
Klaus Wolf
Bayerische Literaturgeschichte
Von Tassilo bis Gerhard Polt
C.H.BECK
Von den Tagen der Agilolfinger im 8. Jahrhundert bis zum Sprachvirtuosen Gerhard Polt reicht das Spektrum der in diesem Buch dargebotenen und erläuterten Texte. So werden darin 1300 Jahre Geschichte der Literatur auf dem Gebiet des heutigen Bayern wieder lebendig und anhand zahlreicher Beispiele knapp, kundig und anschaulich vorgestellt. Die gut organisierte Themenvielfalt umfasst religiöse Literatur und mittelalterliche Heldendichtung – wie etwa das Hildebrandslied – ebenso wie die Literatur im konfessionellen Zeitalter mit Autoren wie Hans Sachs und Konrad Peutinger. Hinzu kommen Werke zwischen Türkenmode und Aufklärung – zum Beispiel von Johann Emanuel Schikaneder, dem Librettisten der Zauberflöte Mozarts –, aber auch Schöpfungen der jüngeren Geschichte und Gegenwart von Autoren wie Felix Dahn, Friedrich Rückert, den Manns, aber auch von Johannes R. Becher, Michael Ende, Herbert Achternbusch, Django Asül und vielen, vielen mehr. Es gilt, viel zu entdecken, vielem wieder zu begegnen und Hunderte von Anregungen für neue Leseerlebnisse zu erhalten!
Präsentiert wird dieser Schatz der bayerischen Literaturgeschichte von Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern an der Universität Augsburg.
1. Wozu eine bayerische Literaturgeschichte?
2. Die Literatur des 8. Jahrhunderts
2.1. Literaturpolitik der Agilolfinger
2.2. Gattungen und Autoren
3. Die Literatur des 9. Jahrhunderts
3.1. Karolingische Renaissance?
3.2. Gattungen und Autoren
4. Die Literatur des 10. Jahrhunderts
4.1. Literatur im Angesicht des Ungarnsturms
4.2. Gattungen und Autoren
5. Die Literatur des 11. Jahrhunderts
5.1. Tegernsee als literarisches Zentrum
5.2. Bamberg als literarisches Zentrum
5.3. Gattungen und Autoren
6. Die Literatur des 12. Jahrhunderts
6.1. Literatur im Umkreis der Welfen
6.2. Gattungen und Autoren
7. Die Literatur des 13. Jahrhunderts
7.1. Literatur im Umkreis der frühen Wittelsbacher Herzöge
7.2. Gattungen und Autoren
8. Die Literatur des 14. Jahrhunderts
8.1. Literarisches Leben um Ludwig den Bayern
8.2. Gattungen und Autoren
9. Die Literatur des 15. Jahrhunderts
9.1. Literatur in der Stadt: München – Augsburg – Nürnberg
9.2. Gattungen und Autoren
10. Die Literatur des 16. Jahrhunderts
10.1. Literatur der Universität Ingolstadt
10.2. Nürnberg und Hans Sachs
10.3. Gattungen und Autoren
11. Die Literatur des 17. Jahrhunderts
11.1. Die Nürnberger Pegnitz-Schäfer
11.2. Europäischer Geist des katholischen Barock
11.3. Gattungen und Autoren
12. Die Literatur des 18. Jahrhunderts
12.1. Zwischen Türkenfurcht und Türkenmode
12.2. Durchbruch der Aufklärung
12.3. Gattungen und Autoren
13. Die Literatur des 19. Jahrhunderts
13.1. Literarische Modernisierung unter Maximilian I. Joseph und Maximilian II.
13.2. Romantik unter Ludwig I. und Ludwig II.
13.3. Frankens Ausnahmegestalten: Jean Paul und Friedrich Rückert
13.4. Gattungen und Autoren
14. Die Literatur des 20. Jahrhunderts
14.1. «München leuchtete» – Prinzregentenzeit und fin de siècle
14.2. Literatur in München unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs
14.3. Literatur in Augsburg und München zwischen Räterepublik und NS-Diktatur
14.4. Renouveau Catholique als europäische Bewegung in Schwaben
14.5. Die Gruppe 47 am Allgäuer Bannwaldsee
14.6. Die Münchner Turmschreiber
14.7. Widerständige Renaissance des Ostfränkischen und Mittelbairischen
14.8. Interkulturelle Literatur in Bayern
14.9. Gattungen und Autoren
15. Tendenzen der bayerischen Literaturgeschichte
Literaturhinweise
Bildnachweis
Register
Ist im Zeitalter der Globalisierung eine bayerische Literaturgeschichte überhaupt noch zu rechtfertigen? Ja, war eine Bayerische Literaturgeschichte überhaupt irgendeinmal zeitgemäß? Jedenfalls muss ein solches literaturhistorisches Unterfangen am Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest hinterfragt werden.
Dabei muss zunächst allgemein historisch (nicht nur literaturgeschichtlich) weiter ausgegriffen werden. Denn Bayerns Eigenstaatlichkeit seit gut anderthalb Jahrtausenden und mehr noch die unbestreitbare Tatsache, dass Bayern als Staat älter als Deutschland ist, lassen grundsätzlich eine bayerische Literaturgeschichte durchaus berechtigt erscheinen. Niemand würde überdies die Legitimität einer Literaturgeschichte Österreichs neben einer deutschen Literaturgeschichte in Frage stellen, zumal historisch betrachtet weite Teile des heutigen Österreichs wie Altbayern auf gemeinsame ethnische wie politisch-herrschaftliche (dynastische) und nicht zuletzt sprachhistorische Wurzeln zurückgehen.
