Wiebrecht Ries

Die Philosophie der Antike

3. Auflage

 

 

 

 

 

Impressum

Hans-Georg Gadamer
zum Gedächtnis

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ISBN 978-3-534-25003-5

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

I. Anfängliches Denken – Die vorsokratische Philosophie

Zur Entstehung des rationalen Denkens bei den Griechen

Quellen: Textgestalt und Textüberlieferung

Milesische Kosmologie – Die Frage nach dem „Ursprung“ der Physis

Thales von Milet

Anaximander von Milet

Anaximenes

Das Viele und das Eine – Zur Vorgeschichte der Ontologie

Pythagoras

1. Seelenlehre

2. Zahlenlehre

Xenophanes

Heraklit

1. Die Einheit der Gegensätze

2. Weltgeschehen als Streitgeschehen – Zur polaren Deutung der Welt

3. Die verborgene Harmonie

4. Die Ordnung der Physis und das Selbstverständnis der Psyche

5. Der Umschlag von Leben in Tod und Tod in Leben

Denken und Sein

Parmenides

Zenon

Seiendes als „Mischung“

Empedokles

1. Elementenlehre

2. Seelenmythos

Anaxagoras

Die Lehre vom nous

Antike Atomistik

Demokrit

Griechische Aufklärung – Die Sophisten

Protagoras

Gorgias

Die sokratische Philosophie

Sokrates – Leben, Überlieferung, Gestalt

1. Leben

2. Zeugnisse

3. Geistige Gestalt

4. Die Haltung gegenüber dem Tod

Das sokratische Denken und seine Grundfrage nach dem Guten

„Wissendes“ Nichtwissen

II. Die klassische Philosophie Athens

Platon

1. Leben

2. Schriften

3. Eros und Paideia

Durch Leiden Lernen

Der pädagogische Eros als „Zeugung im Schönen“

Ein „Seelenbild“

Der Mensch – ein „Spielzeug Gottes“

4. Die „Ideenlehre“ oder die zweite Seefahrt

Die zweite Seefahrt des Sokrates

Methexis und Anamnesis

Die Schau des Schönen in Platons Symposion

Der „dreifache“ Sinn der Ideenlehre

5. Das Nachdenken über den Tod – Platons Phaidon

Psyche bei Homer und Platon

Eidolon bei Homer und Platon

Schicksal der Seele

Unsterblichkeitsglaube und Apollonreligion

6. Sein und Seele – Zur Bedeutung von Platons Mythen

Zur „Funktion“ des Mythos im platonischen Denken

Seelenfahrt in Platons Phaidros

7. Platonisches Denken als „philosophische Religion“-Der Aufstieg der Seele zum wahren Sein

Das Höhlengleichnis

Ein „alter Spruch“ – Zum Bezug von „Theologie“ und Politik

8. Der „sichtbare Gott“ und die Seele – zu einigen Aspekten von Platons Spätwerk

Zu Platons Timaios

9. Ein Blick auf Platons „ungeschriebene Lehre“

Antike Zeugnisse

Zur systematischen Form der platonischen Philosophie

Der Streit der „Schulen“

Würdigung

Aristoteles

1. Leben

2. Schriften

Grundzüge der Philosophie des Aristoteles

Formen und Strukturen des Wirklichen – zu Physik und Metaphysik

1. Physis als Prozessualität

2. Zum Verhältnis von Form und Stoff

3. Das 12. Buch der Metaphysik

Kategorienlehre

Der Mensch im Vollzug seines Daseins – Aspekte praktischer Philosophie bei Aristoteles

1. Ethik

2. Seelenlehre

3. Handlungslehre

4. Drei Lebensformen

5. Lob auf die vita contemplativa

6. Politische Philosophie

Sprache und Kunst

1. Rhetorik

2. Poetik

Würdigung

III. Die Philosophie im Zeitalter des Hellenismus und der Spätantike

Quellen

Epikur und sein „Garten“

1.Leben

2. Schriften

3. Naturphilosophie

4. Seelenlehre und Todesmeditation

5. Götterlehre

6. Kanonik

7. Ethik

Lukrez – Welt aus Atomen

1.Leben

2. Das Werk

3. Ambivalente Naturfrömmigkeit

4. Todesmeditation

Die Stoa

Quellen

Alte Stoa

1. Logik

2. Physik

3. Ethik

4. Affektenlehre

Die „mittlere“ Stoa

Die Stoa in der römischen Kaiserzeit

Lucius Annaeus Seneca

1. Leben

2. Schriften

3. Zu Seneca

Marc Aurel

1. Leben

2. Das Werk

3. Gedanken über den Tod

Der Neuplatonismus

Plotin

1. Leben

2. Schriften

3. Lehre

Die weitere Entwicklung des Neuplatonismus

Abschließende Reflexionen

Anmerkungen

Anhang

Literaturhinweise

Zeittafel

Personenregister

Vorwort

Der erste Band der Reihe „Basiswissen Philosophie“ ist aus meinen langjährigen Vorlesungen und Seminaren zur Antike hervorgegangen. In seiner Konzeption wendet er sich an Studierende des Faches Philosophie, aber auch an die erfreulich wachsende Zahl einer philosophisch interessierten Leserschaft. Er setzt zwei Schwerpunkte: Einmal den Weg des Denkens bei den Griechen von ihm selbst her sichtbar zu machen, zum anderen an der Interpretation zentraler Texte der großen Philosophen des Altertums darzulegen, um welche „Sache des Denkens“ es sich bei ihnen handelt. Erst im Durchgang durch das Denken der Philosophie der Antike gelangt man zu der Einsicht, dass es sich hier nicht um ein durch den Fortschritt der Geschichte überholtes Wissen handelt, sondern um wirkungsmächtige Positionen des menschlichen Geistes, auf die wir nur dann verzichten können, wenn wir uns selbst aufgeben. Wer verstehen will, was die geschichtlich gewachsene geistige Identität Europas ausmacht, muss zu den Ursprüngen ihrer Entstehung zurückgehen: zu den Griechen. Sie sind es gewesen, die in der Verbindung prinzipieller theoretischer Fragestellungen und an Vernunft orientiertem praktischen Handeln ein noch heute gültiges Paradigma für unser Selbst- und Weltverhalten geschaffen haben.

