Über das Buch:
Zwei unfassbare Tragödien haben das Leben von Sam und Annie Truelove zerstört. Nichts ist mehr geblieben von ihrer Liebe, ihrer Ehe, ihrer Familie. Jetzt, fünf Jahre danach, ist es Zeit, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen und sich ein neues Leben aufzubauen. Nur aus diesem Grund kehrt Annie nach Hause zurück, fest entschlossen, danach alles, was einmal war, für immer hinter sich zu lassen.

Doch die Menschen, denen sie begegnet, und die Ereignisse, die sie unweigerlich in den Bann ziehen, stellen plötzlich alles infrage. Kann es nach so vielen Jahren des Schmerzes tatsächlich Vergebung und Hoffnung geben?

Über die Autorin:
Linda Nichols berührt die Herzen ihrer Leser mit ihren Romanen auf einzigartige Weise. Bereits ihr christliches Romandebüt war für den Christy-Award nominiert. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie in Tacoma, Washington.

5

Alle waren fort, als Annie nach Seattle zurückkam. Als sie am Donnerstagmorgen erwachte, war ihre Wohnung unheimlich still. Weder der Wetterbericht noch eine Fernsehpredigt oder eine Talkshow dröhnte aus dem Stockwerk über ihr. Mrs Larsen hatte ihr erzählt, dass ihre Tochter sie mit nach Vancouver nehmen wollte, damit sie ihren Sohn sehen könne. Auch aus der Wohnung auf der anderen Seite des Flurs drang kein Rufen oder laute Musik. Adrienne war in der Schule und würde danach bis Montag bei ihrem Vater bleiben. Von der Geburtstagsfeier waren bis auf ein paar Pappteller in ihrem Abfalleimer keine Spuren mehr zu sehen.

Annie stand auf, wusch sich das Gesicht und schlüpfte in ihren Bademantel. Er war aus hellblauem Baumwollpolyester mit einem Reißverschluss vorne, und sie hatte ihn für vier Dollar in einem Secondhandladen gekauft. Ihr gefiel die Vorstellung, dass er früher einer netten, alten Dame gehört hatte. Vielleicht hatte sie ihn jeden Morgen getragen, während sie ihren Tee getrunken und ihr Kreuzworträtsel gelöst hatte. Annie wollte sich nicht vorstellen, wie er im Secondhandladen gelandet war. Aber er passte ihr, fühlte sich an den kalten Wintertagen gut an und wärmte sie nachts, wenn ihr das schmale Bett viel zu breit erschien und sie nicht einschlafen konnte.

Sie trat ans Fenster und verglich die Aussicht mit dem Blick, den sie gestern aus dem Hotelfenster in Los Angeles gehabt hatte. Dieser Blick bot nicht so viel. Statt Wolkenkratzer und heller Lichter konnte sie die nicht besonders spannende Landschaft eines Industriegebiets erkennen. Sie sah das Schild von Bardahl Oil, die Parkgarage, die Autoschlosserei, die Bäckerei. Und sie sah Shirley unten in ihrem kleinen Vorgarten, wo sie trotz des Nebels, der heute über der Stadt hing, ihre Morgengymnastik machte. Auch Anfang Juni hatte man in Seattle manchmal eher das Gefühl, an einem verregneten Frühlingsmorgen als mitten im Sommer aufgewacht zu sein. Annie ließ den Vorhang fallen und öffnete die Schiebetür zu ihrem Balkon. Sie trat auf den kleinen Balkon hinaus, eine wackelige Konstruktion aus schmalen Brettern, die an die Ziegelfassade geschraubt waren.

„Hallo, Shirley“, rief sie.

„Hallo, Annie!“, antwortete Shirley, ohne ihren Bewegungsrhythmus zu unterbrechen.

Shirley ließ sich von nichts und niemandem in ihren täglichen Übungen beirren, egal, ob es regnete oder die Sonne schien. Aber hier regnete es meistens. Von September bis Juni nichts als Regen. Annie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Sie dachte an zu Hause, wo die Erde seit Jahren ausgetrocknet war und auf Leben spendende Feuchtigkeit wartete. Trotzdem würden die Blumen blühen, auch die Bienen würden auf der Suche nach Nektar ausschwirren, aber die Blüten wären weniger, die Erträge geringer. Spätestens Mitte des Sommers wären die wenigen Blumen, die es gab, verdorrt. Bis September wäre die Erde rissig und hart, das Gras braun und verbrannt. Sie schaute sich in dem feuchten Grün um und hatte Mühe zu glauben, dass es diese andere Welt überhaupt gab. Aber es gab sie. Die anderen waren dort, selbst wenn Annie nicht bei ihnen war, und einen Moment lang sehnte sie sich danach, ihre schmerzenden Glieder in der Sonne zu Hause zu wärmen. Sie schüttelte den Kopf. Los Angeles war sonnig und warm. Dort würde sie vielleicht finden, was sie suchte.

Wenigstens regnete es heute nicht, tröstete sie sich. Aber sie hatte gewusst, dass es feucht war, auch ohne hinauszuschauen. Heute Morgen hatte sie unten am Wasser ein Nebelhorn gehört, einen tiefen, traurigen Ton. Es hatte sie an das Pfeifen der Züge erinnert, die sie als Mädchen jede Nacht gehört hatte. Der Zug war jeden Abend durch den Bahnhof gefahren. Annie hatte gehört, wie der einsame Ton an den Hängen emporgestiegen war, bevor er in ihr Zimmer drang. Das Nebelhorn ertönte jetzt wieder, lang, tief, unheilverkündend, und ihr wurde plötzlich etwas bewusst: Beide Geräusche waren Warnungen. Der Zug pfiff nicht, um den Bahnhofvorsteher zu grüßen. Es war eine Warnung. Vorsicht, warnte der Pfiff. Geh von den Schienen. Etwas kommt, das größer ist als du. Und die Schiffe warnten mit dem tiefen, durchdringenden Nebelhorn die anderen Boote. Vorsicht. Komm mir nicht in den Weg. Sonst versinkst du bald im kalten Ozean.

Sie erschauerte. Das Gefühl, dass diese Warnung ihr galt, durchfuhr sie, aber sie sagte sich, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Sie sagte sich, dass sie einen Punkt erreicht habe, an dem es nichts mehr gab, das man ihr wegnehmen konnte. Und obwohl das vermutlich eine Furchtlosigkeit in ihr hätte auslösen sollen, zögerte sie einen Moment und fragte sich, ob es noch Fehler gab, die sie machen konnte, und Dinge, die sie verlieren konnte.