Auch ermutigen entsprechende Unternehmungen in der Vergangenheit dazu, nun, am Beginn des 21. Jahrhunderts, wieder eine bayerische Literaturgeschichte zu wagen, zumal das überaus verdienstvolle und in weiten Teilen keineswegs überholte, von Albrecht Weber herausgegebene Handbuch der Literatur in Bayern (1987) mittlerweile auch schon rund eine Generation alt ist. Während dieses Handbuch die Beiträge vieler verschiedener Experten, die für die jeweilige Epoche oder den jeweiligen Dichter als vorzügliche Spezialisten gelten, eher lose vereinigt und daher nicht nur stilistisch, sondern auch methodisch mitunter recht vielstimmig wirkt, will der vorliegende Versuch stilistisch wie methodisch einheitlich die Literatur in Bayern von den Anfängen bis zur zweiten Jahrtausendwende überblicksartig dokumentieren. Überdies gilt es, damals im Handbuch noch methodisch und korpusbedingte blinde Flecken zu beleuchten. Neben der Fragestellung von inter- und transkultureller Literatur ist hier nicht zuletzt die energischere Dokumentation der bayerischen Schriftstellerinnen, der schreibenden Schwestern der Bavaria, heute unbedingt zeitgemäß.
Heute wie damals beim Handbuch der Literatur in Bayern stellen sich jedoch ebenso schwerwiegende wie grundsätzliche Fragen nach dem (1) Gegenstand und der (2) Methode:
(1) Schon die Frage nach dem Gegenstand im Sinne eines Territoriums ist unter diachroner Perspektive hochproblematisch. Denn Bayern in seiner heutigen Ausdehnung ist ein Ergebnis der napoleonischen Zeit und flächenmäßig teilweise anders beschaffen als etwa das frühmittelalterliche Stammesherzogtum der Agilolfinger am Anfang der bayerischen Eigenstaatlichkeit, das etwa die Gebiete der heutigen fränkischen Regierungsbezirke nicht umfasste, dafür aber weite Teile Österreichs.

Karte 1: Das baierische Stammesherzogtum 788
Ist deshalb eine bayerische Literaturgeschichte, die konsequent vom Mittelalter bis zur Moderne reicht, schon aus territorialen Gründen anfechtbar und zum Scheitern verurteilt? Das Gegenargument mangelnder territorialer Kontinuität im Laufe der Jahrhunderte gilt freilich für nahezu jede Literaturgeschichte in Europa, die geographisch mehr umfasst als etwa nur eine Stadt. Auch eine deutsche Literaturgeschichte müsste sich den Vorwurf mangelnder staatlicher Kontinuität gefallen lassen, zumal es ja eine deutsche Nation im Mittelalter gar nicht gegeben hat und das Heilige Römische Reich (erst später: Deutscher Nation) durchaus ein Vielvölkerstaat war, zu dem nach heutiger ethnischer Zuordnung nicht nur Deutsche, sondern beispielsweise auch Italiener, Franzosen, Tschechen, Sorben, Polen und Balten gehörten.
Selbst Frankreich als Nationalstaat par excellence, als la grande nation, ist ein Produkt der Frühen Neuzeit, während das Königreich Frankreich im Mittelalter viel kleiner als beispielsweise die spätere Französische Republik war. Da trotz dieser territorialgeschichtlichen Fakten niemand auf die Idee käme, eine französische Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zur Moderne abzulehnen, erscheint auch eine bayerische Literaturgeschichte durchaus legitim. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil der heutige Freistaat Bayern innerhalb der Europäischen Union als Mittelstaat anzusehen ist, der von seiner wirtschaftlichen Bedeutung her durchaus mit den Niederlanden, mit Belgien, der Schweiz oder mit Österreich (wo ja auch Bairisch gesprochen wird) vergleichbar ist.
Auch das Konzept der Nationalliteratur etwa im Sinne einer dezidiert deutschen Literaturgeschichte verdankt sich recht eigentlich erst der Nationalstaatsidee seit den sogenannten Befreiungskriegen am Beginn des 19. Jahrhunderts (und die noch älteren Universitätsnationen des Spätmittelalters waren in sich jeweils sprachlich und ethnisch alles andere als homogen, zudem trotz Namensgleichheit, von Universität zu Universität sehr verschieden zusammengesetzt).

Karte 2: Bayerns endgültiger Besitzstand 1816
Parallel zur (gerade im Vergleich zu Frankreich) späten (durchaus mit Italien vergleichbaren) Entstehung eines deutschen Nationalstaats steht somit die späte Geburt der universitären Wissenschaft Germanistik aus dem Geist der Juristerei. Dabei waren zunächst nur alt- und mittelhochdeutsche Literaturdenkmäler mit Rechtstexten, später auch mit anderen Gattungen Forschungsgegenstand (und einer Literaturgeschichte würdig). Hier wären als germanistische Pioniere die vor allem mediävistisch arbeitenden Großgermanisten Jacob und Wilhelm Grimm, Karl Lachmann und für Bayern Johann Andreas Schmeller zu nennen, dessen profunde Kenntnisse der Handschriftenbestände in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München in sein berühmtes Wörterbuch eingingen. Die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts fand damals eher nur feuilletonistische, weniger systematisch wissenschaftliche Behandlung als Lehrgegenstand an den Universitäten. Von daher ist auch das Konzept der wissenschaftlichen Deutschen Literaturgeschichte (von den Anfängen bis zur jeweiligen Gegenwart) beziehungsweise Literaturgeschichtsschreibung (nicht nur in der Germanistik) eine vergleichsweise junge Erscheinung.
