Thomas W. Gaehtgens
Die brennende Kathedrale
Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg
C.H.Beck
Die Kathedrale von Reims ist als Krönungskirche, Nationaldenkmal und Meisterwerk der Gotik ein bedeutender Ort der französischen Geschichte und Identität. Als gerade dieses einzigartige Monument von deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg bombardiert und erheblich beschädigt wurde, führte dies zu einem radikalen Bruch in den deutsch-französischen Beziehungen.
Der Angriff auf Reims im September 1914 hatte weitreichende Folgen und löste einen beispiellosen Propagandakrieg aus, in dem Frankreich die Zerstörung des Gotteshauses als vorsätzlichen Akt der Barbarei anprangerte. Thomas W. Gaehtgens legt eindrucksvoll die symbolische, architektonische und historische Wirkungsmacht der Kathedrale dar und schärft damit das Bewusstsein für die politische Bedeutung kultureller Monumente. Darüber hinaus geht er kenntnisreich auf Fragen des Schutzes und der Wiederherstellung von Denkmälern ein. Das Buch endet mit der schwierigen Annäherung Frankreichs und Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Durch das Engagement Charles de Gaulles und Konrad Adenauers wurde die Kathedrale von Reims schließlich als «Friedenskirche» zu einem Erinnerungsort der Versöhnung und der europäischen Vereinigung.
Thomas W. Gaehtgens ist seit 2007 Direktor des Getty Research Institute in Los Angeles. Zuvor lehrte er Kunstgeschichte an der FU Berlin und war Gründungsdirektor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris.
Einleitung
Respekt und Antagonismus
Kulturkonflikt
Denkmäler und nationale Identität
Krieg der Worte und Bilder
Quellen und Forschung
I. Die Beschießung von Reims
Die Deutschen besetzen Reims
Das Wunder an der Marne
Die Kathedrale brennt
Rechtfertigung der deutschen Heeresleitung
II. Die Kathedrale im Medienkrieg
Der Fall Löwen
Die gotische Königskathedrale
Jeanne d’Arc
Die französische und internationale Pressereaktion
Deutsche Zensur
Die Proteste der französischen Intellektuellen
«An die Kulturwelt»
Die brennende Kathedrale im Bild
Barbaren, Hunnen, Vandalen
Kultur gegen «Zivilisation»
III. Der Mythos der Gotik in Frankreich
Romantische Wiederentdeckung
Gotik als nationaler Stil
Joris-Karl Huysmans’ Roman La Cathédrale
Émile Mâle und der Renouveau catholique
Marcel Prousts La Mort des Cathédrales
Charles Morice und Auguste Rodin – die Gegenwart der Gotik
Maurice Barrès und das Denkmalschutzgesetz von 1913
IV. Gotik als Deutsche Kunst
Die Vollendung des Kölner Doms
Französische und deutsche Gotik
Gotik und nordische Rasse
V. Die Entstehung des Kunstschutzes
Kunstschutz und Propaganda
Entfremdung der Geister
Propagandistische Schriften
«Deutschland, das klassische Land der Denkmalpflege»
Von höchster Instanz
Vandalistischer Katholizismus
Der große Abschlussbericht
Ein tragischer Unglücksfall?
VI. Die Restaurierung der Kathedrale
Ruinenlandschaft
Pierre Antony-Thourets Fotografien des zerstörten Reims
Die Kathedrale als Denkmal der Gefallenen
Ruinentourismus
Der Wiederaufbau der Kathedrale von Reims
Paul Léon und Henri Deneux
Die feierliche Einweihung im Juli 1938
VII. Erinnerungsort der deutsch-französischen Freundschaft
Die deutsch-französische Versöhnung: Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in Reims
Dank
Bildteil
Anhang
Bibliographie
Bildnachweis
Anmerkungen
Einleitung
I. Die Beschießung von Reims
II. Die Kathedrale im Medienkrieg
III. Der Mythos der Gotik in Frankreich
IV. Gotik als Deutsche Kunst
V. Die Entstehung des Kunstschutzes
VI. Die Restaurierung der Kathedrale
VII. Erinnerungsort der deutsch-französischen Freundschaft
Personenregister
Les partis nationalistes, de l’un et de l’autre côté des frontières, exagèrent à l’envi les différences de tempérament et d’esprit qui, selon eux, rendraient impossible toute entente entre Français et Allemands […] Sur le terrain de la culture, aussi bien dans les sciences que dans les lettres et les arts, les défauts et qualités de part et d’autre sont à ce point complémentaires qu’il ne peut y avoir que profit dans une entente, que préjudice dans un conflit.
André Gide, Feuillets, 1918,
Journal, 1889–1939, Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard, Paris 1955, S. 673
Aber die anderen alle, die sonst mit mehr oder weniger Bewußtsein am übernationalen Bau der menschlichen Kultur tätig gewesen sind und jetzt plötzlich den Krieg ins Reich des Geistes hinübertragen wollen, die begehen ein Unrecht und einen großen Denkfehler […] Und wer soll dazu beitragen und daran arbeiten, daß es wieder anders wird, daß man sich wieder versteht, wieder anerkennt, wieder voneinander lernt – wer soll das tun, wenn nicht wir, die wir am Schreibtisch sitzen und unsere Brüder im Felde stehen wissen? Ehre jedem, der mitkämpft, mit Blut und Leben, auf dem Schlachtfeld unter den Granaten! Uns andern, die es mit der Heimat gut meinen und an der Zukunft nicht verzweifeln wollen, uns ist die Aufgabe geworden, ein Stück Frieden zu erhalten, Brücken zu schlagen, Wege zu suchen, aber nicht mit dreinzuhauen (mit der Feder!) und die Fundamente für die Zukunft Europas noch mehr zu erschüttern.
Hermann Hesse, O Freunde, nicht diese Töne!
Neue Zürcher Zeitung, 3. November 1914
Farbtafel 16. Max Sainsaulieu, Karte der Bombeneinschläge in Reims 1914–1918, aus: Maurice Landrieux, La cathédrale de Reims: Un crime allemand, Paris 1919.
