Cover

CHRISTIAN
GERHAHER

Lyrisches
Tagebuch

Lieder von
Franz Schubert bis
Wolfgang Rihm

C.H.Beck

Zum Buch

«Nicht Selbstbezug und Selbstoptimierung, vielmehr die tägliche Arbeit der Bedeutungssuche ist Inhalt meines Berufes und Thema dieses ‹Tagebuchs›. Lyrisch heißt dieses Tagebuch, weil es sich vor allem mit dem Lyrischen, also mit Gedichten und ihren Vertonungen, beschäftigt.»

Christian Gerhaher, einer der bedeutendsten Sänger der Gegenwart, erzählt von besonderen Momenten seines Lebens als Sänger und den Erfahrungen, die er in über dreißig Jahren mit großen Werken der Liedgeschichte gemacht hat: von Beethovens An die ferne Geliebte über Schuberts große Zyklen, das vielfältige Liedschaffen Schumanns und die Lieder Gustav Mahlers bis hin zu Othmar Schoeck und Wolfgang Rihm. Was diese Lieder zu bedeuten haben, was sie jeweils einzigartig macht und wie sie aufzuführen sind, darüber denkt er in diesem wunderbar klugen Buch nach und öffnet uns damit Augen und Ohren.

Über den Autor

Christian Gerhaher studierte in München ursprünglich Medizin. Der Bariton tritt regelmäßig auf den internationalen Bühnen von Berlin und München über Zürich und Wien bis nach London und New York auf und wurde mit zahlreichen bedeutenden Preisen ausgezeichnet – darunter mit dem Laurence Olivier Award, dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik, dem Diapason d’or und dem Grammophone Award. 2015 wurde er Bayerischer Kammersänger. Seit mehr als dreißig Jahren widmet er sich mit dem Pianisten Gerold Huber dem Kunstlied. Christian Gerhaher unterrichtet Liedinterpretation in München und London.

Inhalt

Vorspiel mit Tiefflieger – Straubing, August 1984

Einige Liebesbotschaften

Lyrische Dramaturgie – London, September 1999

Schumanns abstrakte Oper – Berlin, 24. Februar 2010

Tradition und Rollenspiel – München, 12. Oktober 2013

Felsenseelen – Berlin, 7. September 2016

Abschied von Gewohntem – Straubing, November 2017

Drama des Augenblicks – Frankfurt, April 2014

Intermezzo – Elmau, September 2019

Holligers Mondlandschaft – Zürich, 25. März 2018

Hoffnung – Liebe – Glaube – München, 3. Februar 2017

Rihm, Goethe, Programme – Weimar, November 2018

Stelen im Eisrevier – London, Dezember 2018

Nachtrag – London, Oktober 2021

Jugendstilrose – Lissabon, 5. September 2019

Bedeuten oder Sein – München, Dezember 2020

Schuberts Lied-Vermächtnis – Helsinki, Januar 2021

Nachspiel mit Stifter – Madrid, Februar 2021

Anmerkungen

Vorspiel mit Tiefflieger

Lyrische Dramaturgie

Schumanns abstrakte Oper

Tradition und Rollenspiel

Felsenseelen

Abschied von Gewohntem

Drama des Augenblicks

Intermezzo

Holligers Mondlandschaft

Hoffnung – Liebe – Glaube

Rihm, Goethe, Programme

Stelen im Eisrevier

Jugendstilrose

Bedeuten oder Sein

Schuberts Lied-Vermächtnis

Nachspiel mit Stifter

Bild- und Zitatnachweise

Abbildungen

Notenbeispiele

Personen- und Werkregister

Meiner Frau in Bewunderung und Dankbarkeit
… und Gerold Huber (beiden)

Vorspiel mit Tiefflieger

Straubing, August 1984

6 Liebesbotschaft

Wolken, die ihr nach Osten eilt,

Wo die Eine, die Meine, die Eine weilt,

All meine Wünsche, mein Hoffen und Singen

Sollen auf eure Flügel sich schwingen,

Sollen euch, Flüchtige, zu ihr lenken,

Daß die Züchtige meiner in Treuen mag gedenken.

Singen noch Morgenträume sie ein,

Schwebet leise zum Garten hinein,

Senket als Tau euch in schattige Räume,

Streuet Perlen auf Blumen und Bäume,

Daß der Holdseligen, kommt sie gegangen,

All die fröhlichen Blüten sich öffnen mit lichterem Prangen.

Und am Abend in stiller Ruh’

Breitet der sinkenden Sonne euch zu,

Mögt mit Purpur und Gold euch malen,

Mögt in dem Meere von Gluten und Strahlen

Leicht sich schwingende Schifflein fahren,

Daß sie singende Engel glaubt auf euch zu gewahren.

Ja, wohl möchten es Engel sein,

Wär’ mein Herz gleich ihrem rein;

All meine Wünsche, mein Hoffen und Singen

Zieht ja dahin auf euren Schwingen,

Euch, ihr Flüchtigen, hinzulenken

Zu der Züchtigen, der ich einzig nur mag gedenken.

Robert Reinick/
Robert Schumann, Aus dem Liederbuch eines Malers

Wo ich herkomme, da ist es ein bisschen wie im Wilden Westen. Straubing liegt in einer großen Ebene. Schwemmland der Donau, der weite Horizont einzig im Norden endend, am Bayerischen Wald. Im Sommer wird es sehr heiß, und bei meinem Freund auf seinem Bauernhof staubte es nur so vom Getreide. Ich habe dort auch einmal ein paar Tage mitgearbeitet, bin immer die zehn Kilometer mit dem Rad hinausgefahren. Die Arbeit war schwer, aber der beißende Weizenstaub, an den erinnere ich mich gern, und besonders an die Rapsernte. Nicht zu beschreiben die vielen Farben der Körner – mein Jungbauernfreund und ich konnten gar nicht wegschauen, alles gab es zu sehen, vielleicht nur kein Blau. Und dann standen wir da und rauchten wie Cowboys, sprachen von Motorrädern – und schließlich fuhr ich auf meinem Rad wieder heim. Abends war dann doch noch nicht alles gesagt, und wir telefonierten. Da ereignete sich etwas, das ich nie mehr so erlebte: Ein Tiefflieger – wie sie damals noch ständig flogen, wir lebten am Rand der Republik und am Rand der westlichen Welt, Böhmen und der Eiserne Vorhang waren keine fünfzig Kilometer weg – näherte sich dem Bauernhof, im Telefon wurde es laut, wir unterbrachen kurz das Gespräch. Er flog weiter. Und wir redeten weiter. Bis derselbe Tiefflieger zu meinem Elternhaus kam. Ich war sprachlos, wir beide. Wir spürten sofort, welch einmaliges Erlebnis uns hier verband. Wir redeten auch jetzt über Motorräder, über die Ernte, die Arbeiter auf dem Hof. Und doch war die Verbindung durch das eben Erlebte für kurze Zeit viel tiefer und elementarer als durch unsere Worte.