Der vom Ansatz her eigentlich begrüßenswerte frühzeitige Versuch, seit Jahrhunderten gewachsene föderale Strukturen in eine literaturgeschichtliche Form zu gießen, endete freilich zunächst in einer Sackgasse. Denn Josef Nadlers Vorgehen in seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften lief letztlich auf äußerst bedenkliches bis fragwürdiges völkisches Gedankengut hinaus, beispielsweise mit der grotesken Charakterisierung Thomas Manns (wegen seiner Herkunft aus Lübeck) als literarischer (Nieder-) Sachse, obwohl der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1929 doch Hauptwerke wie seinen Zauberberg in München schuf, jener Stadt, die er in seiner Erzählung Gladius Dei als leuchtende verewigte.
Von daher sind Gleichsetzungen von vermeintlichem Stammes- beziehungsweise Volkscharakter mit literarischen Gegebenheiten oder gar einem bestimmten Gattungsgebrauch grundsätzlich abzulehnen. In einer seriösen bayerischen Literaturgeschichte kann es nicht um Heimattümelei gehen, sie hat sich denselben Qualitätsstandards wie jede Deutsche Literaturgeschichte oder auch eine Österreichische beziehungsweise Schweizerische Literaturgeschichte zu stellen.
Und in der Tat zeigt sich im Vergleich mit der Schweiz oder Österreich: Eine bayerische Literaturgeschichte auf wissenschaftlichem Niveau, die sich gleichwohl auch an ein gebildetes Laienpublikum wendet, stellt ein Desiderat dar. Obwohl es keinen Mangel an populärwissenschaftlichen Darstellungen zur Literatur in Bayern gibt, lässt sich auch dort ein doppeltes Manko konstatieren; einerseits konzentrieren sie sich zumeist lediglich auf eine Epoche oder gar nur ein Jahrhundert; andererseits sind viele Geschichten und Anthologien bayerischer Literatur trotz ihrer großen Verdienste schon deutlich in die Jahre gekommen oder gar nur noch antiquarisch greifbar. Das bereits erwähnte sehr verdienstvolle Handbuch der Literatur in Bayern verbindet (wie schon angedeutet) sein hohes Niveau mit dem Nachteil, dass es in verschiedene Einzelartikel von Spezialisten zerfällt und daher gerade nicht eine stringente Literaturgeschichte darstellt. Zudem wechseln Stil, Sprachduktus und Auswahlkriterien durchaus von Epoche zu Epoche, ja von Artikel zu Artikel.
Dieses Manko einer fehlenden neueren bayerischen Literaturgeschichte verblüfft angesichts des enormen Aufschwungs, den die regionale Literaturgeschichtsschreibung in den letzten Jahren genommen hat. Beinahe beschämend ist die Tatsache, dass unser Nachbarland Österreich mit dem mehrbändigen Unternehmen von Herbert Zeman eine beeindruckende Literaturgeschichte neueren Datums aufweist, die auch aktuellere Forschungsparadigmen widerspiegelt. Diese methodische Modernität ist auch nötig, denn niemand hat ernsthaft die Absicht, zu dem fragwürdigen Unternehmen von Josef Nadler zurückzukehren.
Dabei böte das neu erwachte Interesse am literarischen Regionalismus – wobei man diese auch methodisch reflektierte Regionalisierung nicht zuletzt als Antwort auf die Globalisierung verstehen kann – einen vorzüglichen Anknüpfungspunkt für eine bayerische Literaturgeschichte. Freilich muss man sich gerade für Bayern methodisch gegen mögliche (und teilweise berechtigte) Einwände wappnen. Denn das für historisch gewachsene Literaturlandschaften und Literaturorte leistungsfähige Regionalismus-Konzept versagt zunächst, wenn die deutschsprachige Literatur im Rahmen des heutigen, erst im 19. Jahrhundert (als Königreich) geschaffenen Freistaats Bayern mit Altbayern, Schwaben und Franken dargestellt werden soll – es sei denn, man würde für Mittelalter und Frühe Neuzeit einfach drei regionale Literaturgeschichten addieren und zwischen zwei Buchdeckeln vereinigen. Dies wäre grundsätzlich zwar legitim, zugleich aber als Gesamtkonzept für das Mittelalter und die (Frühe) Neuzeit wenig befriedigend, weil es nachweislich quer durch alle Epochen einen teilweise regen Austausch zwischen diesen Regionen gab. Abgesehen davon waren im Königreich Bayern (und zuvor im konfessionellen Zeitalter) zumindest anfangs die kulturellen (Außen-)Beziehungen zwischen München und Wien durchaus enger als zwischen Berlin und München, andererseits waren die Gemeinsamkeiten auch auf literarischem Gebiet zwischen Altbayern und Österreich damals viel größer als etwa zwischen Nürnberg und München oder der Landeshauptstadt und Augsburg. Da, um bei letzteren Beispielen zu bleiben, ein literarischer Austausch innerhalb der Grenzen des heutigen Freistaats vor allem zwischen wichtigen urbanen Literaturorten stattfand, also städtischen Zentren wie Nürnberg, Augsburg oder München, könnte man diese Städte in den Mittelpunkt einer literaturgeschichtlichen Darstellung rücken. Damit würde man jedoch die vielfältige und vielgestaltige Literatur an vielen anderen und teilweise abgelegeneren Orten auch literaturhistorisch marginalisieren. Denn das sogenannte flache Land mit seinen in Mittelalter und Früher Neuzeit blühenden Klöstern als Kulturträgern ist zumindest für Altbayern und ebenso für das bayerische Schwaben (quer durch die Epochen) literaturgeschichtlich von hoher Strahlkraft. Damit ist für eine bayerische Literaturgeschichte also auch eine Fokussierung auf urbane Zentren unbefriedigend, denn dadurch würde ein reges literarisches Leben in der sogenannten Provinz nur eine Nebenrolle spielen. In diesem Zusammenhang wäre besonders nachdrücklich an die innovative Prälatenliteratur aus früh gegründeten Klöstern und Stiften zu erinnern, die im weniger urbanen Altbayern des 18. Jahrhunderts der Aufklärung den Weg ebnete. Daneben wäre etwa für Schwaben in der Vormoderne auf die literarische Strahlkraft auch kleinerer Adelsresidenzen in der Frühen Neuzeit zu verweisen.
