image

 

 

 

image

Kurt Flasch

In Richtung Wahrheit

Mit Beiträgen von
Freunden und Weggefährten

Herausgegeben von Maria Brauckhoff,
Uwe Jakomeit, Marc Junge

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Kurt Flasch ist ein großer Kenner der mittelalterlichen Philosophie und selbst ein bedeutender Philosoph. In den letzten Jahren hat er Preise über Preise bekommen, nicht nur für seine Fachforschungen. Herausgehoben wurden die Originalität seines Denkens und seiner Sprache, sein glanzvoller Stil und kämpferischer Witz. Weit über Fachkreise hinaus ist er zum Vermittler zwischen philosophischen Texten der Vergangenheit und dem heutigen Leser geworden. Polemik und Satire kommen bei ihm immer dann ins Spiel, wenn ihm «weihevolles Gerede, parfümierter Qualm, modisch aufgeputzte Paradigmenwechsel oder auch schiere Unkenntnis der Quellen» begegnen.

Das Buch nähert sich der Person Kurt Flasch und seinem Denken wie der Zoom einer Kamera. Beiträge von Freunden und Weggefährten und nicht zuletzt von Flasch selbst zeigen biographische, politische, philosophische und sprachkritische Aspekte seiner Arbeit. In zwei Interviews kann man miterleben, wie Kurt Flasch reagiert, formuliert und parliert.

 

Mit Beiträgen von Karl Heinz Bohrer, Ursula Pia Jauch, Norbert Miller, Gustav Seibt, Michael Stolleis, Frank Hertweck und Ralph Dutli.

Über den Autor

Kurt Flasch, geb. 1930, hat sich viele Jahrzehnte mit der Geschichte des christlichen Denkens befasst. Der Philosoph und Historiker wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2000 mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, 2009 mit dem Hannah-Arendt-Preis, 2010 mit dem Lessing-Preis für Kritik sowie mit dem Essay-Preis Tractatus und 2012 mit dem Joseph-Breitbach-Preis. Bei C.H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: Warum ich kein Christ bin (52014), Meister Eckhart. Philosoph des Christentums (32011), Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen (22013) und seine Übersetzung von Boethius’ Trost der Philosophie (52013).

Über die Herausgeber

Maria Brauckhoff, Studium der Slavistik und Germanistik, ist Kulturwissenschaftlerin am Seminar für Slavistik/Lotman-Institut der Ruhr-Universität Bochum.

Uwe Jakomeit, Studium der Philosophie und Germanistik, ist in der Erwachsenenbildung in Bochum und Dortmund tätig.

Marc Junge, Studium der Slavistik und Geschichte, ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Ruhr-Universität Bochum.

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Vorwort

Hommage an

Gustav Seibt: Die leibliche Begabung zur Geschichte

Reden über und von

Michael Stolleis: Helligkeit, Klarheit, Knappheit und Frische

Kurt Flasch: Annas Graben

Karl Heinz Bohrer: Agonales Denken

Kurt Flasch: Die Vergangenheit vergangen sein lassen

Norbert Miller: Philosophie hat Geschichte, Philosophie hat Gegenwart

Kurt Flasch: Kritik ist Niederreißen

Ursula Pia Jauch: Winddürre Seelengehäuse

Kurt Flasch: Philosophen und Uhrmacher

Frank Hertweck: Eine Jenseitsreise im Diesseits

Kurt Flasch: Mein Weg zu Dante

Ralph Dutli: Himmlisches Schuhwerk und das Lächeln des Universums

Kurt Flasch: Am Rhein – Schneetreiben

Tischgespräche mit

Fragen an … Kurt Flasch

Plaudern mit Käte Meyer-Drawe

Nachwort von

Kurt Flasch: Über das Nichtgesagte

Bibliographie: 2001–2013

Textnachweise

Anmerkungen

Dank

Vorwort

Wenn sich jemand mit der Geschichte der Philosophie des Mittelalters beschäftigt, mit Meister Eckhart, Augustinus von Hippo, Nikolaus von Kues und Wilhelm von Ockham umgeht, dann klingt dies nach Spezialistentum, und das ist es auch. Kurt Flasch bekam für seine Forschungen die bedeutendsten Ehrungen in Italien. Er wurde 1993 zum «Luchs» der ältesten noch bestehenden Akademie der Welt, der «Accademia Nazionale dei Lincei» in Rom. 1995 ernannte ihn die «Accademia Toscana di Scienze e Lettere ‹La Colombaria›» von Florenz zu ihrem Mitglied. Von der Stadt Florenz und der Società Dantesca Italiana erhielt er 2012 die «Goldene Medaille» für seine Dantestudien und seine Danteübersetzung.

In den letzten 20 Jahren häufen sich die Preise auch in Deutschland. Mit wenigen Ausnahmen beziehen sich diese Auszeichnungen aber nicht direkt auf seine Fachforschung, sondern auf «denkerische und sprachliche Originalität». Auf den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung folgten der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, der Kuno-Fischer-Preis für hervorragende philosophiehistorische Studien der Universität Heidelberg, der Lessing-Preis für Kritik, der Tractatus-Preis für philosophische Essayistik, und schließlich zeichnete ihn die Jury des Joseph-Breitbach-Literaturpreises für seinen «glanzvollen Stil und seinen kämpferischen Witz» aus.

Wie viele der Preisjuroren, so sind auch die Herausgeber des vorliegenden Buches keine Experten für die Philosophie des Mittelalters. Sie haben aber an vielen Lehrveranstaltungen von Kurt Flasch an der Ruhr-Universität Bochum teilgenommen. Statt Wissenspakete zu schnüren, dachte er vor unseren Augen und Ohren laut nach, immer im Dialog mit den Hörern. Zelebriert wurde die Zerstörung von eingefahrenen Denkmustern. Dem Mittelalter wurde sein Goldgrund entzogen, Autoritäten wurden lustvoll gestürzt – all das aber auf der Basis einer geradezu pedantischen philologischen Genauigkeit, die nach «Quellen schmeckt». Da stand jemand, der eine Haltung hatte und nicht am Ende doch wieder nur geliebt werden wollte.

Um es sinnlich werden zu lassen, ging es raus aus der Universität und rein in die Wiesenkirche von Soest. Sehen und Anfassen ließen Denken lebendig werden. Was war hier (nicht) zu sehen? Den Säulen fehlten die Kapitelle, der Kirche die Krypta und die hierarchische Ausrichtung auf den Altar. Welches Gottesverständnis, welches Menschenbild waren hier zu Stein geworden? Ein Vortrag über den Gott Meister Eckharts fand auf den harten Holzbänken in diesem zeitgleich entstandenen Raum statt.