Sie warf einen letzten Blick auf Shirley und ging wieder hinein. Plötzlich war ihr kalt. Sie wünschte, Kirby hätte nicht darauf bestanden, dass sie sich an den vereinbarten Zeitplan hielt und sich den Rest der Woche freinahm.

„Ruh dich aus“, hatte ihr Redakteur gesagt, als sie ihn gestern Abend angerufen hatte, um ihm ihre Rückkehr mitzuteilen. „Außerdem“, hatte er ergänzt, „weiß ich, was du mir sagen willst. Ich will mir nicht das Wochenende verderben lassen. Wir sehen uns am Montag.“

Annie fühlte sich ruhelos und leer, eine furchtbare Kombination. Sie hasste freie Tage genauso sehr wie Wochenenden. Es gab so viel leere Zeit und so wenig, mit dem sie diese Zeit füllen konnte. Es ist Zeit, das alles zu ändern, sagte sie sich. Es ist Zeit, den nächsten Schritt zu gehen. Als sie sich umblickte, wurde ihr bewusst, wie lang sie das Unvermeidliche vor sich hergeschoben hatte. Hier wohnte sie, dachte sie nüchtern, als sie die Schiebetür schloss. Das war ihr Leben, dieser kahle Raum mit Möbeln vom Sperrmüll. Sie betrachtete dieses Leben vor dem reichen, erfüllten Hintergrund ihrer Vergangenheit und schüttelte ungläubig den Kopf. Aber es war alles, was sie gebraucht hatte, und jahrelang – fünf Jahre lang, um genau zu sein – war es alles gewesen, was sie gewollt hatte.

Das Packen würde ihr leichtfallen. Ihr gehörten die Kleider im Schrank und ein Ford F10 – allein aus dem Grund, dass an dem Tag, an dem sie Sam verlassen hatte, der Ford mit dem Schlüssel in der Zündung in der Einfahrt gestanden hatte. Um mit dem anderen Auto zu fahren, hätte sie noch einmal ins Haus gehen und die Schlüssel suchen müssen, und das hätte sie nicht gekonnt. Nicht weil sie einen eindrucksvollen Abgang hatte hinlegen wollen – niemand war da gewesen, der das gesehen hätte – sondern einfach, weil sie auf der Stelle hatte gehen müssen. Sie hatte von dort weggehen müssen, so viel Abstand zwischen sich und diese riesige, einstürzende Schmerzenswand bringen müssen, wie sie konnte.

Als sie in Seattle angekommen war, hatte Annie sich ein Zimmer in einem billigen Motel gemietet und drei Tage durchgeschlafen. Als sie schließlich aufgewacht war, hatte sie sich in einem Supermarkt an der Ecke etwas zu essen gekauft und danach ihre Kleidung in einer Münzwaschmaschine gewaschen. Sie hatte tausend Dollar vom Geldautomaten geholt und die Kaution und die erste Monatsmiete für dieses kleine Apartment an ihre Vermieterin, die freundliche, redselige Shirley, gezahlt. Nach einer oder zwei Wochen hatte sie durch Shirley eine Arbeit gefunden. Shirley tat alles dafür, um Annie in ihrer Not zu helfen. Wie groß war schon die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit einem Masterabschluss in Journalismus in ihrer Wohnung landete? Shirley war für die Kleinanzeigen bei der Seattle Times zuständig und verhalf Annie zu einer Stelle. Annies erste Aufgabe bei der Times, die sie, ohne zu überlegen, angenommen hatte, war es gewesen, Nachrufe zu schreiben. Irgendwie war ihr das richtig erschienen, da der Tod ihr Begleiter war und seinen silbernen, kalten Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Wenn sie und der Tod auch keine Freunde waren, so waren sie wenigstens Bekannte.

Jeden Tag hatte sie die mageren Fakten, die man ihr mit dem zerknitterten, abgegriffenen Bild eines Verstorbenen brachte, genommen und ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Wer war sie wirklich?, fragte sie die überraschte Familie. Wie hatte er ausgesehen, als er jung war? Wie waren ihre Träume und Ziele gewesen? Was hat er Außergewöhnliches getan? Was hatte sie in diese Welt gebracht, das jetzt für immer fehlte? Die Angehörigen hatten sich gern mit ihr unterhalten, obwohl die Gespräche fast immer tränenreich verliefen. Sie schluchzten und waren dankbar, dass jemand ihnen Gelegenheit gab, den Namen des geliebten Menschen noch einmal laut auszusprechen, das Kostbare an ihm zu erzählen. „Er war ein wunderbarer Lehrer.“ – „Er hat schöne Rosen gezüchtet.“ – „Ich habe ihn nie ein schlechtes Wort über jemanden sagen hören.“

Sie sammelte die Fakten, dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schrieb über Menschen, die tot waren. In jenem ersten Monat hielt sie kein einziges Mal inne, um etwas zu denken oder zu empfinden außer vielleicht dem dumpfen Pochen, das immer da war. Sie arbeitete und sie aß und sie schlief. Und wenn das nicht mehr zu reichen schien, ging sie in die Bibliothek und lieh sich haufenweise Bücher aus. Es waren immer ähnliche Bücher. Bücher mit Geschichten, die vor langer Zeit in einer anderen Welt passiert waren. Sie stellte sich vor, wie sie in diesen längst vergangenen Welten einschlief und aufwachte, und dachte, dass ihr Schmerz in der Stille jener Tage irgendwie leichter zu ertragen gewesen wäre, dass die Trauer im weichen Schein einer Gaslampe leichter auszuhalten gewesen wäre.

Alte Dinge trösteten sie. Einmal in der Woche ging Annie in den Antiquitätenladen, an dem ihr Heimweg vorbeiführte. Sie ging durch die modrig riechenden Gänge und stellte sich vor, sie würde in einer anderen Zeit leben, an einem Ort, wo ihr Schmerz sie nicht verfolgen konnte. Sie malte sich aus, wie sie Butter machte, Wasser aus dem Brunnen trug, kahle Holzböden mit einem selbst gebundenen Besen kehrte, in hohen, geknöpften Schuhen über steinige Wege ging. Sie wusste, dass ihr dorthin keine Trauer folgen würde, und sie wünschte sich so sehr, sie würde ein Tor finden, durch das sie verschwinden könnte.