Problematisch (oder besser: vorweg unbedingt klärungsbedürftig) ist nicht zuletzt die Terminologie: «Baiern» oder «Bayern»? Die vom Griechenland-Enthusiasten König Ludwig I. eingeführte y-Schreibung, die freilich auch zuvor schon stellenweise als Ligatur aus i und j zu finden war, ist jung und bleibt in der Regel dem Königreich und dem Freistaat vorbehalten, während die ältere i-Schreibung für den Zeitraum vom ältesten Stammesherzogtum bis zum Kurfürstentum gebräuchlich ist. Entsprechendes gilt für die Adjektive «bayerisch» und «baierisch». Dagegen stehen die attributiv oder syntaktisch selbstständig gebrauchten Nomina «bairisch» und «Bairisch» für die ostoberdeutsche Mundart, den Dialekt (durchaus im Sinne einer ostoberdeutschen Schreibsprache, beispielsweise als Kanzlei- oder Urkundensprache); für jenen bairischen Dialekt also, der zwischen Lech und Wienerwald gesprochen wird, um die markanten West- und Ostgrenzen zu bezeichnen, die heute in der Dialektologie freilich mehr zu Übergangsräumen verbreitert werden. Das heutige Bayern mit dem Freistaat und schon das Königreich umfassten daneben aber beispielsweise auch ostschwäbische, niederalemannische oder ostfränkische Dialektgebiete und sogar das Hessische um Aschaffenburg.

Karte 3: Bairische und nichtbairische Dialekte in Bayern
Um all den eben skizzierten Aporien zu entgehen, böte sich eine konsequent heuristisch orientierte Alternative an: Man verzeichnet in diachroner Abfolge annalistisch alles, was in den Grenzen des heutigen Freistaats Bayern an Literatur überliefert beziehungsweise erschienen ist. Dies entspricht dem Konzept diverser durchaus erfolgreicher Literaturdatenbanken oder Online-Lexika insbesondere der Bayerischen Staatsbibliothek in München, wo mit dem Literaturportal Bayern oder dem (auch litereraturgeschichtlich orientierten) Historischen Lexikon Bayerns dynamisch wachsende und laufend aktualisierte digitale Nachschlagewerke vorliegen. Hinzuweisen ist auch auf den Digitalen Literaturatlas von Bayerisch Schwaben, der erstmals für einen ganzen Regierungsbezirk eine Kartierung der Literaturlandschaft(en) vornimmt. Durch Anklicken von Orten kann man dort auf biographische und bibliographische Angaben zu Poetinnen und Poeten vor Ort zugreifen.
Zwar ist ein derartiges digitales Vorgehen als heuristisches Hilfsmittel und Vorarbeit wichtig, ja unentbehrlich, aber mit einer konzeptionell aufgebauten und auch für den interessierten Laien lesbaren Literaturgeschichte hat ein solch mechanisches Verfahren nichts zu tun. Mehr noch: Eine solche Datenbank ohne literaturhistorischen Bezugsrahmen gleicht mit ihrer Datenflut einem virtuellen Dschungel, in dem man ohne ortskundige Literatur-Scouts verloren ist. Umso wichtiger erscheint eine bayerische Literaturgeschichte in Buchform (ob gedruckt oder digital oder beides) als handliches Vademecum zur Orientierung.
(2) Aus all diesen eben aufgeführten Aporien und Möglichkeiten scheint mir methodisch Joachim Heinzles Konzept der literarischen Interessenbildung herauszuführen, das versucht, übergreifende historisch-gesellschaftliche Interessen für die Ausbildung spezifischer Literaturtypen und Literaturtraditionen namhaft zu machen. Er selbst hat diesen Ansatz im Rahmen der von ihm herausgegebenen mehrbändigen Deutschen Literaturgeschichte im Teilband Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert anerkanntermaßen fruchtbar gemacht. Das (zumindest in der Altgermanistik mittlerweile fest etablierte) Konzept der literarischen Interessenbildung hat nicht zuletzt den Vorteil, dass es mit keinem exklusiven Literaturbegriff arbeitet, also alle literarischen Texte bis hin zur Mundartdichtung und Trivialliteratur sowie bis zur Sachliteratur oder Fachprosa umfasst, ohne dabei freilich eine literarische Wertung auszuschließen.