Bevor wir uns aber ganz in unseren Erinnerungen an einen bemerkenswerten Lehrer verlieren, sollen andere zu Wort kommen. Zuerst wird das Objekt der Betrachtung von außen ins Auge gefasst. Der Kulturjournalist Gustav Seibt beschreibt Kurt Flasch als «urbansten Schriftsteller», den wir haben. Der Rechtshistoriker Michael Stolleis würdigt Flasch als Vermittler zwischen philosophischen Texten der Vergangenheit und heutigen Lesern, der aber auch seinen «satirischen Stachel» ausfahren kann. Für Karl Heinz Bohrer, Literaturtheoretiker, ist das zentrale Moment seines Denkens die «Agonalität». Am ausführlichsten arbeitet sich der Literatur- und Kunstwissenschaftler Norbert Miller durch Kurt Flaschs Werk, indem er detailliert Eigenheiten aufzeigt und vielfältige Bezüge herstellt. So geht er auf die zentrale Rolle der Polemik ein und verweist auf Verbindungslinien zu Schiller und Lessing. Dass es in der Philosophie um Auseinandersetzungen und Ideenkämpfe und nicht um Harmonie und Systematisierung geht, rückt die Schweizer Philosophin Ursula Pia Jauch ins Zentrum ihrer Laudatio. An die Besonderheiten der Übersetzung und des Kommentars Kurt Flaschs zu Dantes Göttlicher Komödie wird vom Literaturredakteur Frank Hertweck herangeführt. Der Schriftsteller Ralph Dutli sieht in Kurt Flasch einen Mann von «literarischem Temperament», mit einem Stil, «der er selbst ist».

Aber der Gewürdigte kommt auch selbst zu Wort. Seine Beiträge zeigen unvermittelt biographische, politische, philosophische und sprachkritische Aspekte seiner Arbeit.

In der Form des Interviews tritt dann die Person Kurt Flasch ganz in den Vordergrund. Im Gespräch für das Bochumer Philosophische Jahrbuch und noch deutlicher im Dialog mit der Bochumer Pädagogik-Professorin Käte Meyer-Drawe kann man miterleben, wie er reagiert, formuliert und parliert.

Im Nachwort philosophiert Flasch darüber, was im Verlauf seiner Biographie hätte gesagt werden können, aber bis zum Erscheinen dieses Buches ungesagt blieb.

Maria Brauckhoff – Uwe Jakomeit – Marc Junge

 

Hommage an

Grabe wo du stehst.
Sven Lindquist, 1978

Gustav Seibt
Die leibliche Begabung zur Geschichte

Es ist die unwahrscheinlichste Sache von der Welt, dass unser urbanster philosophischer Schriftsteller ein Fachmann fürs Mittelalter ist. Denn Deutschland ist nicht Italien, die Epoche zwischen dem Ende Roms und der Reformation ist durch die doppelte Sprachbarriere zwischen Deutsch und Latein und Neuhochdeutsch und Mittelhochdeutsch von der gegenwärtigen Bildung getrennt. Seit dem Ende der nationalistischen Begeisterung für deutsche Kaiser ist auch die profane Geschichte Deutschlands im Hochmittelalter dem Publikum verloren gegangen. Dazu kommt auf dem Gebiet der Philosophie ein bizarrer Sonderumstand: Alle fürs Mittelalter zuständigen Lehrstühle unterliegen dem Konkordat mit Rom, bedürfen also einer kirchlichen Genehmigung.

Was das bedeutet, hat Kurt Flasch in seiner Dankrede zum Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa beschrieben: Es regiert die Weihwasser-Fraktion, ein altbackenes Ordo-Denken, das Wahrheit statisch denkt und den Goldgrundbildern des 19. Jahrhunderts ähnlicher sieht als denen des Mittelalters selbst, nämlich süßlich und spannungsarm. Dieses Denken hat durchaus Gegenwartswirkung, wie man beispielsweise einer respektvollen, am Ende aber beißenden Kritik Flaschs an dem Sendschreiben von Papst Johannes Paul II. über Fides et Ratio, also Glauben und Vernunft, aus dem Jahre 1998 entnehmen kann. Hier ist die Wahrheit der Vernunft in einem harmonischen Mittelalter zu finden, dem eine düster zerrissene Neuzeit nichts hinzuzufügen hatte. Es bleibe rätselhaft, so Flasch, «wie der Papst seinen ostentativen Erkenntnisoptimismus vereinen kann mit der Annahme, der menschliche Geist sei für Jahrhunderte im Dunkeln herumgetappt».

Das ist die Umkehrung des Bildes vom auch philosophisch finsteren Mittelalter, wie es beispielsweise Hegel mit Kälte zeichnete: «Es ist nun keinem Menschen zuzumuten, dass er diese Philosophie des Mittelalters aus Autopsie kenne, da sie ebenso umfassend als dürftig, schrecklich geschrieben und voluminös ist.» Auch das zitiert Flasch, und da er sich dieser Zumutung wie kein zweiter deutscher Gelehrter unserer Epoche gestellt hat, darf man heute lachen. Flasch hat uns nicht nur ein neues Mittelalter geschenkt, sondern dabei auch einen neuen Stil der Philosophiegeschichte entwickelt, der ganz sein Eigentum ist, und der neben den geistreichen, aber immer etwas glatten Begriffsromanen Hans Blumenbergs der eindrucksvollste Beitrag seiner Generation zur historischen Philosophie ist.

«Historische Philosophie»: Das ist Flaschs Formel, und hier stockt der Deutsche schon. Philosophie besteht aus Ideen, Argumenten und Werten, aus Gedankengebäuden und Systemen, die der Geschichte widerstehen, über sie hinausragen; ihre Kontexte sind Erdenrest, der nichts mit der Sache zu tun habe. Flasch aber glaubt das nicht. Argumente entstehen aus Diskussionen, Systeme beantworten Probleme, Wahrheit ist also geschichtlich, weil wir etwas anderes als die Geschichte gar nicht haben. Es geht ihm nicht um «Philosophie» als fixe Größe, sondern um «philosophisches Denken», um eine nie endende Bewegung.

