Eine Biographie
Aus dem Amerikanischen
von Martin Pfeiffer
C.H.Beck
Joseph J. Ellis entwirft in seiner Biographie ein ebenso umfassendes wie vielschichtiges Porträt George Washingtons. Er beschreibt nicht nur die Anfänge Washingtons, seine militärischen Jahre erst im French and Indian War und dann im Unabhängigkeitskrieg sowie seine beiden Amtszeiten als erster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Mit großer Sensibilität spürt er auch der komplexen Persönlichkeit Washingtons nach, die heute fast ganz hinter der Ikone aus Marmor verschwunden ist. Sein psychologischer Scharfsinn und vor allem seine souveräne Erzählkunst lassen so einen Mann wieder hautnah lebendig werden, der wie kein anderer die Geschichte Amerikas geprägt hat.
Joseph J. Ellis ist emeritierter Professor für amerikanische Geschichte am Mount Holyoke College in Massachusetts. Für sein Buch über Thomas Jefferson «American Sphinx» erhielt er den National Book Award, für sein Buch «Founding Brothers» (deutsch «Sie schufen Amerika», C.H.Beck 2003) den Pulitzer-Preis.
Vorwort: Der Mann im Mond
1. Innere Regionen
2. Der rührige Gutsherr
3. Erster im Krieg
4. Kind des Schicksals
5. Besinnliches Intermezzo
6. Erster im Frieden
7. Das Testament
Danksagung
Anmerkungen
Personenregister
Für W. W. Abbot
Meine Beziehung zu George Washington begann früh. Ich bin aufgewachsen in Alexandria, Virginia, und in St.-Mary’s zur Schule gegangen; von dort konnte man auf dem Mount Vernon Boulevard das etwa elf Kilometer entfernte Gut des großen Mannes besuchen. Unsere Nähe zu Mount Vernon veranlaßte die Nonnen, die uns unterrichteten, nicht selten dazu, Wallfahrten mit uns zu jener historischen Stätte zu unternehmen, die vom Geist des größten säkularen Heiligen Amerikas beseelt war. Heute bietet die Führung durch das Haus weitaus mehr historische Informationen als zur Zeit meiner Kindheit. Ich erinnere mich jedenfalls nicht, daß man damals überhaupt von Sklaverei gesprochen hat. Doch ich erinnere mich sehr wohl daran, wie mir erzählt wurde, die Geschichte von Washingtons hölzernen Zähnen sei eine Legende – man konnte also, wie mir damals klar geworden ist, durchaus nicht immer den Geschichtsbüchern trauen. An diesen Punkt erinnere ich mich deutlich – denn ein Höhepunkt der Führung war Washingtons Gebiß unter einem Glassturz: ein häßliches Folterwerkzeug aus Metall und Knochen, wie mir schien. Abgesehen davon ist mir nur noch der grandiose Blick von der Veranda an der Ostseite des Gutshauses auf den Potomac im Gedächtnis geblieben.[*]
Als Zehnjähriger, Anfang der fünfziger Jahre, lag ich mit Freunden einmal auf einem Garagendach, und wir sahen hinab auf die Geburtstagsparade durch die Washington Street. Wir liebten dieses Ereignis, denn an Washingtons Geburtstag hatten wir immer schulfrei, und so konnten wir den Musikzügen der George Washington High School und der Washington and Lee High School zusehen. Von meiner Mutter bekam ich auch eine damals wie heute mit Washingtons Porträt geschmückte Dollarnote – das war in meiner Kindheit eine Menge Geld –, die ich in einem der örtlichen Läden ausgeben durfte, die für dollar-day sales warben. All das spielte sich im Schatten der nach ihm benannten Stadt jenseits des Flusses ab, in die mein Vater jeden Tag zur Arbeit ging und deren Stadtbild beherrscht war von einem gewaltigen Monument zum Andenken an einen einzigen Mann.
George Washington war in meiner Kindheit und Jugend also allgegenwärtig; unausweichlich schwebte seine Gestalt über dem Leben. Doch abgesehen von dem Gebiß und der Veranda in Mount Vernon blieb er eigentümlich abstrakt, ja geheimnisvoll. Er glich einer jener Jeffersonschen Wahrheiten, er war selbstverständlich und einfach da. Und das Schöne solcher Wahrheiten war, daß kein Mensch über sie reden mußte. Sie waren so vertraut, daß niemand auf den Gedanken kam zu fragen, weshalb man Jahr für Jahr eine Parade für sie abhielt.
Washington war für mich allgegenwärtiger als Thomas Jefferson oder Abraham Lincoln, aber auch entrückter. Wenn man zum Tidal Basin oder zur Mall ging, konnte man die beschwörenden Worte am Jefferson-Denkmal oder am Lincoln-Monument lesen («Diese Wahrheiten halten wir für selbstverständlich …»; «mit Groll gegen keinen, mit Nächstenliebe gegenüber allen …»). Am Washington-Monument stand jedoch nichts geschrieben, da sah man nur Graffitis an den Wänden neben der Treppe, die hinaufführte. Jefferson war offenbar wie Jesus, der auf Erden erschienen war und mit uns geredet hatte. Washington war wie Gottvater, der über allem schwebte. Jefferson erschien mir wie eines jener Luftschiffe beim Super Bowl, die illuminierte Botschaften verkünden. Washington hingegen verharrte unnahbar und schweigend wie der Mann im Mond.
Man kann also das, was hier zu lesen ist, als meinen Versuch betrachten, auf dem Mond zu landen. Die Technologie für die Reise zum Mond gab es damals noch nicht, als ich auf dem Garagendach an der Washington Street lag – ebensowenig die kommentierte Ausgabe der Korrespondenz Washingtons, die jeden seiner Briefe erschließt und darüber hinaus Anmerkungen der Herausgeber zu allen wichtigen Akteuren, Ereignissen und Konflikten bietet. Heute gibt es diese Edition. Eine brauchbare Ausgabe steht zwar schon seit den 1930er Jahren zur Verfügung, und niemandem, der sich mit Washingtons Leben und seiner Zeit beschäftigen wollte, hat es je an historischen Quellen gefehlt. Doch die moderne Ausgabe der Washington Papers ist die Hauptquelle, denn sie bietet alle verstreuten Zettel und Materialien – zusammengetragen, katalogisiert und klassifiziert. Dieses gewaltige Projekt ist – abgesehen von den letzten drei Jahren des Unabhängigkeitskrieges und der zweiten Amtszeit Washingtons als Präsident – abgeschlossen, doch vermutlich wird der ereignisreiche Charakter jener Jahre die Herausgeber noch eine Weile in Atem halten. Man kann jedoch guten Gewissens sagen, daß uns jetzt jede irgend erhaltene Urkunde zur Verfügung steht, mit deren Auftauchen der Biograph und der Historiker überhaupt noch rechnen kann. Der große Patriarch Amerikas sitzt uns nun gegenüber: verwundbar, ungeschützt, ja sogar gesprächig.
