH-Werts regt eine chemische Ausgleichsreaktion im Bakterium an. Auf einfache Art und Weise sagt der Einzeller vorher, dass diese Reaktion zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen führt. Langfristig können viele solcher Ausgleichsreaktionen schließlich sogar die Lebensbedingungen verändern. So haben Bakterien dazu beigetragen, dass die Erde eine sauerstoffhaltige Atmosphäre hat,[8] und könnten sogar in Zukunft helfen, fremde Planeten zu «terraformen», also in einen erdähnlichen Zustand zu bringen, in dem Menschen überleben könnten.[9]
Je komplexer ein Lebewesen, desto komplizierter und weitreichender werden auch die Vorhersagen. Tiere, die in sozialen Gemeinschaften leben – und dazu gehören auch wir Menschen –, benötigen noch vielfältigere Modelle, die nicht nur die direkte, physikalische Umwelt mit einbeziehen. Eine solche Vorhersage könnte zum Beispiel sein, dass ein Apfel, der reif geworden ist, vom Baum auf die Erde fallen wird – wo wir ihn dann aufsammeln und essen können. Dies vorherzusagen ist zwar schon recht kompliziert, jedoch folgt es regelmäßigen biologischen Vorgängen (Äpfel reifen) und Gesetzmäßigkeiten (Schwerkraft). Tiere, die keine Einzelgänger sind, müssen jedoch auch noch die Verhaltensweisen ihrer Artgenossen vorhersagen können. Da aber diese Artgenossen sich jeweils auch ihren eigenen Modellen entsprechend verhalten, benötigen Tiere in sozialen Gemeinschaften die Fähigkeit, Modelle von Modellen zu erstellen. Vögel, die in einem Schwarm fliegen, müssen die Gravitationskraft kennen und vorhersagen, wie stark sie mit den Flügeln schlagen sollten, um ihre Höhe beizubehalten. Sie sollten auch den Wind mit in ihre Berechnungen einbeziehen. Doch im Schwarm fliegen noch jede Menge andere Vögel mit, so dass jeder einzelne ein Modell der Flugbahn der anderen haben muss, damit der Schwarm eine schöne Wolke bildet und nicht ein Vogel mit dem anderen zusammenstößt. Obwohl die Koordination von Vogel- oder Fischschwärmen beeindruckend ist, sind dies noch relativ einfache Verhaltensweisen. Das Zusammenleben in einer Herde ist schon komplexer. Da müssen Rangfolgen beachtet, Fluchtreaktionen koordiniert, da muss der Zugang zu Futter und möglichen Paarungspartnern ausgehandelt werden. Bei uns Menschen erreicht die Komplexität der sozialen Interaktionen einen noch höheren Grad. Wir beziehen in unsere Einschätzung der Mitmenschen ein, dass unser Gegenüber versteckte Wünsche hegen könnte und er oder sie wiederum Vermutungen über unsere Absichten hat. Wie in einem Pokerspiel: Ich glaube, dass mein Gegenüber nur blufft – aber vielleicht glaubt auch mein Gegenüber, dass ich glaube, dass er oder sie blufft?
Zwischenmenschliche Interaktion ist natürlich nicht nur Lug und Trug und Täuschungsmanöver. Wir können von unseren Mitmenschen schnell und auf ungefährliche Weise etwas über unsere Umwelt lernen. Das bedeutet, dass wir von der Komplexität der Weltmodelle der anderen profitieren: Ich muss nicht erst alle Pilze einmal angebissen haben, um zu wissen, welche giftig sind. Dieses Experiment haben schon andere vor mir gemacht. Ein Kleinkind lernt in direkter, wechselseitiger Interaktion mit seinen Eltern, wie der eigene Körper funktioniert. Dies beginnt schon vor der Geburt; bereits in der Gebärmutter lernt der Embryo vom Körper der Mutter, welche Nährstoffe beispielsweise in der Welt zu erwarten sind und ob es sich eher um eine stressige oder eine ruhige Welt da draußen handelt.[10]
Auf die wichtige Rolle, die unsere Mitmenschen für unser Verständnis und unsere Umgangsform mit der Welt spielen, werde ich immer wieder eingehen. Selbst wenn ich mich nun zuerst den Funktionsweisen des einzelnen Gehirns zuwende, gilt es, nicht zu vergessen, dass wir Menschen Herdentiere sind, äußerst sozial und abhängig voneinander, und dass das einzelne Gehirn als Teil unseres Körpers immer eingebunden ist in die Welt und in das soziale Miteinander.