«Es gab immer wieder die durchaus produktive Illusion, die Zeitlichkeit durch Erwerb bleibender Wahrheiten überwunden zu haben. Aber dann standen immer schon die Füße vor der Tür, die diese Wahrheiten hinausgetragen haben ins Grab der Zeit.» Dieses Grab aber ordnet sich nicht plan nach «Epochen». In der unendlichen Bewegung, die Flaschs konkreter Begriff des Denkens mit unendlicher Genauigkeit und Unvoreingenommenheit zu erforschen verlangt, nämlich historisch und philologisch, werden die erstaunlichsten Durchblicke möglich: Meister Eckharts Mystik nimmt Fichtes Weltsetzung im Ich voraus, und im Jahre 1277 fand man es nötig, den folgenden Satz ausdrücklich zu verurteilen: «Gott ist nicht dreieinig und einer, weil die Dreieinigkeit nicht vereinbar ist mit der höchsten Einfachheit. Denn wo wirkliche Vielheit ist, dort gibt es notwendigerweise Hinzufügung und Zusammensetzung. Beispiel: Ein Haufen Steine.» Der Satz könnte, mit geringen stilistischen Retuschen, von Voltaire sein. Wer einsteigen will bei Flasch, sollte vielleicht mit dem kleinen Büchlein über die Verurteilung von 1277 Aufklärung im Mittelalter? (1989) beginnen – dann ist er bereit für die anderen großen Entdeckungsfahrten.

Flasch hat als Forscher und Texteditor beim Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi Grundlagenarbeit geleistet, die ihn in den letzten Jahren zu ausgreifenden Einzelsynthesen zu Nikolaus von Kues, Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart befähigte, zu einer Ernte, die durchaus mit der Altersgelehrsamkeit von Arno Borst verglichen werden kann. Davor lag, nach der Frankfurter Habilitation von 1969 – im Umfeld, nicht in direkter Abhängigkeit von Horkheimer und Adorno –, ein Vierteljahrhundert Lehrtätigkeit an der Neugründungsuniversität Bochum, wo Flasch die gesamte Philosophie vertrat. Erst seit 1980, dann aber in dichter Folge, erschienen, oft im Reclam-Verlag, jene glanzvoll geschriebenen Bücher, die alle angehen, zu Augustinus, zum Philosophischen Denken im Mittelalter, dann die Kampfplätze der Philosophie, die Flaschs Konzept noch einmal schlagkräftig an den «Großen Kontroversen von Augustin bis Voltaire» darstellen.

Dazu kam seit Ende der achtziger Jahre eine publizistische Tätigkeit in vielen großen Blättern, die Flasch zu einer Berühmtheit machte. Die Verbindung von Witz und Gelehrsamkeit, die hier sichtbar wurde, hat nichts mit feuilletonistischer Geistreichelei zu tun, ihr Charakter ist vom Stamme Lessings. Und so gibt es, zwischen der Gelehrsamkeit und der Kritik, noch eine dritte Schicht bei Flasch, die methodischen Abhandlungen, gesammelt in den beiden Bänden Philosophie hat Geschichte (2003 und 2005), die zeigen, dass Flasch mitten im Gespräch der Gegenwart steht, als Erbe und Zeitgenosse von Dilthey, Heidegger, Gadamer, Luhmann und Rorty.

Flaschs historischer Begriff von Philosophie rechnet auch mit dem Sprachwandel, und so wurde er zu einem fruchtbaren Übersetzer. Er hat die Bekenntnisse des Augustinus in ein neues, unsüßliches Deutsch übertragen, er wagte einen Boccaccio, der die lange wogenden Satzbauten des Originals revolutionär zerschlug, und nun sitzt er an einer Neufassung der Göttlichen Komödie Dantes, die den angeblichen Kritiker der Weltneugier als neugierigen Weltdichter exponieren wird.

Flasch ist Mainzer, und er blieb der Stadt treu auch in seiner Bochumer Zeit. Das römische Mainz war bis 1944 die auch äußerlich prunkende Hauptstadt des deutschen Katholizismus, im Zeitalter Dalbergs und Georg Forsters führten von dort aber auch gerade Straßen ins Paris von Aufklärung und Revolution. All das hat Flasch geprägt mit einem vielschichtigen Lokalgeist, der seine Begabung zur Geschichte geradezu leiblich zeigt. Dieser kritische Geist entstammt einem katholischen Milieu, das in der eigenen Familie vollkommen resistent gegenüber dem Nationalsozialismus blieb. Flasch hat davon in seinem bewegendsten Buch, der Jugend-Autobiographie Über die Brücke (2002) berichtet. Erst damals wurde öffentlich, dass es eine Urkatastrophe in diesem Leben gibt, der Luftangriff auf Mainz, der Flasch die Mutter und Geschwister kostete, und dem der Vater nur entkam, weil er strafversetzt in Schlesien arbeiten musste.

Diese Katastrophe, nach der Flasch von einer liebevollen geistlichen Umgebung, darunter einem Cousin Stefan Georges, aufgefangen wurde, hat ihn zu einem zornig-verzweifelten Nachdenken über den Krieg geführt, das nicht in planen Pazifismus mündete – die Deutschen seien vor 1945 nur durch den Krieg von ihrem Wahn zu heilen gewesen –, aber zur historischen Suche nach den intellektuellen Mittätern, den philosophischen Kriegsrednern von 1914, die er in dem Buch über die Geistige Mobilmachung untersuchte, bis zu den Schwätzern von 2003. Als 2003 die Rede vom «Gerechten Krieg» wieder aufkam, explizierte Flasch nicht nur mit seinen Mitteln die Geschichte und die Voraussetzungen des Begriffs, er untersuchte auch die Lage der Gegenwart, beispielsweise die gelenkte Information vor Kriegsbeginn.

Wie bestimmend der Riss von 1944 für das Leben dieses eigentlich welt- und sinnesfrohen Intellektuellen blieb, der ein unerschöpflicher, neugieriger Gesprächspartner ist, den Künsten zugetan, für Wein und gute Speisen dankbar empfänglich, verraten nicht große Bekenntnisse – dass er auf dem Bindestrich zwischen Pascal und Voltaire lebe, blieb beiseite gesprochen –, sondern einzelne Sätze. Als Kardinal Ratzinger 1999 an der Sorbonne über den Relativismus des 20. Jahrhunderts diskutieren ließ, war Kurt Flasch, der in Italien und Frankreich ebenso viele Leser hat wie in Deutschland, neben René Girard dabei. Sein Beitrag schloss mit den Sätzen: «Unser Jahrhundert hat namenloses Leiden gebracht. Die Menschen haben gelitten, weniger an der Anarchie der Überzeugungen als unter den Versuchen, Wahrheit als Einheit zu organisieren und administrieren.» Die Antworten, die Kurt Flasch darauf gegeben hat, werden uns weiter bewegen.

Flasch hat einen neuen Stil der Philosophiegeschichte entwickelt. Es geht ihm um «philosophisches Denken», um eine nie endende Bewegung.

 

Reden über und von

Es geht nur darum, den Blick auf die Gegenwart
zu stärken.
Kurt Flasch

Michael Stolleis
Helligkeit, Klarheit, Knappheit und Frische

Kurt Flasch erhält den Sigmund-Freud-Preis[1] für wissenschaftliche Prosa. Geehrt wird damit der wichtigste deutsche Philosophiehistoriker des Mittelalters – im Namen des Begründers der Psychoanalyse. Und ein Rechtshistoriker, weder Philosoph noch Mediävist, soll dazu etwas sagen. Das scheint, jedenfalls was den Laudator angeht, ganz und gar nicht zusammenzupassen.