Auf ein solches Ereignis hoffen wohl auch Liebende, wenn sie einmal einen Abend lang nicht am selben Ort sind. Sie verabreden dann, dass beide zu einer bestimmten Zeit den Mond anschauen, jeder an seinem Ort. Sie haben nicht denselben Blickwinkel, aber immerhin eine gemeinsame Illusion – dasselbe zu sehen, zu fühlen und zu denken, im selben Augenblick. Der Worte bedarf es dann nicht mehr, sie würden eher stören.

Vor 200 Jahren hat man viele Liebesbotschaften geschrieben und gedichtet, die von diesem Telefon-Topos zehren. Einige von ihnen sind mir besonders wichtig. Gleich der erste Gesangszyklus der gesamten Liedtradition, Beethovens An die ferne Geliebte, mit seinen sechs Liedern gehört dazu: Wolken, Bäche, Vögel, Wind – alle sollen Kundschafter des Liebenden sein, Unbelebtes wie Lebendiges, nicht jedoch echte menschliche Boten. Als wären die Dinge vernunftbegabt, sollen sie der Geliebten sagen, dass sie ihm fehle, weil sie so weit weg ist – mehr können sie ja auch gar nicht sagen. Als ob die Geliebte nicht ohnehin wüsste, dass ihr Freund sie liebt und vermisst. Der Gestus ist wichtiger als die Botschaft, so wie das beschworene Zusammensein über die Entfernung hinweg vielleicht wichtiger ist als der Austausch von Worten, das gemeinsame Denken wichtiger als das Reden. Jener Gestus zeichnet nicht nur die von Beethoven vertonten Gedichte Alois Jeitteles’ aus, sondern auch die Liebesbotschaft von Schubert und die von Schumann, das erste Lied des Schwanengesangs und das letzte Aus dem Liederbuch eines Malers (op. 36). Diese Lieder bemühen Naturereignisse, die fähig sind zu schnellem Schritt an weit entfernte Orte. So schnell, dass die Botschaft bei ihrer Ankunft noch warm ist, wenn schon nicht besonders inhaltsreich.

7 Ungeduld

[…]

Ich möchte mir ziehen einen jungen Star,

Bis daß er spräch die Worte rein und klar,

Bis er sie spräch mit meines Mundes Klang,

Mit meines Herzens vollem, heißen Drang;

Dann säng er hell durch ihre Fensterscheiben:

Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben.

Den Morgenwinden möchte ich’s hauchen ein,

Ich möchte es säuseln durch den regen Hain,

O leuchtet’ es aus jedem Blumenstern!

Trüg es der Duft zu ihr von nah und fern!

Ihr Wogen, könnt ihr nichts als Räder treiben?

Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben.

[…]

Wilhelm Müller/
Franz Schubert, Die schöne Müllerin

Auch die beiden mittleren Strophen von Ungeduld, dem siebten Lied aus Schuberts Liederzyklus Die schöne Müllerin, sind Liebesbotschaften, allerdings in einer Sonderform. Denn die Angebetete ist hier ganz nah, am selben Ort, sie weiß nur noch nichts von ihrem Glück. Im Idealfall der Liebesbotschaft kommunizieren Paare, die sich schon erklärt haben (oder kommunizieren eben nicht). In der Schönen Müllerin ist der Müllergeselle hingegen einer von vielen, neben seinen Mitstreitern in der Mühle, die die junge Müllerin anbeten. Im Laufe des Zyklus bildet er sich die Beziehung mit ihr, derentwegen er sich schließlich im Bach ertränkt, immer mehr ein. Und dieser Wahn ist es, der hier der Müllerin seine Botschaften zukommen lassen möchte (der Geselle trägt sie ja niemandem wirklich auf, das traut er sich nicht, genauso wenig wie sie ihr einfach selbst zu sagen).

Ganz unverblümt – und auch hier gibt es noch kein Paar, nur den Wunsch des Liebenden – spricht es Aloys Schreibers Blumenbrief aus, den Schubert ebenfalls vertont hat: Es geht in der Botschaft nicht um etwas, das zu sagen wäre. Es ist nur das Zusammensein mit der unbekannten Schönen, das unbedingt sein muss. Und wenn das nichts werden kann, dann gibt es nur noch den Tod.

Noch spürbar soll die Lebenswärme des Grußes in Mendelssohns/Lenaus An die Entfernte (op. 71/3) sein: Nur so weit solle die Geliebte weggehen, wie die zu überbringende Liebesrose ihre Botschaftsreise frisch zu überstehen vermag, oder wie der Schall trägt, oder wie die Nachtigall Halme zu ihrem Nest trägt. Wichtig ist die Frische der Botschaft, ja, sie ist umgekehrt Ausdruck dessen, dass das ersehnte Erleben durch übermittelte Botschaften allein nicht gewährt werden kann. Das spricht die Adressatin in Was bedeutet die Bewegung? aus Goethes West-östlichem Divan aus: «Ach, die wahre Herzenskunde,/Liebeshauch, erfrischtes Leben/Wird mir nur aus seinem Munde,/Kann mir nur sein Athem geben.» In diesem ebenso von Schubert vertonten Gedicht (Suleika I) zeigt sich die Perspektive der fernen Geliebten selbst: Sind bei Beethoven/Jeitteles die «Weste» sicherlich die nach Westen ziehenden Winde aus Osten, so heißt der Wind hier «Ost», von Weimar (Goethe) nach Frankfurt (Marianne von Willemer) wehend.