Nach ungefähr einem Monat hatte sie zu Hause angerufen, um ihnen zu sagen, dass sie am Leben war, aber sie hatte ihre Anrufe bewusst so geplant, dass niemand zu Hause wäre, um ans Telefon zu gehen. Sam hatte sie zuerst angerufen. Bei ihm hatte sie nicht besonders auf die Zeit geachtet, da sie wusste, dass er nicht da sein würde, egal, wann sie anriefe.

„Mir geht es gut“, hatte sie dem Anrufbeantworter gesagt, obwohl ihr Herz beim Klang seiner Stimme auf dem Band immer noch gepocht hatte. Bei Sams Mutter, Mary, hatte sie am Sonntagmorgen angerufen, als sie sicher war, dass sie in die Kirche gegangen war. Auch ihr hatte sie eine Nachricht hinterlassen. Papa anzurufen war das Schwerste gewesen. Sie hatte in seiner Praxis mit ihm gesprochen, da sie keine Gardinenpredigt von Diane riskieren wollte. Er war freundlich gewesen, was viel schwerer gewesen war als Wut und Ärger. „Du weißt, dass ich dich liebe, Kleines. Komm nach Hause zurück, wenn du so weit bist.“

Sonst hatte sie mit niemandem gesprochen. Dazu hatte sie nicht den Mut aufgebracht. Es hätte zu sehr wehgetan, und sie konnte nicht noch mehr Schmerz verkraften.

Also ging Annie den täglichen Pflichten, die sie sich selbst auferlegt hatte, wie einem Ritual nach, ohne davon abzuweichen. Sie stand jeden Morgen auf, zog sich an, kämmte und flocht sich die Haare und ging an ihre Arbeit, den Pullover um den Bauch gebunden, die Lunchtüte in der Hand – Erdnussbutterbrot, Apfel, eine Dose Limonade – und mit irgendeinem Buch aus längst vergangener Zeit unter dem Arm. Sie stieg in den Keller des Zeitungsgebäudes hinab und setzte sich an ihren kleinen Eckschreibtisch zu den Informationen über das Leben anderer Leute. Niemanden interessierte, was sie anhatte oder was sie dachte oder wer sie war oder wer sie gewesen war oder was mit ihr passiert war, und in dieser Anonymität lag ein gewisser Trost.

Papa war nach ungefähr einem halben Jahr zu Besuch gekommen. Sie erinnerte sich immer noch an den ungewohnten, traurigen Ernst in seinen Augen, als er sie und ihre armselige Wohnung gesehen hatte. Er hatte sie ein wenig aufgemuntert und ihr sorgfältig ausgewählte Neuigkeiten von zu Hause erzählt. Er war vier Tage geblieben. Länger konnte er von seiner Praxis nicht fortbleiben. Er hatte sie überredet, für ihn zu kochen. Für einen kurzen Moment hatte sie einen Blick auf die Frau werfen können, die sie früher gewesen war, aber dann war er wieder abgereist und das Bild war verschwunden.

Sie hatte weitergemacht. Jahre waren vergangen. Schließlich hatte sie angefangen, wieder etwas zu fühlen. Es war ihr mit einer gewissen Besorgnis aufgefallen, als wäre ein Raubtier aufgewacht und liefe in seinem Käfig auf und ab. Das erste Mal, als sie es gemerkt hatte, war sie auf der Straße unterwegs gewesen, hatte in ein Schaufenster geschaut und ein schönes blaues Kleid gesehen. Es hatte sie an das Kleid erinnert, das sie zu Sams Abschlussfeier getragen hatte. Einen kurzen Moment lang hatte sie in das Geschäft gehen und es anprobieren wollen. Sie war mit einem Stirnrunzeln schnell weitergegangen und hatte ihr Buch und ihr Mittagessen an sich gedrückt, als könnten diese Sachen sie irgendwie vor diesen Gefühlsregungen schützen.

Zur selben Zeit waren den Verantwortlichen bei der Times Annies Geschichten aufgefallen. Sie bekam anerkennende Bemerkungen und Lob, und man bot ihr eine Beförderung an. Obwohl sie sich irgendwie immer noch unten im kühlen, dunklen Keller vergraben und ignoriert werden wollte, hatte sie dieses Angebot angenommen. Sie war in ihrem Beruf gut. Überall, wohin sie sah, fand sie Geschichten, denn sie sah hinter die Ereignisse und erkannte die wahren Menschen dahinter. Es war nicht nur ein Autounfall, eine Firmenpleite, ein Börseneinbruch, eine Entlassung. Das waren alles Teile der Trennwand, die die Menschen von der Wirklichkeit trennte. Annie hatte das Gefühl, als lebten die Menschen den größten Teil ihres Lebens in einer hauchdünnen, transparenten Welt, nur durch einen verschwommenen Vorhang getrennt vom brutalen Schmerz des Todes und des Lebens. Aber hin und wieder zerriss der Vorhang. Und dort lag der Schmerz. Dort lag die Story. Sie war gut darin, durch den Riss zu schauen und über das zu schreiben, was sie sah. Sie hatte es selber erlebt.

Ihre Feuilletons waren regelmäßig in der Times erschienen. Irgendwann hatte die Presseagentur ihre Geschichte aufgegriffen und sie hatte den Preis gewonnen. Jetzt fühlte Annie, dass sich eine neue Veränderung anbahnte. Plötzlich erschien ihr die Wohnung zu klein, zu bekannt, und sie fühlte etwas, das sie seit Jahren nicht mehr gekannt hatte: Einsamkeit. Sie wollte etwas Dauerhaftes. Etwas Echtes. Etwas, das ihr gehörte, denn sie hatte nie wirklich das Gefühl gehabt, dass das hier ihr Zuhause war. Irgendwie hatte sie sich verpflichtet gefühlt, mit halb gepackten Taschen zu leben, fast wie ein Gast oder eine Fremde mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung. Aber jetzt war es Zeit, weiterzugehen. Sie war bereit. Max Kroll hatte ihr versichert, dass ihr die Stelle bei der Los Angeles Times gehörte, wenn sie wollte. Sie wollte diesen Job. Sie war endlich so weit, dass sie kein Nomade mehr sein wollte. Sie wollte sich auf dieses neue Leben einlassen, das man ihr anbot.