Es geht aber um die gemeinsame Sprache der Wissenschaft. Sie teilt sich bekanntlich in Sondersprachen. In vielen Sektoren ist sie eine hochaggregierte Symbolwelt mit Ketten verabredeter Zeichen. Daneben zeigen sich sozialwissenschaftliche Kunstsprachen, auf welche die Adepten schwören und die zugleich eine gewisse respekteinflößende Abwehrwirkung haben sollen. Das ist nicht nur zu beklagen; denn rasche und präzise Verständigung gehört zu jeder Spezialisierung und allemal zu den Funktionsbedingungen moderner Technik- und Naturwissenschaften. Ihre Protagonisten müssen freilich auch eine zweite Sprache sprechen, um sich mit der nichtfachlichen Gesellschaft zu verständigen und um andere Spezialisten zu erreichen. Diese Sprache ist keine andere als diejenige, aus der alle anderen hervorgegangen sind, die Sprache des Staunens über die Phänomene, die Sprache der Philosophie.

Auch das philosophische sprachgebundene Denken ist freilich geschichtlich. «Geschichte der Philosophie treiben heißt: sich in einer assoziationsreichen, halbpoetischen Sprache bewegen».[2] Diese Sprache verhandelt alte Probleme, genauer: Die Probleme materialisieren sich in jenen alten Texten, die sich Flasch vornimmt. «Zuletzt haben wir doch nichts als Texte», heißt es in seinem Cusanus-Buch.[3] Es sind die Weltdeutungen individueller Autoren, und diese Autoren sprechen ihre eigene Sprache, zugleich aber diejenige ihrer Zeit. Zu erspüren sind, so Flasch, «die individuellen und geschichtlichen Sinnnuancen», zu verstehen sind die «Vielfalt und Pracht individueller Weltgemälde, welche die alteuropäische Philosophie hervorgebracht hat».[4] Um dieses Individuelle und Typische von Texten aus dem 6., 11. oder 15. Jahrhundert in das vom vielen Wissen, aber auch vom vielen Vergessen erschöpfte Gehirn unserer Zeit zu heben, bedarf es einer Übersetzungsleistung. Dabei geht es um die «Analyse ihrer Diktion … Darunter verstehe ich», sagt Flasch, «zunächst einmal die Aufmerksamkeit auf rhetorische Figuren und Stilmittel, auf Metaphern und Zitate, die in den Texten erhebliche Bedeutung haben, sodann und vor allem die Analyse, gerade auch die quantitative Analyse ihrer Terminologie und der daraus erwachsenden Argumentationsverfahren».[5]

Kurt Flasch ist unser Dolmetscher für jene Welt von Augustinus bis zu Machiavelli, von Anselm von Canterbury, Thomas von Aquino, Meister Eckhart, Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Kues, aber auch Petrarca und Boccaccio, bis zu den Gedichten des unglücklichen Häftlings Tommaso Campanella. Gleichviel ob es um Übersetzung im engeren Sinn geht – ich erinnere an die hinreißenden Übertragungen von Boccaccios Poesie nach der Pest – oder um die «erklärende Übersetzung» eines philosophischen Gedankens, wir schreiten rückwärts in eine uns immer fremder werdende Welt, brauchen für jenen immer dunkler werdenden Höhlengang ein Licht, und das kann notwendig nur unser Licht sein, so schwach oder stark und so zeitbedingt, wie wir es eben benutzen.

Die langjährigen Leser von Flaschs Aufsätzen und Büchern über die Philosophie des Mittelalters und der Renaissance bis hin zu dem aufregenden Buch zur Reaktion der deutschen Intellektuellen auf den Ersten Weltkrieg[6] assoziieren mit ihm seine Helligkeit, Klarheit, Knappheit und Frische. Helligkeit kommt herein durch Entfernung von Sichtblenden oder Scheuklappen. Flasch besteht gegen theologische Dogmatiker und ahistorisch verfahrende Philosophen darauf, dass Denken und Schreiben in hohem Maße zeit- und kontextabhängig sind. Machen wir die Fenster auf, sagt Flasch, lesen wir die Texte noch einmal neu und verzichten auf den dogmatischen Überbau der Kirche, auf sonstige ewige Wahrheiten und spätere textfremde Prämissen. Lesen wir die Texte neu, und zwar genau (!), lesen wir sie unter möglichster Rekonstruktion dessen, was dem damaligen Autor zur Verfügung stand. Schon dies erzeugt neue Helligkeit.

Unter diesem Licht wird auch alles knapper und klarer. Flasch ist allergisch, wie er selbst sagt, gegen den «Gebrauch der Superlative, die Häufung der Adjektive und die Redundanz der Verben».[7] Was ihm vorschwebt, ist der, wie Lichtenberg sagt, «fast Lessingsche Ausdruck, der dem Gedanken sitzt wie angegossen».[8] Es ist diese Knappheit, wohlgemerkt nicht jene, die schon wieder zur Dunkelheit tendiert und zum Geraune wird, auch nicht die pompös und autoritär im Befehlston auftretende, sondern eben die für wissenschaftliche Texte einzig angemessene Knappheit, die Raum lässt für Kontrolle und Gegenrede. Dazu gehört bei Flasch auch die Kennzeichnung der eigenen Meinung durch freie Verwendung des eher verpönten Wörtchens «ich». Das ist nicht Eitelkeit, sondern Präzision.

Zum Beseitigen von Scheuklappen gehört eine gewisse Respektlosigkeit, und zwar keine patzige, sondern eine (im unverbrauchten Sinn) kritisch-aufklärende. Flasch schreibt etwa über den «Lavastrom philosophischer Brocken» bei Scheler,[9] oder er erklärt kurzerhand, bevor er es sorgfältig begründet, an einer Konstruktion sei «mit Verlaub, alles falsch«[10] oder es handle sich bei einer Schrift aus der Zeit des Ersten Weltkriegs um «religiöse Mobilmachung mit historistischem Dekor».[11] Die Respektlosigkeit ist manchmal auch mit einem Gran voltairischer Bosheit versetzt. Flasch kann seinen satirischen Stachel benutzen, wenn ihm weihevolles Gerede, parfümierter Qualm, modisch aufgeputzte Paradigmenwechsel oder auch schiere Unkenntnis der Quellen begegnen. Und umgekehrt ärgern sich die Verwalter ewiger Wahrheiten, die von ihm so genannten «Zionswächter», wenn Flasch das Denken in seiner Zeit, in seiner Hinfälligkeit, Irrtumsanfälligkeit, aber eben auch Aufgeblasenheit und Dünkelhaftigkeit vorführt.