Während die Geliebte in allen erwähnten Liedern eher in der Natur zu leben scheint, weshalb sie der Botschaft unmittelbar zugänglich ist, wird der Liebende in dem eigentlich von Marianne von Willemer verfassten Gedicht beschrieben, wie er hinter den hohen Mauern einer Stadt seinen Geschäften nachgeht. Besonders aber nimmt in Ach, um deine feuchten Schwingen (auch dieses Gedicht aus dem Divan stammt von Marianne von Willemer, Schubert hat es als Suleika II vertont) der kündende Wind ein anderes Geschlecht an. Viel einfühlsamer gegenüber des anderen Fühlen spricht die Geliebte (nun wirklich) den Westwind an – endlich also eine Botschaft von ihr an den Mann –, er möge all ihren Schmerz verbergen und den Geliebten in der Ferne nicht zusätzlich betrüben. Zu solchem Altruismus zeigen sich wohl keine männlichen Absender fähig. Diese sind alle in ihrem Trennungsleid zu keiner weiteren Sorge mehr fähig als zu der um ihr eigenes Sehnen, das die Angerufene doch bitte endlich stillen möge.

Ein weiteres Lied schließlich, die Taubenpost am Ende von Schuberts Schwanengesang, gibt dem Botschafter, hier einer Brieftaube, endlich einen Namen: «Sie heißt die Sehnsucht». Und hier habe ich das Gefühl, beim Kern des Problems angelangt zu sein: Wenn man nicht die weiblich-wirkliche Zuneigung betrachtet, die sich in den Suleika-Liedern ausnahmsweise artikuliert, sondern die männliche, die doch immer nur die eigene Situation des leidenden Sehnens vor Augen hat und sie in Wind und Wasser schreibt, so kann man den Verdacht haben, dass nicht die Vereinigung mit der ersehnten Frau das Ziel des geäußerten Wünschens, sondern vielmehr dieses Wünschen selbst Gegenstand des lebendigen Interesses ist. Das ist wie in Eichendorffs Taugenichts, wo sich der Held, der sich glücklich sehnend wähnt, ein ganz Buch lang vor allem von Phantasmagorien treiben lässt, also gerade nicht von der Liebe zu einer wirklichen Frau. Ich möchte gar nicht wissen, wie sich sein Leben gestaltet, sobald es in geordnete Bahnen tritt, sein Lieben, sobald es sich wirklich entwickeln muss. Es ist also keine Überraschung, dass das Wunder dieses Buches dort enden muss, wo der nicht weiter beschreibenswerte Liebesalltag eines Mannes beginnt. Und dort müsste auch jede ‹Liebesbotschaft› enden: Die Sehnsucht wäre vorbei, wenn das Paar zusammenleben dürfte, ja müsste, wenn an die Stelle des mehr mit sich selbst beschäftigten Verliebtseins nun endlich Liebe in Gegenseitigkeit treten müsste.

In Beethovens An die ferne Geliebte (op. 98) ist es nicht nur die belebte und unbelebte Natur, die als Bote angerufen wird. Als Einrahmung, im ersten und sechsten Gedicht, sind es die Liebeslieder selbst, die wie eine Ferne und Zeiten überwindende, ubiquitär verfügbare Botschaft ihrer selbst einfach da zu sein scheinen: «Denn vor Liedesklang entweichet/Jeder Raum und jede Zeit,/Und ein liebend Herz erreichet,/Was ein liebend Herz geweiht!» Diese Botschaft möge die fern Weilende dann auch wiedersingen, so wie auch in Goethes von Schubert vertontem Gedicht An die Entfernte gesungene Liebesbotschaften als einzig denkbare Alternative zur naturvermittelten Nachricht erscheinen. Als Ausdruck unverfälschten Empfindens («Was mir aus der vollen Brust/Ohne Kunstgepräng erklungen,/Nur der Sehnsucht sich bewußt») sollen die Botschaften Beethovens ferner Geliebter jedenfalls unmittelbar verständlich sein: keine Affekte, nur Privates; nichts Empfindsames, nur gemeinsam Empfundenes; nichts, was hinter Einmaligem zurückträte, nichts, was nicht unvergleichlich wäre. All das also soll dann noch einmal aus ihrem Munde erklingen, zu einem Zeitpunkt, der ein gemeinsamer ist, zu Beginn der Nacht – eine ganz private Meditation, über alle Weiten hinweg gemeinsam.

Es tritt hier der Gesang an die Stelle der Natur, der Dichter nimmt von dieser aber die ‹Natürlichkeit› an, er möchte «Ohne Kunstgepräng» auskommen. Schon hier – im ersten Liedzyklus überhaupt, und noch bevor in Deutschland Volkslieder gesammelt werden – wird also das dialektische Paar Kunstlied/Volkslied angesprochen: Noch eine Utopie, wird dem Lied, das Kunst sein muss, seine Beglaubigung gerade nicht aus der Kunst heraus verliehen. Das Lied soll nicht nur aus der Erinnerung kommen, die den Vögeln, Bächen, Wolken und Winden mitgegeben wird, sondern Gegenwart sein. Sehr kurz sollte dann der Weg von dieser Utopie, dieser künstlerischen Ahnung, zu gegenwärtiger Wirklichkeit sein, von Beethoven zu Schubert, der diese Vorstellung – natürlich ohne Programm, aber in erster Vollendung – verwirklicht hat.

Zwischen dem ersten und dem sechsten Gedicht stehen bei Beethoven aber doch vier Lieder, die das lyrische Ich der Geliebten offensichtlich wirklich gesungen hat, denn am Schluss heißt es überraschend: «Nimm sie hin denn, diese Lieder,/Die ich dir, Geliebte, sang» – obwohl sie eigentlich nur Bedingung und Anlass des ganzen Aufhebens sind. Diese vier Gedichte sind lediglich eine Äußerungsform des Lamentierens (2 und 5) sowie des eigentlichen Verlangens nach einer schnellen Botschaft (3 und 4). Im dritten Gedicht wird wie mit einer Linse die Liebste eingefangen: Sind es zunächst die leicht und hoch segelnden Vögel, die die weite Strecke am schnellsten, in der Direttissima, zurücklegen, so wird die Botschaft in der nächsten Strophe, noch in Dur, an jene weitergegeben, die als Nebel vielleicht schon tiefer gestiegen sind, die Wolken. Durch diese müssen die Vögel jetzt hindurch. Und da ist die Geliebte auch aus der Nähe zu sehen, an den Büschen sitzend, ab hier in Moll. Schließlich hauchen ihr leichte Winde und das Bächlein zu, dass in der Ferne immerhin einer an sie denkt.