Sie kochte eine Kanne Kaffee, schenkte sich eine Tasse ein und nippte langsam daran. Sie betrachtete das Telefon, ging schließlich hinüber, nahm es aus der Ladestation und drückte die Taste, um ihre gespeicherten Nachrichten abzuhören. Dabei kam sie sich vor wie eine Betrunkene, die eine Flasche entkorkt. Sie wusste nicht, warum sie es wieder machte. Es war gewiss nicht tröstlich, aber auch wenn seine Worte hart waren, wurden sie von seiner Stimme ausgesprochen. Ein Teil von ihm, der vertraut war, der kontrollierbar war, den sie hervorholen konnte, wann immer sie wollte.

„Annie, hier ist Sam.“ Seine Stimme, tief und wohlklingend, traf ihre angespannten Nerven. Ihr Adrenalin schoss in die Höhe, und sie wusste nicht, was sie veranlasste, sich wieder zu quälen, sich selbst zu bestrafen.

„Ich werde dieses Jahr wieder da sein“, sagte er. „Noch dieses eine Mal.“ Wieder hörte sie diese Mischung aus Müdigkeit und hoffnungsloser Endgültigkeit.

Sie schloss die Augen und konnte seine dunklen Haare sehen, die aus seiner hohen, glatten Stirn zurückgekämmt waren, seine gleichmäßigen Gesichtszüge, seine gebräunte Haut und seine faszinierend blauen Augen. Sie sah das schnelle Aufflackern seines Lächelns, das Aufblitzen seiner Zähne. Sie konnte das glatte Leinen der Tischdecke unter ihrer Hand fühlen, sie konnte das leise Stimmengemurmel der anderen Gäste hören, sie konnte das Besteck auf dem Porzellan klirren hören.

Sie dachte daran, was Kirby gesagt hatte, als sie von ihrer Absicht erzählt hatte, von Seattle wegzugehen. Kirby war ihr Redakteur und der Mensch, der einem Freund am nächsten kam. Er lud sie zu Weihnachts- und Thanksgivingfeiern ein, zu denen er allerdings die halbe Zeitungsbelegschaft einlud. Shirley war auch eine Freundin. Mrs Larsen, Adrienne. Sie waren Freunde. In gewisser Weise. Aber diese Verbindungen waren locker, lose geknüpft und ließen sich leicht wieder lösen. Annie hatte hier nichts, das sie hielt. Kirby verstand das natürlich.

„Ich habe nie geglaubt, dass wir dich auf Dauer halten könnten“, hatte er gesagt. „Ich hoffe nur, dass du weißt, was du willst. Steuerst du in die richtige Richtung?“

Sie hatte etwas gemurmelt und den Blick schnell abgewandt, aber die Gefühle, die seine Frage bei ihr aufgewühlt hatte, ließen ihr keine Ruhe. Steuerst du in die richtige Richtung? Die Frage hallte in ihrem Kopf wider, immer noch unbeantwortet.

Sie legte das Telefon zurück, ging zur Wohnungstür und holte die Zeitung herein. Ihr Artikel über die Schule im Obdachlosenheim stand auf der ersten Seite des Lokalteils. Sie nippte an ihrem Kaffee und las ihn. Ihr kritisches Auge sah, wo sie etwas hätte besser machen können. Sie sah wieder die schmuddelige Kleidung der Kinder, die verfilzten Haare, aber hin und wieder auch einen Funken Humor, ein Aufkeimen von Witz, ein kurzer Blick auf die eiserne Ausdauer, die sie am Leben erhielt.

Sie legte die Zeitung weg und spülte ihre Kaffeetasse. Sie duschte und kleidete sich an, schlüpfte in eine Jeans und einen Baumwollpullover, und da sie nichts anderes zu tun hatte, holte sie ihr Strickzeug heraus. Sie setzte sich und begann, aber die einsame Kälte kehrte zurück, und sie dachte an die Wärme in Essies Laden. Deshalb steckte sie ihr Strickzeug in die Tasche, verließ die Wohnung und schloss die Tür sorgfältig hinter sich ab.

Annie saß gern in der Ecke des Wollgeschäfts und unterhielt sich mit den anderen Frauen, besonders im Winter. Sie mochte ihre Gesellschaft, den tröstlichen Klang ihrer Stimmen. Ihr gefiel das Trommeln des Regens auf der Fensterscheibe und der aromatische Geruch des Orangengewürztees, den Essie ihren Frauen servierte, eine heiße, ölige Mischung, die auf der Zunge brannte und die Nebenhöhlen reinigte.

Sie fuhr zu Essies Laden und fand eine leere Parklücke in der engen Straße. Sie stieg aus und ging auf den Laden zu. Sie drehte den Griff der Glastür und hörte die Glocke läuten. Es roch nach Nelken und Zimt, und ein angenehmes Stimmengemurmel war zu hören.

„Hallo, Liebes!“, begrüßte Essie sie wie immer.

„Hallo, Essie“, antwortete sie lächelnd. Es fiel ihr nicht schwer. Essie war eine freundliche Frau, sie war schön mit ihren ruhigen, braunen Augen, ihrem rundlichen Gesicht und den Grübchen, mit den dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Haaren, die zu einem Knoten hochgesteckt waren. Annie hatte sie einmal gefragt, wie ihr ganzer Name lautete.

„Estella“, hatte sie geantwortet. „Das bedeutet Stern.“ Annie fand, dass das ein guter und richtiger Name für sie war.

Sie nahm sich einen Moment Zeit und blickte sich um. Die Wände waren mit Regalen und Fächern zugestellt, jedes mit farbigen Knäulen und Strängen, Bündeln mit gedrehter Wolle, Baumwolle, Leinen und Seide gefüllt. Sie sah handgefärbte, leuchtende Knäuel, die aussahen wie ein Regenbogen, der auf die Erde geholt worden war. Und es gab genoppte Haufen grober Wolle, die aussah, als wäre sie gerade erst von den Schafen geschoren, rasch gesponnen und gewickelt und ins Geschäft gebracht worden. Die unzähligen Knäuel waren rau und grob, glatt und funkelnd und leuchteten in allen Farben. Pflaume mit einem Hauch von Dunkelblau, Türkis mit einem geheimnisvollen Hauch von Grün, tiefe Rottöne mit einem Schein aus schattigen Korallen, tiefblaue Mitternachtsfarben mit Amethyst durchsetzt. Annie sog den Anblick wie Wein in sich auf, und ihr Verstand überschlug die grenzenlosen Kombinationsmöglichkeiten.