Die vorgelegte Darstellung der Philosophie der Antike, die den Stand der neueren wissenschaftlichen Forschung eingearbeitet hat, wendet sich an philosophisch interessierte Leser, nicht aber an die Fachkollegen. Aus diesem Grund habe ich im Bemühen um einen erleichterten Zugang zur „Literatur“ vorwiegend aus Textausgaben (mit jeweils unterschiedlichen Übersetzungen) zitiert, die für jedermann zugänglich sind. Der vorliegende Band enthält eine sorgfältig ausgewählte Sammlung von Texten, an denen mir der Sinn der jeweiligen Philosophie besonders gut ablesbar zu sein scheint. Im Interesse des eigenständigen Studiums habe ich die wichtigste Literatur zu den Hauptschriften der behandelten Philosophen in den Lesetext direkt eingearbeitet. Die reich zitierte Sekundärliteratur soll Linien der Interpretation zeichnen, von denen ausgehend ein eigenes Weiterdenken im inneren Gespräch mit den großen Themen der antiken Philosophie möglich ist. Weil sich das philosophische Denken der Antike in einer immer schon sprachlich, historisch und kulturell artikulierten Erfahrungswelt vollzieht, erschienen mir zumindest an den Arbeiten von W. Burkert und Ch. Meier geschulte Ausblicke auf diese „Einbettung“ unerlässlich. Auf Grund der vorgegebenen Begrenzung des Textumfanges war hinsichtlich der Gesamtdarstellung eine persönlich zu verantwortende Auswahl unumgänglich. Ihr Hauptakzent liegt auf der klassischen Philosophie Athens (Platon/Aristoteles). Bestimmte philosophische Schulrichtungen, z.B. aus der Zeit des Hellenismus, mussten demgegenüber unberücksichtigt bleiben. Die Bibliographie am Schluss des Bandes, die u.a. knapp kommentierte Hinweise zur Sekundärliteratur enthält, soll dem Studenten wie dem Laien die Möglichkeit geben, sich in die jeweiligen Gebiete der antiken Philosophie vertieft einzuarbeiten.

Es ist eine methodische Zielsetzung der vorgelegten Darstellung, die antike Philosophie von den Grundfragen der menschlichen Existenz her zu verstehen. Diese drehen sich hauptsächlich um Leben und Sterben, d.h. um die Endlichkeit alles irdischen Seins, mit der sich die Griechen ebenso schwer abgefunden haben wie wir Heutigen.

Ein besonderer Dank gilt dem Initiator dieser Reihe, Herrn Dr. Dirk Palm. Mit ihm teile ich die Hoffnung, dass die in ihr erscheinenden Bände „Basiswissen Philosophie“ nicht nur jenes Wissen vermitteln, nach dem in Universität und Schule immer wieder gefragt wird, sondern auch zu einem vertieften Verständnis für die Philosophiegeschichte und ihren bleibenden Ertrag führen. Mein Dank gilt ferner Herrn Dr. Bernd Villhauer für die fachliche Zusammenarbeit. Herrn Alexander Pakulat danke ich für die sorgfältige Bearbeitung des Typoskripts. Mit dem vorliegenden ersten Band verbindet sich für den Autor die Hoffnung, über die Vermittlung von Wissen hinaus den Anteil der Philosophie der Antike an den von Vergessen bedrohten Grundlagen unseres geschichtlichen Selbstverständnisses neu herauszuarbeiten.

Hannover, im Mai 2004

Wiebrecht Ries

Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage des Buches (2005) wurde von mir kritisch durchgesehen und überarbeitet. Sie enthält ergänzende Hinweise zu der meine Ausführungen weiterführenden Literatur.

Hannover, im Januar 2010

Wiebrecht Ries

Einleitung

Die Ursprünge der griechischen Philosophie liegen im Dunkeln. Im Licht der Überlieferung liegt ihr Anfang im 6. Jahrhundert v. Chr. am Rande der orientalischen Welt, in Ionien, und in den neu gegründeten Städten der griechischen Kolonien in Süditalien und Sizilien. Von dort griff sie auf die attische Halbinsel über, um dann im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, zur Geburtsstunde der Demokratie in Sokrates gespiegelt, neu gegründet zu werden. Im Blick auf den Beginn der griechischen Philosophie und ihr einer Entdeckungsreise gleichendes Unternehmen, auf dem Hintergrund verblassender „Göttergeschichten“ in einer ganz neuen Weise nach dem Ursprung der Welt zu fragen und nach dem, was allem Seienden zugrunde liegt, stellt sich die Erinnerung an die Figur des Odysseus ein. Er ist „das mythische Urbild“ (W. Kraus) jener ionischen Seefahrer, die auf ihren Meerfahrten Handel trieben, aber auch ausfuhren, um fremde Städte und Denkweisen der Menschen zu erkunden, unbefangene Weltkenntnis zu erwerben und ihre Früchte, neues Wissen, in der Form der historia (Kunde) heimzubringen.

Die allmähliche Ablösung einer mythischen Weltdeutung als Götterordnung vollzieht sich im Rahmen spekulativ-erklärender Theoriebildungen über die natürliche Entwicklung der Welt. Auf sie bezogen sind die wesentlichen Fragen nach dem Anfang und Ursprung alles Seienden und einer in allem Werden und Vergehen waltenden substantiellen Ordnung. Die Frage des Mythos gilt dem Ursprung in einem zeitlichen Sinn: Die Entstehung der Welt aus dem Chaos. Die im Mythos erzählte Genealogie beschwört eine Vielzahl miteinander konkurrierender Ursprungsmächte, eine Kette von Revolutionen des jeweils jüngeren gegen das jeweils ältere Göttergeschlecht. Die Frage der vorsokratischen Philosophie nach der arche (Ursprung) richtet sich nicht auf den durch Zeugung und Paarung entstandenen Anfang der Welt, sondern gilt einem „Ursprung“, der nicht das einmal Gewesene, sondern das ständig Gegenwärtige und deshalb immer Seiende ist, aus dem das Sein der Welt im Horizont von Werden und Vergehen rational verständlich wird. Im Prozess dieses ganz neuen Fragens entwickelt sich die der klassischen griechischen Philosophie zu Grunde liegende Begrifflichkeit wie der ehrwürdige Begriff des Seins, der Begriff des Werdens, der Zahl, des Logos. Letzterer regiert als ein der Welt zugrunde liegendes Gesetz der Ordnung. Zugleich ist er das geheime Maß der Seele (Psyche als Teil des kosmischen Feuers), die nach Heraklit keine Grenzen hat. Dokumentiert ist dieser Prozess des Fragens nach den archai (Prinzipien) der Welt in der Ablösung einer poetisch-mythischen Erzähltradition durch die Prosa. Begünstigt wird er durch die Eigenart der griechischen Sprache. Sie ist, wie Tr. Georgiades in seinem grundlegenden Werk Musik und Rhythmus bei den Griechen (1958) hervorhebt, durch ihren Rhythmus zugleich Ausdruck einer sich in ihm bekundenden objektiven Ordnung. Die frühe griechische Philosophie sieht die Welt bestimmt durch polare Gegensätze: Eidos (Form) und Gestaltloses, klare Begrenztheit und umrisslose Tiefe, Licht und Dunkelheit, Sein und Werden. Sie begreift und ordnet die Welt in Gegensatzpaaren. Zeugen für diese Denkform sind in besonderer Weise das Seinsgedicht des Parmenides und die Logosphilosophie Heraklits, aber auch die Philosophie des Empedokles. Bei Parmenides wird alle benennbare Wahrheit der Sterblichen so radikal „gereinigt“, dass nur noch die Gewissheit des estin, Sein ist, übrig bleibt. Die traditionelle ionische Lehre von der Kosmogonie wird von ihm als „Doxa“ (Meinung) abgewertet. Hierin liegt ein erster Höhepunkt logischer Abstraktion. Zugleich aber ist das Proömium seines berühmten Lehrgedichtes, die Wagenfahrt zur Göttin, welche jenseits der Bahnen von Nacht und Tag die Wahrheit des Seins hütet, einer Grundform mythischer Erzählung zuzuordnen. Bei Heraklit entbirgt die in den festen Grenzen unserer Welterfahrung verborgene, nur im Licht des Logos aufscheinende „Harmonie der Gegensätze“ sich als die Einheit des Kosmos im Ganzen. Sie ist eingespannt in die gegenstrebige Fügung von Bogen und Leier des delphischen Gottes. Bei Empedokles wird der Wechsel der kosmischen Phasen zum Abbild in dem durch Liebe und Streit bewirkten Zusammentreten oder Auseinandergehen der Seinselemente. An ihm lässt sich die Verbindung zwischen anfänglich „wissenschaftlichem“ Denken und religiöser Lehre besonders gut beobachten: auf der einen Seite sein Lehrgedicht Physika mit seinen physikalischen Vorstellungen, auf der anderen Seite sein Reinigungsgedicht, die Katharmoi, bei dem es um das Schicksal der Seele geht. Eine Frage, die schon bei Heraklit größte Bedeutung besitzt, wenn er in ganz rätselhafter Weise den Logos der Seele in ein Verhältnis zu Leben und Tod stellt. Es ist stets diese dialektische Spannung von rationaler und mythischer Denkform, welche den Zauber der Abstraktion im Denken der griechischen Naturphilosophie bewirkt. Der von ihr tendenziell vertretene „Objektivismus“, der die Frage nach den Göttern zunehmend entbehrlich macht, findet seinen sinnfälligen Ausdruck in der sich in ihm spiegelnden Einheit von Philosophie als Seinsdenken und einer ganz anfänglichen Begriffstheorie. Diese „Einheit“ bildet sich allerdings erst allmählich im Übergang vom Prinzip des Lebens zum Prinzip des Geistes heraus. Das eleatische Seinsdenken und die heraklitische Logos-Lehre zeigen die Kühnheit dieses Übergangs so beeindruckend, dass es gerechtfertigt erscheint, Parmenides und Heraklit in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu diesem Epochenabschnitt der griechischen Philosophie zu stellen.