Flasch ist ein Mann von fast einschüchternder alteuropäischer Erudition. Seine menschliche Wärme, sein Skeptizismus und seine demokritische Heiterkeit erscheinen auf der düsteren Folie unseres 20. Jahrhunderts. Was ihn bedrängt, sind weniger die törichten Abderiten, die Demokrit so sehr zusetzten, sondern eher die Lemuren der Vergangenheit, des ersten und des zweiten Krieges vor allem. Hierüber spricht er nicht viel, aber in dem Buch Die geistige Mobilmachung, in dem er seine Person nicht verbirgt, ist einiges davon zutage getreten. Wie Demokrit seinen Abstand zu Abdera hält, so auch Flasch, den man weder im Jet-Set noch in Talkshows erblickt. «Nicht ungesellig, aber durch Gesellschaft nicht lenkbar», so kennzeichnet Flasch den springlebendigen Philosophen Guido Cavalcanti im Decameron (VI, 9). Der springt mit einer kecken Flanke über einen Sarkophag (!) und verblüfft seine Gegner. Das ist ein schönes Bild auch für Sie, sehr verehrter lieber Herr Flasch.

Indem die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Kurt Flasch für seine wissenschaftliche Prosa auszeichnet, ehrt sie auch sich selbst, denn es sind nicht viele, die an deutschen Universitäten ihre Sprache beherrschen wie er, die erzählen, verdichten, Pfade durch das Gestrüpp schlagen, uns auf Lichtungen führen, uns die Augen öffnen und ein springlebendiges großes Mittelalter zeigen, die uns auch helfen, die bösen Geister zu beschwören, welche bekanntlich nichts mehr fürchten als die Lächerlichkeit. Wer Kurt Flasch ehrt, wie es die Akademie heute tut, ist wahrlich nicht von allen guten Geistern verlassen!

Kurt Flasch
Annas Graben

Es war an einem Herbstabend vor vielleicht 20 Jahren. Ich kam, müde von der langen Reise, in Mailand an; mein Freund Luigi und seine Frau Anna hatten mich eingeladen und empfingen mich mit der gewohnten Herzlichkeit. Aber irgendeine Verlegenheit ließ sich nicht verkennen, und bald kamen sie mit der Sprache heraus: Luigi musste noch am selben Abend, in irgendeiner Erbangelegenheit, nach Rom, und Anna hatte gerade die Profession gewechselt, sie war nicht mehr Schauspielerin, sondern sie war Lokalreporterin des «Corriere della Sera» geworden, Abteilung: Theater und Kultur, und sie hatte Dienst. Es sah alles danach aus, als sollte ich den Abend allein in der Wohnung verbringen. Dies schien mir die unitalienischste aller Lösungen, und ich fragte, ob sie mich nicht zu ihren nächtlichen Streifzügen durch Mailand mitnehmen könnte. Das hatte sie sich gedacht und zeigte mir die zwei Freikarten für die Scala: Es gab Mussorgskis Boris Godunow.

Ich kämpfte mit dem Schlaf und erinnere mich nur noch an ein blutrotes Bühnenbild, an rauschhaft-düstere Töne, an ein teils philorussisches, teils eurokommunistisches, aber allemal elegantes Publikum. Doch die Oper war nur der Anfang von Annas Nachtarbeit; es folgte ein später Empfang für Andrzej Wajda mit lebhaften, italienisch-polnischen Debatten, die mich endlich wachrüttelten. Danach raste sie in ihrem Cinquecento zurück zum Redaktionsbüro, Via Solferino. Als es dort einmal eine Pause gab, fragte Anna: «Sag mir doch mal genau, womit du dich beschäftigst.» Ich: «Mich interessiert, was die Leute früher gedacht haben. Besonders in der langen Zeit, so zwischen 400 und 1600. Ich mache Geschichte der Philosophie.» «Ich weiß», sagte sie, «ihr Deutschen seid ja besonders gründlich und studiert natürlich in der Philosophie das Zwischenstück zwischen Altertum und Neuzeit.» «Nein», erwiderte ich, «das ist bei uns seltener als bei euch in Italien. An den meisten Universitäten machen sie einen großen Sprung; sie hüpfen von Aristoteles zu Descartes. Das sind fast 2000 Jahre, aber sie tun so, als sei nichts gewesen, außer vielleicht Theologie.» Anna fiel aus allen Wolken: «Was, ihr Deutschen? Ihr fangt an mit Platon und Aristoteles, und es geht erst wieder weiter mit Descartes? Und dazwischen liegt so ein Graben!» Und bei diesem Wort «so ein Graben» machte sie eine ausholende Armbewegung, wie nur eine italienische Schauspielerin sie machen kann. Sie benannte den Graben nicht nur; sie stellte ihn dar. Ich selbst stand neu-verdutzt vor dem Mittelalterloch der gründlichen Deutschen. Ich versuchte, ein paar Einschränkungen vorzubringen: Gelegentlich würden Plotin und Augustin studiert, katholische Professoren beschäftigten sich mit Thomas von Aquino; ich sei natürlich nicht der einzige usw., aber Anna blieb enttäuscht: Die Deutschen haben da wohl einen Graben.

Hatte Anna Unrecht? Zwei sprachliche Barrieren – die zum Lateinischen und die zum Mittelhochdeutschen – trennen uns stärker vom Mittelalter als unsere südlichen Nachbarn. Gewiss überleben bei uns einige mittelalterliche Figuren, Mythen und Institutionen: Die Universität, die Struktur älterer Städte; Uta von Naumburg und der Bamberger Reiter wurden präsent gesetzt, weil sie sich national-pädagogisch instrumentalisieren ließen wie die mittelalterlichen Kaiser, die Staufer und sogar Karl der Große. Daneben läuft die religiös-ästhetisierende Mittelalterrezeption, Zisterzienserbücher überschwemmen den Buchmarkt. Ich rede nicht von der fachlichen Forschung. Sie ist zwar so modenunabhängig nicht, wie sie sich oft wähnt; sie anerkannte spät, aber schließlich doch neue historiographische Konzepte; die Städtearchäologie, die Alltagsforschung und die Frauengeschichte gewinnen Boden gegenüber der älteren, an Nation, Institution und Verfassung orientierten Geschichtsschreibung. Und doch: Was ist auch nur aus der älteren deutschen Literatur irgend lebendig? Wie abgeschlagen steht Walther von der Vogelweide neben Dante, Fischart neben Rabelais. Die Nibelungen, Isolde und Tristan existieren bei uns nur dank neo-romantischer Reprisen.