Sie konnten überraschen oder trösten, ein Schmunzeln oder ein ehrfurchtsvolles Flüstern entlocken. Sie konnten gehäkelt oder gestrickt oder gewebt werden, Farben vermischt und eingeflochten, um ein Muster zu erzeugen. Annies Stiefmutter hatte sie weben, stricken und spinnen gelehrt. Sie erinnerte sich immer noch daran, wie sie im riesigen Wohnzimmer im Haus ihres Vaters gesessen hatte, das Spinnrad größer als sie selbst, und die Tretkurbel in einem sanften Rhythmus auf und ab bewegt hatte. Ihr Spinnrad und ihr Webstuhl standen an dem Ort, den Annie vor so langer Zeit verlassen hatte. Diese Geräte hatte sie jetzt nicht mehr, aber sie hatte ihre Stricknadeln, und sie konnte immer noch etwas erschaffen, das es vorher nicht gegeben hatte. Es tröstete sie, wenn sie das machte. Es fühlte sich an wie in alten Zeiten und stellte eine Verbindung zu Dingen her, zu denen sie sonst keinen Zugang hatte.

„Komm und setz dich“, lud Essie sie ein und deutete zu den Frauen, die um den niedrigen Tisch saßen, an ihrem Tee nippten und strickten und plauderten. Ein paar blickten auf und begrüßten Annie. Sie grüßte ebenfalls und lächelte sie kurz an. Frauen jeden Alters saßen hier zusammen. Zwei waren Studentinnen, zwei waren schon sehr alt und zwei ungefähr in Annies Alter. Ihre Finger bewegten sich schnell. Annie setzte sich in die Ecke und holte ihre Arbeit heraus, ein Paar dicke Socken für Shirley, die sie im nächsten Herbst unter ihren Birkenstocksandalen tragen konnte.

Sie blieb fast den ganzen Tag. Eine nach der anderen packten die Frauen irgendwann ihre Sachen ein und gingen. Gegen zwei Uhr setzte der Regen ein, ein leises Trommeln an die Fensterscheibe. Annie strickte die Socken fertig und suchte eine weiche, pflaumenfarbige Merinowolle für einen Schal für Mrs Larsen aus. Sie legte sie auf die Theke und wartete, während Essie ihren Einkauf in die Kasse eingab.

Annie fiel Essies Halskette auf. Sie trug ein Senfkorn um den Hals, und Annie erinnerte sich, dass sie selbst auch einmal eine solche Kette besessen hatte. Papa hatte sie ihr zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt. Sie starrte das Samenkorn an, dieses winzige Glaubensfragment, in Glas gefasst. Das unnahbare Glas kam Annie wie ein kaltes Abbild ihres eigenen Herzens vor, und einen Moment lang erfüllte sie eine starke Sehnsucht. Sie war nicht immer so gewesen.

„Wie hältst du an deinem Glauben fest, Essie? Wenn der Vorhang zerreißt?“ Der Klang ihrer eigenen Stimme, mit der sie diese Frage aussprach, erschreckte Annie. Sie fühlte, wie ihr Gesicht vor Verlegenheit ganz warm wurde, aber Essie sah nicht im Geringsten so aus, als störe sie diese Frage. Sie steckte die Quittung gelassen in die Tüte, reichte sie Annie und überlegte dann einen Moment.

„Der Vorhang …?“

Annie zuckte die Achseln und versuchte, es ihr zu erklären. „Früher habe ich nie Böses und Schmerz gesehen. Das war vor mir verborgen.“

„Aber dann ist der Vorhang zerrissen“, murmelte Essie leise, und Annie nickte, da ihre Kehle wie zugeschnürt war.

„Deine Frage berührt zwei Bereiche, die nicht zusammenpassen“, sagte Essie. Annie runzelte fragend die Stirn.

„Du hast gefragt, wie man den Glauben behält, wenn der Vorhang reißt. Wenn der Vorhang reißt, bedeutet das, dass man sieht, nicht wahr? Dass man den Schmerz und die Hässlichkeit des Lebens in dieser gefallenen Welt sieht.“

„Ja. Das bedeutet es“, antwortete Annie leise.

„Aber Sehen und Glauben passen nie zusammen. Nicht auf dieser Welt.“

Essie tischte die bekannten, abgegriffenen Standardsprüche auf, und Annie hätte ihr das am liebsten gesagt. Aber sie war selbst schuld, weil sie gefragt hatte. Warum hatte sie gedacht, ihre Frage würde ihr irgendwelche neuen Erkenntnisse bringen? Sie hielt den Mund, sie zwang sich, nichts zu sagen, und ihre Lippen fühlten sich bei dem angestrengten Versuch, ihren Widerspruch für sich zu behalten, ganz verkrampft an.

Essie schaute sie mit Zärtlichkeit in den Augen an und schwieg einen Moment, bevor sie weitersprach. „Vor langer Zeit habe ich beschlossen, dass er genug ist.“ Annie wusste genau, wen sie mit er meinte. „Du bekommst auf deine Fragen in diesem Leben vielleicht nie eine Antwort“, fügte sie leise hinzu, „aber wenn er dir Frieden schenkt, sind deine Fragen nicht mehr so drängend.“

Annie schüttelte den Kopf. Sie bereute, dass sie diese Frage gestellt hatte. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie nur eine unbefriedigende Antwort bekäme.

„Ich kenne dich nicht gut, Annie“, sagte Essie.

Etwas an diesem Geständnis traf Annie, riss sie aus ihrem stummen Protest. Oh doch, du kennst mich, wollte sie widersprechen. Du kennst mich. Sie sagte nichts, nickte nur leicht und wartete, dass Essie weitersprach.

„Aber ich bete hin und wieder für dich. Ehrlich gesagt, habe ich heute für dich gebetet. Als du in den Laden kamst, konnte ich deine Traurigkeit spüren.“

Annie war nicht überrascht. Hatte sie nicht gewusst, dass dies ein sicherer Ort wäre? Ein Ort des Trostes und Mitgefühls?

„Du kennst ihn, nicht wahr?“, fragte Essie und schaute sie mit ihren braunen Augen forschend und durchdringend an.

Annie nickte. Wie konnte sie das leugnen?