Was dann die frühgriechische Philosophie als Erbe den auf sie folgenden Epochen der Philosophie übergibt, das ist ihr Weltbegriff. Er ist bestimmt durch zeitloses Sein und durch von der Zeit gewirktes Werden. Bei den ionischen Denkern entwickelt sich dieser Weltbegriff an der Physis, die in allem Werden und in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen von ewiger Dauer ist. Jedoch haben die Vorsokratiker des 6. Jahrhunderts v. Chr. noch keinen Begriff von Physis entwickelt. Dies geschieht erst zur Zeit der Sophistik und vor allem bei Aristoteles. „Was diesen Denkern Einheit verleiht und was sie als erste Stufe des griechischen Denkens erscheinen lässt“, schreibt H.-G. Gadamer in Der Anfang der Philosophie (1996), „ist ihre Bereitschaft, sich vom Mythos zu trennen und den Gedanken einer beobachtbaren Realität auszudrücken, die sich in sich selbst trägt und ordnet.“1 Nach C. Hartshorne2 hat das naturphilosophische Denken der Vorsokratik den eigentümlichen Vorzug, nicht nur als ein traditional vermitteltes „Bildungswissen“ auf die Gegenwart einzuwirken, sondern vielmehr in seinen Modellen für die zeitgenössische Forschung (Schrödinger, Heisenberg, v. Weizsäcker) unmittelbar paradigmatisch zu sein.

Das Aufkommen der auf die menschliche Praxis ausgerichteten sophistischen Bewegung um die Mitte des 5. Jahrhunderts resultiert aus einer Krise tradierter Wahrheits- und Geltungsansprüche theoretischer Weltdeutungen wie normativer Rechtsordnungen. Sie ist Anzeichen einer Verlagerung des philosophischen Interesses an der Welt als dem Seienden im Ganzen auf den Horizont der menschlichen Praxis. Die skeptische Grundhaltung der Sophistik und die mit ihr verbundene Frage nach der Begründung von Werten führt in ihrer Konsequenz zum Ergebnis eines Werterelativismus und eines Erkenntniszweifels, der einen Pluralismus konkurrierender Deutungsperspektiven hinsichtlich Mensch und Welt freisetzt und damit die Möglichkeit der Gewinnung einer normativ absolut gesetzten und für alle Menschen verbindlichen Wahrheit bestreitet. Der positive Aspekt der Sophistik kann in ihrer Hinwendung zu einer rein menschlichen Erfahrungswelt gesehen werden, deren Ausdrucksformen sie in Sprache, Kunst, Politik, Ökonomie, Moral und Religion zu analysieren sucht. Auf der anderen Seite ist es unbestreitbar, dass die Sophistik Ausdruck einer geistigen Krise ist, wie sie die in ihrem Schatten stehenden Tragödien des Euripides sichtbar machen, wenn sich in ihnen die Disharmonie zwischen Schicksal und menschlichem Wert, zwischen den fernen Göttern und den ethischen Ansprüchen der Vernunft als unauflösbar erweist.3

Sokrates ist in der Entwicklungsgeschichte der griechischen Philosophie die entscheidende Zäsur. Mit ihm tritt alles bisherige Philosophieren in ein ganz neues Licht und strebt nach einer anderen Begründung, sodass es ein sachliches Recht gibt, die ihm gegenüber früheren Denker als „Vorsokratiker“ zu bezeichnen. Aus historischer Sicht repräsentieren die Vorsokratik und die sokratische Philosophie zwei Grundkonzeptionen des philosophischen Denkens: Sokratische Nachdenklichkeit gründet in der ethisch motivierten Frage nach dem agathon, dem Guten, und der einzig an ihm orientierten richtigen Verfasstheit des menschlichen Lebens; die Vorsokratik besitzt ihren Maßstab an der Physis, ihrem Werden und Vergehen, das als ontologische Grundgegebenheit angeschaut wird.

Die mit Sokrates beginnende epochale Wendung in der griechischen Philosophie zeigt sich vor allem an der besonderen Art seines Fragens. Sie richtet sich auf die eine für das Schicksal der Seele entscheidende, jedoch unbekannte ethische „Wissenschaft“ vom Guten, von der es für ihn nur ein Wissen des Nichtwissens gibt. Die ganze Welt der menschlichen Erfahrung wird in der sokratischen Frage nach dem Guten transzendiert. Erst in der Orientierung der Seele an dem Gedanken des Guten, der ihr als unumstößliche Gewissheit vor Augen steht, erreicht sie ihre wahre Vollkommenheit, ohne dass doch dieses Gute aus der Welt menschlicher Erfahrung abgeleitet werden kann.