Können wir ihm zuhören? Das ist durchaus keine rhetorische Frage. Aus Gründen, die uns Shakespeare und Freud am besten erklärt haben, bereitet es allen Kindern erhebliche Schwierigkeiten, ihren Vätern unbefangen zu begegnen. Und bei Washington zeigt sich das Patriarchenproblem überaus eindringlich: wir sehen ihn auf dem Mount Rushmore, auf der Mall, auf den Dollarnoten und dem 25-Cent-Stück, aber immer als Ikone – fern, kühl, einschüchternd. Wir tragen ihn, wie Richard Brookhiser so schön gesagt hat, in der Brieftasche, aber nicht im Herzen. Und da wir gerade beim Thema Herz sind: in jeder Kinderseele brodelt doch ein unausgegorenes Gemisch aus Abhängigkeit und Rebellion, aus Liebe und Furcht, aus Intimität und Distanz. Im Verlauf der amerikanischen Geschichte blieb unsere Reaktion auf Washington im besonderen und auf die Gründerväter im allgemeinen in eben dieses emotionale Muster verstrickt, ohnmächtig oszillierend zwischen Vergötterung und Verdammung. Im Falle Washingtons reicht die Skala von den Märchen, die Pastor Weems von einem frommen jungen Mann erzählte, der keine Lüge über die Lippen brachte, bis zu verächtlichen Urteilen über den totesten, weißesten Mann in der amerikanischen Geschichte.
Dieses Bild eines Helden/Schurken ist in Wirklichkeit die Vorderund die Rückseite derselben Medaille: eine Karikatur, die uns mehr über uns selbst sagt als über Washington. Die in der akademischen Welt gegenwärtig vorherrschende Meinung sieht Washington als Mitschuldigen an der Schaffung einer Nation, die imperialistisch, rassistisch, elitär und patriarchalisch gewesen ist. Zwar gibt es einige wichtige Ausnahmen von der Regel, aber für die orthodoxe Fachwelt ist Washington entweder tabu oder kaum der Rede wert, und jeder ehrgeizige Doktorand, der Interesse zeigt an Washingtons Karriere als Oberkommandierender oder als Präsident, erklärt damit gewissermaßen seinen intellektuellen Bankrott. (Eine Untersuchung über die einfachen Soldaten in der Kontinentalarmee oder die Sklaven in Mount Vernon wäre hingegen à la mode.) Wenn man Washington nicht einfach geflissentlich ignoriert, dann nimmt man ihn bestenfalls als einladende Zielscheibe wahr, als den Mann, der für alle Versäumnisse der revolutionären Generation verantwortlich ist und unseren überlegenen Maßstäben politischer und rassischer Gerechtigkeit nicht genügt. Dieser Ansatz ist völlig ahistorisch und gegenwartsfixiert; aber das Gleiche gilt auch für sein Gegenteil, die Tradition der heroischen Ikone. Und damit sind wir wieder bei der Karikatur. Oder vielleicht sollten wir an das verlockende Licht im Hafen denken, das in The Great Gatsby immer wieder aufleuchtet und erlischt wie eine Metapher unserer liebsten Illusionen.
Wie können wir diesem Syndrom der Übertreibungen entgehen? Anders gesagt: Wenn wir in dem Raumschiff, das uns die heutige Ausgabe der Washington Papers zur Verfügung stellt, auf dem Mond gelandet sind, wie können wir dann das Terrain exakt auf einer Karte darstellen, ohne die irrealen Erwartungen einfließen zu lassen, die wir von unserer Reise mitgebracht haben? Nun, wenn sich zeigt, daß wir nichts als Verherrlichung betreiben oder, umgekehrt, daß wir lediglich abschätzig urteilen, dann sollten wir noch einmal genauer hinsehen. Zum einen sollten wir die Suche damit beginnen, daß wir nach einem Menschen forschen, nicht nach einer Statue, und die Denkmäler, denen wir begegnen, sollten unverzüglich vom Sockel gestoßen werden. Zum anderen sollten wir davon ausgehen, daß wir uns auf eine Reise begeben und nicht auf die Jagd, und damit vermeiden, Washington in den ideologischen Abgrund zu schleudern, in den seine zeitgenössischen Kritiker ihn und sein Erbe befördern möchten. Ralph Waldo Emerson, der der nächsten Generation Rebellion predigte, hat einmal bemerkt, die Gründer seien so einschüchternd gewesen, weil ihre hervorgehobene Position in der amerikanischen Geschichte es ihnen möglich gemacht habe, Gott von Angesicht zu Angesicht zu erblicken, während alle, die nach ihnen kamen, ihn gleichsam nur mit den Augen ihrer Vorgänger erblicken konnten. Wir sollten danach streben, Washington von Angesicht zu Angesicht zu betrachten – oder, wenn man so will, auf Augenhöhe.
Meine Erkundungsreise habe ich mit zwei Überzeugungen und einer Frage begonnen. Zum einen wollte ich keinen Wälzer über ein gewaltiges historisches Thema schreiben. Zwei meiner herausragenden Vorgänger – Douglas Southall Freeman und James Thomas Flexner – haben schon großartige, mehrbändige Biographien verfaßt. Der monumentale Umfang dieser Werke hat, wie mir scheint, implizit den überlebensgroßen Ansatz der Washington-Forschung bestätigt und an den boshaften Kommentar Lytton Stracheys über die viktorianische Biographie erinnert: aus den unzähligen Bänden sei eine endlose Reihe verbaler Särge geworden. Das ist beiden Autoren gegenüber nicht eben fair, am wenigsten gegenüber Flexner, denn der fühlte sich nie verpflichtet, die scharfen Kanten von Washingtons Persönlichkeit abzuschleifen oder seine Biographie in eine Enzyklopädie zu verwandeln. Ich möchte die beiden hier als ehrwürdige Pioniere auf den Spuren Washingtons grüßen. Meiner Ansicht nach – und zum Teil infolge der von ihnen bereits erzielten Ergebnisse – brauchen wir kein weiteres episches Gemälde, sondern ein frisches Porträt, das sich vor allem auf Washingtons Charakter konzentriert. In diesem Sinne war der Vorgänger, von dem ich am meisten gelernt habe, Marcus Cunliffe, dessen Buch Washington: Man and Monument zwar schon um die 50 Jahre alt ist, sich aber bemerkenswert gut gehalten hat. Cunliffe verdient einen eigenen und speziellen Salut.