Dies zeigt etwa die Epoche Ludwigs des Bayern, deren literarisches Profil und Innovationskraft auch im Schrifttum sich nur durch ein Ausgreifen auf ein breiteres Gattungsspektrum erschließen, während eine eher traditionelle Fokussierung auf die sogenannte Höhenkammliteratur die Charakteristika der ludovicianischen Epoche gerade verfehlt. Umgekehrt wird eine solche ludovicianische Literaturepoche nicht nur durch die Berücksichtigung von Gattungen etwa der Fachprosa sichtbar, sondern auch durch die Einbeziehung der Kunstgeschichte. Für die Rekonstruktion von literarischer Interessenbildung scheint mir daher ein interdisziplinärer Ansatz unverzichtbar, auch wenn der Literaturgeschichtsschreiber dabei der Gefahr des Dilettantismus gewärtig sein muss. Dennoch ist gerade mit dem Rückgriff auf Kunstgeschichte und Kirchengeschichte für das 14. Jahrhundert das literarische Leben um den vielfach angefochtenen Herzog, König und Kaiser Ludwig den Bayern (als Kristallisationspunkt) als das entscheidende Moment literarischer Interessenbildung auszumachen.
Solch übergreifende Themen literarischer Interessenbildung im Sinne Joachim Heinzles lassen sich im Falle Bayerns für alle Epochen leicht finden. Für das 15. Jahrhundert wäre ein Interessenschwerpunkt der Aufschwung der städtischen Literatur und des Buchdrucks (besonders mit Nürnberg und Augsburg). Für das 18. Jahrhundert, genauer die erste Jahrhunderthälfte, ließe sich sogar bayernweit die Türkenmode als kulturell prägend erweisen, für die zweite Jahrhunderthälfte wäre (ebenso bayernweit) die Aufklärung unbedingt prägend. Um 1900 «leuchtete» (Thomas Mann) nicht nur das München der sogenannten Prinzregentenzeit. Das Jahr 1945 markierte in den Augen mancher Literaturhistoriker auch literarisch weitgehend eine Stunde Null. Dies alles sind Möglichkeiten für Momente literarischer Interessenbildung, die für sich natürlich nicht als alternativlos zu betrachten sind. Aus der möglichen Fülle ist daher eine mehr oder weniger repräsentative Auswahl zu treffen.
Neben den Momenten literarischer Interessenbildung soll in der folgenden Darstellung für jedes Jahrhundert oder jede (traditionelle literarische) Epoche auch eine Gesamtschau wichtiger Gattungen, Werke und Autoren stehen. Selbstredend kommen neben der Literaturproduktion auch die Phänomene Distribution und Rezeption zum Tragen. Wo es sinnvoll ist, sind zusätzlich Verweise in Richtung Musik und bildender Kunst zu finden.
Konkret ist die folgende Bayerische Literaturgeschichte an den etablierten Epochenbegriffen Mittelalter und Neuzeit ausgerichtet, auch wenn im Einzelnen wiederholt Epochenbezeichnungen hinterfragt werden, weil sich beispielsweise regional zu differenzierende Ungleichzeitigkeiten sowie Anachronismen ausmachen lassen. Zeitlicher Ausgangspunkt ist der Beginn einer bis heute greifbaren Schriftlichkeit im 8. Jahrhundert, den Ziel- und Endpunkt der literaturgeschichtlichen Darstellung bildet ganz pragmatisch das Jahr 2000. Es geht in der Summe also um 13 Jahrhunderte, die aus darstellungsökonomischen Gründen in je einem Kapitel abgehandelt werden, das wiederum ein oder zwei Momente literarischer Interessenbildung und einen nach Formen und Gattungen sortierten Teil vereint.
Diese strenge Gliederung hat nicht zuletzt den Vorteil der Übersichtlichkeit. Eine solche ist angesichts der überbordenden literarischen Überlieferungsfülle in Bayern auch unbedingt nötig. Dass dabei eine rigorose Auswahl zu treffen ist und viele Autorinnen und Autoren sowie Texte gar nicht oder nicht angemessen berücksichtigt werden können, liegt in der Natur der Sache und ist aus Umfangsgründen unvermeidlich. Wenn somit auch die Bavarica-Kenner in der hier vorliegenden Literaturgeschichte vieles (namentlich mitunter ihre jeweiligen Lieblingsdichter) vermissen werden, sei mit dem Argument der Übersichtlichkeit auf den Einführungscharakter der vorliegenden Literaturgeschichte hingewiesen. Und wenn am Ende der kursorischen Lektüre meiner Monographie den geneigten Leserinnen und Lesern die überaus reiche und reichhaltige Fülle bayerischer Literaturgeschichte klarer als bislang vor Augen steht, dann hat die vorliegende Darstellung ihr Ziel erreicht.
Baierns ältestes Herrschergeschlecht markiert zugleich die Anfänge baierischer Eigenstaatlichkeit. Diese dürfte sich aus der Gemengelage von endendem (West-) Römischem Reich, spätantikem Übergang im Zuge der Völkerwanderung und frühmittelalterlichen Anfängen – gleichsam auferstanden aus römischen Ruinen – herausgebildet haben. Um den Kern des römischen Rätien und der Provinz Noricum entwickelte sich auf der Grundlage einer kelto-römischen Bevölkerung und einer germanischen Zuwanderung ein neues Gebilde, das als Stammesherzogtum unter der Dynastie der Agilolfinger firmierte.
Das vorliegende Kapitel fragt nach einer Literaturpolitik eben dieser Agilolfingerdynastie im Stammesherzogtum Baiern (bis zu ihrer Entmachtung im Jahre 788), die sich zumindest in Ansätzen mit entsprechenden Impulsen der Karolinger vergleichen lässt, welche in deutschen Literaturgeschichten prominent als Auftraggeber von Literatur genannt werden. Hier wie dort ist von Pfalzen wie Klöstern als zentralen Literaturorten auszugehen. Dabei entsprechen den karolingischen Königspfalzen als Residenzorten die Herzogspfalzen der Agilolfinger, was für das frühe Baiern literaturgeschichtlich bislang aber kaum fruchtbar gemacht wurde.