Teil 1
Gibt es etwas Schöneres, als bei einem Spaziergang im Frühling die Vögel singen zu hören und durch das helle Grün der jungen Blätter das Sonnenlicht strahlen zu sehen? Welch ein Glück, dass wir die Fähigkeit haben, all dies wahrzunehmen! Dass wir überhaupt den Vogelgesang hören und die grünen Blätter sehen können, hängt von unseren Sinnesorganen und deren Eigenschaften ab. Wir können Licht wahrnehmen, weil unsere Augen mit Lichtrezeptoren ausgestattet sind. Doch wir können nicht alle Sorten Licht wahrnehmen. Welche Wellenlängen wir sehen, hängt von den Eigenschaften unserer Lichtrezeptoren ab. Andere Tiere, die mit anderen Lichtrezeptoren ausgestattet sind, können auch andere Wellenlängen registrieren. Während wir die Tulpen und Rosen im Blumenbeet bewundern, schenken wir Gänseblümchen und Löwenzahn meist weniger Beachtung. Das würden viele Insekten und Vögel nicht verstehen. Für sie leuchten Gänseblümchen, Löwenzahn und zahlreiche weitere Blüten in faszinierenden, ultravioletten Mustern.[*1] Da die Insekten als Bestäuber unersetzlich für die Fortpflanzung von blühenden Pflanzen sind, haben viele Pflanzen Blüten entwickelt, die mit ultravioletten Mustern die Insekten zu ihrer Mitte locken sollen. Besonders aufregend daran finde ich, dass es zeigt, dass in der Welt um uns mehr vor sich geht, als wir tatsächlich mit Hilfe unserer Sinnesorgane wahrnehmen können. Es zeigt gleichzeitig, wie gut die Sinnesorgane und die Reize der Umwelt aufeinander abgestimmt sind und sich miteinander und in ständiger Wechselwirkung in den Millionen von Jahren der Evolution entwickelt haben.
Ein vergleichbares Beispiel gibt es für den Hörsinn: Auch hier ist unsere Wahrnehmungsfähigkeit auf einen bestimmten Bereich der vorhandenen Wellenlängen beschränkt oder, besser gesagt, «spezialisiert». Viele Tiere können jedoch die höheren oder tieferen Töne wahrnehmen – und auch selbst produzieren. So nutzen Fledermäuse Ultraschall zur Jagd. Elefanten können sich über weite Entfernungen mit Hilfe von Infraschall verständigen, also mit Tönen, die so tief sind, dass wir sie nicht hören können. Giraffen, so glauben viele, seien stumm, weil wir beim Zoobesuch nie hören, dass sie Geräusche von sich geben. Doch auch sie nutzen sehr niedrige Frequenzen zur Verständigung. Ob diese tatsächlich im Infraschallbereich liegen, ist noch ungeklärt.[11]
Und dann gibt es andere Sinne, über die wir Menschen überhaupt nicht verfügen, zum Beispiel den Magnetsinn, mit dessen Hilfe Vögel das Magnetfeld der Erde erspüren können und sich daran orientieren.[*2] Oder das Seitenlinienorgan der Fische, mit denen sie Wasserbewegungen wahrnehmen. Oder die Elektrozeption, mit deren Hilfe Tiere, zum Beispiel der Elefantenfisch und das Schnabeltier, und sogar Pflanzen (!) elektrische Felder wahrnehmen und zur Orientierung nutzen können.
Natürlich wäre es schön, wenn wir auch diese speziellen Muster auf den Blüten sehen oder die Sprache der Elefanten hören könnten. Doch sie haben für uns keine Relevanz, das heißt, es besteht keine biologische Notwendigkeit dafür, dass wir sie sehen oder hören. Dass wir gewisse Wellenlängen nicht sehen oder hören können, kann man als «Einschränkung» verstehen. Genauso gut können wir dies aber auch als einen Vorteil interpretieren. Denn unsere Sinnesorgane haben sich so entwickelt, dass sie eben genau die Signale aus unserer Umwelt wahrnehmen, die wichtig für uns sind. So helfen sie uns, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zudem sind unsere Rezeptoren Experten in genau dem für unser Überleben wichtigen Bereich der Wahrnehmung. Jahrmillionen von Evolution haben uns mit Sinnesorganen ausgestattet, die für genau die Reize optimiert sind, die in unserer Umwelt zu erwarten sind. Es handelt sich hier also um eine einfache Form der Erwartung, wie wir sie auch bei einfachen Lebensformen gesehen haben. Wir können dies als eine Art physiologische Erwartung verstehen hinsichtlich der Umstände, auf die unser Körper vorbereitet ist.