Vereinzelt gibt es Rückgriffe auf Meister Eckhart und geradezu schamlose Annäherungen an Hildegard von Bingen. Aber das Gesamtergebnis bleibt: Weder die ältere Dichtung und schon gar nicht die intellektuelle Gesamtbewegung von Johannes Eriugena zu Erasmus mit ihrer großen Zahl oft ungedruckter lateinischer Texte haben bei uns öffentliche Stimme, trotz Ernst Robert Curtius. Alles, was nicht neoromantisch, bismarcknational oder konfessionell verwertbar war, blieb im Dunkeln. Hegel, wenn er in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen auf die Philosophie im Mittelalter zu sprechen kam, begnügte sich mit trockenen Bemerkungen der folgenden Art: «Alben hat sehr viel geschrieben, und wir haben davon noch 21 Folianten übrig.» In Annas «Graben» liegen ungeheure Textmassen; wer hinabsteigt, tritt auf unübersichtliches Gelände. Hegel entschuldigt den Ekel, sich dem auszusetzen, und sagt: «Es ist nun keinem Menschen zuzumuten, dass er diese Philosophie des Mittelalters aus Autopsie kenne, da sie ebenso umfassend als dürftig, schrecklich geschrieben und voluminös ist.»

Nun, diese «Autopsie» habe ich mir zugemutet, nicht mit Restaurationsabsicht, sondern aus Neugierde und Entdeckerlust, zuweilen bestärkt durch wohlbegründeten Überdruss am 20. Jahrhundert. Vor allem aber, weil Leitideen, Wissenskonzepte, Wertungen und Alltagsgewissheiten geschichtlich von weit her kommen. Wer die Denkgeschichte mit Descartes beginnen lässt, kann sie schwerlich wahrnehmen und von sich distanzieren.

Aus Grabenarbeit, Gegenwartserfahrung und Reflexion über diesen Kontrast ergab sich die Schreibart. Wer Unbetretenes betritt, findet keinen Trampelpfad; er hat für die Bücher, die ihm in die Hand fallen, keinen Lektürekanon. Er weiß nicht, ob er einen neuen philosophischen Klassiker liest oder ein Schulbuch. Strukturen sind erst schreibend zu erproben, forschend zu erfinden. Aus dem Bewusstsein, in Annas Graben nicht zu leben, dorthin nicht zurückzuwollen, aber mit Interesse, mit Sinn für Größe, aber auch für deren kontingente Bedingungen von außerhalb zurückzuschauen, daraus entstand ein Stil der Distanz, nicht der Identifikation, nicht der Anpreisung, als hätten mittelalterliche Denker etwas gewusst, was heute das Abendland, das Solidaritätsprinzip oder sonst etwas Schönes retten könnte. Andererseits war und bleibt klarzustellen: Ohne die mittelalterliche Denkarbeit, ohne den jahrhundertelangen Schulkram auch, wäre Europa nicht die Einheit, die es doch ist.

Es ging nicht ohne das Salz der Polemik. Lessing wurde zum Patron in Sachen Erudition und des Stils; er sanktionierte die Bibliothekswut und lehrte das Zugleich von präziser Präsentation und heiterem Tadeln. Ich danke der Vorsehung, dass es den Hauptpastor Goetze gab, denn dadurch werde ich leichter mit den Nebenpastoren fertig, die sich für ihre Posten qualifizieren, indem sie töricht gegen Flasch polemisieren.

Es wird gar viel gepfuscht. Das fängt schon damit an: Viele glauben zu wissen, was Mittelalter und was Moderne heißt; ich schlage ihnen vor, dreißig Jahre lang die Wörter «Mittelalter», «Moderne» und «Epoche» nicht zu gebrauchen. Es schadet nichts, wenn dabei «Postmoderne» und «Epochenschwelle» verlorengehen. Der Verlust der Ordnungsschemata würde aufgewogen durch neues Sehen. Aber die Deutschen haben nicht gehört, als Goethe ihnen empfahl, sie möchten dreißig Jahre lang das Wort «Gemüt» nicht gebrauchen, noch weniger werden sie auf ihre Epochenbilder verzichten. Am Wort «Mittelalter» hängen tiefe Gefühle, Frustrationen an der farblos-kalten Gegenwart, deutschnationale Missverständnisse der Kaiserzeit bis hin zum Unternehmen Barbarossa, dann kam die Ästhetisierung für Ausstellungszwecke: Mittelalterliches als ornamenta ecclesiae.

Gewiss hat sich das Feld gelockert; seit Umberto Eco gibt es einen nichtideologischen Mittelalter-Boom. Aber wenige wissen, und niemand spricht es aus: Die Erforschung des mittelalterlichen philosophischen Denkens unterliegt heute bei uns einer strikten administrativen Konfessionalisierung. Alle oder so gut wie alle Lehrstühle, die sich in der Bundesrepublik mit der Philosophie des Mittelalters befassen, sind Konkordatslehrstühle, das heißt ihre Inhaber bedürfen, dank des Hitler-Konkordats und seiner Nachfolgeverträge, des Placets des zuständigen Bischofs. Wer auch nur nominell protestantisch, geschweige denn sonst etwas oder gar, wie sie sagen, nichts ist, hat de facto keine Chance, an der Universität die Philosophie des Mittelalters zu erklären; die traditionell protestantischen Universitäten wiederum sparen meist das ganze Arbeitsgebiet aus oder suchen seit Karl Ullmann 1941 immer noch nach Reformatoren vor der Reformation. Daraus ergibt sich ein apartes Mittelalter zum Gebrauch der Überlieferungsfetischisten, der Goldgrundsucher und der bischöflichen Priesterseminare.

Die Gründe, sich mit der älteren Denkgeschichte zu befassen, habe ich anderswo entwickelt. Argumente und Materialien gegen die Re-Klerikalisierung des Mittelalters habe ich kontrollierbar ausgebreitet. Heute lade ich Sie nur ein zu einem kleinen Gedankenspiel:

Stellen Sie sich vor, Sie besuchten mich zu Hause und fänden im Zettelmeer meines Schreibtisches die Transkription eines mittelalterlichen Traktates über den Regenbogen, was schon vorgekommen ist. In dem Werk von 100 Druckseiten würden 20 Seiten fehlen und Sie sollten vermuten, was dort gestanden haben könnte. Würden Sie nicht zu der Annahme neigen, der Verfasser, ein Mönch der Zeit um 1310, hätte dort, wenn schon nicht auf den erhaltenen Seiten, von der religiösen Symbolik des Regenbogens gesprochen?