1 3  Ludwig van Beethoven: An die ferne Geliebte, Nr. 3, Takte 105; 109; 114–117

Die fünf Strophen des dritten Liedes zeigen, wie Beethoven, als das Genre des Liedes gerade entsteht, versucht, Strophen im Gesang als verschieden und damit belebt erscheinen zu lassen. Die Technik der Instrumentalvariation konnte er nicht anwenden, so dehnbar sind weder Text noch Stimme, aber Spuren hat sie doch hinterlassen – im Dur-Moll-Spiel und in der Art, wie die musikalische Artikulation das zugrundeliegende Gedicht rhythmisch gestaltet. Dies geschieht nicht durch Staccato-Punkte, nicht durch Bindungen, nicht durch Akzente, sondern durch Notenwerte, die wie die Dur-Moll-Variation eine Orientierung an der strophisch sich entwickelnden Bedeutung des Gedichts vermuten lassen. Als Unterbrechung der Gesangslinie zeigen Achtelpausen, mit denen Silben voneinander getrennt werden, sicherlich an, dass ein Unterschied zwischen Legato und Parlando der Sprachbelebung im musikalischen Kontext dienen soll (Notenbeispiele 1–3). Denn zunächst werden über langen Vokalen einzelne Viertel in den Achtelkontext eingefügt («-hen», «spä-hen»), später dann die Silbe «sin-nend» lang gesungen, auch wenn sie eigentlich kurz gesprochen wird – wie eine klingende Äquivalenz der Bedeutung. Schließlich folgen ganze Phrasen, die sich bei einer vermeintlichen Konnotation von Leichtigkeit («In dem luft’gen Himmelssaal») in die an sich ganz unsangliche Linie von Achteln, die sich mit Achtelpausen abwechseln, geradezu entleiben. Und die Variabilität der Gesangslinie spiegelt sich auch im Klavierpart: durch die Umgestaltung der ursprünglichen Achteltriolen-Bewegung, die dem Lied an sich einen bewegt bewegenden Zwölf-Achtel-Charakter gibt. Sie wird variiert durch punktierte Achtelrhythmen, gebundene und ungebundene Viertel, nachschlagende Achtel und gar zwei Takte, denen wie rezitativisch kleinen A-capella-Phrasen Akkorde unterlegt sind (Notenbeispiel 4).

4   Ludwig van Beethoven: An die ferne Geliebte, Nr. 3, Takte 118–125

All das lässt mich vermuten, dass Beethoven hier eine sehr variable Art der Artikulation im Sinne einer Textinterpretation anstrebte, zu einem Zeitpunkt, als das Vokabular für die Notation des Gesangsparts in diesem Sinn noch gar nicht existierte. Eigentlich gab es das später auch nicht explizit, es war aber durch die neu entstandene Weise melodischer Deklamation, bei Schumann und Wagner beispielsweise, gar nicht mehr nötig. Und so ist es für uns heutige Darsteller fast ein Kuriosum, wenn wir eine solche Notation gesanglicher Artikulation vorfinden. Der in den Trivialitäten der Gesangskunst noch unerfahrene Alban Berg notierte im Wozzeck gar um die sechzig verschiedene Varianten (angeblich, irgendjemand soll das gezählt haben …) der gesanglichen Darstellung. Kein Mensch wird so vermessen sein, alle ihre Bedeutungen genau verstehen oder differenzierend festlegen zu wollen, aber dass sich hier eine immense Klangphantasie zu realisieren und zu vermitteln sucht, dürfte dennoch klar werden.

Es war deswegen für mich, zumal im Konzert, nie eine praktikable Lösung, mich sklavisch an die Notenlängen in Beethovens drittem Lied zu halten – die verschiedenen Silbenlängen können in ihrer Notation in Achteln oder Vierteln ja kaum das Abbild einer exakten Klangvorstellung sein. Und eigentümlicherweise ist es nicht einmal wirklich hörbar, wenn man die Notenwerte ganz exakt auszuführen versucht. Denn allein die unterschiedlichen Dimensionen verschiedener Konsonanten oder Konsonantenketten schränken, zumal bei so kurzen Notenwerten wie in diesem Lied, die erreichbare rhythmische Exaktheit ein, speziell im Vergleich zu Instrumentalklängen. Andererseits ist jene fast ‹natürlich› erscheinende künstlerische Freiheit in meinen Augen sogar Ausdruck darstellerischer Werktreue, denn erst durch die Annahme eines Interpretationsprinzips kann die notwendige situative Passgenauigkeit entstehen. Gerade größtmögliche Buchstabentreue kann einen Nachschöpfer paradoxerweise auch am klanglichen Kern eines Werkes vorbeiführen – für mich eines der vielen Indizien dafür, dass als Prinzip der darstellenden Künste die Werktreue der Autorentreue vorzuziehen ist. Dabei zeigt sich aber auch, dass diese vorzugsweise Werktreue nicht nur explizites Verweigern eines Autorenwillens sein muss – wer müsste sich schon daran halten, dass zum Beispiel Berg sich für seinen Wozzeck in einigen Szenen (Straße, erstes Wirtshaus …) ein naturalistisches Bühnenbild wünschte? –, sondern auch durchaus Exekution des extrapolierten Willens des Urhebers sein kann. Der gefällige Satz «Das Werk weiß mehr als der Autor» ist also keineswegs anarchische Rechtfertigung künstlerischer Beliebigkeit und darstellerischer Selbstüberhöhung.

Bei Bergs Wozzeck heißt meine Schlussfolgerung daher, nicht eine eindeutige Lösung des Problems zu suchen, indem man etwa entweder nur spricht oder nur singt, sondern einerseits einen der Situation angepassten Klang zu entwickeln, ihn aber auch mit einer plausiblen Bedeutung der jeweiligen Niederschrift zusammenzubringen. Und dann kann man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln wie Artikulation, Dynamik, Intonation, Farbigkeit und Vibrato vielleicht sogar auf weit mehr als sechzig verschiedene Arten der Darstellung kommen, denn im Grunde ist ja jeder darzustellende Ton, jedes abzubildende Wort für einen Sänger und Schauspieler ein einmaliges, ein unvergleichliches klangliches Ereignis.