Meine weitere Überzeugung betraf die historische Forschung zur Revolutionsära, die die Landschaft seit Cunliffes Buch rings um Washington verändert hat. Wir sind sensibler geworden gegenüber den intellektuellen und emotionalen Gegebenheiten, die im kolonialen Amerika eine revolutionäre Ideologie hervorgebracht haben; auch haben wir heute ein weitaus besseres Verständnis für die sozialen und politischen Kräfte, die Virginias Pflanzerklasse zur Rebellion getrieben haben. Auch unsere Einschätzung der strategischen Alternativen, vor denen beide Seiten im Unabhängigkeitskrieg standen, hat sich verfeinert, hinzu kommt ein vertieftes Verständnis für die nicht miteinander zu vereinbarenden Versionen des «Geistes von 1776», die in den 1790er Jahren zum Ausbruch von politischem Parteienstreit führten. Washingtons Leben verlief ebenso wie seine zunehmend gefestigte Laufbahn im Kontext dieses verwickelten historischen Geschehens, das in seiner Gesamtheit einen neuen Rahmen für die Einschätzung seiner Entwicklung und seiner Leistung geliefert hat. Bedeutend ist vor allem: die florierende Erforschung der Sklaverei und des Schicksals der amerikanischen Ureinwohner hat Themen, die früher im Hintergrund gestanden hatten, in den Vordergrund gerückt. Diese Fragen kann man nicht mehr als Randprobleme behandeln. Um mit Washington ins reine zu kommen, muß man sie, insbesondere die Sklaverei, stärker als bislang berücksichtigen.
Am Anfang meiner Odyssee stand auch die Frage, zu der mich frühere Forschungen über die Nachlässe der Revolutionsgeneration geführt hatten. Mir schien, Benjamin Franklin sei weiser gewesen als Washington, Alexander Hamilton brillanter, John Adams belesener, Thomas Jefferson intellektuell differenzierter und James Madison politisch scharfsinniger. Doch ausnahmslos jeder dieser prominenten Akteure war der Meinung, Washington sei ihm fraglos überlegen gewesen. In der Galerie der Großen, die so oft als Gründerväter zum Mythos gemacht werden, wurde Washington als primus inter pares anerkannt, als der Gründervater schlechthin. Wie kam das? In diesem Buch habe ich nach einer Antwort gesucht, die in den Tiefen des ehrgeizigsten, entschlossensten und kraftvollsten Menschen einer Epoche verborgen ist, der es an würdigen Rivalen wahrhaftig nicht gefehlt hat. Wie er so wurde und was er dann damit anfing – das ist die Geschichte, die ich erzählen will.
Joseph J. Ellis
Plymouth, Vermont
* Ich bin offenbar nicht der einzige, der Mount Vernon in den fünfziger Jahren besucht hat und sich entsinnt, damals Washingtons Gebiß gesehen zu haben, obwohl es nach den offiziellen Unterlagen erst in den achtziger Jahren öffentlich gezeigt wurde. Die Museumsleute in Mount Vernon können sich diese Diskrepanz nicht erklären – und ich kann es auch nicht.
Die Geschichte nahm von George Washington erstmals 1753 Notiz: schon als Einundzwanzigjähriger war er ein kühner und einfallsreicher Emissär, den man mit einem gefährlichen Auftrag in die amerikanische Wildnis geschickt hatte. Bei sich trug er einen Brief von Robert Dinwiddie, dem Gouverneur von Virginia, gerichtet an den Kommandeur französischer Truppen in der riesigen Region westlich der Blue Ridge Mountains und südlich der Großen Seen, von den Virginiern Ohio Country benannt. Er hatte den Befehl, eine kleine Abteilung über die Blue Ridge und dann über die Alleghenies zu führen und sich dort mit einem einflußreichen Indianerhäuptling namens Half-King zu treffen. Von dort aus sollte er dann zu dem französischen Vorposten in Presque Isle (dem heutigen Erie, Pennsylvania) weiterreisen, um seine Botschaft «im Namen Seiner Britannischen Majestät» abzuliefern. Die entscheidende Passage in dem mitgeführten Brief war, wie sich zeigte, der verbale Eröffnungsschuß für den Krieg, den dann die amerikanischen Kolonisten als French and Indian War bezeichneten: «Die Länder am Fluß Ohio in den westlichen Teilen der Kolonie Virginia sind so allgemein als Eigentum der Krone Großbritanniens bekannt, daß es für mich ein Gegenstand von großer Besorgnis und Überraschung ist zu vernehmen, daß ein französischer Truppenteil an diesem Fluß, im Herrschaftsbereich Seiner Majestät, Festungen errichtet und Siedlungen anlegt.»[1]
Das war der Moment, in dem die Welt zum ersten Mal auf den jungen Washington aufmerksam wurde, und wir gewinnen unseren ersten nachhaltigen Eindruck von ihm, als er auf Drängen Dinwiddies einen Bericht über seine Abenteuer unter dem Titel The Journal of Major George Washington veröffentlichte, der in mehreren Kolonialzeitungen erschien und dann von Zeitschriften in England und Schottland nachgedruckt wurde. Obgleich Washington nur ein Emissär war – die Sorte von tapferem und agilem jungem Mann, die man in einer schwierigen Situation entsendet, um einen gefährlichen Auftrag auszuführen –, lieferte sein Journal den Lesern einen Bericht aus erster Hand über die Bergketten, die wilden Flüsse und die exotischen Völker in den Regionen des Binnenlandes, die auf den meisten europäischen Landkarten als dunkle und leere Flächen erschienen. Sein Bericht wurde zum Vorboten der meisterhaften Darstellung des amerikanischen Westens, die Lewis und Clarke mehr als 50 Jahre später publizierten. Er offenbarte auch, wenngleich unbeabsichtigt, den etwas lächerlichen Charakter jedes Anspruchs «Seiner Britannischen Majestät» wie auch jeder anderen europäischen Macht, ein Grenzland von derartigen Ausmaßen kontrollieren zu wollen, das europäische Zivilisationsanmaßungen einfach verschlang und wieder ausspie.[2]
Obgleich Washington in seiner Geschichte zugleich Erzähler und Hauptfigur ist, sagt er wenig über sich selbst und nichts über seine Gedanken. «Ich habe besondere Sorgfalt darauf verwendet», bemerkt er im Vorwort, «nicht zu übertreiben.» Im Mittelpunkt stehen nicht seine Überlegungen, sondern der knietiefe Schnee auf den Pässen über die Alleghenies und die eiskalten und oft bis zur Unpassierbarkeit angeschwollenen Flüsse, die ihn und seine Gefährten zwingen, neben ihren Kanus her zu waten, während ihre Mäntel brettsteif gefroren sind. Die Pferde brechen erschöpft zusammen und müssen zurückgelassen werden. Vor einem Indianerdorf, das den unheilverkündenden Namen Murdering Town trägt, stoßen er und sein Mitabenteurer Christopher Gist auf einen einsamen Krieger. Der Indianer scheint sich mit ihnen anfreunden zu wollen, dann dreht er sich plötzlich um und feuert aus kürzester Entfernung seine Muskete ab, trifft aber aus unerklärlichen Gründen nicht. «Sind Sie getroffen?» fragt Washington, aber Gist verneint, stürzt sich auf den Indianer und will ihn umbringen. Washington verhindert das, es ist ihm lieber, daß der Indianer entkommt. An den Ufern des Monongahela stoßen sie auf ein einsames Farmhaus, in dem zwei Erwachsene und fünf Kinder getötet und skalpiert worden sind. Die verwesenden Leichen werden von Schweinen angefressen.[3]