Sokrates und sein Fragen gewinnt zeitlose Lebendigkeit durch die platonischen Dialoge. Durch sie sehen wir Sokrates, diesen kleinwüchsigen Bürger Athens mit dem hässlichen Gesicht eines Silen und der inneren Schönheit des wendigen attischen Geistes und seiner funkelnden Ironie, in unaufhörlichem Gespräch mit den sich um ihn versammelnden Menschen. Wir hören seine unablässig-eindringliche Frage, die nach Nietzsche die schöne Vieldeutigkeit des Mythos zerstört: ti estin, „was ist“ das, wovon wir sprechen, wenn wir reden? „Was ist“ das in einer Art von ungeklärtem Vorwissen immer schon vorhandene „Wissen“, das allem Handeln und Streben der Menschen zugrunde liegt? Es war diese Leidenschaft des unaufhörlichen Fragens hinsichtlich der entscheidenden Grundprobleme des menschlichen Daseins in der Polis und die Unbeirrbarkeit des sie leitenden Bekümmertseins um das Gutwerden der Seele, welche die Edelsten der athenischen Jugend geradezu verzauberte. Er erschien ihnen gleichsam wie der wiedergeborene attische Nationalheros Theseus. Hatte dieser im Mythos die Kinder Athens vor dem Minotaurus gerettet, so rettet für Platon Sokrates durch den wahren Logos die Jugend Athens vor unrechter Lebensführung.

Sokrates wurde von der herrschenden Demokratie wegen Unfrömmigkeit und Verführung der Jugend durch revolutionäre Ideen angeklagt und zum Tode verurteilt. Als „Diener seines Gottes“ (Apollon) verteidigte er vor seinen Richtern seine innere Berufung und sein philosophisches Tun und leerte, obwohl er die Möglichkeit zu fliehen hatte, in wunderbarer Gelassenheit den Giftbecher. Sein Tod wurde für alle Zeit zum Symbol für den Weisen, der in der Gewissheit, „dass es für einen guten Menschen kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tod“ (Apologie, 41 c), sein Sterben meistert.

Die Hinrichtung des Sokrates im Jahre 399 v. Chr. war der entscheidende Anstoß, der Platon auf den Weg der Philosophie gebracht hat. Das Dialogwerk Platons kann auch als eine „Apologie“ des Sokrates verstanden werden und ein wesentlicher Teil seiner Philosophie sucht Antwort auf die Frage, wie Sokrates, der Gerechte, in einer ungerechten Welt überhaupt möglich war und was dies für ein Leben in der Polis bedeutet. Darauf deuten auch jene mit tiefer Ironie geschriebenen Alterssätze Platons: „Ich habe nichts über Philosophie geschrieben, und von Platon gibt es weder noch wird es eine Schrift geben, denn alle Schriften, welche als meine bezeichnet werden, sind Werke des Sokrates, welcher jung und schön geworden ist“ (Zweiter Brief 314 c).

In der Geschichte der Philosophie ist die Platonische Philosophie mit der Ideenlehre verbunden. Provozierend bleibt hierbei, dass sie bei Platon nirgends in voller Breite entwickelt und begründet ist. Zudem verweigert es der grundsätzlich dialogische Vollzug seines Denkens, sie in ein System von referierbaren Lehrsätzen zu transformieren. Dieser Umstand bedingt bis auf den heutigen Tag die Debatten und Kontroversen in der Platon-Diskussion um die ungeschriebene Lehre. Der Streit um die „Lehre“ Platons verweist auf eine alte Legende, die uns zwei spätantike Platonviten überliefern. Nach ihr träumte Platon kurz vor seinem Tod, dass er sich in einen Schwan verwandle, der von Baum zu Baum fliege und von den Jägern nicht gefangen werden könne. Diesen Traum soll ein Freund so gedeutet haben: Alle Interpreten würden sich fortan vergeblich bemühen, den Gesamtsinn der platonischen Philosophie zu erfassen, da jeder Platon aus seiner eigenen Sicht auslege. Es ist Absicht der hier vorgelegten Platon-Darstellung, bei allen sachlichen Information, die sie gibt, den „Vogel“ des Apollon nicht zu ergreifen, sondern nur auf ihn in seinem Flug hinzudeuten. Sie ist dem platonischen Dialog deshalb verpflichtet, weil dieser sich als eine offene Form erweist, in der sich das diskutierte Ideenwissen niemals erschöpft. In der mit ihr verbundenen Dialektik weist sie beständig auf das Eine hin, das Sein, das Gute, das in der Ordnung der Seele, der gerechten Verfassung der Polis und dem schön geordneten Aufbau des Kosmos aufleuchtet.

Ein Hauptakzent meines Platon-Kapitels liegt in dem geschichtlichen Sachverhalt, dass Platon die sokratische Frage nach dem Wissen des Guten aufnimmt und ihr als der legitime „Erbe“ des Sokrates eine „positive“ Antwort zu erteilen versucht. Auf diesem Weg wird er zum Schöpfer der mit eleatischem Seinsdenken tief verbundenen Ideenlehre und einer von der Orphik gespeisten Seelenlehre. Der Verbindung beider Lehren ist besondere Beachtung zu schenken, zumal der ontologische Dualismus (Ideenwelt – Erscheinungswelt) in der (mündlichen) Prinzipienlehre zu einer differenzierteren In-Beziehung-Setzung der Seinsbereiche Psyche, Polis, Kosmos erweitert wird, die in der Idee des Guten ihren höchsten und letzten Einheitsgrund besitzt. Das in den Texten reich entfaltete dialogische Denken Platons, einschließlich der darin enthaltenen Selbstdeutung, und seine auf eine Prinzipienmetaphysik hin ausgerichtete mündliche Lehre in der Akademie, überliefert durch die Schüler Platons, müssen zusammengedacht werden, will man nicht nur die Tiefe, sondern auch die Weite seines Geistes ermessen. Auf sie bezogen, verdient der Hinweis C. F. von Weizsäckers Beachtung, dass die platonische Philosophie aus dem Horizont unseres Lebensverständnisses heraus in dreifacher Weise interpretiert werden kann: moralisch-politisch, mathematisch-physikalisch, seelisch-mystisch.