Farbtafel 21. Jeanne d’Arc à Guillaume devant Reims, 1914, Postkarte, Privatsammlung.
Farbtafel 24. Job (Jacques Onfroy de Bréville), Expiation, 1914–15, Postkarte, aus: François Robichon, Job ou l’histoire illustrée (Paris: Herscher, 1994), S. 118.
Farbtafel 26a, b. Reims cathedral on fire, 19. September 1914, Fotografie; kolorierte Postkarte 1960er Jahre, Privatsammlung.
Farbtafel 28. Die Franzosen benutzen die Kathedrale von Reims als Operations-Basis und gefährden damit das herrliche Kunstwerk, ca. 1914–15, Postkarte.
Farbtafel 34c. Adrien Sénéchal, Notre-Dame de Reims, 19. September 1914, 1914, Pastell, aus: Jean-François Boulanger et al. (Hg.): Reims, 14–18: De la guerre à la paix: Histoire, mémoire, symboles (Straßburg: La Nuée bleue, 2013), S. 90–103.
Farbtafel 35. Les Sauvages, ca. 1914–15, Postkarte, Privatsammlung.
Farbtafel 40. C’est plus lourd qu’une pendule, mettons-y le feu, 1914, Privatsammlung.
Farbtafel 41. Maurice Neumont, 1914! Le Bon Apôtre!, 21. September 1914, Postkarte, Reims, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Reims, Fotografie.
Farbtafel 48. Georges Rochegrosse, Intérieur de cathédrale, 1915, Öl auf Leinwand, Reims, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Reims.
Farbtafel 51a. Emile-Antoine Bourdelle, Le Martyre de Reims, ca. 1914–18, Aquarell, Paris, Musée Bourdelle, Collection R. Dufet-Bourdelle.
Farbtafel 55. Huldigung Friedrich Wilhelms IV. bei der Feier zur Domvollendung am 16. Oktober 1880, 1880, Lithografie, Köln, Kölnisches Stadtmuseum.
Die Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen im September 1914 hatte verheerende Folgen. Kulturelle, wissenschaftliche und menschliche Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland waren von nun an undenkbar. (Abb. 1) Selbst in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Ländern bleiben meist berufliche und freundschaftliche Kontakte erhalten. Trotz der Verwüstungen in Heidelberg unter Ludwig XIV., trotz der Befreiungskriege gegen Napoleon und der Zerstörungen in den Jahren 1870/71 waren die Beziehungen zwischen den Nachbarländern niemals völlig abgebrochen worden.
1. Bombeneinschlag im Chor der Kathedrale von Reims, April 1917.
Im September 1914, nach der Bombardierung der Kathedrale, brachen jedoch alle Brücken zwischen den beiden Ländern ab. Selten, wenn überhaupt jemals, hat der militärische Angriff auf ein Baudenkmal einen solchen Sturm der Empörung in Texten und Bildern ausgelöst. Der Vorgang galt weltweit als ein unvorstellbarer Akt des Vandalismus. Nicht nur das Vorgehen der Armee erschien brutal. Die Deutschen insgesamt wurden nach diesem Ereignis als Barbaren, Hunnen oder Vandalen bezeichnet.
Bis heute fehlt eine Untersuchung, die die Gründe für den geistigen Zusammenbruch auf beiden Seiten darstellt, den dieses Ereignis auslöste. Die brennende Kathedrale von Reims steht vor unser aller Augen – tief in unser Gedächtnis eingeprägt durch die sich bereits damals mit großer Geschwindigkeit entwickelnden Bildmedien. Militärisch gesehen ein unerheblicher Vorgang, wurde die Beschießung in den Medien und der Propaganda als ein unfassbares kulturelles Verbrechen dargestellt und entsprechend empfunden. Warum diese Aktion zum Abbruch aller wissenschaftlichen und kulturellen Kontakte führte statt zu einem allgemeinen Aufschrei von Deutschen und Franzosen, diesen sinnlosen Krieg zu beenden, erscheint uns heute unbegreiflich. Die eingehende Betrachtung der erhaltenen Schriften und Bilder, die aus diesem Anlass entstanden, können allerdings verdeutlichen, warum es zu einem gemeinsamen Protest, über die Grenzen hinweg, nicht kommen konnte.
In diesem Buch werden die Umstände des Angriffs auf ein herausragendes Nationaldenkmal geschildert, der, vertieft durch den jahrelangen Stellungskrieg, einen dramatischen Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland auslöste. Große Anstrengungen von etwa zwei Generationen wurden benötigt, um ihn zu überwinden. Die Vorgänge waren in ihrem politischen und historischen Zusammenhang einzigartig. Dennoch liefern sie ein paradigmatisches Beispiel für die Bedeutung, die kulturelle Monumente für eine Nation haben, und die Auswirkungen, die ihre Zerstörung nach sich ziehen kann.
Wir handeln in dieser Darstellung von einem bestimmten historischen Ereignis der europäischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Vergleichbare Vorkommnisse, wenn auch jeweils von anderen, spezifischen Voraussetzungen bedingt, haben sich jedoch seit Jahrhunderten auf vielen Kontinenten und in den meisten Kulturen ereignet und können auch in unserer Gegenwart wahrgenommen werden. Thema dieses Buches ist somit, über die im Zentrum stehende Analyse hinaus, die Bedeutung dieser herausragenden Monumente zu beleuchten und ihrem Schutz eine Stimme zu verleihen.