Im vierten Lied An die ferne Geliebte dann der Überschwang: Die unbelebten Drei – Wolke, West und Bächlein –, die im vorhergehenden Lied noch durch die Vögel mit Leben und Sinn versehen wurden, werden nun durch den Schöpfer der Botschaft selbst belebt: Er wünschte, dabei zu sein, die Wolken sollen ihn mitnehmen, die Lust der durch die Haare der Geliebten streifenden Winde möchte er teilen. Am schönsten aber sein Wunsch – wie in Eifersucht und Stolz aus Schuberts Müllerin, wo der Müller dem Bächlein befiehlt: «Kehr um!» –, die Bächlein mögen doch einfach zurückfließen, sobald sie ihr Bild in sich aufgenommen haben. Es ist der Wunsch nach Rückmeldung, wie von einer Postkutsche, wie von einem Telegrafen, wie von einem Fernseher, die auch dem Liebenden alles von ihr Mitteilbare mitteilen soll: nicht nur die Tränen, die sie in den Bach vergießt, nicht nur Worte, sogar Töne und Bilder sollen es sein. Wie sie dort in der Ferne ist, das möchte er auch sehen, ja sogar fühlen. Das Wasser als unbelebter Gegenpol zur eigenen, körperlichen Sinnlichkeit – das werden wir bald wieder erleben in Schuberts Müllerin, wo der lebenseingeschränkte Müller ein Alter Ego braucht: den Bach.

In Robert Schumanns eingangs zitierter Liebesbotschaft (op. 36/6) findet sich der Gegenentwurf dazu. In diesem Lied – eine klingende Inkarnation des Ätherischen, geradezu ein gesungenes Perpetuum mobile – treten die beauftragten Botschafter, die Wolken, als vollendete Brieftaube im Sinn der Taubenpost aus Schuberts Schwanengesang auf. Sie verkörpern geradezu ideal die Sehnsucht des Senders: Metamorph, in allen Farben und Formen erscheinend, wollen sie überhaupt nichts Konkretes mehr mitteilen, wie eine einzige Erscheinung. Die Geliebte wird, sollte sie denn an den Absender denken, nur noch subkutan dazu bewogen, wie unbefleckt von eigener Begierde, deshalb wird sie auch züchtig genannt und treu. Denn alle Wolkenerscheinungen («All meine Wünsche, mein Hoffen und Singen»), wie sie sich auch präsentieren – als Tau in schattigen Räumen, als Perlen auf Blumen und Bäumen, als mit Purpur und Gold ins Meer von Gluten und Strahlen gemalte Schifflein, auf denen schließlich Englein singen –, sie können nur bewirken, dass sie sich an ihn erinnert fühlt: Es gibt für sie eben nur ihn.[1] Diese chauvinistische, fast ein wenig exhibitionistische Begeisterung ist das Spiel, für das der Schreiber eine Adressatin braucht. Vielleicht soll sie nachgerade nicht anwesend sein. Zumindest scheint doch eine Antwort oder Einmischung in seine Ergießungen gar nicht erwünscht. Und so zeigt sich als Extrem der Liebesbotschaft, dass das Wichtigste am ‹Lied an die fern weilende Geliebte› vielleicht die Ferne ist.

Gerold Huber und ich hatten mit diesem Lied ein Erweckungserlebnis. Denn wir wurden als noch junge Studenten mit einer Ignoranz konfrontiert, die das weltbewegend Abgehobene dieses Liedes nicht verstand, so wie Eric Sams über das Lied schreibt, es hebe vielleicht mit zu großer Süße an.[2] Für mich ist das ein bestürzender Ausdruck mangelnden Verstehen-Wollens, das uns aber alle immer zu befallen droht, wenn Einzigartiges unser Differenzierungsvermögen zu überfordern droht. Bei der ersten Aufnahme jedenfalls, die wir beide überhaupt machen durften, mussten wir uns beim Bayerischen Rundfunk mit unserer Vorstellung gegen den erfahrenen und eigentlich großartigen Tonmeister durchsetzen, der dieses Lied in pastoserem Ton musiziert haben wollte als wir. Aber unsere Vision für das Lied, das wie die Ewigkeit jedes Glauben-Wollenden klingt, wurde belohnt: Die Aufnahme gewann das Interesse unserer Agentin, und sie bescherte uns unseren ersten wirklich wichtigen Auftritt, im Mai 1999 bei der Schubertiade in Lindau.

Wir verbinden mit dem attacca einsetzenden Hauptmotiv, einer punktiert sich von der Terz zur Oktav aufschwingenden Tonleiter, die dann wieder zur Quint absteigt, einen unmittelbar anhebenden Ausdruck seliger Verklärtheit, dem alles Affirmative fehlt, der allerdings auch keinen Anflug von Unbestimmtheit ahnen lässt. Wir führen das Lied immer so langsam wie möglich auf, so dass einerseits mir die Luft nicht ausgeht und andererseits auch der Phrase selbst nicht, damit sie eben gerade nicht zerfalle.

Diese Luft ist nun nicht der illustrierende Atem und Hauch, der sich bei Beethovens ‹Liebesbotschaft› vielfach materialisiert. Vielmehr ist es ein Atem in eigentümlicher Schwere, der neben der Ferne das Singen selbst zum Thema macht – wie in den beiden Rahmenliedern von Beethovens Ferner Geliebter. Allerdings geschieht dies nicht wie dort expressis verbis, sondern durch das Singen selbst, in Sinnlichkeit: Singen wird als Singen erfahrbar. Und dann verwende ich so wenig Vibrato wie möglich, dessen Ausschläge ich so gering wie möglich halte. Die Farbe soll hell und leicht sein. Und alle Parenthesen («Wo die Eine, die Meine, die Eine weilt» und «Dass der Holdseligen, kommt sie gegangen,/All die fröhlichen Blüten») brauchen einfach genügend Luft und Dauer, um als solche erkannt zu werden, um sich erklären zu können. Und doch benötigen sie auch noch genügend Kraft, um jene Sinnlichkeit nicht nur zu bedeuten, sondern als gesungen-gespielte Phrasen wirklich zu verkörpern. Es ist eine Sinnlichkeit, die nicht im oben beschriebenen Sinne dem getrennten Paar fehlte, sondern für den selbstgenügsam Sehnenden im Überfluss vorhanden ist. Es ist das Lied als Feier seiner selbst.