In scharfem Kontrast zu den grausamen Bedingungen und der gleichgültigen Barbarei des Grenzlandmilieus wirken die französischen Offiziere, denen Washington in Fort Le Boeuf und Presque Isle begegnet, wie elegantes Pariser Interieur, das in einer fremden Landschaft vom Himmel gefallen ist. «Sie empfingen uns mit außerordentlicher Zuvorkommenheit», bemerkt Washington. Die Franzosen ergingen sich in schmeichelhaften Artigkeiten über die schwierige Reise durchs Gebirge, die Washingtons Gruppe hinter sich gebracht hatte. Sie erklärten aber auch, die Ansprüche des englischen Königs auf die Ohio-Region seien nachweislich schlechter begründet als die des französischen Königs, Frucht einer Erkundungsreise, die Lasalle fast 100 Jahre zuvor durch das amerikanische Landesinnere unternommen hatte. Zur Festigung ihres Souveränitätsanspruchs war eine französische Expedition kürzlich den Ohio hinabgesegelt und hatte eine Reihe von Bleiplatten vergraben, die das Siegel ihres Herrschers trugen, was die Frage offensichtlich ein für alle Mal entschied.[4]
Höflich hörten sich die Franzosen Washingtons Entgegnung an, in der er sich auf die im Jahre 1606 verliehene ursprüngliche Charta der Virginia Company berief, die als Westgrenze dieser Kolonie entweder den Mississippi oder aber, noch weiter ausgreifend, den Pazifik festgelegt hatte. In beiden Fällen schloß diese Urkunde die Ohio-Region mit ein und war 60 Jahre älter als der Anspruch Lasalles. So überzeugend dieses ziemlich summarische Argument in Williamsburg oder in London klingen mochte, es machte auf die französischen Offiziere keinen großen Eindruck. «Sie sagten mir», schrieb Washington in seinem Journal, «es sei ihr unumstößlicher Plan, vom Ohio Besitz zu ergreifen, und bei G…, sie würden es tun.» Der französische Kommandeur von Fort Le Boeuf, Jacques Le Gardner, Sieur de Saint Pierre, beendete die Verhandlungen mit der Niederschrift eines herzlichen Briefes, den Washington Gouverneur Dinwiddie übergeben sollte und der die diplomatischen Floskeln beibehielt: «Ich habe es mir zur besonderen Pflicht gereichen lassen, Mr. Washington mit der Distinktion zu empfangen, wie sie Ihrer Würde, seiner Stellung und seinen großen Verdiensten zukommt. Ich bin zuversichtlich, daß er mir bei Ihnen in dieser Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren lassen wird und daß er Ihnen die tiefe Hochachtung übermitteln wird, mit der ich, Sir, Ihr ergebenster und gehorsamster Diener bin.»[5]
Doch der Mann, den Washington in seinem Journal häufiger zitiert als jeden anderen, repräsentierte noch eine dritte imperiale Macht, die ihren eigenen exklusiven Souveränitätsanspruch auf die Ohio-Region erhob. Das war Half-King, der Seneca-Häuptling, dessen indianischer Name Tanacharison lautete. Abgesehen von seiner Stellung als lokaler Stammesführer hatte Half-King seinen quasi-königlichen englischen Namen erhalten, weil er der diplomatische Repräsentant des Irokesenbundes war, den man auch als Sechs Nationen bezeichnete und der sein Hauptquartier in Onondaga, New York, hatte. Als sie sich in dem indianischen Dorf namens Logstown erstmals begegnet waren, hatte Tanacharison erklärt, Washingtons indianischer Name sei Conotocarius, was soviel hieß wie «Eroberer von Städten» oder «Verschlinger von Dörfern», weil dies der Name gewesen war, den man ursprünglich, fast 100 Jahre zuvor, Washingtons Urgroßvater John Washington gegeben hatte. Daß sich dies im Gedächtnis der mündlichen Überlieferung der Indianer erhalten hatte, erinnerte auf dramatische Weise an die langjährige Herrschaft des Irokesenbundes über diese Region. Sie hatten keine Bleiplatten vergraben, und sie wußten nichts von den vermessenen Ansprüchen irgendeines englischen Königs auf den Besitz eines Kontinents. Doch sie beherrschten dieses Land seit etwa 300 Jahren.[6]
Unter den gegenwärtigen Umständen betrachtete Tanacharison die Franzosen als eine größere Bedrohung für die indianische Souveränität. «Wenn ihr auf friedliche Weise gekommen wäret wie unsere Brüder die Engländer», erklärte er dem französischen Kommandanten in Presque Isle, «dann hätten wir nichts dagegen gehabt, daß ihr mit uns Handel treibt, wie sie es tun, aber daß ihr, Väter, kommt und auf unserem Land große Häuser baut und es euch mit Gewalt aneignet, das ist etwas, das wir nicht dulden können.» Andererseits machte Tanacharison auch deutlich, daß alle indianischen Bündnisse mit europäischen Mächten und ihren kolonialen Verwandten befristeten Nützlichkeitserwägungen gehorchten: «Sowohl ihr als auch die Engländer sind Weiße. Wir leben in einem Land dazwischen, deshalb gehört das Land weder dem einen noch dem anderen; sondern das GROSSE WESEN hoch oben hat es eine Wohnstatt für uns sein lassen.»[7]
Washington zeichnete Tanacharisons Worte pflichtschuldig auf, und ihm war völlig klar, daß sie die konkurrierenden, ja sich gegenseitig ausschließenden Erfordernisse zutage brachten, die seine diplomatische Mission in der amerikanischen Wildnis definierten. Denn einerseits war er der Vertreter eines britischen Kabinetts und einer kolonialen Regierung, die fest entschlossen war, die Ohio-Region mit anglo-amerikanischen Siedlern zu bevölkern, deren Anwesenheit mit der indianischen Auffassung von göttlicher Vorsehung absolut unvereinbar war. Andererseits war jedoch gerade das Volk, das Washingtons Vorgesetzte zu vertreiben gedachten, schon allein angesichts der Größe der indianischen Bevölkerung in dieser Region und angesichts ihrer unbestreitbaren Beherrschung der Waldkampftaktik, die die Bedingungen der Wildnis erforderlich machten, in dem sich abzeichnenden Konflikt zwischen Frankreich und England um die europäische Herrschaft über das amerikanische Landesinnere der entscheidende Machtfaktor.