Nach dem Untergang des Second Empire 1870, nachdem Frankreich ein bitterer, ja demütigender Friedensvertrag aufgezwungen worden war, suchte das Land nach den Gründen der Niederlage, die zu einer neuen Verfassung und einem veränderten Regierungssystem in der Troisième République geführt hatten. Das Verhältnis zu Deutschland blieb in der Dritten Republik angespannt, von Misstrauen gekennzeichnet und von Revanchegedanken gegenüber dem Deutschen Kaiserreich geprägt. Aber Frankreich blickte auch bewundernd auf die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen des Nachbarlandes. Nicht nur die Gegnerschaft, sondern auch der Respekt gegenüber den Deutschen hatte Tradition.[1] Musikliebende Franzosen waren regelmäßige und begeisterte Besucher der Wagner-Festspiele in Bayreuth. Gleichzeitig entstanden in Deutschland die bedeutenden Kunstsammlungen der französischen Moderne, die entscheidende Anregungen für die deutsche Kunst boten und bis heute die Qualität der Museen prägen. Wissenschaftliche und kulturelle Begegnungen von Deutschen und Franzosen fanden häufig statt und inspirierten die Vertreter beider Länder. Auch in Zeiten politischer Kontroversen zwischen der Dritten Republik und dem Deutschen Kaiserreich studierten französische Fachleute die deutsche Schul- und Universitätsausbildung, da sie in mancher Hinsicht als vorbildlich angesehen wurde. Die Produkte der deutschen Industrie wurden in der Galerie des machines der Weltausstellungen von 1889 und 1900 bestaunt und studiert. Und als besondere Geste der französischen Nation gegenüber sandte Wilhelm II. drei Gemälde aus seinem Privatbesitz zur Weltausstellung 1900, die die Gastgeber nur zu gern in den Sammlungen des Musée du Louvre gesehen hätten. Sie waren bereits im 18. Jahrhundert von Friedrich dem Großen erworben worden: Jean-Antoine Watteaus Einschiffung auf Kythera (1718/19), das Ladenschild von Gersaint (1720) und die Italienischen Komödianten (ca. 1720).
Die politische Gegnerschaft der beiden Länder behinderte auch nicht, dass deutsche Künstler die berühmte Cézanne-Ausstellung nach dessen Tod im Jahre 1906 in Paris besuchten und die deutschen Maler des Expressionismus die Kunst der französischen Fauves studierten. Die deutsche Kunstkritik berichtete ausführlich über die Salons und die Ausstellungen privater Galerien.[2] Seurat, Signac, Gauguin, Matisse, Delaunay und viele andere waren und blieben für die deutschen modernen Maler verehrte Vorbilder. Daran änderte sich auch während und nach dem Ersten Weltkrieg nichts.
Die Vorurteile zwischen Deutschen und Franzosen reichen weit zurück. Sie erfuhren eine neue Dimension im 18. Jahrhundert, als die Bestrebungen nach Einheit der deutschen Partikularstaaten, wie sie etwa von Johann Gottfried von Herder und Johann Gottlieb Fichte zum Ausdruck gebracht wurden, von Frankreich als Bedrohung ihrer europäischen Führungsrolle angesehen wurden. Andererseits trug Frankreich im 19. Jahrhundert durch die napoleonischen Feldzüge sowie die liberalen Revolutionen von 1830 und 1848 selbst dazu bei, den Gedanken an einen gemeinsamen Staat aller Deutschen lebendig zu erhalten und geradezu zu fördern. Das Deutsche Reich wurde schließlich durch die Politik Bismarcks nach dem Sieg über Frankreich unter der Vorherrschaft Preußens in der Spiegelgalerie von Versailles durch die Proklamation Wilhelms I. zum Kaiser gegründet. Diese Provokation blieb den französischen Nachbarn auf lange Zeit fest im Gedächtnis haften.
Trotz der Feindseligkeiten war 1870 noch ein Gespräch zwischen deutschen und französischen Gelehrten möglich, wie der intensive und bewegende Briefwechsel zwischen dem Philosophen und Theologen David Friedrich Strauß und dem Philosophen und Historiker Ernest Renan belegt. Ihre Schreiben suchen die gegensätzlichen politischen und geistigen Standpunkte zu erläutern, wobei sie, auf der Grundlage einer gemeinsamen humanistischen Bildung, sich mit Respekt, ja mit Hochachtung begegnen. Die Gegensätze werden deutlich ausgesprochen, wobei stets die Hoffnung mitschwingt, durch ihre kollegiale und fachliche Auseinandersetzung einen Beitrag zur Verständigung leisten zu können. So schrieb Strauß am 12. August 1870 an Renan:
«Daß ich die vielen guten Eigenschaften der französischen Nation nicht verkenne, daß ich in ihr ein wesentliches und unentbehrliches Glied der europäischen Völkerfamilie, ein vielfach wohltätiges Ferment in dieser Mischung sehe, das brauche ich Ihnen, hochgeehrter Herr, so wenig erst zu versichern, als Sie mich der gleichen unparteiischen Schätzung der deutschen Nation und ihrer Vorzüge zu versichern brauchen. Aber Nationen wie Individuen haben als Kehrseite ihrer Vorzüge auch ihre Fehler, und in Bezug auf diese haben unsere beiden Nationen seit Jahrhunderten eine sehr verschiedene, ja entgegengesetzte Erziehung genossen.»[3]
Trotz der Kriegswirren wurde der Brief von Strauß veröffentlicht, und Renan antwortete in einem ebenso in der Presse publizierten Schreiben einen Monat später, am 13. September 1870 aus Paris. Er beschwor nicht nur die Sinnlosigkeit des Krieges, sondern prangerte auch die Fatalität der Vorurteile für eine friedliche Zusammenarbeit an:
«So hat mich auch […] dieser Krieg mit Schmerz erfüllt, zunächst um des entsetzlichen Unglücks willen, das er nothwendig nach sich ziehen mußte, dann um des Hasses, um der ungerechten Urtheile willen, die er verbreiten, und des Nachtheils, den er den Fortschritten der Wahrheit bringen wird. Das große Unglück der Welt ist, daß Frankreich Deutschland nicht versteht und Deutschland Frankreich nicht: dieses Mißverständnis wird sich jetzt noch verschlimmern. Man bekämpft den Fanatismus auf der einen Seite durch den gleichen Fanatismus auf der anderen; nach dem Kriege werden wir uns Gemüthern gegenüber befinden, die durch die Leidenschaft verengt, für die Weite und Freiheit unseres Gesichtskreises verdorben sind.»[4]
Im Jahr 1914 hatte sich Renans Voraussage erfüllt. Der Hass dominierte und verhinderte einen Dialog in der Hoffnung auf ein gegenseitiges Verständnis. Die Beschießung der Kathedrale ließ die Franzosen befürchten, die Deutschen seien aufgebrochen, die Kultur des Nachbarn zu zerstören. Unter diesen Bedingungen war ein Gespräch über die Grenzen hinweg, kritisch der eigenen politischen und militärischen Führung gegenüber, kaum möglich.