Im Folgenden konzentriere ich mich zeitlich (auch wegen der handschriftlichen Überlieferungsverhältnisse) auf die beiden letzten Herzöge aus dem Geschlecht der Agilolfinger: Odilo und Tassilo III. Als Hauptresidenzen dieser beiden Herrscher gelten Salzburg, Regensburg und Freising. Diese drei Herzogspfalzen stellten gegenüber den (unter anderem als Gerichtsorten dienenden) villae publicae allein schon baulich herausgehobene Hauptorte der Landesherrschaft dar. Sie besaßen nämlich militärisch mächtige Befestigungen (wie die ursprünglich römische Festung Hohensalzburg) und bedeutende Kirchenbauten, die zugleich als Bischofssitze fungierten. Mit wertvollen Reliquien ausgestattet, waren sie Ausdruck der agilolfingischen Kirchenpolitik, die eine feste und nur Rom unterstellte, vom Frankenreich unabhängige Bistumsstruktur zu etablieren suchte. Durch diese Verknüpfung von Herzogs- und (seit Römerzeiten festen, städtischen) Bischofssitzen wurde die Einrichtung der Wanderbischöfe wieder zurückgedrängt und wurden dem (gleichwohl mobilen) Herrscher feste Verwaltungssitze zur Verfügung gestellt; entsprechend finden sich in diesen Pfalzorten bischöfliche Schreibschulen ebenso wie herzogliche Kanzleien. Das Nebeneinander dieser beiden Institutionen führt automatisch zu der Frage, ob es an diesen agilolfingischen Residenzen ein vergleichbares literarisches Leben wie später an der vielgerühmten sogenannten Hofakademie Karls des Großen in Aachen gab.
Die Frage ist deswegen nicht willkürlich, weil die Geschlechter der Karolinger und der Agilolfinger in einem latenten Konkurrenzverhältnis standen, das 788 in der Absetzung Tassilos III. kulminierte. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Residenzen der letzten Agilolfinger unter zwei Aspekten näher in den Blick zu nehmen: Wurde dort Literatur zum Nutzen der Agilolfinger hergestellt? Und stand dahinter eine herzogliche Literaturpolitik?
In Salzburg kommt der für die Karolinger provokative königgleiche Anspruch der Agilolfinger am deutlichsten zum Ausdruck: Er manifestiert sich weniger in der auf spätantike Wurzeln zurückgehenden gewaltigen Festungsanlage, sondern in einem für eine gewöhnliche Bischofskirche dieser Zeit viel zu großen Kirchenbau. Der Virgil-Dom verfügte nämlich nach dem Urteil der Architekturhistoriker über Ausmaße, welche die capella regia der Karolinger zu übertreffen suchten: Saint Denis hatte damit in Salzburg einen ebenbürtigen Konkurrenten gefunden. Dieser Befund korreliert mit dem bemerkenswerten Faktum, dass der Kronprinz Tassilos III. in Rom durch den Papst höchstselbst gesalbt wurde. Eine solche Quasi-Königssalbung kam sonst nur Karolinger-Prinzen zu. Doch damit nicht genug: Der berühmte, nach dem Urteil der meisten Experten in Salzburg angefertigte Tassilokelch trägt am Fuß die Umschrift: «Tassilo dux fortis Liutpirc virga regalis». Mit «virga regalis» wird auf die königliche Herkunft der Landesmutter angespielt, die eine Tochter des letzten Langobardenkönigs Desiderius war. Dieser Langobardenkönig wiederum wurde zusammen mit dem Herzogspaar sowie weiteren Agilolfingern im Salzburger Verbrüderungsbuch von Sankt Peter auf Pergament verewigt.

Abb. 1: Tassilokelch. Umschrift: Tassilo Dux fortis – Liutpirc virga regalis (Tassilo, tapferer Herzog – Liutpirc, königlicher Spross)
Bei der ältesten Genealogie der Agilolfinger im Rahmen der beurkundeten Gebetsverbrüderung deutet sich zumindest beim Salzburger Klerus, der dem Herrscherhaus in der Salzburger Pfalz – schriftlich verbürgt – durch Gebet die Ehre erwies, ein Reflex literarisierter Politik an. Augenfälliger wird dieser politische Kontext bei den Prachthandschriften mit religiösen Inhalten, in denen sich eine nach außen und zugleich auf herrscherliche Repräsentation gerichtete Frömmigkeit dokumentiert. So entstand in Salzburg zu Lebzeiten Tassilos III. der sogenannte Cutbercht-Kodex, ein Evangeliar mit wahrhaft königlichem Buchschmuck. Dass Tassilo vermutlich selbst an solch repräsentativen Handschriften interessiert war, zeigt sein (kleinformatiges) Privatexemplar der Psalmen, das er, wenn auch nicht nachweislich in Auftrag gegeben, zumindest als Geschenk des Klosters Mondsee akzeptierte: Beim (nach dem Aufbewahrungsort benannten) Psalter von Montpellier handelt es sich um Tassilos eigenes Exemplar, das die karolingische Königsdynastie nach der Absetzung des Agilolfingers keineswegs verschmähte, sondern unter Heraustrennung der Lage mit Agilolfingerbezug und unter Anbindung entsprechender Pergamentblätter mit Karolingerbezug usurpierte. Der Psalter Tassilos war allerdings nicht in Salzburg, sondern – wie schon erwähnt – im Kloster Mondsee angefertigt worden. Dieses Kloster hatte jedoch Herzog Odilo gegründet. Das bedeutende Skriptorium in Mondsee beweist damit, dass zur Zeit der Agilolfinger neben den Pfalzorten auch Klöster wichtige Produktionsstätten von Literatur darstellten. Dagegen entstanden wiederum in Salzburg im Umkreis des mit Tassilo befreundeten Abtbischofs Virgil durchaus anspruchsvolle lateinische Werke, so etwa der zahlenmystische Liber de numeris. Die Kosmographie des ominösen Aethicus Ister wird dem Iren Virgil freilich heute nicht mehr zugeschrieben, dafür aber eine Vita Ruperti.