Man könnte meinen, dass Licht in unserem Gehirn einfach ein Abbild der Welt hervorbringt, ähnlich wie bei einer Camera obscura, bei der Licht durch ein winziges Loch fällt und ein umgedrehtes Bild auf der Rückwand in einem dunklen Raum erzeugt. Aber so einfach ist es nicht. Sehen ist nicht die einfache Projektion der Welt da draußen auf die Hinterseite unseres Schädels. Wenn ein Reiz aus der Umwelt eines unserer Wahrnehmungsorgane aktiviert, wird das hervorgerufene Signal nicht direkt an das Gehirn weitergeleitet. Vielmehr finden schon vor Ort erste Verarbeitungsschritte statt. Unser Gehirn funktioniert halt nicht isoliert. Auch wenn es als eine Art zentrale Umschlagsstelle in unserem Kopf sitzt, benötigt es die enge Zusammenarbeit mit den Sinnesorganen, um ein akkurates Verständnis seiner Umgebung zu entwickeln. Alle Sinnesorgane liefern also an das Gehirn vorsortierte und vorverarbeitete Informationen. Dies wird häufig als Beweis angeführt, wir würden nicht die wirkliche Welt wahrnehmen können, nicht «das Ding an sich». Doch dies ist ein Fehlschluss, denn bei der Verarbeitung der Sinnesreize wird die Wahrnehmung nicht verfälscht, sondern geschärft und aufbereitet, um unsere Wahrnehmung der Welt zu verbessern.
Besonders gut untersucht sind diese Verarbeitungsschritte für den Sehsinn. Wenn Licht auf unsere Lichtrezeptoren, die Photorezeptoren, trifft, findet in diesen spezialisierten Zellen eine chemische Reaktion statt. Diese löst dann ein elektrisches Signal aus, welches von den sogenannten Ganglionzellen über den Sehnerv an das Gehirn weitergeleitet wird. Doch noch davor, in der Retina, also in der Rückwand des Auges, finden erste Verarbeitungsschritte statt. In der Retina befinden sich die Photorezeptoren und die Ganglionzellen, die allerdings nicht direkt miteinander verbunden sind. Dazwischen gibt es weitere Zellen, die die Informationen von den Photorezeptoren sammeln und gebündelt weitergeben. Diese Zellen zwischen den Rezeptoren und den Ganglionzellen, die den Sehnerv formen, nennt man «Interneurone». Die Vorsilbe «inter» bedeutet «zwischen». Nun wird es bereits richtig kompliziert. Denn es gibt mehrere Sorten dieser Interneurone, und sie geben nicht einfach nur das Signal weiter, das sie vom Rezeptor erhalten haben, sondern kombinieren Signale mehrerer Photorezeptoren miteinander. Manche der Interneurone verstärken ihre Aktivität, wenn ein Photorezeptor Licht signalisiert, andere Interneurone verringern ihre Aktivität. Auf diese Weise helfen die Interneurone den Ganglionzellen, Kontraste zu schärfen. So können die Kanten und Umrisse von Objekten bei der weiteren Verarbeitung im Gehirn leichter erkannt werden. Hinzu kommt, dass einige Ganglionzellen speziell auf Bewegung in eine bestimmte Richtung reagieren, also nur dann aktiv werden, wenn ein Lichtreiz sich bespielsweise von links nach rechts über das Blickfeld bewegt. Manche Ganglionzellen werden bei schnellen Bewegungen aktiv, andere bei langsamen. Das Signal, das über den Sehnerv ans Gehirn gesendet wird, ist also kein «Rohsignal». Es ist nicht einfach die Information «Licht an» oder «Licht aus». Es enthält bereits Informationen über Kontraste, die durch die Vorverarbeitung verstärkt wurden, sowie über die Richtung und Geschwindigkeit von bewegten Lichtreizen. Zudem wird das Gesehene auch in Bezug auf die Wellenlänge hin verarbeitet. Auch hierfür gibt es spezialisierte Zellen in der Retina.
Das ist alles erstaunlich kompliziert – vor allem, wenn man sich überlegt, dass es sich hierbei nur um erste Vorverarbeitungsschritte handelt, bevor das Signal überhaupt im Gehirn angekommen ist. Diese Vorverarbeitung in der Retina basiert auf Annahmen, die unser Nervensystem über die uns umgebende Welt hat. Zum Beispiel, dass die uns umgebende Welt Ecken und Kanten hat, und dass diese Kanten besonders wichtig sind, damit wir uns gut in dieser Umgebung zurechtfinden. Dies erscheint uns vollkommen logisch – natürlich sind die Umrisse der Dinge entscheidend! Da wir alle die Welt durch ein Nervensystem wahrnehmen, das auf dem Prinzip arbeitet, Kontraste zu verstärken und Kanten dadurch besonders gut wahrzunehmen, können wir uns andere Möglichkeiten kaum vorstellen. Unser Sehsinn reagiert besonders auf bestimmte Eigenschaften der uns umgebenden Welt, die tatsächlich wichtig und nützlich sind, da die Evolution diesen Sehsinn ja unter eben diesen Bedingungen hervorgebracht hat.
Dass dies unter anderen Bedingungen auch anders laufen kann, wird an einem faszinierenden Beispiel aus der Tierwelt deutlich: Bei Mäusen wurden Ganglionzellen in der Retina gefunden, die noch wesentlich spezialisierter sind als die unsrigen.[12