Über die Hintergründe, die zum Ersten Weltkrieg führten, wird bis heute, ein Jahrhundert später, intensiv und kontrovers diskutiert. Auch die kulturellen und künstlerischen Manifestationen, die der Krieg auslöste, sind in Ausstellungen und Publikationen dargestellt worden.[5] Selten wurde allerdings in den jüngsten historischen Abhandlungen ein entscheidendes Kapitel der Kriegsführung auch nur erwähnt: die Beschießung der Kathedrale von Reims! Dieses fatale Ereignis, wie auch der Brand der Bibliothek von Löwen in Belgien im August 1914, bedeutete den politischen und kulturgeschichtlichen Höhepunkt des Zerwürfnisses vor allem der Kriegsparteien Frankreich und Deutschland. Die Sprache der Kommentare auf beiden Seiten veränderte sich. Politische Kontroversen verwandelten sich in hasserfüllte Beschimpfungen. Wie konnte es dazu kommen?
Die deutsch-französische Freundschaft und die Europäische Einigung sind eine große geschichtliche Leistung der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber es bleiben noch viele Hürden zu überwinden, um nationalstaatliche Gewohnheiten in einer größeren Gemeinschaft aufzugeben. Blickt man allerdings in die hasserfüllte Auseinandersetzung von 1914 und der darauffolgenden Jahre zurück, kann das bis heute Erreichte, so fragil es gelegentlich im täglichen politischen Leben erscheint, nicht hoch genug anerkannt werden. Wie fest gegründet die Staatengemeinschaft in Europa wirklich ist, wird die Geschichte zeigen. Politische und soziale Spannungen wird es weiterhin geben. Sie können bei gutem Willen auf der Grundlage eines europäischen Gemeinschaftsgefühls gelöst werden. Allerdings wird immer eine kulturelle Identität der einzelnen Länder bleiben, die alle zu respektieren haben. Ja, sie sollte nicht nur respektiert, sondern geschätzt und bewundert werden.
Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich haben darauf hingewiesen, dass sich im Ersten Weltkrieg die Nationen bekämpften, wobei sich vor allem Frankreich und Deutschland feindlich gegenüberstanden: «Europa war eher eine Utopie als eine Realität, es gab noch kein gemeinsames Haus, in dem man sich streiten oder in dem sich feindliche Brüder sogar töten konnten […] Was 1914 zählte, waren die Nationen, nicht Europa. Man kämpfte für das Vaterland, um das Überleben, um seine Zukunft zu sichern […] Die Kriegführenden verstanden sich in keiner Weise als ‹Europäer›, sondern als Völker von völlig unterschiedlichen Nationen und seit jeher antagonistisch.»[6] In der intellektuellen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich nach der Beschießung der Kathedrale von Reims traten diese traditionellen Gegensätze noch einmal mit der größten Schärfe hervor.
Die Bombardierung war kein «normales» Kriegsgeschehen, wie die Reaktion auf den Vorgang zeigen sollte. Die ungewöhnlich heftige publizistische Wirkung beruhte auf sehr unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Beide Länder trennte der seit langem diskutierte Gegensatz von civilisation und Kultur. Und beide Völker betrachteten die Kunst und Kultur der Gotik als Ausdruck ihrer eigenen nationalen Identität.
In dem erbittertsten Kampf, den die Nachbarn in ihrer Geschichte jemals erlebt hatten, traten diese Themen in der propagandistischen Auseinandersetzung mit voller Schärfe in den Vordergrund. Unverständnis und Hass sollten von nun an dazu führen, dass jede Chance, Gemeinsamkeiten auszuloten und das sinnlose Kriegsgeschehen zu beenden, vergeben wurde.
Kulturelle Verschiedenheit und Vielfalt macht die Stärke Europas aus. Sichtbare Träger dieser nationalen Identität sind neben Sprache, Literatur, Musik und Kunst auch Monumente wie Kirchen, Rathäuser, Denkmäler, Museen, ja ganze Städte in ihrer urbanistischen Eigenart. Unter ihnen ragen die Denkmäler heraus, die durch besondere historische Ereignisse oder ihre kunsthistorische Bedeutung bis heute Identität stiften, wie zum Beispiel die Kathedrale von Reims. Solche Nationaldenkmäler strahlen in unserer globalen Gegenwart als «World Heritage Monuments» weit über die Grenzen eines Landes hinaus. Sie zu schützen und zu erhalten ist eine Verpflichtung aller Nationen.
Dennoch werden sie bis in unsere Gegenwart immer wieder aus den verschiedensten Gründen angegriffen und zerstört. Mangelnde Bildung und religiöser Fanatismus sind häufig Ursachen dieser verwerflichen Aktionen, die meist geschehen, ohne dass die fatalen kulturellen und politischen Folgen wirklich bedacht werden. Der scheinbare Triumph des Stärkeren erweist sich immer als die Position des Schwächeren. Denn der physischen Zerstörung von Denkmälern folgt eine moralische Schuld, die Generationen belastet.
Um Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den gegenwärtigen Ereignissen zu verstehen, ist der Rückblick auf ein historisches Beispiel, die Beschießung der Kathedrale von Reims durch die deutsche Armee, eine herausragende, in sich selbst höchst komplexe Parallele. Der Angriff auf das Nationaldenkmal, das Ergebnis von unglücklichen Umständen und einer unverantwortlichen Entscheidung – nicht, wie die Quellen belegen, durch vorsätzliche Absicht, wie die französische Seite über Jahrzehnte hinweg meinte –, hatte katastrophale Folgen. Nicht ausschließlich, aber auch durch dieses Ereignis gefördert, blieben die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland auf Jahrzehnte hin zerrüttet.