Diese Geschichte vom ersten amerikanischen Abenteuer des jungen Washington ist aus mehreren Gründen ein guter Ausgangspunkt für unsere Suche nach der schwer zu fassenden Persönlichkeit jenes Mannes, der später zum Denkmal geworden ist. Erstens läßt sie erkennen, wie früh sein privates Leben in die öffentlichen Angelegenheiten verwickelt wurde, in diesem Falle in nichts Geringeres als die globale Auseinandersetzung zwischen den Weltmächten, die um die Oberherrschaft über einen halben Kontinent stritten. Zweitens zwingt sie uns dazu, die offenkundigste chronologische Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, daß nämlich Washington einer der wenigen prominenten Angehörigen der amerikanischen Gründergeneration war – ein weiterer war Benjamin Franklin –, der so früh zur Welt gekommen war, daß er seine Grundüberzeugungen über die Rolle Amerikas im britischen Empire vor dem Hintergrund des French and Indian War entwickeln sollte. Drittens bietet diese Geschichte das erste Beispiel für das Interpretationsdilemma gegenüber einem Mann der Tat, der offensichtlich entschlossen ist, uns zu erzählen, was er getan hat, sich zugleich aber weigert, uns Nachricht davon zu geben, was er sich dabei gedacht hat. Schließlich stellt sie, und das ist das Wichtigste, eine Verbindung her zwischen Washingtons Charakter in seinem frühesten Entwicklungsstadium und den rauhen, oft brutalen Bedingungen in dem weiträumigen Gebiet, das man Ohio Country nannte. Die inneren Regionen der Persönlichkeit George Washingtons begannen in den inneren Regionen des kolonialen Grenzlands Gestalt anzunehmen. Wie sich zeigte, war keiner dieser beiden Orte so leer, wie es zunächst den Anschein hatte. Und hier wie dort war es von elementarer Bedeutung, die Herrschaft über Kräfte zu erlangen, die den Vorstellungen der zivilen Gesellschaft oft im Wege standen.
Von Washingtons Kindheit und Jugend wissen wir vergleichsweise wenig. Die spärlich dokumentierten frühen Jahre sind später von Legenden überlagert worden, die allesamt die Kindheit Washingtons in Einklang bringen sollten mit den dramatischen Leistungen seiner späteren Laufbahn oder einfach mit dem Mythos des ersten Nationalheros der Vereinigten Staaten. John Marshall, sein erster seriöser Biograph, gab dem Kapitel über Washingtons Ankunft in der Welt sogar den Titel «The Birth of Mr. Washington», als sei er bei seiner Geburt schon vollständig bekleidet und bereit für das Präsidentenamt gewesen. Die berühmteste Erzählung über ein Ereignis aus Washingtons Kindheit – die Geschichte vom Abhacken des Kirschbaums, die von Pastor Weems stammt («Vater, ich kann keine Unwahrheit sagen») – ist frei erfunden. In Wahrheit wissen wir so gut wie nichts über Washingtons Beziehung zu seinem Vater Augustine Washington, außer daß sie ein frühes Ende fand, als Washington elf Jahre alt war. In seiner umfangreichen Korrespondenz hat Washington seinen Vater nur an drei Stellen erwähnt, und auch das nur andeutungsweise. Von seiner Mutter Mary Ball Washington wissen wir, daß sie eine hochgewachsene kraftvolle Frau gewesen ist, die seine Wahl zum Präsidenten noch miterlebt hat, ihn aber niemals rühmte oder auch nur seine öffentlichen Triumphe anerkannte. Die Beziehung zwischen den beiden, die in späteren Jahren von Entfremdung gekennzeichnet war, bleibt für die Zeit seiner Kindheit und Jugend ein Geheimnis. Angesichts dieses frustrierenden Gemischs aus Fehlinformationen und Legenden können wir nur die unwiderleglichen Tatsachen aus Washingtons frühen Jahren festhalten und dann, so gut es geht, die weniger deutlichen Muster von Einflüssen auf seine frühe Entwicklung skizzieren.[8]
Gesichert ist, daß George Washington am 22. Februar 1732 in Westmoreland County, Virginia, nahe den Ufern des Potomac geboren wurde. Er war in vierter Generation Virginier. Der Ahnherr der Familie, John Washington, war 1657 aus England herübergekommen und hatte die Familie Washington begründet: achtbare, wenngleich nicht sonderlich prominente Mitglieder der virginischen Gesellschaft. Die Indianer hatten ihm den Namen «Eroberer von Städten» gegeben, und zwar nicht seiner militärischen Tüchtigkeit wegen, sondern weil er ihnen mit juristischen Winkelzügen ihr Land abgeluchst hatte.