Der bedeutendste Schüler Platons ist Aristoteles. Unter den großen Denkern der abendländischen Philosophie ist Aristoteles nicht nur der Meister begrifflicher Analyse, sondern auch der erste systematische „Biologe“, insofern sein ganzes Denken von den Erscheinungsweisen des Lebens beherrscht wird. Mit ihm beginnt in einem strengen Sinn das wissenschaftliche Philosophieren, das sich an sachlichen Problemen und ihren Lösungen orientiert. Aristoteles spricht nicht wie Platon als Künstler zu uns, sondern er wirkt faszinierend in der Nüchternheit seines streng sachbezogenen, phänomenologischen Denkens. Seine Logik entwirft eine formale Theorie der Schlussfolgerung, seine Metaphysik begründet Philosophie als Seinswissenschaft. Als Theoretiker der natürlichen Welt entwirft er eine Physik, die Veränderung und Bewegung zum Gegenstand hat, sowie eine Biologie und Psychologie als eigenständige Disziplinen. Seine Ethik und seine Politik bilden Grundlagen der praktischen Philosophie. Das Aristoteles-Kapitel, das den Aufbau des aristotelischen Wissenskosmos, spezifisch gegliedert in eine theoretische und eine praktische Hemisphäre, in seinen Grundzügen vorstellt, ist bemüht, die Philosophie des Aristoteles als eine Systematik der Erfahrungsgebiete und der ihr korrespondierenden anthropologischen Formen zu skizzieren.

Wie bei Platon findet man auch bei Aristoteles eine Philosophie des lebendigen Geistes. Das der theoria verpflichtete Dasein gilt ihm als die höchste Lebensform. Nicht zuletzt sind Platon und Aristoteles im Sinne einer spannungsreichen „Zweieinheit“ zu interpretieren, weil beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in der Nachfolge des Sokrates das rationale Erbe des griechischen Geistes zu Ende gedacht haben. Platon und Aristoteles beziehen die zwei Hauptworte der griechischen Philosophie, arche (Grund) und telos (Ziel) in der Weise aufeinander, dass mit der Idee des Guten (Platon) und dem unbewegten Beweger (Aristoteles) der Grund alles Seienden benannt ist, auf den als Ziel zugleich alles Seiende in seinem Sein hingeordnet ist. In der platonisch-aristotelischen Verschränkung von Grund und Ziel alles Seienden ist die eigentliche Grundgestalt der abendländischen Metaphysik zu sehen.

Wenn im 13. Gesang der Odyssee „die helläugige Athene“ dem Odysseus die Hand streichelt und zu ihm sagt: „dich“ (den Sterblichen) und „mich“ (die unsterbliche Göttin), uns vereinigt in der Trennung, dass wir beide Geist haben, dann liegen in diesen Worten die Wurzeln des vielberufenen Intellektualismus der griechischen Ethik. Aus ihr erwächst der dem überpersönlich Guten verpflichtete geistige Charakter des Regenten in Platons Politeia wie die höchste Lebensform, welche die Nikomachische Ethik kennt: der bios theoretikos.

Die Philosophie im Zeitalter des Hellenismus ist charakterisiert durch die großen „Schulen“ der Stoa und derjenigen Epikurs. Sie sind Ausdruck geschichtlich gewandelter Sinnhorizonte, die sich im Gegensatz zur Philosophie der klassischen Epoche mit ihrer an der Ordnung des Kosmos, der Polis und der Seele orientierten Betrachtung des ewig Gültigen vor allem durch das Interesse an ethischen Orientierungsfunktionen in einer zunehmend unübersichtlich gewordenen Welt bestimmen lassen. Im Zeichen einer vor allem als Lebenskunst verstandenen Philosophie erwächst aus ihr das an Sokrates orientierte Ideal des Weisen, der in den geschichtlichen Wirren der Zeit und in den Bedrängnissen seines Lebens gelernt hat, sich autark auf sich selbst zurückzuziehen, indem er anerkennt, was in seiner beschränkten Macht steht, und der in einem „Zeitalter der Angst“ (E. Dodds) die Überwindung der Furcht und die Unabhängigkeit von den Wechselfällen des Schicksals als zentrale geistige Erfahrungen einübt. Es ist „das Glück des Nachmittags des Alterthums“ (F. Nietzsche) auf dem Hintergrund einer zunehmend bewusster werdenden Endlichkeit des menschlichen Daseins im Ganzen der natürlichen Welt, das beim Studium der hellenistischen Philosophie fasziniert. Die in der Stoa der römischen Kaiserzeit vorfindlichen Todesmeditationen (Seneca/Marc Aurel) besitzen als Gespräche mit sich selbst zeitlosen Wert.

In der Mitte des 3. Jahrhundert n. Chr. wirkt im kaiserzeitlichen Rom Plotin, der wichtigste Repräsentant des Neuplatonismus. In seinem Denken spiegelt sich die Weltstimmung der spätantiken und frühchristlichen Jahrhunderte: „Jenseitssehnsucht, Verfeinerung der Sinne und des Geistes, Weltflucht und religiöse Erregbarkeit“ (H.-G. Gadamer). Mit dem vor allem auf Platon gestützten Inhalt seiner Philosophie, dem Vorrang des Seelischen vor dem Stofflichen, der Schönheit der geistigen Welt und der unaussprechlichen Erhabenheit des obersten göttlichen Einen, berühren sich Grundelemente der christlichen Glaubenslehre. Einer der größten Lehrer der christlichen Kirche, Augustinus, verdankt Plotin Wesentliches. Der Deutsche Idealismus (Schelling/Hegel) ist tief von Plotin beeinflusst, Goethe bekannte sich zu ihm wie zu Spinoza. Für das Verständnis des mystischen Erbes des modernen Geistes gewinnt eine Betrachtung an Bedeutung, die an der Plotinischen Metaphysik die Bewegung des inneren „Aufstiegs“ der Seele in seiner reflexiven Rückbindung an die Einheit des absoluten „Grundes“, das Eine, bewusst werden lässt.4

Nach dem Aufriss der großen thematischen Komplexe der Geschichte der antiken Philosophie, werde ich im Folgenden zu ihrer inhaltlich vertieften Darlegung kommen. Über die mit ihr verbundenen sachlichen Informationen hinaus ist sie kein gelehrter Selbstzweck. Sie dient auch dem, was ich (im Anschluss an J. Assmann) das kulturelle Gedächtnis nennen möchte. Die Verlebendigung einer vielfach vergessenen Kontinuität zwischen den Griechen und uns, die bewahrte Erinnerung an die scheinbar geschichtlich so fern stehenden großen Gestalten der antiken Philosophie und die durch sie erschlossenen Erfahrungs- und Sinnhorizonte, soll nicht zuletzt die fatale Einseitigkeit unseres eigenen an den jeweiligen Tag verlorenen Denkens bewusst machen.