Die Gründe, weshalb die Beschießung der Kathedrale so dramatische Auswirkungen haben konnte, sind nur scheinbar einfach zu verstehen. Sie liegen natürlich zunächst in dem Verlust von einzigartigem und in diesem Fall auch noch unersetzbarem Kulturgut. Der Angriff löste aber darüber hinaus Emotionen aus, die kaum noch zu kontrollieren waren. Sie erscheinen heute völlig irrational, zumal dieses historische Monument und architektonische Meisterwerk unbestreitbar von Deutschen und Franzosen gleichermaßen bewundert wurde. Aber gerade die Zerstörung von bedeutenden Denkmälern einer Nation führt zu Auseinandersetzungen, in denen sich lang gehegte Vorurteile, Gefühle von Bedrohung und Hochmut dem Nachbarn gegenüber entladen.
Welche Bedeutung der Angriff auf die Kathedrale von Reims besaß, lässt sich auch daraus ersehen, dass die vielen Toten bei der Bombardierung der Stadt zwar gelegentlich beklagt wurden, aber keineswegs im Mittelpunkt der Berichterstattung standen. Das Denkmal bestimmte die Kontroverse. Es stand über den individuellen Schicksalen der Bewohner der Stadt und repräsentiert bis in unsere Zeit die Geschichte und die Identität der französischen Nation.
Über die Rolle der Denkmäler in kriegerischen Konflikten nachzudenken ist sowohl eine Aufgabe der Historiker wie der Kunsthistoriker.[7] Während die einen die geschichtlichen Zusammenhänge zu analysieren und zu deuten haben, suchen die anderen festzustellen, welche Ausstrahlung Monumente über Jahrhunderte hinweg besitzen. Diese Wirkung verändert sich im Laufe der Zeiten. Denkmäler können in bestimmten Epochen übersehen werden oder ihre Wirkung völlig einbüßen. Im Falle der Beschießung der Kathedrale von Reims im September 1914, nur einen Monat nach Kriegsbeginn, sollte sich allerdings erweisen, dass durch den Angriff auf ein so bedeutendes Monument plötzlich verschiedene, in ihm verankerte Bedeutungsschichten zum Vorschein kamen. Der Angriff auf ein solches Denkmal kann eine Reaktion auslösen, die zu noch engagierteren kriegerischen Handlungen führt.
Selten haben die Intellektuellen auf beiden Seiten an einer politischen Auseinandersetzung so intensiv teilgenommen wie an diesem Krieg. Bei der Beschießung von Reims haben sie jedoch versagt! In völliger Verkennung der Umstände waren sie überzeugt, Recht zu haben, glaubten fest an ihren Sieg und sahen die Schuld nur beim Gegner.
Wie die folgenden Kapitel zu zeigen versuchen, gibt es zwei Gründe, deren Kenntnis dazu beitragen kann, diesen Umstand zu verstehen. Der eine beruht auf der symbolischen, ja geradezu mythischen Bedeutung der gotischen Kathedrale von Reims und der konkurrierenden Interpretation der Gotik in den beiden Nachbarländern. Der andere liegt in dem völligen Versagen der deutschen und französischen Intellektuellen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen, wie etwa Romain Rolland auf der französischen oder Albert Einstein auf der deutschen Seite, haben sie, statt die Sinnlosigkeit des Krieges anzuprangern, sich in nationalistische Überheblichkeit und blinde Obrigkeitshörigkeit verstiegen.[8] An Lautstärke hat es auf beiden Seiten nicht gefehlt, wohl aber an Überzeugungskraft, der Vernunft statt nationalen Parolen den Vorzug zu geben. Die allgemeine Empörung nach der Beschießung des architektonischen Meisterwerks und Nationaldenkmals der französischen Geschichte beschränkte sich auf die Anklage des eindringenden Feindes.
Die deutschen Kunsthistoriker der Epoche haben zweifellos die Zerstörungen tief bedauert, obwohl es nur wenige Zeugnisse ihrer Haltung gibt. Nicht einmal sie haben es gewagt, der allgemeinen Kriegsbegeisterung entgegenzutreten. Die wenigen, die sich zu Wort meldeten, hielten die Berichte der ausländischen Presse, soweit sie ihnen zugänglich war, für Propaganda des Feindes, äußerten sich respektvoll der eigenen politischen und militärischen Führung gegenüber und verwiesen auf den Vandalismus der französischen Revolution im 18. Jahrhundert.
Kunstwerke können sich in kriegerischen Auseinandersetzungen nicht wehren. Sie sind Opfer, wofür es endlose Belege in der Vergangenheit und unserer Gegenwart gibt. Im Fall der Kathedrale von Reims, scheinbar einzigartig in der Geschichte, hat sich das Bauwerk, wenn die Metapher erlaubt ist, gleichsam selbst verteidigt. Es wurde beschossen, aber nicht völlig zerstört. In wortreichen Beschreibungen wurden der Kathedrale geradezu menschliche Eigenschaften zugemutet, wie «verwundet» oder «verletzt» worden zu sein. Für französische Autoren wurde sie zu einer «Märtyrerin» der Zivilisation, auf die die Deutschen ein «Attentat» verübten und die sie angeblich zugrunde zu richten suchten.
Im Zentrum dieses Buches stehen nicht die Baugeschichte oder die künstlerische Bedeutung der architektonischen Form und des Skulpturenprogramms der Kathedrale. Gefragt wird vielmehr nach der Ausstrahlung, vielleicht könnte man sogar sagen nach der Macht und der Ohnmacht, die ein bedeutendes Bauwerk in der Geschichte darzustellen vermag.