Am letzten Beispiel lernte ich, wie sehr einem Satz, der als musikalische Phrase unterbrochen ist («Dass der Holdseligen, kommt sie gegangen,/[Klavierzwischenspiel] All die fröhlichen Blüten sich öffnen mit lichterem Prangen»), vom Sänger umso größere Aufmerksamkeit zukommen muss. Denn es geht darum, den durch das Enjambement und durch die plötzliche Fünfhebigkeit der letzten Strophenzeile verkörperten Eindruck von Unendlichkeit, die sich auch in dem Perpetuum-mobile-Charakter des ganzen Liedes zeigt, zu erhalten: Der Satz kann auch gesungen vielleicht dadurch als Ganzes lebendig bleiben, dass die Lautstärke, mit der der Gesang zu Beginn des Klavierzwischenspiels endet, bei dessen Wiedereintritt exakt wiederaufgenommen wird.

Auf dem melodischen Höhepunkt hat Schumann ein Ossia, eine um bis zu einer Sext tiefere Alternative, notiert, in der die sequenzierte Gesangslinie bis zum as, im Original sogar bis zum b umgangen werden kann. Das hohe Original erschien Gerold Huber und mir von Anfang an als den Sinn dieses Liedes konterkarierend, weil zu arienhaft, so dass ich geradezu froh war, sie technisch gar nicht schön singen zu können – ähnlich wie der Schluss der Arie des Dr. Marianus in Schumanns Szenen aus Goethes Faust («… Gnade bedürfend»). Nach unten gesungen drückt diese Stelle passend eine größere Unbestimmtheit aus und entspricht mehr der verklärten Weiblichkeit als das überzeugte Sich-Aufschwingen zum endgültig abschließenden hohen g.[3] Vielleicht sind diese Ossias nach oben die Trauben, die mir als Fuchs zu sauer waren, zumindest aber klangen diese Früchte, wenn ich sie mir denn abrang, nicht süß genug. Wunderbar unbestimmt endet jedenfalls auch dieses Lied, wenn Reinick dichtet und Schumann singt: «Euch, ihr Flüchtigen, hinzulenken/Zu der Züchtigen, der ich einzig nur mag gedenken» – mag er nur ihrer gedenken und keiner anderen, oder mag er ihrer nur gedenken, aber kein Leben mit ihr führen?

Heute gibt es das Problem der Liebesbotschaft nicht mehr. Wir können überall hinkommen, oder wir telefonieren oder unterhalten uns über den Computer. Nur das tiefere, sinnliche Erfahren des anderen, das fehlt hier wie dort, darüber kann auch der vage wiederkannte Stimmklang nicht hinwegtäuschen. Auch das bewegte Gesicht beim Skypen ist nur ein Abglanz der Situation, in der zwei Menschen einander anfassen, dieselbe Luft atmen, durch denselben Regen, dasselbe Licht und denselben Wind berührt werden, gemeinsam die gleiche Luft in zwei Zigaretten verrauchen. Umso eindrücklicher ist mir daher, wie damals schon mein Freund und ich geradezu schockiert waren durch jenes kurzzeitige Ineinandergreifen sinnlicher und kognitiver Erlebnisse: Ich höre den Düsenjet übers Telefon und stelle mir vor, wie laut er wohl sein muss, wie sehr er einen auch körperlich erschauern lässt, der Schall, der nicht einzig über die Trommelfelle wahrgenommen wird, sondern ein grässliches Schauern der ganzen bewegten Haut und Haare auslöst. Und dann wird der Schall im rechten Telefon-Ohr, das die entfernte Situation vermittelt, leiser und im linken, echten Ohr lauter, weil der Jet nun tatsächlich bei mir ankommt – und vice versa bei meinem Freund. Eine solche gleichzeitige und gemeinsame sinnliche und virtuelle Erfahrung über eine große Entfernung hinweg habe ich nie mehr erlebt.

Die Trauer aber aus alten Zeiten, sich über Distanzen noch nicht einmal rudimentär verständigen zu können, die ist vielleicht zum wichtigsten literarischen Motiv der Liedgeschichte geworden. Und das Lied ist noch heute ihre berückendste Vergegenwärtigung.

Einige Liebesbotschaften

An die ferne Geliebte

1

Auf dem Hügel sitz ich spähend

In das blaue Nebelland,

Nach den fernen Triften sehend,

Wo ich dich, Geliebte, fand.

Weit bin ich von dir geschieden,

Trennend liegen Busch und Tal

Zwischen uns und unserm Frieden,

Unserm Glück und unsrer Qual.

Ach, den Blick kannst du nicht sehen,

Der zu dir so glühend eilt,

Und die Seufzer, sie verwehen

In dem Raume, der uns teilt.

Will denn nichts mehr zu dir dringen,

Nichts der Liebe Bote sein?

Singen will ich, Lieder singen,

Die dir klagen meine Pein!

Denn vor Liedesklang entweichet

Jeder Raum und jede Zeit,

Und ein liebend Herz erreichet,

Was ein liebend Herz geweiht!

2

Wo die Berge so blau

Aus dem neblichen Grau

Schauen herein,

Wo die Sonne verglüht,

Wo die Wolke umzieht,

Möchte ich sein!

Dort im ruhigen Tal

Schweigen Schmerzen und Qual.

Wo im Gestein

Still die Primel dort sinnt,

Weht so leise der Wind,

Möchte ich sein!

Hin zum sinnigen Wald

Drängt mich Liebesgewalt,

Innere Pein.

Ach, mich zög’s nicht von hier,

Könnt’ ich, Traute, bei dir

Ewiglich sein!

3

Leichte Segler in den Höhen,

Und du Bächlein, klein und schmal,

Könnt’ mein Liebchen ihr erspähen,

Grüßt sie mir viel tausendmal.

Seht ihr Wolken sie dann gehen

Sinnend in dem stillen Tal,

Laßt mein Bild vor ihr entstehen

In dem luft’gen Himmelssaal.

Wird sie an den Büschen stehen,

Die nun herbstlich falb und kahl,

Klagt ihr, wie mir ist geschehen,

Klagt ihr, Vöglein, meine Qual.

Stille Weste, bringt im Wehen

Hin zu meiner Herzenswahl

Meine Seufzer, die vergehen

Wie der Sonne letzter Strahl.