Das Erbe, das John Washington seinen Nachkommen hinterließ, zeigte drei ausgeprägte Tendenzen: erstens einen Hang zu Grundbesitz – je mehr, desto besser; zweitens große und kräftige Männer; und drittens eine männliche Linie, deren Mitglieder alle vor Erreichen des 50. Lebensjahres starben. Ein flüchtiger Blick auf die Stammbäume des jungen George, väterlicher- wie mütterlicherseits, deutete auf ein weiteres unheilvolles Muster hin. Der Begründer der Familie Washington hatte drei Frauen, von denen die letzte dreimal verwitwet gewesen war. Washingtons Vater hatte seine erste Frau 1729 verloren, und Mary Ball Washington, seine zweite Frau, war selbst eine Waise, deren Mutter zweimal Witwe geworden war. Die virginische Welt, in die George Washington hineingeboren wurde, war eine ausgesprochen gefahrvolle Region, in der weder häusliche Beständigkeit noch auch nur das Leben als sicher gelten konnten. Diese harte Wirklichkeit trat im April 1743 vor Augen, als Augustine Washington starb und seiner Witwe und seinen sieben Kindern ein Erbe hinterließ, zu dem 4000 Hektar Land, verteilt auf mehrere zersplitterte Parzellen, und 49 Sklaven gehörten.[9]
Washington verbrachte seine frühe Jugend mit seiner Mutter auf der Ferry Farm am Rappahonnok gegenüber von Fredericksburg, wo die Familie ein Farmhaus mit sechs Zimmern bewohnte. Er erhielt einen Unterricht, der der heutigen Grundschulausbildung entsprach, kam aber nie in den Genuß eines klassischen Lehrplans und wurde auch nicht dazu ermutigt, das College of William and Mary zu besuchen, ein Mangel, der ihm während seiner gesamten späteren Laufbahn im Kreise von amerikanischen Staatsmännern, die solidere Bildungsqualifikationen aufzuweisen hatten, anhing. Mehrere Biographen haben die Aufmerksamkeit auf die von ihm mit der Hand abgeschriebene Liste von 110 Vorschriften gelenkt, die der Schrift The Rules of Civility and Decent Behaviour in Company and Conversation entstammte. Sie ging auf Etiketteregeln zurück, die 1595 von Jesuiten verfaßt worden waren. Manche der aufgeführten Regeln sind kurios (No. 9: «Spucke nicht ins Feuer, … besonders wenn Fleisch davor liegt»; No. 13: «Töte kein Ungeziefer, oder Flöhe, Läuse, Zecken etc., vor den Augen anderer»); aber die erste Regel scheint auch Bedeutung gehabt zu haben für das zwanghafte Bemühen um Haltung, das Washington später an den Tag legte: «Jede Handlung in der Gesellschaft sollte bestimmt sein von einer gewissen Achtung für die Anwesenden.» Als Erinnerung an die Überzeugung früherer Zeiten, daß Charakter nicht nur das ist, was man ist, sondern auch das, was man nach Ansicht anderer ist, ist dies ein nützlicher Hinweis, der schon hier auf Washingtons späteren Hang deutet, in seiner öffentlichen Person zu verschwinden. Doch die prosaischere Wahrheit ist, daß die Rules of Civility deshalb so große Aufmerksamkeit von Biographen auf sich gezogen haben, weil dies eines der wenigen überlieferten Dokumente aus Washingtons Jugend ist. Es ist durchaus möglich, daß er die Liste lediglich als Schönschreibübung abgeschrieben hat.[10]
Die beiden wichtigsten Einflüsse auf den jungen Washington gingen aus von seinem Halbbruder Lawrence, der 14 Jahre älter war als er, und von der Familie Fairfax. Lawrence wurde zu seinem Ersatzvater, der für die Karriereentscheidungen seines jungen Schützlings verantwortlich war, da George als jüngerer Sohn kaum Aussicht hatte, genug Land zu erben, um den ungehinderten Zugang zur Pflanzerklasse der Chesapeake-Gesellschaft zu erlangen. Im Jahre 1746 machte Lawrence den Vorschlag, George sollte als Seeoffizier in die britische Marine eintreten. Seine Mutter war gegen diesen Plan und ebenso auch sein Onkel in England, dessen Bemerkung, die Marine werde ihn «zuschneiden und fixieren und wie einen Neger oder vielmehr wie einen Hund benutzen», für die negative Entscheidung den Ausschlag gab.[11]
Die anderen beiden Beiträge, die Lawrence zu Washingtons künftiger Karriere leistete, waren reichlich ironisch. 1751 reiste er nach Barbados, um in den Tropen seine Tuberkulose auszukurieren, und nahm Washington als Begleiter mit. Das sollte dessen einzige Auslandsreise sein und ihm Gelegenheit geben, sich die Pocken zuzuziehen. Für den Rest seines Lebens trug er kaum erkennbare Pockennarben im Gesicht, war damit aber auch gegen die gefürchtetste und gefährlichste Krankheit der damaligen Zeit immun. Dann, im Jahre 1752, verlor Lawrence seinen Kampf mit der Tuberkulose und setzte so die Familientradition kurzlebiger Männer fort. Seine 1000-Hektar-Plantage, die jetzt den Namen Mount Vernon trug, war Teil des Nachlasses, den Washington schließlich erbte. Lawrences vorzeitiger Tod machte seine größte Hinterlassenschaft möglich.[12]
Der Einfluß der Familie Fairfax hatte ebenfalls ironische Züge. Im Alter von etwa 15 Jahren begann Washington, einen großen Teil seiner Zeit in Mount Vernon bei Lawrence zu verbringen, der Ann Fairfax aus der Fairfax-Dynastie vom nahegelegenen Belvoir geheiratet hatte. Der Patriarch des Clans war Lord Thomas Fairfax, ein exzentrischer Angehöriger des englischen Hochadels, dessen Verachtung für Frauen und dessen Liebe zu Pferden und Jagdhunden ihn bald über die Blue Ridge führte, wo er seiner Leidenschaft, der Fuchsjagd, frönen konnte, ohne durch die lästigen Verpflichtungen behindert zu sein, die die Verwaltung seiner Güter mit sich brachte. Diese Verantwortung, eine wahrhaft beängstigende Aufgabe, übernahm sein Vetter William Fairfax. Der stark umstrittene Fairfax-Claim, den der Privy Council in London erst kürzlich bestätigt hatte, gab Lord Fairfax Eigentumsrechte über zwei Millionen Hektar Land, einschließlich des Northern Neck, der riesigen Region zwischen dem Potomac und dem Rappahonnok. Kurz, die Fairfax’ waren ein lebendes Überbleibsel des europäischen Feudalismus und der Aristokratie englischen Stils, fest verankert in der provinzielleren virginischen Version des Landadels. Als solche waren sie das vorzügliche Beispiel für privilegierte Abstammungslinien, königliche Protektion und das «eifrige Werben um die Großen», wie es ein Washington-Biograph genannt hat. Wenngleich Washington eine Revolution anführen sollte, die dann schließlich diese Konstellation aristokratischer Überzeugungen und Anmaßungen umstürzte, war er doch anfangs ein Nutznießer ihres Einflusses.[13]