Wenn ja, dann haben Sie aus einer Epochenvorstellung Fakten herausgeklaubt. Wenn ja, dann sind Sie in die Mittelalterfalle gegangen. Der Traktat ist vollständig erhalten; er enthält kein Wort von der Symbolik des Regenbogens, sondern eine extrem nüchterne Analyse der Bewegung des Lichtstrahls im einzelnen Tropfen des Regenbogens: Eintritt, Reflexion, Fraktion werden untersucht im Anschluss an arabische Optiker. Dem Verfasser war es wichtig, dass wir in Gläsern und am taubenetzten Grashalm kleine Regenbogen studieren und selbst herstellen können. Er glaubte den Regenbogen erklären zu können, weil er ihn machen konnte. Geisteswissenschaftliche Bilder vom symbolischen, lichtmetaphysischen, ganzheitlichen, einheitlichen, religiösen, christlichen Mittelalter zerbrechen an einem solchen Faktum.

Wer über die Zeit von 400 bis 1500 etwas Triftiges sagen will, muss erst in den Graben, jahrelang, jahrzehntelang. Und er muss aus der Erfahrung der Gegenwart, des wirklichen Lebens der Gegenwart, ihrer Literatur, ihrer Philosophie, ihrer Wissenschaft, in unserer Sprache und mit unseren Kategorien, ohne Adaption ans Heute, erzählen, was er gefunden hat. Das ist eine diffizile, eine prekäre Angelegenheit. Ob mir das gelungen ist? Ich neige zum Zweifeln, doch verbietet mir der Respekt vor der gebündelten Weisheit dieser Akademie, darin zu verharren. Ich entnehme der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises und höre aus der Laudatio von Michael Stolleis, der auf einem ähnlich immensen Gebiet quellennah historisch geforscht und als Autor in unserer Gegenwart angekommen ist, dass es ein wenig danach aussieht. Die Deutsche Akademie ermuntert mich bei dem Versuch, aus Grubenfahrten etwas halbwegs Verständliches, etwas Lessingähnliches und der Sprache Sigmund Freuds nicht ganz Unwürdiges herauszubringen.

Image

Karl Heinz Bohrer
Agonales Denken

Wenn ein so bedeutender Kenner der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie mit einem Preis geehrt wird, der den Namen Hannah Arendts trägt, dann ist das, gelinde gesagt, überraschend.[1] Dem Nachdenkenden wird möglicherweise bald ein Licht darüber aufgehen, was und inwiefern Hannah Arendts politische Ethik mit Kurt Flaschs Geschichte des mittelalterlichen Denkens zu tun hat, überhaupt mit seinem Denken, oder auch nicht! Jedenfalls werde ich nicht damit anfangen, das Arendtsche Element entdecken zu wollen. Ich begäbe mich damit nämlich in die Hände eines Vorurteils oder schlimmer noch: in die Falle einer unangemessenen Aktualisierung von Flaschs Denken. Und das ist – so glaube ich aus seinem Werk folgern zu dürfen – ein a priori zum Scheitern verurteilter Versuch jeder Erkenntnis geistesgeschichtlicher Zusammenhänge.

Die beiden großen philosophiegeschichtlichen Werke Kurt Flaschs setzen charakteristischerweise an die Stelle von Philosophie den Begriff «Denken»: Augustin. Einführung in sein Denken (1980) und Das philosophische Denken im Mittelalter (1986). Das ist nicht selbstverständlich! Durchweg alle relevanten Philosophiegeschichten und Übersichten verwenden den Begriff «Philosophie» im Sinne von «Systemangebot». Mit Flaschs Abweichung von dieser terminologisch eingeübten Praxis ist implizit angedeutet, dass es nicht um die Darstellung von Systemen geht, sondern um die Beobachtung von Denkprozessen, und das bedeutet als Konsequenz auch: Das Denken Augustins und das Denken im Mittelalter sollen nicht als eine in sich notwendige quasi geistesteleologische Entwicklung betrachtet werden, sondern als ein kontingentes Ereignis.

Mit der Kategorie «Ereignis» bin ich der Spezifik von Flaschs eigenem Denken einen Schritt näher gekommen: Denn seine Ansicht, das Denken der Philosophie sei nicht deduktiv aus einem ersten Prinzip ableitbar, sondern entstehe überraschend aus jeweils unvorhersehbaren historischen Anstößen, hat notwendigerweise zur Folge, dass jede philosophische Station des Mittelalters bei ihm mit dem Introitus «Die geschichtliche Situation» beginnt. Man könnte das für selbstverständlich halten, aber es stellt doch eine sehr dezidierte Abweichung von der Kontinuitätsannahme des philosophischen Begriffs dar: Es ist der Zeitpunkt und die Zeit selbst, die für Kurt Flasch beim philosophischen Denken den Ausschlag geben, durchaus im Sinne des von ihm ansonsten eher distanziert gesehenen Hegel, nämlich seine «Zeit in Gedanken zu erfassen». Zwei Titel verweisen besonders auf eine für Flasch charakteristische Perspektivierung, die sich aus der Betonung von Diskontinuitäten ergibt, nämlich das Agonale zwischen den Denkern: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire (2008) und Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg (2000).

Ich brauche nicht zu erklären, warum die Idee der Philosophie als eines Kampfplatzes so sympathisch ist. Denn wo es um den höchsten Einsatz geht, kann man auch verlieren. Und so ist der erste Blick darauf, wie die einstige Zentralfigur der mittelalterlichen Philosophie, Thomas von Aquin, in Flaschs philosophiegeschichtlicher Darstellung von 1980 erscheint, sofort ein Eye-Opener: Man begreift Thomas als Intellektuellen, der mit anderen Intellektuellen konkurriert. Denn im Unterschied zu früheren Philosophiegeschichten – etwa von Johannes Hirschberger, dessen Assistent der junge Flasch gewesen ist – gibt Flasch der Summa theologica keinen großen Raum.

Stattdessen sucht er Thomas’ Gedanken dort auf, wo dieser der sinnlichen Erkenntnis ein größeres Gewicht einräumt: Originalität also, nicht Systemgedanke! Und ganz bestimmt nicht die These von einer Art «christlichem Humanismus». Thomas, so Flasch, hat den Gedanken von der Kraft des reinen Denkens entwertet, indem er zwischen Substanz und «Daseinsakt» unterschied und das alles im Dienste einer philosophischen Verteidigung der christlichen Religion, indem Thomas die aristotelische Wissenschaftslehre kritisch auf die Theologie anwandte. Das setzte die Kenntnis der Kritik von Averroes an dem anderen großen arabischen Denker Avicenna voraus, nämlich die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Substanz und Akzidenz. Welch ein lebhafter Schauplatz der Argumente! Und Flaschs Darstellung dessen liest sich wie ein Drama.