Flüstr’ ihr zu mein Liebesflehen,

Laß sie, Bächlein, klein und schmal,

Treu in deinen Wogen sehen

Meine Tränen ohne Zahl!

4

Diese Wolken in den Höhen,

Dieser Vöglein muntrer Zug

Werden dich, o Huldin, sehen,

Nehmt mich mit im leichten Flug!

Diese Weste werden spielen

Scherzend dir um Wang und Brust,

In den seidnen Locken wühlen,

Teilt ich mit euch diese Lust!

Hin zu dir von jenen Hügeln

Emsig dieses Bächlein eilt.

Wird ihr Bild sich in dir spiegeln,

Fließ zurück dann unverweilt!

5

Es kehret der Maien, es blühet die Au.

Die Lüfte, sie wehen so milde, so lau.

Geschwätzig die Bäche nun rinnen.

Die Schwalbe, die kehret zum wirtlichen Dach,

Sie baut sich so emsig ihr bräutlich Gemach,

Die Liebe soll wohnen da drinnen.

Sie bringt sich geschäftig von kreuz und von quer

Manch weicheres Stück zu dem Brautbett hierher,

Manch wärmendes Stück für die Kleinen.

Nun wohnen die Gatten beisammen so treu,

Was Winter geschieden, verband nun der Mai,

Was liebet, das weiß er zu einen.

Es kehret der Maien, es blühet die Au.

Die Lüfte, sie wehen so milde, so lau.

Nur ich kann nicht ziehen von hinnen.

Wenn alles, was liebet, der Frühling vereint,

Nur unserer Liebe kein Frühling erscheint,

Und Tränen sind all ihr Gewinnen.

6

Nimm sie hin denn, diese Lieder,

Die ich dir, Geliebte, sang.

Singe sie dann abends wieder

Zu der Laute süßem Klang.

Wenn das Dämmrungsrot dann ziehet

Nach dem stillen blauen See,

Und sein letzter Strahl verglühet

Hinter jener Bergeshöh;

Und du singst, was ich gesungen,

Was mir aus der vollen Brust

Ohne Kunstgepräng erklungen,

Nur der Sehnsucht sich bewußt:

Dann vor diesen Liedern weichet,

Was geschieden uns so weit,

Und ein liebend Herz erreichet,

Was ein liebend Herz geweiht!

Alois Jeitteles/
Ludwig van Beethoven

1 Liebesbotschaft

Rauschendes Bächlein, so silbern und hell,

Eilst zur Geliebten so munter und schnell?

Ach, trautes Bächlein, mein Bote sei du;

Bringe die Grüße des Fernen ihr zu.

All’ ihre Blumen, im Garten gepflegt,

Die sie so lieblich am Busen trägt,

Und ihre Rosen in purpurner Glut,

Bächlein, erquicke mit kühlender Flut.

Wenn sie am Ufer, in Träume versenkt,

Meiner gedenkend das Köpfchen hängt,

Tröste die Süße mit freundlichem Blick,

Denn der Geliebte kehrt bald zurück.

Neigt sich die Sonne mit rötlichem Schein,

Wiege das Liebchen in Schlummer ein.

Rausche sie murmelnd in süße Ruh’,

Flüst’re ihr Träume der Liebe zu.

Ludwig Rellstab/
Franz Schubert, Schwanengesang

Der Blumenbrief

Euch Blümlein will ich senden

Zur schönen Jungfrau dort,

Fleht sie mein Leid zu enden

Mit einem guten Wort.

Du Rose kannst ihr sagen,

Wie ich in Lieb’ erglüh’,

Wie ich um sie muß klagen

Und weinen spät und früh.

Du, Myrte, flüstre leise

Ihr meine Hoffnung zu,

Sag’: auf des Lebens Reise

Glänzt ihm kein Stern als du.

Du Ringelblume deute

Ihr der Verzweiflung Schmerz;

Sag’ ihr: des Grabes Beute

Wird ohne dich sein Herz.

Aloys Schreiber/
Franz Schubert

An die Entfernte

Diese Rose pflück’ ich hier

In der weiten Ferne,

Liebes Mädchen, dir, ach dir,

Brächt’ ich sie so gerne!

Doch bis ich zu dir mag ziehen

Viele weite Meilen,

Ist die Rose längst dahin;

Denn die Rosen eilen.

Nie soll weiter sich in’s Land

Lieb’ von Liebe wagen,

Als sich blühend in der Hand

Läßt die Rose tragen;

Oder als die Nachtigall

Halme bringt zum Neste,

Oder als ihr süßer Schall

Wandert mit dem Weste.

Nikolaus Lenau/
Felix Mendelssohn Bartholdy

Suleika I

Was bedeutet die Bewegung?

Bringt der Ost mir frohe Kunde?

Seiner Schwingen frische Regung

Kühlt des Herzens tiefe Wunde.

Kosend spielt er mit dem Staube,

Jagt ihn auf in leichten Wölkchen,

Treibt zur sichern Rebenlaube

Der Insekten frohes Völkchen.

Lindert sanft der Sonne Glühen,

Kühlt auch mir die heißen Wangen,

Küßt die Reben noch im Fliehen,

Die auf Feld und Hügel prangen.

Und mir bringt sein leises Flüstern

Von dem Freunde tausend Grüße;

Eh’ noch diese Hügel düstern,

Grüßen mich wohl tausend Küsse.

Und so kannst du weiter ziehen!

Diene Freunden und Betrübten.

Dort, wo hohe Mauern glühen,

Find’ ich bald den Vielgeliebten.

Ach, die wahre Herzenskunde,

Liebeshauch, erfrischtes Leben

Wird mir nur aus seinem Munde,

Kann mir nur sein Atem geben.

Johann Wolfgang von Goethe, Marianne von Willemer/
Franz Schubert

Suleika II

Ach, um deine feuchten Schwingen,

West, wie sehr ich dich beneide:

Denn du kannst ihm Kunde bringen,

Was ich in der Trennung leide!

Die Bewegung deiner Flügel

Weckt im Busen stilles Sehnen;

Blumen, Auen, Wald und Hügel

Stehn bei deinem Hauch in Tränen.

Doch dein mildes sanftes Wehen

Kühlt die wunden Augenlider;

Ach, für Leid müßt’ ich vergehen,

Hofft’ ich nicht zu sehn ihn wieder.

Eile denn zu meinem Lieben,

Spreche sanft zu seinem Herzen;

Doch vermeid’ ihn zu betrüben

Und verbirg ihm meine Schmerzen.