„Dann vertraue ihm. Nur bei ihm sind Frieden und Freiheit zu finden.“

Sie starrte Essie an und fragte sich, wie wenig die Menschen wirklich voneinander wussten und wie leicht die Antworten erschienen, solange man die Wirklichkeit nicht kannte. Wie einfach das klang! Wie frei und leicht. Aber das war es nicht. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf. Die Glocke über der Tür klingelte, als zwei Frauen plaudernd und lachend eintraten. Der Moment war vorbei.

„Danke“, sagte sie zu Essie und nahm die Tüte von der Theke.

Essie berührte ihre Hand. „Ich werde weiter für dich beten“, versprach sie. „Komm wieder.“

Annie nickte, dann wandte sie sich ab und trat wieder in den Nebel hinaus.

* * *

Ihre Wohnung war still, kalt und dunkel. Annie schaltete einige Lampen an, machte sich ein belegtes Brot, aber sie aß wenig. Sie war nervös, denn sie hatte sich vorgenommen, dass sie es heute tun würde, und inzwischen war der Tag fast vorbei. Ihr Magen zog sich zusammen. Es war Zeit. Ein Anflug von Angst regte sich in ihr, und sie erinnerte sich an ein Zitat, das sie einmal in einem Buch gelesen hatte. Bei jedem großen Fehler gibt es einen kurzen Moment, den Bruchteil einer Sekunde, in dem er verhindert und vielleicht wiedergutgemacht werden kann. Sie fühlte sich hin- und hergerissen, als nähere sie sich einem Abgrund, als bewege sie sich in einem dieser kurzen Momente.

Sie schüttelte den Kopf und verdrängte diese Gedanken. Dann nahm sie schnell, bevor sie nachdenken oder es sich anders überlegen konnte, das Telefon. Sie rief Max Kroll an, und nach ein paar Höflichkeitsfloskeln nahm sie sein Stellenangebot bei der Los Angeles Times an.

„Wir freuen uns, dass wir Sie gewinnen können“, sagte er herzlich. „Ich sage Jason, dass er Sie am Montag anrufen soll, um mit Ihnen zu vereinbaren, zu welchem Termin Sie bei uns anfangen.“ Jason, der Helle, der Goldene.

Sie bedankte sich, legte auf und wählte dann wieder, ohne zu zögern. Dieses Mal war es die Nummer des Anwalts, dessen Visitenkarte sie seit einem Jahr in der Tasche trug.

Sie wartete angespannt, wobei ihr Herz hämmerte und ihr Mund ganz trocken war.

„Hier ist Annie Dalton, Mr Carson“, sagte sie, nachdem er sich gemeldet hatte. „Ich habe beschlossen, dass es so weit ist.“

Sie sprachen weiter. Details wurden festgelegt; Pläne wurden in Gang gesetzt, um ihre Ehe zu beenden. Annie würde nächste Woche in seine Kanzlei kommen, um die Papiere zu unterschreiben. Er würde für sie die Scheidung einreichen. Es gäbe eine Wartefrist von neunzig Tagen. Sie würde nach Seattle zurückkommen und an dem Tag, an dem die Scheidung verkündet wurde, vor Gericht erscheinen müssen. Sie dankte ihm, verabschiedete sich und drückte die Taste, um das Gespräch zu beenden.

Sie trat ans Fenster und schaute wieder hinaus. Das Telefon lag immer noch in ihrer Hand. Sie ließ die gespeicherte Nachricht ein letztes Mal ablaufen und hörte Sams tiefe, samtige Stimme. Sie stellte sich vor, statt der Schlosserei und der Bäckerei und der Hecke am Rand des Parkplatzes eine große Reihe Kiefern, Schwarzkirschen und Bergakazien und dahinter im Dunst die blauen Berge zu sehen. Sie blinzelte, dann waren sie verschwunden. Schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte, drückte sie auf die Taste und löschte seine Nachricht. Sie ließ den Vorhang fallen und drehte sich zu dem leeren Zimmer herum. Ihr Herz fühlte sich an wie eine endlose, windige Wüste.

6

Elijah Walker saß in der Küche im Reihenhaus seiner Schwester und hatte Sorge, vor Langeweile bald den Verstand zu verlieren. Die Uhr tickte. Die Katze leckte sich die Pfote. Seine Schwester schürzte die Lippen und blätterte eine Seite in dem Katalog um, den sie gerade anschaute. Sie strich etwas an, dann blätterte sie weiter. Er schaute aus dem Fenster, aber auch draußen schien die Welt seltsam still zu sein. In dieser alten Wohngegend von Pittsburgh wohnten nur alte Leute, uralte Autos säumten beide Seiten der engen Straße. Hier gab es keine Kinder, die in Schulbusse stiegen und heraussprangen, keine Jungs, die lautstark miteinander Basketball spielten, keine kichernden Mädchen, die die Köpfe zusammensteckten und Geheimnisse austauschten.

Elijah schaute seit fast drei Monaten jeden Tag aus diesem Fenster, und er wusste genau, was wann passierte. Gegen zehn Uhr ging Mrs Pettibone von der anderen Straßenseite mit ihrem kleinen Hund spazieren. Peppy. In Elijahs Augen handelte es sich um eine armselige, dürre Kreatur, aber er behielt seine Meinung für sich. Die beiden gingen langsam die Straße hinab, blieben stehen, damit Peppy sein Geschäft verrichten konnte, dann machten sie kehrt und bewegten sich langsam zurück. Gegen Mittag brach der alte Mr Swanson von nebenan zu seinem täglichen Spaziergang auf. Er schleppte sich bis zum anderen Ende der Straße, machte an der Straßenlaterne kehrt und kam zurück. Der Höhepunkt des Tages waren etwa zwei Minuten, so gegen vierzehn Uhr, wenn die Nachbarschaft in hektische Betriebsamkeit ausbrach. Denn dann kam der Postbote. Beim Klang seiner Schritte ging jede Tür auf, die Bewohner traten auf die Stufen heraus, und manchmal, wenn es nicht regnete, wechselte man sogar einen Gruß.

„Wie geht es Ihnen heute?“

„Meine Arthritis plagt mich wieder.“ – „Meine Darmprobleme werden schlimmer.“ – „Mein grauer Star wird nächste Woche operiert.“

Er schloss einen Moment die Augen. Was würde er für eine saubere, ehrliche Arbeit geben! Ein Baum, der gefällt werden musste. Ein Zimmer, das gestrichen werden musste. Ein Zaunpfosten, der eingegraben werden musste. Irgendetwas anderes als dieses ständige Herumsitzen und Zuschauen. Das Wasser im Teekessel kochte und stieß ein schrilles Pfeifen aus. Elijah empfand spürbare Erleichterung, als das Geräusch die dichte Decke aus Schweigen durchdrang.