Im Jahre 1748 übertrug William Fairfax dem sechzehnjährigen Washington seine erste Aufgabe: Er sollte Williams Sohn George William Fairfax auf einer Vermessungsexpedition durch die Fairfaxschen Besitzungen im Shenandoah-Tal begleiten. Washingtons früheste Tagebucheintragungen stammen aus dieser Zeit, und so erhalten wir die ersten Eindrücke von seiner Handschrift und seinem Stil und erfahren, welchen Eindruck die primitiven Verhältnisse jenseits der Blue Ridge auf ihn gemacht haben: «Ging ins Bett, wie sie es nannten, stellte aber zu meinem Erstaunen fest, daß es nicht mehr war als ein wenig zusammengedrücktes Stroh ohne Laken oder sonst etwas, sondern nur eine fadenscheinige Decke, deren Gewicht durch Ungeziefer wie Läuse, Flöhe etc. um das Doppelte vermehrt war.» Die wenigen Siedler in dieser Grenzlandregion waren für ihn seltsame Geschöpfe, die zerlumpte Kleidung trugen und oft nicht Englisch, sondern Deutsch sprachen. Er begegnete auch einer Gruppe von indianischen Kriegern, die mit einem Skalp von einem Scharmützel zurückkehrten und ihren Sieg um ein Lagerfeuer tanzend unter dem Dröhnen einer Kesselpauke feierten.[14]
Repräsentierte die Familie Fairfax den Inbegriff der englischen Zivilisation, so zeigte das Gebiet westlich der Blue Ridge das andere Ende des zivilisatorischen Fortschritts. Dahinter dehnte sich die Ohio-Region, in der alles aufhörte, was Europäer als zivilisiert bezeichneten. Im Jahr davor, 1747, hatte Lawrence gemeinsam mit einer Gruppe von Investoren die Ohio Company gegründet, der vom König 200.000 Hektar Land zugewiesen wurden, wodurch die virginische Form der Zivilisation in jenes ferne Gebiet westlich der Alleghenies getragen werden sollte, wo Washington schon bald im Namen des britischen Königs den Kampf gegen die Elemente aufnehmen und so seine Männlichkeit unter Beweis stellen sollte. Einstweilen jedoch und auch noch für die nächsten drei Jahre blieb er am Ostrand der Grenzregion Virginias, er vermaß die Fairfax-Besitzungen im Northern Neck und im Shenandoah-Tal, brachte es in seinem neuen Beruf zur Meisterschaft, indem er mehr als 190 Vermessungen durchführte, kampierte gewöhnlich unter freiem Himmel und kam finanziell so gut über die Runden, daß er seinen ersten Landkauf tätigen konnte, ein Grundstück von 585 Hektar am Bullskin Creek im Bereich des unteren Shenandoah.[15]
Wiederum bieten die historischen Quellen nur karge Mitteilungen über den heranwachsenden jungen Mann. Es gibt jugendliche Knittelverse über sein «armes schutzloses Herz», das von «Cupidos gefiedertem Pfeil» durchbohrt worden ist, vielleicht ein Hinweis auf eine unbekannte «Schöne aus dem Tiefland», die seine Leidenschaften entzündete, vielleicht ein Hinweis auf sein vergebliches Werben um Betsy Fauntleroy, eine kokette Sechzehnjährige, für die er inakzeptabel war. In Fredericksburg erscheint er als Kläger in einem Prozeß, in dem er eine gewisse Mary McDaniel beschuldigt, seine Kleidung durchwühlt zu haben, während er dort im Fluß badete. (Sie bekam 15 Peitschenhiebe.) Später pflegten Frauen bei seinem Erscheinen in Ohnmacht zu fallen, aber in dieser frühen Zeit kam er ihnen linkisch, ja einfältig und lähmend schüchtern vor.[16]
Für diese frühe Zeit gibt es keine Beschreibung seines Aussehens, aber Berichte, die aus einer etwas späteren Phase stammen, erlauben Rückschlüsse: so können wir uns einen hochgewachsenen jungen Mann vorstellen – er war mindestens 1 Meter 88 groß und somit einen Kopf größer als der Durchschnittsmann der damaligen Zeit. Seine Erscheinung war athletisch, wohlproportioniert und adrett. Er wog etwa 80 Kilo und hatte kräftige Schenkel, mit denen er die Flanken eines Pferdes fest umschließen und sich mit ungewöhnlicher Leichtigkeit im Sattel halten konnte. Er hatte graublaue, weit auseinanderstehende Augen, nußbraunes Haar, das im Laufe der Jahre dunkler werden sollte und das gewöhnlich hinten zu einem Zopf geflochten war. Hände und Füße waren überproportional groß, das ließ ihn etwas unbeholfen wirken, wenn er vor einem stand. Sobald er sich aber auf dem Tanzboden oder bei einer Fuchsjagd bewegte, verwischte seine natürliche Anmut den anfänglich irritierenden Eindruck. Trotz seiner Kraft und seiner fließenden Bewegungen warf er doch nie einen Silberdollar über den Potomac (auf der Höhe von Mount Vernon wäre das physisch unmöglich gewesen), aber er schleuderte einen Felsbrocken über die Natural Bridge im Shenandoah-Tal, die etwa 65 Meter hoch ist. Er war der Inbegriff eines richtigen Mannes: körperlich stark, geistig rätselhaft, emotional zurückhaltend.[17]
Im Juni 1752, als Lawrence in Mount Vernon im Sterben lag, bewarb sich Washington bei Gouverneur Dinwiddie um eine der Generaladjutantenstellen in der virginischen Miliz. Er hatte keinerlei militärische Erfahrung, und abgesehen von seiner körperlich eindrucksvollen Erscheinung war er für das Soldatenhandwerk nicht qualifiziert. Hier wirkten die beiden wichtigsten Einflüsse, die seine frühen Jahre bestimmten, wie üblich zusammen. Durch den Tod seines Bruders Lawrence wurde im Adjutantencorps eine Stelle frei, und William Fairfax machte seinen Einfluß geltend und versicherte Dinwiddie, dieser junge Mann sei der Aufgabe gewachsen. Washington selbst sagte: «Ich habe das Gefühl, daß es an meinen besten Bemühungen nicht fehlen wird.» Dinwiddie stimmte zu, er machte sich zu Washingtons neuem Mentor und Schirmherrn und schickte dann im darauffolgenden Jahr Major Washington in die Wildnis im Westen.[18]
Während der folgenden fünf Jahre, von 1754 bis 1759, verbrachte Washington den größten Teil seiner Zeit westlich der Blue Ridge, wo er eine Reihe von Expeditionen in die Ohio-Region anführte, die für ihn Schnellkurse im Soldatenhandwerk waren. Sie vermittelten ihm auch eine Reihe wahrhaft einschneidender persönlicher Erfahrungen, die seine Weltanschauung grundlegend prägten. Anstatt das College zu besuchen, zog er in den Krieg. Und die Art von Bildung, die er erhielt, hinterließ wie die Pocken, die er sich in Barbados zugezogen hatte, Narben, die nie verschwanden, und zugleich auch Immunitäten gegen jegliche Form von jugendlichem Idealismus.