Einer der wenigen herausragenden Intellektuellen, die sich gegen den Krieg engagierten, war Romain Rolland. Er sah die Katastrophe voraus, beklagte aber vor allem die Zerstörung aller Hoffnungen auf ein europäisches Gemeinschaftsgefühl. Er erkannte, dass die Beschießung von Reims den Abbruch aller Beziehungen nach sich ziehen würde, weil dieses Monument mehr als ein Menschenleben bedeute. Die Kathedrale von Reims repräsentiere ein Volk mit all seinen Freuden, seinen Hoffnungen, seinen Schmerzen und seinen Träumen. «Wer dieses Werk tötet, ermordet mehr als einen Menschen, er ermordet die reinste Seele einer Rasse.»[9] Auch Rolland «vermenschlichte» die Kathedrale, um das partizipatorische Element des Mitgefühls an diesem «Mord» zu erhöhen.
Der Erste Weltkrieg war, wie bereits oft betont, nicht nur ein Krieg der Waffen, sondern auch ein Krieg der Worte und Bilder, die den mörderischen Kampf im Feld und in den Gräben nicht nur begleiteten, sondern häufig genug entzündeten und unterstützten. Die Beschießung der Kathedrale von Reims war ein Brennpunkt in diesem Kampf der Medien. Auf beiden Seiten waren die hasserfüllten Artikel voller Missverständnisse, Fehlurteile und sachlicher Fehler. Dabei wurde die Kathedrale sogar als völlig vom Erdboden verschwunden bezeichnet, wovon jedoch in Wahrheit keine Rede sein konnte.
Der Krieg musste sinnloserweise weitergehen, obwohl er im September 1914 mit dem Scheitern des deutschen Schlieffenplans bereits hätte beendet werden können! Stattdessen begannen nach dem Abzug der deutschen Truppen aus Reims die entsetzlichen Grabenkämpfe, welche in den weiteren vier Jahren größten Horror und sinnlose Verluste bringen sollten.
In seinen Lebenserinnerungen schrieb der Philosoph und Nobelpreisträger Rudolf Eucken, der Rückzug der deutschen Armee an der Marne sei ein Schicksalstag, ein «dies ater für das deutsche Volk gewesen. […] Im Grunde war der ganze Krieg schon damals entschieden, so konnten wir auf die Dauer dem ungeheuren Druck der Gegner nicht standhalten.»[10] Die Zeilen sind lange nach der Katastrophe geschrieben und bezogen sich sicher nicht nur auf den militärischen, sondern vor allem auf den medialen Angriff auf Deutschland. Im September 1914 gehörte auch Eucken zu den 93 Unterzeichnern des berüchtigten Manifestes An die Kulturwelt!, das die deutsche Armee vor Kriegsverbrechen in Schutz nehmen sollte und die Einheit von Militär und intellektueller Elite Deutschlands beschwor.[11]
Nach der Euphorie, die in vielen Ländern den Kriegsbeginn begleitet hatte, stellten sich doch manche Zeitgenossen sehr bald die Frage, welche Ziele erreicht werden sollten. Schon unmittelbar nach den Ereignissen in Reims äußerte sich Fürst Lichnowsky gegenüber dem Chefredakteur des Berliner Tageblattes, Theodor Wolff, dass, wie man den Krieg auch betrachte, er der vollendete Wahnsinn sei.[12]
Die Literatur über das Ereignis ist überwältigend. Man kann sie in zwei Bereiche unterteilen. Auf der einen Seite steht eine Fülle von schriftlichen Quellen aus der Epoche des Ersten Weltkriegs zur Verfügung. Die sehr viel umfangreicheren französischen Publikationen sind wesentlich geprägt von Empörung, Entsetzen, ja Hass auf den Gegner. Den Franzosen gelang es, die internationale Presse für das Ereignis propagandistisch zu instrumentalisieren. Die Deutschen reagierten schwerfällig und waren durch die Pressezensur schlechter informiert. Empörte Aufrufe entstanden nicht als Ergebnis der bedauernswerten Vorgänge, sondern als Protest gegen den scharfen publizistischen Angriff der Franzosen, die Deutschen seien Vandalen und Hunnen.
Auf der anderen Seite, intensiviert durch das 100-jährige Gedenken an das Jahr 1914, hat sich die jüngere historische und kunsthistorische Forschung verschiedener Themen angenommen, von denen nur einige hier genannt werden können. Klaus H. Kiefer, François Cochet, Yann Harlaut und Elizabeth Emery kommt das große Verdienst zu – soweit dies nach den vorhandenen Quellen möglich ist –, die Vorgänge und ihre Bedeutung im Zusammenhang des Kriegsgeschehens und der Propaganda der Epoche analysiert zu haben.[13]
Der Bombardierung von Reims folgte unmittelbar die Entscheidung der deutschen Führung, den «Kunstschutz» einzurichten. Paul Clemen, Landesdenkmalpfleger der Rheinlande und Professor an der Universität Bonn, wurde vom Kaiser zum Aufbau dieser militärischen Einheit berufen. Christina Kott hat in ihrer auf reichen und bis dahin unerschlossenen Quellen beruhenden Untersuchung die Entstehung und Tätigkeit des Kunstschutzes dargestellt.[14]
Wichtige Studien wurden ferner den Kontroversen der Kunsthistoriker gewidmet. Vor allem die Arbeiten von Nicola Lambourne, Heinrich Dilly, Evonne Levy und Michela Passini seien hervorgehoben, die grundlegende Beiträge zum Verständnis der unterschiedlichen nationalistischen Vorstellungen der Kunstgeschichte in Frankreich und Deutschland leisteten. Erwähnt sei ferner die Untersuchung von Michael Klepsch über Romain Rollands Engagement in dieser Epoche. Sie bietet einen wichtigen Einblick in die intellektuelle Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich während des Ersten Weltkriegs.[15]
Eine Reihe von Studien ist der politischen Konfrontation der Nachbarländer und der unversöhnlichen Konfrontation in nationalistischer Befangenheit gewidmet. Weiterhin, wenn auch in diesem Zusammenhang Reims kaum erwähnt wird, muss das Ereignis im Rahmen der Auseinandersetzung der deutschen und französischen Intellektuellen betrachtet werden. Diese Debatte kreist um das Thema des Gegensatzes von civilisation und Kultur, eine Kontroverse, in der sich besonders Henri Bergson auf der französischen und Thomas Mann auf der deutschen Seite engagierten.