Seine Schwester stand auf und ging zum Herd. Er schaute ihr zu, wie sie zwei Tassen aus dem Schrank holte.

„Für mich nicht, danke, Frances. Ich gehe spazieren.“

Sie drehte sich mit besorgter Miene zu ihm herum. „Darfst du dich schon so anstrengen?“, fragte sie. „Es ist erst zweieinhalb Monate her.“

Seit sie ihn aufgeschnitten, ihm einen Bypass eingesetzt und ihn wieder zugenäht hatten.

„Mir passiert nichts“, sagte er und lächelte sie kurz an. „Ich soll mich bewegen. Das tut mir gut.“

Sie sah immer noch zweifelnd aus, aber er stand auf, ohne weiter mit ihr zu diskutieren. Sie war seine große Schwester und hatte ihn immer bemuttert. Auch wenn er schon ein alter Mann war, würde er immer ihr kleiner Bruder bleiben.

Er ging in sein Zimmer, schlüpfte in seine Trainingshose und ein T-Shirt und hängte sich die Stoppuhr um den Hals. Er brach in einem flotten Tempo auf, bis er am Haus vorbei war, und begann erst zu joggen, als er den Park erreichte. Er drehte eine Runde und ruhte sich dann ein wenig aus. Er hatte keine Schmerzen. Deshalb nahm er eine zweite Runde in Angriff. Als er acht Kilometer gelaufen war, zwischendurch immer wieder Pausen eingelegt und seinen Puls gemessen hatte, waren fast fünfundvierzig Minuten vergangen.

Er ging eine weitere Runde, um sich abzukühlen. Außerdem genoss er das Leben hier. Eine Gruppe junger Frauen schob vor ihm ihre Kinderwagen. Ein paar Jugendliche in Sporthosen und Trikots joggten an ihm vorbei. Vier Kinder warfen Bälle auf dem Basketballplatz, und ein Mann und eine Frau spielten Tennis. Er beendete seine Runde und ging nach Hause, aber eine Sekunde lang fragte er sich, was er mit diesem Wort meinte. Das Reihenhaus in Pittsburgh war nicht sein Zuhause. Das wusste er mit Bestimmtheit, aber die anderen beiden Bilder, die bei diesem Wort vor seinem geistigen Auge auftauchten, passten auch nicht besser. Nicht der weite Himmel und die Gluthitze in dem Land, in dem er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, und auch nicht das andere Zuhause, die sanften Hügel und Täler seiner Kindheit und Jugend, die er für immer in Erinnerung behalten würde.

Die Welt seiner Schwester war eigentlich nicht schlecht, musste er zugeben. Sie war kurz nach ihrer Hochzeit vor fünfundfünfzig Jahren mit ihrem Mann hierhergezogen, hatte in diesem hohen, schmalen Haus ihren Sohn aufgezogen und war hier geblieben, als ihr Mann starb und ihr Sohn Roger erwachsen geworden und fortgezogen war. Pittsburgh war eine ganz passable Stadt, fand Elijah, soweit man das von einer Stadt sagen konnte, und Frances nahm ihn großzügig bei sich auf und kümmerte sich liebevoll um ihn. Es gab nichts, worüber er sich beklagen könnte, wurde ihm bewusst, und er dachte daran, wie sie ihn pflegte und umhegte. Wahrscheinlich hatte er diese Hilfe gebraucht, als er krank und allein hier angekommen war. Aber jetzt ging es ihm besser. Er war von der Operation vollständig genesen, und es war für ihn Zeit, etwas zu tun, bevor er den Verstand verlor.

Er würde hier bestimmt etwas finden, das er tun konnte. Bei seinen Busfahrten zum Krankenhaus hatte er ein Obdachlosenheim gesehen. Und die Kirchengemeinde, in die seine Schwester ging, betrieb eine Essensausgabe und Kleiderkammer, auch wenn ihm die Kirche etwas kalt und steril erschien. Er könnte sicherlich an einem dieser Orte eine Beschäftigung finden, aber diese Aussicht rief bei ihm Langeweile und wenig Begeisterung hervor.

Wenn er ehrlich war, erfüllte ihn bei dem Gedanken, überhaupt hierzubleiben, eine unerklärliche Unzufriedenheit. Irgendwie erschien es ihm nicht richtig. Elijah dachte an die hohen Berge, die grünen Wälder und die sprudelnden Flüsse zu Hause. Er erinnerte sich an Menschen – an einen Menschen ganz besonders – und er versuchte, sich dieses liebe Gesicht vorstellen, sich auszumalen, wie es jetzt aussah, nachdem so viele Jahre verstrichen waren. Er zwang sich, sich auf seinen Weg zu konzentrieren, und beschleunigte sein Tempo. Jetzt, da er wieder fast in Form war, konnte er zu der Arbeit zurückkehren, die er verlassen hatte. In den letzten zwanzig seiner fünfundvierzig Jahre in Afrika war er im Sudan gewesen, und seine Arbeit in dem vom Krieg erschütterten Land hatte ihn körperlich und geistig sehr gefordert. Als er es verlassen hatte, war sein Gesundheitszustand so schlecht gewesen, dass man ihn in Rente geschickt hatte. Aber jetzt ging es ihm besser. Es war Zeit, an seine Missionsorganisation zu schreiben und ihnen zu erklären, dass man ihn wieder aussenden könne. Er verdrängte den leichten Schatten, der sich auf sein Gemüt legte. Es lag bestimmt an seiner Krankheit und an diesem fremden Ort, dass sich solche seltsamen Gefühle in ihm regten. Wenn er an die Arbeit zurückkehrte, ginge es ihm gut.

Elijah hatte natürlich dafür gebetet, was er tun sollte, aber das war verwirrend. Er konnte die Antwort Gottes, die ihm früher so vertraut gewesen war, irgendwie nicht deutlich hören. Der ständige Lärm durch den Verkehr und den Fernseher schienen sie zu übertönen. Er sehnte sich nach offenen Flächen und … was? Er sehnte sich nach Menschen, stellte er fest. Menschen, die mitten im Leben steckten. Die jemanden brauchten. Die ihn brauchten.