I. Anfängliches Denken –
Die vorsokratische Philosophie

Die Philosophie („Liebe zur Weisheit“ im Sinne eines höchsten geistigen Wissens) beginnt zwar nach dem Glauben unserer philosophischen Handbücher mit Thales und Anaximander, ihre eigentlichen Ursprünge sind uns aber, wie G. Colli in seinem Beitrag Die Geburt der Philosophie (1981) deutlich gemacht hat, unbekannt. Auch gibt es keine kontinuierlich-homogene Entwicklung zwischen einer an Apollon gebundenen Weisheit und Philosophie als begrifflicher Artikulation theoretischer Neugierde. Die gängige Formel „Vom Mythos zum Logos“ (W. Nestle) für die Entwicklung des frühen philosophischen Denkens der Griechen suggeriert eine falsche Linearität, angemessener ist es, von einem Überlagerungsgeschehen des Mythos durch den Logos zu sprechen. Nach W. Schadewaldt handelt sich hierbei um ein „unterirdisch vorbereitetes Denkgeschehen“, dessen ältere Überformungen an den griechischen Mythen und am Epos Homers zu beobachten sind.1 Gleichwohl lässt sich innerhalb der vorsokratischen Philosophie ein Entwicklungsschema erkennen, das von der Kosmogonie über die Kosmologie zur Anthropologie führt. Mit ihm verbunden ist der Parallelismus von kosmischer Ordnung und Polis-Ordnung. Diese Ordnung besteht in einem Aufeinanderwirken von Kräften, die sie ausmachen. Nomos (das Gesetz der Polis) und Logos (das Gesetz der Welt) sind eng aufeinander bezogen. Zeus als Hüter des Rechts ist, so gesehen, der Bürge und Vollstrecker der Gerechtigkeit. Nach Heraklit (B 94) darf selbst der Sonnengott Helios seine „Maße“ nicht überschreiten, sonst würden ihn die Schergen der Dike (Gerechtigkeit) aufspüren.

Zur Entstehung des rationalen Denkens bei den Griechen

Das von W. Schadewaldt angesprochene „Denkgeschehen“ ist mit Phasen einer „Urgeschichte“ der Subjektivität verbunden, deren Spuren sich in Homers Odyssee finden lassen. Bestimmt ist es ist durch umwälzende Veränderungen im kulturellen Kontext des 7./6. Jahrhunderts. Zwei der wichtigsten Neuerungen in diesem Umbruch sind in den Stadtstaaten Griechenlands und Ioniens das Aufkommen von Prosatexten und der Übergang vom mündlich tradierten Heldengesang zu geschriebenen Texten. In diesem Zusammenhang war es die Besonderheit der griechischen Alphabet-Schrift und die mit ihr verbundene „Domestizierung des Geistes“ (J. Goody), die für E. A. Havelock Anlass für seine umstrittene These von der „Geburt der Philosophie aus dem Geiste der Schrift“ bot. Da jedoch die Schrift in der griechischen Gesellschaft und Philosophie stets von untergeordneter Bedeutung blieb, kam es nie zur Ausbildung einer „Buchreligion“ in Griechenland.

Die epische Dichtung (Homer) und ihr literarischer Zweig, das Lehrgedicht (Hesiod), ordnete in einer sich entwickelnden Polis-Gesellschaft die religiöse Überlieferung und die kultische Wirklichkeit Griechenlands und stellte damit kommenden Generationen die philosophische Aufgabe, das in der Denkform des Mythos zur Anschauung gebrachte Sein der Welt in die reife Form des Logos, des begründeten Wissens, zu erheben. Im Rahmen dieser Entwicklung erweisen sich vor allem zwei Modelle als bedeutsam: für die milesische Naturphilosophie das genetische Modell, wie es sich in der von Hesiod vorgegebenen Theogonie präsentiert, und das juridische Modell einer mit der Herrschaft des Zeus und Dike verbundenen Weltordnung, wie sie die aischyleische Tragödie zur Darstellung bringt.

Die archaisch religiöse Welterfahrung der Griechen beruht auf der Differenz zwischen einer Oberwelt des Olymp, in dessen Licht die unsterblichen Götter wohnen, und einer Unterwelt, dem Reich des Hades, in der die aus dem Leben geschiedenen Seelen der Verstorbenen versammelt sind. Die Weltdichtung der Ilias (um 730 v. Chr.) stellt dieses durch Gegensätze und Polaritäten bestimmte „Widerspiel“ der Weltwirklichkeit plastisch Augen. Verdichtet ist ihr auf elementaren Gegensätzen beruhender Kosmos in der berühmten Schildbeschreibung im 18. Gesang der Ilias.2 Auch die Theogonie (um 700 v. Chr.) des Hesiod stellt in ihrer Göttergenealogie eine geschlossene Totalität vor Augen, die eine durch polare Mächte geprägte Weltfigur abbildet. Der bei Hesiod literarisch thematisierte Ordnungsgedanke ist eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung der künftigen Philosophie. Die bei ihm als Zeugungskraft wirkende und den Kosmos durchwaltende Macht des Eros ist als Weltprinzip die in der Form des Mythos gegebene Antwort auf die Frage der vorsokratischen Naturphilosophie nach einer die Natur durchwirkenden autokinetischen Kraft.

Nach J.-P. Vernants Lektüre der Theogonie liegen diesem Erzähltypus gewisse Grundvorstellungen von Macht und Gewalt zugrunde, die an eine bestimmte Form der Zivilisation gebunden sind.3 Aus dem Streit der Mächte, Gewalten und Kräfte geht ein königlicher Herrscher (Zeus) hervor, der, nach schweren Kämpfen am Ende der Geschlechterfolge der Götter und Göttinnen, auf seinem Thron ewiger Herrschaft die fortan geltende Ordnung der Welt einsetzt. Dieser Erzähltypus wird durch die erklärende Abhandlung abgelöst. In ihm dominieren dank des bestimmten Artikels im Griechischen die Neutra: to apeiron (das Unbegrenzte), to theion (das Göttliche), ta onta (das, was vorhanden ist, das Seiende). Statt aus der Unordnung einen Herrscher hervorgehen zu lassen, der die Ordnung der Welt einsetzt, wird nun nach jenem „Prinzip“ gesucht, das dieser Ordnung zugrunde liegt. Die frühen griechischen Denker nannten dieses „Prinzip“ arche, das Macht/Herrschaft wie auch „Ursprung“ bedeutet.