Das erste Abenteuer begann im Frühjahr 1754, als das Abgeordnetenhaus von Virginia Mittel zur Aufstellung eines Regiments von 300 Mann bewilligte, das Siedler in der Ohio-Region vor der zunehmenden französischen Bedrohung schützen sollte. Washington wurde zum stellvertretenden Befehlshaber im Range eines Oberstleutnants ernannt. Im April verließ er an der Spitze von 160 Soldaten Alexandria; er hatte den Auftrag, die strategisch wichtige Stelle am Zusammenfluß von Allegheny und Monongahela zu sichern, wo die Ohio Company bereits mit dem Bau eines Forts begonnen hatte. Nach der mühseligen Überquerung der Alleghenies erfuhr Washington, eine französische Truppe von über 1000 Mann habe das halbfertige Fort besetzt und es in Fort Duquesne umbenannt. Nun gehe man daran, den französischen Einfluß auf die Indianerstämme der Gegend auszuweiten. Die brauchbarste Information erreichte ihn von seinem früheren Gefährten und indianischen Hauptverbündeten Tanacharison, der Washington davon in Kenntnis setzte, daß die Lage wirklich verzweifelt sei: «Wenn du uns jetzt nicht zu Hilfe kommst», schrieb er, «sind wir völlig verloren, und ich glaube, wir werden uns nie wiedersehen.» Angesichts einer haushoch überlegenen feindlichen Streitmacht entschloß er sich, in der Nähe von Tanacharisons Camp ein behelfsmäßiges Fort zu errichten, alle indianischen Verbündeten, die er auftreiben konnte, um sich zu scharen und auf Verstärkung zu warten. Tanacharison sagte seine Unterstützung zu, warnte aber auch, daß ihre Chancen gleich Null seien.[19]
Am 27. Mai berichtete Tanacharison, in der Nähe seien französische Truppen aufgetaucht, und er brachte eine Abordnung von Kriegern, die Washingtons Garnison in Great Meadows, etwa 65 Kilometer von Fort Duquesne entfernt, verstärken sollten. Am Morgen des 28. Mai traf Washington auf eine französische Patrouille von 32 Soldaten, welche in einer bewaldeten Schlucht kampierten, die Tanacharison als «niedriggelegenen dunklen Ort» beschrieb. Sein Trupp von 40 Mann umzingelte gemeinsam mit den indianischen Verbündeten unter Tanacharison das französische Lager. Washingtons Bericht über die anschließenden Kämpfe, den er am darauffolgenden Tag an Dinwiddie sandte, war knapp: «Ich traf daher im Benehmen mit dem Half-King … Vorkehrungen, um sie von allen Seiten anzugreifen, was dann auch geschah, und in einem Gefecht von etwa 15 Minuten töteten wir 10, verwundeten einen und nahmen 21 Gefangene; unter den Getöteten war Monsieur De Jumonville, der Kommandeur.» Seine Tagebucheintragung war noch knapper und zugleich aufschlußreicher: «Wir töteten Mr. de Jumonville – sowie neun andere … die Indianer skalpierten die Toten.»[20]
Über die Frage, was in der Jumonville-Schlucht, wie man sie dann nannte, wirklich geschehen war, kam es schon bald zu einer internationalen Kontroverse, bei der es darum ging, wer im French and Indian War den ersten Schuß abgefeuert hatte. Seither streiten sich die Gelehrten über das Thema, teils deshalb, weil dies Washingtons erste Kampferfahrung war, teils, weil es gute Gründe für die Annahme gibt, daß er hier unversehens das Kommando bei einem Massaker hatte. Zwar stimmen wie so häufig die Augenzeugenberichte nicht überein, aber die plausibelste Fassung der Zeugnisse läßt darauf schließen, daß die französischen Soldaten, überrascht und im Angesicht überlegener Feuerkraft, nach dem ersten Schußwechsel die Waffen streckten und sich ergeben wollten. Der französische Kommandeur Joseph Coulon de Villiers, Sieur de Jumonville, bemühte sich trotz einer Verwundung zu erklären, er sei in einer Friedensmission im Auftrag seines Monarchen Ludwig XV. gekommen – in einer diplomatischen Mission, wie sie Washington seinerseits im vorangegangenen Jahr im Auftrag des britischen Monarchen, der die Souveränität über die umstrittene Ohio-Region beanspruchte, durchgeführt hatte.
Während Washington die Übersetzung dieser diplomatischen Botschaft zu verstehen suchte, beschloß Tanacharison, der offenbar fließend französisch sprach und daher eher als Washington begriff, was Jumonville sagen wollte, die Dinge in die Hand zu nehmen. Er begab sich zu dem verwundeten Jumonville und erklärte auf französisch: «Du bist noch nicht tot, mein Vater», hieb sein Beil in Jumonvilles Kopf, spaltete ihm den Schädel, riß sein Gehirn heraus und grub die Hände in dieses Gemisch aus Blut und Hirnmasse. Dann fielen seine Krieger über die verwundeten französischen Soldaten her, skalpierten sie alle, enthaupteten einen von ihnen und steckten seinen Kopf auf einen Spieß. All das geschah unter den Augen des schockierten und unglücklichen befehlshabenden Offiziers, Oberstleutnant Washington.[21]
Zwar belog Washington Dinwiddie nicht direkt, aber er sagte auch nicht die ganze Wahrheit über diese Episode. In seinem Tagebuch versuchte er sich einzureden, Jumonvilles Behauptung, er sei in diplomatischer Mission gekommen, sei «ein reiner Vorwand [gewesen]; sie hätten nie die Absicht gehabt, uns anders denn als Feinde entgegenzutreten». In Wirklichkeit rechtfertigte er das Massaker vor sich selbst. In einem Brief, den er nach Hause an seinen Bruder schrieb, ging er über die Tötungen hinweg und beschränkte sich darauf, über seine persönliche Reaktion im Angesicht der Gefahr zu sprechen: «Ich hörte die Kugeln pfeifen, und glaube mir, dieser Ton hatte etwas Reizvolles.» Dieses Stück Selbstdarstellung fand seinen Weg in die virginischen Zeitungen und gab zu einer Vielzahl von Geschichten Anlaß, die Washington als Amerikas ersten Kriegshelden schilderten. Die draufgängerische Bemerkung machte sogar in London die Runde, wo kein Geringerer als Georg II. sie angeblich als jugendliche Prahlerei abtat: «Er würde das nicht sagen, wenn er Gelegenheit gehabt hätte, viele zu hören.»[22]
Ob er nun ein Held war, ein Aufschneider oder ein Mordgehilfe, das Scharmützel in der Jumonville-Schlucht hatte Washington davon überzeugt, daß sich seine Abteilung, obgleich sie den französischen Truppen in diesem Gebiet zahlenmäßig unterlegen war, bis zum Eintreffen von Verstärkungen behaupten konnte. «Wir haben soeben ein kleines Fort mit Palisaden fertiggestellt», schrieb er an Dinwiddie, «in dem ich mit meiner kleinen Schar auch den Angriff von 500 Mann nicht fürchten muß.» Er nannte die rohe kreisförmige Einfriedung, in der er Stellung zu beziehen gedachte, Fort Necessity, eine beiläufige Anerkennung seiner heiklen Lage. Anfang Juni billigte Dinwiddie die Entscheidung, das Fort zu verteidigen, und zugleich teilte er mit, der Kommandeur des virginischen Regiments, Joshua Fry, sei vor kurzem nach einem Sturz vom Pferde gestorben. Damit wurde Washington zum neuen Befehlshaber im Rang eines Obersten. (Abermals führte der Tod eines anderen Mannes zu seiner Beförderung.) Es war auch eine britische Abteilung von etwa 200 Mann unterwegs, die als Verstärkung zu ihm stoßen sollte.[23]
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