Sag’ ihm, aber sag’s bescheiden:

Seine Liebe sei mein Leben,

Freudiges Gefühl von beiden

Wird mir seine Nähe geben.

Johann Wolfgang von Goethe, Marianne von Willemer/
Franz Schubert

14 Die Taubenpost

Ich hab’ eine Brieftaub’ in meinem Sold,

Die ist gar ergeben und treu;

Sie nimmt mir nie das Ziel zu kurz

Und fliegt auch nie vorbei.

Ich sende sie viel tausendmal

Auf Kundschaft täglich hinaus,

Vorbei an manchem lieben Ort,

Bis zu der Liebsten Haus.

Dort schaut sie zum Fenster heimlich hinein,

Belauscht ihren Blick und Schritt,

Gibt meine Grüße scherzend ab

Und nimmt die ihren mit.

Kein Briefchen brauch’ ich zu schreiben mehr,

Die Träne selbst geb’ ich ihr,

Oh, sie verträgt sie sicher nicht,

Gar eifrig dient sie mir.

Bei Tag, bei Nacht, im Wachen, im Traum,

Ihr gilt das alles gleich,

Wenn sie nur wandern, wandern kann,

Dann ist sie überreich.

Sie wird nicht müd’, sie wird nicht matt,

Der Weg ist stets ihr neu;

Sie braucht nicht Lockung, braucht nicht Lohn,

Die Taub’ ist so mir treu!

Drum heg’ ich sie auch so treu an der Brust,

Versichert des schönsten Gewinns;

Sie heißt: die Sehnsucht – kennt ihr sie? –

Die Botin treuen Sinns.

Johann Gabriel Seidl/
Franz Schubert, Schwanengesang

An die Entfernte

So hab’ ich wirklich dich verloren?

Bist du, o Schöne, mir entflohn?

Noch klingt in den gewohnten Ohren

Ein jedes Wort, ein jeder Ton.

So wie des Wandrers Blick am Morgen

Vergebens in die Lüfte dringt,

Wenn, in dem blauen Raum verborgen,

Hoch über ihm die Lerche singt:

So dringet ängstlich hin und wieder

Durch Feld und Busch und Wald mein Blick;

Dich rufen alle meine Lieder:

O komm, Geliebte, mir zurück!

Johann Wolfgang von Goethe/
Franz Schubert

Lyrische Dramaturgie

London, September 1999

Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden.

Friedrich Nietzsche, leider nicht über Schumann[1]

Robert Schumanns Liedschaffen ist zwar nur rund halb so umfangreich wie das Franz Schuberts, des «Erfinders» dieser Gattung, es ist jedoch durch eine besondere Konsequenz gekennzeichnet. Das äußert sich in einem bis heute einzigartigen Willen zur systematischen Konzeption von Anfang an. Dieser gibt sich in den Kompositionen von Schumanns erstem Liederjahr 1840 in relativ naheliegenden dramaturgischen Ideen vielfach zu erkennen – in den drei wichtigsten Zyklen, aber auch sonst in kleinerer Form. Ausblicke auf die konzeptionelle Freiheit und Vielfalt späterer Jahre scheinen hier bereits auf, so sind beispielsweise die Andersen-Lieder (op. 40) mit ihrem geradezu maliziösen emotionalen Abstieg Wegbereiter für die abstrakteren Lenau-Lieder (op. 90) zehn Jahre später.

Die konzeptionelle Vielfalt ist aber bereits von Beginn an erstaunlich. So könnte Aus dem Liederbuch eines Malers (op. 36) von 1840 etwa die klanglich imaginierte Zusammenstellung einer Bildermappe sein, eine Art Vokal-Sonate – das erste Lied ist ein heiterer Satz, die Lieder 2 bis 4 sind ein Scherzo mit drei Romanzenteilen, darauf folgt ein dramatisches Lied in der Umgebung von Goethes Erlkönig und Heines Loreley, und alles wird abgeschlossen von einer unendlichen Melodie. Der «kleine» Liederkreis (op. 24) nach Heinrich Heine ist meines Erachtens (abgesehen von den drei Romanzen und Balladen op. 49) Schumanns ironischster Zyklus, vor allem wegen der sukzessiven Kontrastierung solcher Gedichte mit hochromantisch-sehnsüchtigen Liedern, die sich dazwischenschieben (Nr. 3 Ich wandelte unter den Bäumen, Nr. 5 Schöne Wiege meiner Leiden oder Nr. 7 Berg’ und Burgen schau’n herunter).

Frauenliebe und Leben (op. 42) könnte in Wirklichkeit ein ‹Marienleben› sein – ein vielleicht gewagter, aber spannender Versuch, Schumanns Textkürzungen des Gedichtzyklus von Chamisso zu erklären.[2] Wenn man nicht so weit gehen und dennoch das Phänomen dieses ‹unzeitgemäßen› Zyklus würdigen möchte, kann man das auch auf weniger spektakuläre Weise tun: mit Respekt nicht nur vor der formalen, sondern besonders auch vor der psychologisch ergreifenden Erfassung der biedermeierlichen Dichtung.[3] Man muss diesen musikalisch hinreißend sensiblen Zyklus nicht durch banale Hinweise auf textliche Anachronismen inkriminieren und verdammen – seine Ablehnung scheint mir gerade unter Intellektuellen geradezu eine Selbstverständlichkeit zu sein. Doch wenn die inhaltliche Übereinstimmung jedes Kunstwerks mit der ethischen Überzeugung des Rezipienten oder Interpreten Voraussetzung für seinen Erhalt wäre, dann würde unsere geistige Welt mit einem Schlag sehr leer.

Und auch die weiteren Lied-Opera aus Schumanns erstem Jahr als Liedkomponist verraten zwar hinsichtlich ihrer Konzeption nicht selten einen autobiographisch grundierten Charakter (als Beispiele seien nur op. 25 (Myrthen) und op. 30 genannt – zu beiden siehe weiter unten im Text).[4] Sie zeigen aber sämtlich eine über bloße Sammlungen hinausgehende zyklische Geschlossenheit, die mal mehr, mal weniger klar zutage tritt.

(Der Knabe mit dem Wunderhorn)(Der Page)(Der Hidalgo)HidalgoRote HanneLöwenbraut Kartenlegerin