Abb. 2: Psalter von Montpellier
Bei all diesen Werken handelt es sich um – fallweise illuminierte – lateinische Texte. Althochdeutsche Literatur spielte zur Zeit von Herzog Tassilo (und auch davor) an seiner Residenz Salzburg offensichtlich keine Rolle. Dahinter steht keineswegs eine Ignoranz der Agilolfinger gegenüber der Volkssprache. Immerhin zieht die Lex Baiuvariorum, welche die Agilolfinger als das angestammte und immerwährende Herzogsgeschlecht festschreibt, althochdeutsche Rechtstermini offenkundig zum Nutzen der litteraten Juristen bei. Die Lex Baiuvariorum (auch: Lex Baioariorum) wurde mit dem agilolfingischen Herzogtum übrigens so sehr identifiziert, dass die Ingolstädter Handschrift der Gesetzessammlung das mit Stolz aufbewahrte Exemplar eines baierischen Grafengeschlechts darstellte, als die Agilolfinger schon längst nicht mehr regierten. Dennoch können die deutschen Termini in der Lex Baiuvariorum nicht darüber hinwegtäuschen, dass Salzburg zur Zeit von Herzog Tassilo kein Hort der althochdeutschen Volkssprache war. Dieser Sachverhalt hat – von der Germanistik und auch der bayerischen Literaturgeschichtsschreibung bislang völlig übersehen – sprachliche Wurzeln: Die Salzburger Bevölkerung sprach nämlich einerseits ein althochdeutsches, andererseits aber ein romanisches Idiom, weil die alte Römerstadt Iuvavum einschließlich ihres Umlands nachweislich nicht unerheblich von Romanen bevölkert war.

Abb. 3: Lex Baioariorum, Handschrift, Anfang des 9. Jahrhunderts
Zu den Romanen in Salzburg, aber auch andernorts, ist mit Blick auf die (immer noch unzureichende) Forschungslage in der Geschichtswissenschaft wie in der Germanistik ein kleiner Exkurs angebracht: Diese weit verbreitete Volksgruppe im Herzogtum der Agilolfinger gehörte zur Ethnie der sogenannten Gallo- oder Keltoromanen, denen von den Landeshistorikern in den letzten Jahren für die baierische Ethnogenese immerhin eine zunehmend tragende Rolle zugesprochen wird. Dies gipfelt in der (mehrheitlich von den Landeshistorikern freilich abgelehnten) Behauptung, Kern der Bevölkerung Baierns seien ursprünglich Romanen gewesen, die dann durch allmähliche, vor allem alemannische Zuwanderung germanisiert worden seien. Neueren sprachhistorischen Forschungen zufolge sei zudem das älteste Alemannisch vom Bairischen kaum zu unterscheiden gewesen, was zu der These passt, dass es erst innerhalb der alten römischen Provinz Rätien zu sprachlichen Ausgleichserscheinungen zwischen den sehr heterogenen germanischen Zu- beziehungsweise Einwanderern kam.
Obwohl die dazu passende Vorstellung vom dominierenden Substrat der sogenannten Protoladiner (im Sinne einer sprachlichen Grundschicht) für die Ethnogenese der Baiern vielleicht übertrieben scheint, sollten folgende Tatsachen nicht übersehen werden: Die Romanen (und zuvor natürlich die Römer) haben in Baiern nicht nur die Kulturtechniken der Almwirtschaft und des Weinbaus vermittelt, sondern auch die entsprechenden Termini, beispielsweise «Käse», vielleicht auch «Butter» und nicht zu vergessen feineres Backwerk aus Weizenmehl wie die «Semmel». Im Klerus allgemein und im herzoglichen Kanzleiwesen spielten die Romanen zudem unter den Agilolfingern eine tragende Rolle.
Das Herrscherhaus selbst kann sich außerdem senatorischer Ahnen rühmen – im Gegensatz zu den Karolingern mit ihrer schlicht germanischen Herkunft, was aber Karl den Großen vielleicht für die alten germanischen Heldenlieder empfänglich machte, die er sammeln ließ. Das Hildebrandslied wird man dagegen kaum bei den Agilolfingern verorten dürfen, schon weil eine nach Baiern weisende langobardische Grundschicht des Hildebrandslieds nicht sicher ist. Andererseits haben die senatorischen Agilolfinger schon längst das römische Erbe in Italien als Könige der Lombardei angetreten, als die Karolinger noch als (untergeordnete) Hausmaier der Merowinger fungierten. Das mit dem langobardischen Königreich in Italien in gutem Einvernehmen stehende baierische Herrscherhaus dürfte also durchaus zu seinen (proto-)ladinisch parlierenden Untertanen ein innigeres Verhältnis gehabt haben. Vielleicht war dies mit ein Grund für Reibungsflächen zwischen den verschiedenen Ethnien innerhalb des agilolfingischen Stammesherzogtums.