An der Epochenwende vom 7. zum 6. Jahrhundert v. Chr. ist ein tiefgreifender geistiger Wandel zu beobachten: statt nach einem Weltherrscher „hinter“ den Erscheinungen zu suchen, der ihren Ordnungszusammenhang stabilisiert, sucht die Vorsokratik nach jenem Prinzip, das ihn begründet. Arche wird zum nomos (Grund/Gesetz) des Seienden. Paradigmatisch für die ionische Philosophie ist ihre Entdeckung stabiler Elemente (stocheia) im Spiel der flutenden Erscheinungen des Lebens, die das goldene Gleichgewicht im Umschwung aller Dinge garantieren. Das mythische Bild der Götter als Ursprungsmächte und ewige Hüter der Welt verblasst, an seine Stelle treten sinnliche Elemente und Qualitäten, die durch den Gebrauch des bestimmten Artikels abstrakt substantialisiert werden. Aus diesem Prozess der Transformation entstehen die ersten begrifflichen Kategorien. Die Griechen organisieren im 6. Jahrhundert ihr „System“ der Weltdeutung neu: die genealogische Götterabfolge wird zunehmend durch „ein Netz von Prinzipien“ (J.-P. Vernant) ersetzt, das die Erscheinungen der physis (Wachstum/Natur) in ihrem Entstehen und in ihrem Vergehen im Sinn eines gesetzlichen Zusammenhangs verknüpft. Lebendiges Wachstum und Gesetzlichkeit werden in einem umfassenden Aspekt des nicht statisch, sondern dynamisch bewegten Seins der erscheinenden Welt aufeinander bezogen. Das Wort physis findet sich zum ersten Mal bei Homer. Im 10. Gesang der Odyssee (V. 302ff.) macht der Gott Hermes Odysseus auf das Zauberkraut Moly aufmerksam, das für einen sterblichen Menschen nur schwer zu finden ist, für einen Gott aber leicht. Er zieht es aus dem Erdreich und zeigt seine „physis“ (Wuchs), indem er die Teile der Pflanze unterscheidet, die schwarze Wurzel und das Weiße der Blüte. In diesem Zusammenhang wird unter „physis“ zweierlei gefasst: zum einen, wie die Pflanze aus ihren beiden Polen besteht, der Wurzel und der Blüte. Zum anderen, wie diese Teile in ihrem Gewachsensein zusammengehören und ein Ganzes bilden. Beide Aspekte sind für die Entwicklung der frühgriechischen Philosophie und ihren Begriff der „physis“ bedeutsam geworden: das Gewordensein einer Sache und die Einheit ihrer „Elemente“. Die in der Realität stets brüchige Ordnung wird durch einen umfassenden geistigen Entwurf der Welt als kosmos restituiert, der physis und polis gleichermaßen umfasst.

Die frühe griechische Naturphilosophie entwickelt einen Typus von Rationalität, der gleichsam auf zwei Ebenen denkt: auf der Ebene der physis (Natur), aus der die phainomena (Erscheinungen) hervorgehen und auf der Ebene dessen, was „hinter“ ihnen ist und ihnen zugrunde liegt. Bezogen bleibt dieses Nachdenken auf die eine physis, deren Wurzeln nicht mehr in einem „heiligen Raum“ und einer „heiligen Zeit“ (M. Eliade) liegen, sondern deren Bestand sich unter dem Aspekt der isonomia (Gleichgewicht) selbst stetig erhält. Zugleich aber ist festzuhalten, dass dieses anfängliche Denken die Welt nicht „entheiligt“. Sie ist immer noch eine Welt, die im Glanz des homerischen Gedankens ruht: „voll von Göttern“ (Thales). Aus der entdeckten Tiefe der psyche heraus vertieft die vorsokratische Philosophie auch die alte Religion, indem sie sie von den Anschauungen, woran das homerische Epos sie festgebunden hat, losreißt und sie zu einem Gedanken umformt, der den Namen des Zeus sowohl annimmt wie auch abweist (Heraklit, B 32). Was die Entwicklung der Mathematik bei den Pythagoräern betrifft, so ist sie mit der uns fremden Vorstellung verbunden, dass bestimmte Zahlen einen religiösen Sinn haben. Und wenn Thales nach der Überlieferung des Aristoteles (Met. I, 3 983 6ff.) behauptet, dass hydor, das Wasser, der Ursprung der Welt sei, aus dem alles entstanden ist, so steht hinter dieser „Theorie“ nicht mehr Okeanos, der göttliche Weltstrom, aber auch noch nicht die Konstatierung einer chemischen Verbindung, sondern eine verblasste mythische Vorstellung: Wasser als die „mütterliche“, Leben spendende Urpotenz, das mit dem Samen verbundene Feuchte, das mit der Fortpflanzung in Beziehung steht, eine Anschauung, die den Griechen im Anblick des Meeres unmittelbar begegnete und aus dessen Tiefe sich für sie alle Formen des Lebens entwickelt hatten.

Unser neuzeitlicher Begriff von Theorie wurzelt im griechischen Begriff der theoria (Schau), abgeleitet ist dieser Begriff vom theoros, dem Gesandten zu sakralen Festspielen. Der Ursprung der Theorie liegt also im „Schauen“ eines Festes der Polis. Im Denken der Vorsokratik, das zwischen kosmos und polis ein Verhältnis der Analogie wahrt, ist es die reine Schau auf den wohlgeordneten Kosmos der seienden Dinge der Erde, der Sterne, des Alls. Das trennt den an diese theoria orientierten Rationalitätstypus grundsätzlich von dem rein experimentellen, mathematisch konstruktiven Wissenschaftsbegriff der Neuzeit. Wenn für Anaximander der alles lenkende, nie alternde „Anfang“ das apeiron (Unendliche) ist, wenn Pythagoras Mathematik mit Religion und Seelenglauben vereinigt, Xenophanes und Heraklit ihre scharfe Kritik an der alten Volksreligion mit einer ersten Form rationaler Theologie verbinden, und sich bei Parmenides Seelenfahrt und Metaphysik des Seins kreuzen, so ist einsichtig, wie sehr die frühen Physiologen auch „religiöse“ Denker und in gewisser Hinsicht „Dichter“ gewesen sind.4

Die theoretische Rückbindung jener Weltneugier, wie sie in der frühgriechischen Kultur durch Seefahrt, Handel und Städtegründung dokumentiert ist, an das staunende Fragen nach dem Ursprung von allem, was ist, und die ruhige Anschauung des Kosmos als eines göttlichen und ewigen Ganzen in Verbindung mit der forschenden Nachdenken seines Ordnungs- und Rechtsgefüges ist die entscheidende Leistung des frühen griechischen Denkens. Die aus ihm geborene Erkenntnis, dass im Strom der werdenden und vergehenden Dinge „Gesetze“ als Grundstrukturen einer unzerstörbaren Seinsordnung herrschen, die Heraklit Logos und Parmenides aletheia (Wahrheit) nennt, darf weder voreilig mit einem die ratlose Moderne interessierenden „Orientierungswissen“ noch mit den Denkformen neuzeitlicher Philosophie verwechselt werden. Vielmehr ist diese Erkenntnis mit einer ganz eigenen Form von „Rationalität“ verbunden, deren Figur nur dann nicht abstrakt bleibt, wenn sie aus dem mitdenkenden Nachvollzug des Denkens der Vorsokratiker selbst erschlossen wird. Erschwerend hierbei ist, dass die uns von den Vorsokratikern überlieferten Texte lediglich Bruchstücke sind, Zitate, die über Platon und Aristoteles bis hin zu den Kirchenvätern überliefert wurden. Das Denken der Vorsokratiker wird, wenn auch mit gravierenden Irrtümern, sichtbar in Nietzsches Aufzeichnungen Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873). Zu beachten ist ferner: Griechische Philosophie entwickelt sich aus einer „Vielfalt von Oppositionen“ (Th. A. Szlezák) heraus. Um nur einige zu nennen: Mythos und Logos, mythisch sanktionierte Götterordnung und abstrakt geistige auf den nous als das göttliche Eine ausgerichtete „Theologie“, das auf die Polarität von Werden und Vergehen der physis bezogene kosmogonische Denken der Milesier und die das Sein als „Einheit“ denkende Ontologie des Parmenides. Ferner: der durch konkurrierende Herrschaftsansprüche der Götter vorgezeichnete Weg des Menschenlebens und das in der Sorge der Seele um sich selbst erwachende „Ich“ als eines um sich selbst bekümmerten Daseins. Alle diese Oppositionen werden selbstreflexiv thematisiert im Prozess eines stetig strenger gefassten Wahrheitsanspruches, der beansprucht, durch rationale Begründung eingelöst zu werden. Im Gegensatz zum neuzeitlich konstruktiven Denken bleibt aber diese rationale Begründung stets an eine rezeptive Haltung des vernehmenden Denkens gebunden.