Seine Schwester legte Wäsche zusammen, als Elijah zurückkam. Sie betrachtete ihn besorgt, wie jedes Mal, wenn er nach einem Spaziergang zurückkam. Er lächelte sie beruhigend an und warf einen Blick auf den Fernseher. Frances schaute sich eine Talkshow an, in der ein Psychologe die Leute anschrie und herunterputzte, damit sie sich richtig benahmen.

„Wie läuft das für Sie?“, wollte er gerade wissen, und der Mann, den er ansprach, zuckte die Achseln, errötete und warf einen fragenden Blick auf die Frau neben sich. Frances schaute viel fern. Sie las viele Bücher und Zeitschriften. Sie füllte jedes Preisausschreiben und jeden Müll aus, der in ihrem Briefkasten landete. Wahrscheinlich war sie einsam. Ihr Mann war vor vier Jahren gestorben, und ihr einziger Sohn lebte in New York. Sie sähe es gern, wenn er hierbliebe, das wusste Elijah.

„Das Essen ist bald fertig“, sagte sie. „Schmorbraten und Gemüse.“

„Klingt gut.“ Er lächelte freundlich, aber er dachte mit Grauen an den langen, leeren Abend, der vor ihm lag.

* * *

Nach dem Abendessen traf er die Entscheidung. Frances schaute irgendeine Polizeishow an, und Elijah ging in sein Zimmer, da er die Sendung nicht länger ertragen konnte. Er hatte genug Gewalt und Tod erlebt und war in Bezug auf Blut bestimmt nicht zimperlich. Aber die Vorstellung, dass blutige Verbrechen als Unterhaltung dargestellt wurden, störte ihn. Er setzte sich, schlug seine Bibel auf, betete und begann zu lesen. Zweites Buch Samuel. Die letzten Worte von David:

Ja, mein Haus gehört fest zu Gott! Als er diesen Vers auf sich übertrug, versetzte es ihm einen Stich, denn er hatte kein Haus. Kein Vermächtnis, kein Erbe, das er weitergeben konnte.

Er hat einen ewigen Bund mit mir geschlossen. Sein Bund ist endgültig und besiegelt. Ja, das traf auch für ihn zu, stellte Elijah fest. Der Herr hatte ihm versprochen, dass ihm nichts Gutes mangeln würde, und er klammerte sich jetzt an dieses Versprechen trotz seiner Zweifel und der Leere, die in sein Leben eingekehrt war.

All mein Heil und all mein Begehren wird er gedeihen lassen … Natürlich schenkte Gott ihm Heil. Aber was bedeutete das wirklich? Für ihn? Heute?

Und all mein Begehren wird er mir gedeihen lassen? Die letzten Worte durchbohrten ihn wie ein spitzer Pfeil, denn er hatte sein Begehren vor vielen Jahren abgelegt. Dieses Thema war erledigt, sagte er sich und verdrängte die Trauer, die sich bei dieser Erkenntnis einschleichen wollte.

Er legte seine Bibel weg, dachte nach und betete. Er wusste nicht, wie lang er so dasaß, aber nach einer Weile holte er den Schreibblock heraus, den er in seiner Kommodenschublade aufbewahrte, und suchte einen Umschlag und eine Briefmarke. Er verfasste einen Brief an das Missionswerk, in dem er darum bat, wieder ausgesandt zu werden, und nahm ihn mit nach unten.

„Ich gehe zur Post“, verkündete er und legte die Hand auf den Türgriff.

„Es ist dunkel“, entgegnete Frances, die von dem Fernseher aufblickte. „Kann das nicht bis morgen warten?“

„Mir passiert schon nichts“, erwiderte er und wappnete sich für ihren Widerspruch.

Er war überrascht, als keiner kam.

Elijah legte den kurzen Spaziergang zur Post zurück, aber ohne die Befriedigung, die er erwartet hatte. Vielleicht wollten sie ihn nicht zurückhaben. Doch beim Gedanken, dass sie ihn wieder aussenden würden, erfüllte ihn ein leichtes Unbehagen. Er schüttelte den Kopf. Er hatte doch Gottes Antwort vernommen, nicht wahr? Gott hatte ihn durch den Bibeltext aufgefordert, sein Begehren, seine Wünsche zu verfolgen. Die Arbeit in der Mission war sein Begehren, denn ihm fiel kein anderer Wunsch ein, aber als der Umschlag aus seinen Fingern glitt, wurden seine Zweifel so stark, dass er ihn am liebsten zurückgezogen hätte. Doch es war zu spät. Der Brief war fort, in dem dunklen Loch verschwunden. Unterwegs, so gut wie zugestellt, obwohl er noch im Briefkasten lag. Elijah schüttelte den Kopf, um diese seltsamen Gefühle abzuschütteln. Seit seiner Operation war er unruhig und eigenartig. Wenn er wieder an seiner Arbeit wäre, ginge es ihm gut. Bei diesem Gedanken wurde sein Herz leichter.

Als er wieder zu Hause war, machte er für sich und Frances Tee und nahm die Tassen mit ins Wohnzimmer. Sie lächelte erfreut, aber als sie sein Gesicht sah, wusste sie es anscheinend.

„Du gehst weg, nicht wahr?“, fragte sie.

Er nickte und lächelte leicht.

„Wann?“

„Sobald sie mich aussenden“, sagte er. „Aber ich glaube, ich möchte vorher eine Weile nach Hause fahren.“

Über ihr Gesicht zog eine Mischung aus Zuneigung und Wehmut.

„Du könntest mitkommen“, schlug er vor.

Sie schüttelte den Kopf, und er wusste warum.

„Wahrscheinlich wird dort nichts mehr für mich da sein“, sagte er und wusste, dass er etwas Wahres angesprochen hatte, als er ihre mitfühlenden Augen sah. „Aber ich schätze, ich muss einfach hinfahren und die alte Heimat noch ein letztes Mal sehen.“

Sie nickte, und für einen kurzen Moment war sie wieder die Schwester, die er in Erinnerung hatte. Das starke, unabhängige Mädchen, nicht diese träge, alte Frau, die sie geworden war.

„Ich habe mich schon gefragt, wann du davon sprechen würdest“, sagte sie, und er lächelte über ihre Weisheit.

Sie plauderten noch eine Weile und tranken ihren Tee. Die Katze stand auf, streckte sich und rollte sich dann wieder zu einer Kugel zusammen. Die Nachrichtensendung war zu Ende. Die Uhr schlug, und plötzlich konnte Elijah es nicht erwarten aufzubrechen.