Mit dem Begriff «Kultur» verband sich allerdings für die französischen Nachbarn auch ein innerer Zwiespalt. Wenn die Deutschen ihnen als «unzivilisiert» erschienen, wurden und werden sie für eine Eigenschaft bewundert, die oft als «Seelentiefe» bezeichnet wurde. In der Verehrung für die Musik Wagners äußert sich diese Sehnsucht nach Empathie, die die eigene Kunst- und Musiktradition ihnen nicht zu bieten schien. Die Wagner-Euphorie äußerte sich zum Beispiel in der ironischen Empfehlung eines französischen Wagner-Opernführers, nach Bayreuth müsse man eigentlich eine Pilgerschaft auf den Knien zu den Festspielen unternehmen.[16]
In der bildenden Kunst führt ein Gemälde von Anton von Werner, Im Etappenquartier, 1894, diese Dichotomie besonders eindringlich vor Augen. (Abb. 2)[17] Das in Erinnerung des Feldzugs von 1870/71 entstandene Werk zeigt musizierende preußische Soldaten in einem französischen Schloss, in dem sie Quartier bezogen haben. In einem eleganten Interieur des Second Empire machen sie sich mit ihren schmutzigen Stiefeln breit, um Lieder von Schubert, nicht die «Wacht am Rhein», zu singen. Das französische Schlosspersonal, erwärmt von so viel deutscher Kultur, hört, trotz ihrer Gegnerschaft gegenüber den Eindringlingen, andächtig zu. Es gehört zu den Absurditäten propagandistischer Aktivitäten, dass gerade dieses Genrebild als Kriegspostkarte mit dem Titel «In Feindesland» während des Ersten Weltkriegs verbreitet wurde, um der deutschen Bevölkerung einen fröhlichen Vormarsch der Truppen vorzutäuschen, während sich die Armeen in den Gräben gegenüberlagen.
2. In Feindesland, ca. 1914–18 (nach Anton von Werner, Im Etappenquartier vor Paris, 1894, Staatliche Museen, Nationalgalerie, Berlin), Postkarte Los Angeles, Getty Research Institute.
Meine Überlegungen bauen auf den oben genannten Untersuchungen auf, wobei immer wieder die Schriften von Pierre Nora und Wolfgang J. Mommsen entscheidende Anregungen vermittelten. Allerdings frage ich nicht nur nach dem Geschehen selbst und den unmittelbaren Auswirkungen des Ereignisses nach 1914. Die Beschießung gerade dieser Kathedrale löste explosionsartige Reaktionen aus, die in einem weiteren Rahmen der Beziehungen der beiden Länder zu betrachten sind. Das Ereignis hat eine lange Vorgeschichte und wirkt auch noch bis heute nach. Es führte aber auch zu der gemeinsamen Teilnahme von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer an einer Messe in der wiederaufgebauten Kathedrale im Jahre 1962, der, wenige Monate später, die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages folgen sollte. Der Historiker Christian Amalvi kennzeichnete den historischen Moment treffend und voller Hoffnung: «Es war dieses ganze Erbe des Hasses und des Unverständnisses, das dieses Gipfeltreffen im Juli 1962 auszulöschen und zu überwinden vermochte.»[18]
Der Mythos dieses Kirchenbaus hat sich auf die schönste und friedlichste Weise erweitert. Für die Deutschen und die Franzosen ist dieser Ort das Symbol der «conciliation», der nachbarlichen und freundschaftlichen Zusammenarbeit der beiden Nationen geworden, ohne die ein friedliches Europa nicht möglich ist.
Mit bewegten Worten beschrieb Maurice Landrieux, Abbé der Kathedrale von Reims, die täglich abgehaltenen Messen in den letzten Augusttagen des Jahres 1914. Von den anrückenden deutschen Truppen war noch nichts zu sehen, der sich nähernde Krieg bestimmte aber bereits das tägliche Leben. Der Priester erinnerte sich lebhaft, wie Kardinal Louis Henri Joseph Luçon an jedem Morgen die Messe las, bis seine Eminenz am 24. August zum Konklave nach Rom aufbrach und seinen Mitarbeitern die Fürsorge des Bistums überließ.[1] Auch abends versammelten sich die Gläubigen in dem Gotteshaus zur Kreuzwegandacht, an der viele Soldaten teilnahmen, um Zuspruch zu erhalten. Diese Gebete nahmen, wie Landrieux formulierte, den Charakter einer nationalen Fürbitte an.[2]
Die Ankunft der deutschen Truppen beendete diese noch friedliche, wenn auch schon als sichtbar bedrohlich empfundene Situation. Immer mehr flüchtende Bewohner aus den umliegenden Ortschaften suchten in der Stadt Schutz. Die französischen Truppen hatten die Stadt verlassen, um südlich von Reims Aufstellung zu nehmen.[3]
Am Abend des 3. September war eine Vorhut unter der Führung von Carl Wilhelm von Humbrecht, Kavallerieoffizier des XII. (I. Königlich Sächsischen) Armee-Korps der III. Armee unter Generaloberst Max von Hausen, in die Stadt entsandt worden, um die Situation zu erkunden und die Übernahme vorzubereiten. Sie wurden im Rathaus von Bürgermeister Jean-Baptiste Langlet empfangen und verbrachten auch die Nacht in Reims. Der Bürgermeister, den von Humbrecht festnahm, deklarierte Reims zu einer offenen, militärfreien Stadt.[4]
Plötzlich, völlig unerwartet, am frühen Freitagmorgen des 4. September, eine Stunde nach der Messe, die Landrieux gelesen hatte, detonierten Kanonenschüsse, die auch die Kathedrale trafen. Landrieux und der Abbé Louis Andrieux stürzten in der allgemeinen Verwirrung zu ihrem Gotteshaus. Wie Landrieux später berichtete, «bot die Kathedrale einen erschreckenden Anblick. Die Kirche war voller Rauch. Staub stieg in bunten Kreisen zum Gewölbe hoch […] Glasfenster lagen zerbrochen in den Seitenschiffen».[5] Nachdem sie mühevoll eine abgeschlossene Tür aus den Angeln gehoben hatten, stürmten sie zur Spitze des Nordturmes und hissten dort eine weiße Fahne.