In seinen Grundfragen der Philosophie. Geschichte, Wahrheit, Wissenschaft (1958) schreibt G. Krüger zu den Grundbestimmungen des Weltbegriffes der Griechen und seiner Rückbindung an ein ihn umschließendes Seinshorizont: „Kosmos ist die Wohlordnung im Hinblick auf ein geistiges Prinzip; sie ist gleichmäßige Ordnung, wie sie uns beispielhaft in der Harmonie der Töne begegnet, oder ethisch-politische Ordnung, die (…) nicht ohne Zusammenhang mit der Erziehung der menschlichen Seele durch die Musik war. (…) Nachdem schon Xenophanes die arche in einem einzigen, reingeistigen Gott gesucht und Anaxagoras vom nous (…) gesprochen hatte, hat Platon das Verständnis der arche ausdrücklich am sinnvollen geistigen Walten (des Guten – W. R.) orientiert, und Aristoteles hat die Philosophie ausdrücklich auf eine Theologie (theologike) begründet, auf einen nous, der als proton kinoun akineton die Ordnung (taxis) des Alls erhält; die Stoiker haben diese Theologie mit der heraklitischen Lehre vom Logos, der Feuer ist, verbunden und die Neuplatoniker haben alle diese theologischen Traditionen der griechischen Philosophie zu vereinigen gesucht, indem sie selbst lehrten, der beherrschende Anfang der Welt sei das göttliche Eine jenseits aller Vielheit, mit dem sich der Mensch durch eine mystische Exstase vereinigen müsse.“5 Die zitierte Passage macht deutlich, in welchem Umfang die griechische Philosophie eine Kosmotheologie ist, deren unterschiedlich ihr zu Grunde liegende Weltmodelle der Fortgang meiner Darstellung zeigen wird.

Quellen: Textgestalt und Textüberlieferung

Im Unterschied zu den Schriften Platons besitzen wir von den Vorsokratikern keine vollständigen Textstücke, sondern nur „Fragmente“, die von den späteren Autoren, angefangen von Platon im 4. Jahrhundert v. Chr. bis hin zu Simplikios im 6. Jahrhundert n. Chr., in der referierenden Weise von Zitaten überliefert sind. Neben Platons meist zufälligen und oft ironischen Anspielungen und Hinweisen, ist es vor allem Aristoteles, der im 1. Buch seiner Metaphysik die Meinungen seiner vorsokratischen Vorgänger im Licht seiner eigenen Philosophie in rekonstruierender Weise dargestellt hat. Theophrast (geboren 372/71 v. Chr. in Eresos auf Lesbos), ein Schüler des Aristoteles, hat dann als Erster die Schriften der alten Naturphilosophen gesammelt und sie, nach thematischen Schwerpunkten geordnet, referiert. Seine 18 Bücher umfassende Sammlung Physikon doxai (Meinungen der Naturphilosophen) ging verloren und nur Reste davon sind von späteren Autoren überliefert worden. Sie blieb jedoch die maßgebliche Quelle aller weiteren doxographischen Lehrmeinungen tradierter Übersichten und Überlieferungen (bei Hippolytos, Diogenes Laertios, Simplikios und Clemens von Alexandria). Unter dem Titel Die Fragmente der Vorsokratiker gab der Altphilologe H. Diels (1903) eine Quellensammlung in drei Bänden heraus. (Vorbereitet wurde sie durch seine Arbeit: doxographi graeci, Berlin 1879, 4. Aufl. 1966.) Die von W. Kranz neu aufgelegte und revidierte Ausgabe zählt zu den wichtigen Dokumenten der Philosophiegeschichte und wird unter Diels/Kranz (DK) zitiert (der umfangreichere Teil B umfasst authentische und wörtliche Zitate, Teil A Zeugnisse über Lehre und Leben der Vorsokratiker). Der Sammlung von Diels/Kranz kann gleichwertig zur Seite gestellt werden die englische Edition der vorsokratischen Texte von G. S. Kirk, J. E. Raven und M. Schofield (Übersetzung von K.-H. Hülser unter dem Titel Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare, 1994).

Eine gelehrte Behandlung spezieller Interpretationsprobleme der Vorsokratik gibt H. Gomperz in: „Notes on the Early Presocratics und Problems and Methods of Early Greek Science“ (in: ders. Philosophical Studies, hrsg. von D. S. Robinson, Boston 1953). Empfehlenswert für Studierende des Faches Philosophie ist die bei Reclam erschienene zweibändige Textauswahl Die Vorsokratiker (griechisch-deutsch), übersetzt und erläutert von J. Mansfeld.

Milesische Kosmologie –
Die Frage nach dem „Ursprung“ der Physis

Es ist der Begriff einer in der homerischen Weltsicht aufleuchtenden, Götter und Erde umfassenden Ordnung, der die Grundlage für die charakteristische Leistung der ionischen Naturphilosophie abgibt: die Herausbildung von Kosmologie und Ontologie durch die fruchtbare Verbindung der Beobachtung physiologischer Periodizität der Naturerscheinungen mit einer Onto-Logik der Gegensätze. Die Ordnung der Welt ist hier nicht statisch, sondern dynamisch gedacht, sie ist Werden und Gewordenes, Wachstum und Wuchs. Das griechische Wort für Natur physis dokumentiert bereits vom Sprachlichen her jene Doppelnatur der in ihrem Gleichgewicht zugleich ruhenden und aus sich bewegten Wirklichkeit der einen Welt, welche die ionischen Physiologen durch ihre Frage nach „Ursprung“ und „Grund“ (arche) alles Seienden in den Blick gebracht haben. Da die eine Welt in allem periodischen Wechsel von Werden und Vergehen immer dieselbe ist, muss auch der über diesen Wechsel herrschende „Ursprung“ immer, wenn auch verborgen, „da“ sein. So wie das über allem Seienden liegende Licht, „das immer da sein muss, wenn uns das Sinnliche und sein Kommen und Gehen überhaupt sichtbar werden soll“6. In ihrer Besinnung auf die Bestimmung des Verhältnisses zwischen physis und arche liegt der eigentliche Beitrag der ionischen Naturphilosophie zu dem griechischen Weltdenken, in dem es immer um die großen und allgemeinen Prinzipien des Lebens und den substantiellen Ursprung der Welt geht.

Thales von Milet

De anima