Indem Flasch die Geschichte der Philosophie beziehungsweise der Theologie als intellektuelle Entscheidungssituation begreift, die so oder so entschieden werden kann, ergibt sich notwendig der Blick auf etwas Neues: auf den dezisionistischen Charakter des Denkens und auf seinen argumentativen Modus. Dabei fallen in Flaschs Darstellung das Kriterium der Originalität des Denkens und das Kriterium des Epochalen der geschichtlichen Situation zusammen: Ob Abaelards Häretik, ob die Herausforderung der christlichen Theologie durch die arabische Aristoteles-Rezeption, ob Meister Eckharts Destabilisierung der Metaphysik, ob Ockhams «Messer», ob Petrarcas Ruf nach der wahren Philosophie und schließlich Machiavellis Realismus – allen diesen Namen gehört Flaschs besondere theoretische Neugier und Sympathie nicht einfach deshalb, weil Flasch mit ihrem Denken übereinstimmte, sondern weil die Kühnheit ihres Denkens den Denker fesselt.

Flasch romantisiert seine Helden nicht als Outsider im Sinne des modernen Existentialismus. Er präsentiert sie in aller Kühle und Fremdartigkeit. Auch das ist nicht selbstverständlich, sondern ein Zeichen von Flaschs enormem intellektuellen Takt: Takt gegenüber eben jener Fremdheit, die fasziniert, ohne dass man sie in unsere aktuellen Denkkategorien zerrt, was Beeinflussung keineswegs ausschließt. Diese Denker haben allerdings mit Flasch etwas Entscheidendes gemeinsam: Sie synthetisieren nicht, sie bringen das vorhandene System nicht noch mehr zur Harmonie, sondern sie sprengen es. Flaschs Beschreibungen solcher Sprengvorgänge sind die Höhepunkte seiner Bücher. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, wie er Abaelard, Averroes, Eckhart, Wilhelm von Ockham, Petrarca und Machiavelli als agonale Denkimpulse charakterisiert. Im Unterschied zur gängigen Terminologisierung ihres Denkens sind sie zunächst für Flasch alle «Intellektuelle».

Abaelard wird einerseits als einer der «bedeutendsten Denker des Mittelalters» vorgeführt – aber eben mit den charakteristischen Strichen von Flaschs Zeichnung: «Er suchte den Streit», aber seine intellektuelle Beweglichkeit war eingebettet in die Diskurse seiner Epoche. Abaelard wird vorgestellt als der Entdecker einer «unüberspringbaren Subjektivität», einer Individualität, die als Legende von «Abaelard und Heloise» dem Bildungsbürgertum seit Anfang des 19. Jahrhunderts zu anheimelnd wird. Aber das genau ist nicht Flaschs Interesse, sondern der theoretische Begründungsakt von Abaelards Individualitätsidee: sein Zweifel an der Realität des Allgemeinen zugunsten der «einzig realen Individuen».

Ich habe noch nie den berühmten Universalienstreit zwischen Realisten und Nominalisten so anschaulich aus einer historischen Entscheidungssituation heraus dargestellt gelesen. Dabei ist es wiederum typisch, wie Flasch Abaelards Plädoyer für den Individualismus getrennt hält von dem, was man psychologischen Nominalismus nennt.

Eine ähnliche Demonstrationsfigur für den Sprung innerhalb des «Argumentationsstandards», ein für Flaschs Terminologie charakteristischer Begriff, ist des Oxforder Philosophieprofessor Wilhelm von Ockhams Häresie, der, um dem Prozess der Kurie gegen ihn 1328 zu entgehen, nach München floh und eine neue Wirklichkeitskonzeption und individuelle Freiheitserfahrung formuliert hat. Das Originelle an seinem Denken war, dass er den Versuch, Theologie als Philosophie auszugeben, als unhaltbar zurückwies und dagegen die voluntaristische These stellte, Glauben heiße zuzustimmen, ohne Evidenz zu haben, nämlich aufgrund des «Befehls des Willens».

Ich glaube, die besondere Sympathie Flaschs für Ockhams Einfall liegt in dessen Misstrauen gegenüber der Ansicht, wo es theoretische Wörter gebe, gebe es auch die entsprechenden Realien. Das ist eine sehr aktuelle Problematik. Oder besser: Diese hat sich mit Hilfe des deutschen Idealismus, der ja auch das Denken gegenüber der Realität überschätzte, bis heute in Varianten in Deutschland erhalten. Und Flasch ist, trotz seiner Sympathie für die platonische Tradition, eben ein Erbe des Realismus: ein praktizierender Realist, das heißt ein skeptischer Beobachter von intellektuellen Positionen. Aber er ist es aufgrund semantischer Hellhörigkeit – nicht als ein Verfechter irgendeiner Realismustheorie. Klar jedenfalls wird hier, wenn man es nicht vorher schon wusste: Metaphysikkritik aus sprachanalytischem Instinkt ist das Mindeste, was man über Flaschs eigene Position sagen kann und sagen darf.

Daher auch sein so lebhaftes Interesse für die beiden italienischen Gestalten, die unmittelbar in die Neuzeit führen: Petrarca und Machiavelli. Nichts könnte für Flasch gerufener kommen als Petrarcas Satz «Vor allem liebe ich die Philosophie, nicht allerdings die geschwätzige, schulmäßige, windige, sondern die wahre». Wer war der größte Realist, nicht geschwätzig, nicht windig, unter den Denkern nach Petrarca? Zweifellos Machiavelli, der nicht umsonst, ähnlich wie Hobbes, den moralistischen Nachkriegsphilosophien in Deutschland Anathema war, unverstanden blieb nämlich seine konkrete Analyse der Welt.

Indem Machiavelli spätmittelalterliche Vorstellungen fernhielt von seiner Erfahrung des neuen Jahrhunderts, indem er nämlich die Machtlosigkeit der Moral zur Verbesserung des menschlichen Lebens zum Ausgangspunkt seiner Macht- und Staatstheorie nahm, drang er umso tiefer ein in die nicht mehr von spirituellen Instanzen geprägte Wirklichkeit, die sich nicht mehr theologisieren ließ: Es ist die phrasenlose historisch-politische Analyse der Gegenwart, der Flasch in Machiavellis Werk applaudiert. In diesem Sinne auch der provokative Abschluss von Flaschs Das philosophische Denken im Mittelalter: seine kompromisslose Kritik an der zentralen Identifkationsfigur des deutschen protestantischen und akademischen Geistes, nämlich an Martin Luther als Intellektuellem. Dieser habe das Argumentationsniveau seiner intellektuellen Gesprächspartner nicht erreicht. Eine solche Abrechnung mit Luther als einem letztlich reaktionären, intellektuell anspruchslosen Geist muss viele akademische Kollegen – und nicht bloß sie – provozieren. So etwas konnte man bisher in dieser Schärfe und mit aktuellen Implikationen nur bei Nietzsche lesen.