Die sächsische Vorhut, die sich noch im Rathaus befand, war so verwirrt wie die Einwohner der Stadt und vermutete zunächst die Rückkehr der französischen Truppen. Als deutlich wurde, dass es sich um deutsche Geschosse handelte, brachen sofort zwei von ihnen in Richtung der Kanonen auf, die sich sieben Kilometer entfernt in Mesneux befanden. Dort war die preußische II. Armee unter Generalfeldmarschall Karl von Bülow angekommen, die von der Ankunft der Sachsen nichts wusste.[6] Mit der Koordination des Vormarsches der deutschen Armeen an der Westfront stand es offenbar nicht zum Besten. Die Preußen hatten ebenfalls Parlamentäre in die Stadt gesandt. Sie waren allerdings dort nicht angekommen, sondern gelangten versehentlich in die französischen Linien.[7] Da sie nicht zurückkehrten, begannen die preußischen Batterien mit einem Beschuss der Stadt, der nach Angaben von Landrieux 60 Menschen das Leben kostete, mehrere Häuser in Brand setzte und auch die Kathedrale, wenngleich nicht erheblich und sicher unbeabsichtigt, beschädigte.[8]
Durch die ausführliche Beschreibung von Landrieux und einige Fotografien kann man sich in etwa ein Bild der Schäden an der Kathedrale durch die erste Beschießung machen, die sich, so bedauerlich sie waren, im Vergleich zu den späteren noch sehr in Grenzen hielten. Glasfenster zerbarsten, und unglücklicherweise wurden auch Teile von Skulpturen an der Fassade beschädigt. Jedenfalls wurde die Kathedrale nicht geschlossen und Messen fanden weiterhin statt, was die aus der Kirche strömenden Besucher auf dem Foto, das während der deutschen Besetzung aufgenommen wurde, belegen. (Abb. 3) Die Aufnahme stammt vermutlich vom Sonntag, dem 6. September, und zeigt im Vordergrund lagernde deutsche Soldaten. Sie bestätigt auch deutlich, dass die Nordfassade und der Nordturm eingerüstet waren. Schutzmaßnahmen durch Sandsäcke waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht ergriffen worden.
3. Deutsche Truppen in Reims, Sonntag, 6. September 1914, Fotografie Jules Matot, Reims, Sammlung Edouard und Christine Abelé.
Diese Vorgänge werden ausführlich in dem Buch beschrieben, welches Maurice Landrieux nach Kriegsende unter dem Titel La Cathédrale de Reims, Un Crime allemand veröffentlichte. Es beruht auf Aufzeichnungen, die bereits 1915 niedergeschrieben wurden und sowohl seine wie auch die Erlebnisse anderer Zeugen zusammenfassten. Für die 1919 erschienene Publikation verarbeitete er auch Presseberichte und Verlautbarungen der Regierung und des Militärs, soweit sie ihm zugänglich wurden. Er bezog dabei nicht nur französische, sondern auch ausländische, besonders deutsche Veröffentlichungen mit ein. Die allgemeine Tendenz des Buches ist von den Ereignissen geprägt, die sich nach dieser ersten, versehentlichen Kanonade am 4. September ereigneten. Der Geistliche blieb nicht unbeeindruckt von der allgemeinen Welle der Empörung über den anscheinend brutalen Vormarsch der Deutschen Armee und der weitverbreiteten Propaganda über die angebliche Lust der Deutschen, die französische Kultur zu zerstören.
Es wird überliefert, dass ein Offizier, vermutlich der preußische Oberstleutnant von Kiesewetter, leichenblass und wütend geäußert habe, die Deutschen seien keine Barbaren und ein Volk von hoher Kultur. Über die Schäden an der Kathedrale habe er geäußert, wenn die schöne Kathedrale nur leicht berührt worden ist, sei dies auf die Tatsache zurückzuführen, dass von oberster Stelle ausdrücklich der Befehl gegeben worden sei, sie zu verschonen. Allerdings habe er mit großem Bedauern konstatieren müssen, dass deutsche Geschosse die Kathedrale getroffen hätten.[9] Auch Landrieux scheint noch an einen unbeabsichtigten Beschuss geglaubt zu haben, wenn er auch aufgrund der späteren Vorgänge leise Zweifel nicht zu unterdrücken vermochte.[10] Die Betroffenheit des deutschen Offiziers jedenfalls ist auch ein Beleg dafür, dass eine später immer wieder behauptete, vorsätzlich geplante Zerstörung des Gotteshauses durch die Deutsche Armee schon damals eine geradezu absurde Vorstellung war.[11]
Am 4. September gegen 1 Uhr zogen die Preußen in die Stadt ein. Die Heeresleitung, geführt von den Generälen Alexander von Kluck, Karl von Bülow sowie Prinz August Wilhelm von Hohenzollern, quartierte sich in dem der Kathedrale gegenüberliegenden Hôtel du Lion d’Or ein. In der nächsten Zeit wurde der Platz vor der Kirche von dort lagernden Truppen eingenommen, was eine Fotografie veranschaulicht.[12] Die deutsche Besatzung beschlagnahmte Nahrungsmittel in großem Umfang. Im Laufe der nächsten Tage kam es auch zu Plünderungen durch die Soldaten in den Geschäften und Privathäusern der Stadt.
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