Solche innerbaierischen ethnischen Konflikte lassen sich sogar auf der Ebene der im Stammesherzogtum gesprochenen Sprachen Romanisch und (bairisches) Althochdeutsch belegen, wenn man die bekannten Glossae Cassellanae vor dem skizzierten ethnogenetischen Hintergrund sieht, jene lateinisch-althochdeutschen Aufzeichnungen also, die im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts wohl im baierischen Regensburg aufgezeichnet wurden (vielleicht aber weitaus ältere Verhältnisse dokumentieren, die freilich noch im 9. Jahrhundert fortwirkten, sonst hätte die im Folgenden geschilderte Neckerei nicht funktioniert). Bei diesen sogenannten Kasseler Glossen sind immer schon die teilweise romanischen Lemmata aufgefallen, die gut zu einem Romanen in einer baierischen Kanzlei oder Schreibschule passen. Diese Vermutung verdichtet sich mit einer Polemik im Kasseler Gesprächsbüchlein, das als Teil der Glossae Cassellanae überliefert ist. In ihm findet sich der aufschlussreiche Ausspruch: «Stulti sunt Romani, sapienti sunt Paioari. – Tole sint Uualhā, spāhe sint Peigira.» Übersetzt heißt das in etwa: ‹Die Romanen sind dumm, während die Baiern klug sind. – Verrückt sind die Welschen, weise sind die Baiern.›
In dieser ethnisch wertenden Bemerkung wird (so lässt es sich am ungezwungensten deuten) eine offenkundige Spannung zwischen der einheimischen, um nicht zu sagen altheimischen kelto-romanischen und der zugewanderten (!) germanisch-bairischen Bevölkerung im (ehemaligen) Herrschaftsgebiet der Agilolfinger sichtbar, die auf sprachlicher Ebene die deutlichen historischen Hinweise auf die beachtliche romanische Besiedlung der (urbanen) Regensburger wie Salzburger Pfalzen und ihres Umlands bestätigt. Daher ist die traditionelle Deutung der Germanistik zu korrigieren, die in dem Gesprächsbüchlein einseitig eine Art von sprachlichem Vademecum (als Reiseführer nach Paris etwa) für Romanen außerhalb von Baiern sehen wollte. Vielmehr bieten sich im Kontext heutiger Kenntnisse zur baierischen Ethnogenese vor allem folgende Deutungsmöglichkeiten an: (1) Ein in Baiern beheimateter (protoladinisch sprechender) Romane notierte neben lebenspraktischen bairischen Anweisungen (etwa für den Barbierbesuch) auch die offenkundig sprichwörtliche Welschenfeindschaft der althochdeutsch sprechenden Bevölkerungsmehrheit. (2) Ein bairischer Muttersprachler und Schreiber, der in einer von Romanen dominierten Kanzlei (Regensburg?) sein Handwerk gelernt hatte, machte sich mit seiner Polemik über die Romanen als seine ehemaligen Lehrmeister lustig.
Beide Deutungsmöglichkeiten untermauern auf sprachgeschichtlicher Ebene die historischen Forschungen zur komplexen Ethnogenese der Baiern: Die Glossae Cassellanae wie das Kasseler Gesprächsbüchlein konservieren dann im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts Momente des Zusammenlebens, aber auch Konflikte zwischen den romanischen und baierischen Volksgruppen im Herzogtum Baiern, wie sie auch für die Zeit der Agilolfinger vorausgesetzt werden müssen.
Hinzu kommt: Als dritte Volksgruppe mit eigener Sprache sind im agilolfingischen Herrschaftsbereich weiterhin die wohl vor allem slawischen Karantanen mit ihrem vermutlich altslowenischen Idiom zu nennen. Diese Karantanen waren zunächst noch längere Zeit mehrheitlich Heiden, und ihre Missionierung diente wohl auch als Rechtfertigung der Karantanenfeldzüge Tassilos III.
Neben Heidentum und Christentum ist zumindest für Regensburg auch die Religion des seit Römerzeiten in Rätien ansässigen Judentums (mit dem Hebräischen als Sakralsprache) zu erwähnen. Die geläufige Vorstellung von ethnischer und sprachlicher Homogenität im alten Baiern ist demnach schon für die frühesten Zeiten zu korrigieren. Es gab im agilolfingischen Baiern drei große Volksgruppen: Germanen, Slawen und (Kelto-)Romanen; daneben noch die zahlenmäßig geringer zu veranschlagenden Juden in den alten Römerstädten. Dort, zusätzlich aber im jeweiligen Umland, gab es im 8. Jahrhundert die in allen deutschen Literaturgeschichten bislang übersehenen (Kelto-)Romanen, die für die Salzburger Gegend bis ins 10. Jahrhundert gut nachweisbar sind.
Einen gewichtigen romanischen Bevölkerungsanteil wie in Salzburg nimmt man heute auch für Regensburg an. Diese alte Römerstadt war im Zeitalter der Agilolfinger und Karolinger noch mit ihrer mächtigen antiken Ummauerung versehen («urbs ex sectis lapidibus constructa»), was offenbar auch Karl den Großen veranlasste, Regensburg nach dem Sturz Tassilos III. als bevorzugten Aufenthaltsort zu wählen. Für die Agilolfinger selbst bildete Regensburg eine baulich herausragende Residenz mit der Qualität einer echten Hauptstadt (was später auch die Karolinger zu nutzen wussten). Wie Salzburg war Regensburg ein im Rahmen der agilolfingischen Kirchenpolitik ausgebauter Bischofssitz mit einer eigenen Schreibschule. Ihr entstammt etwa der repräsentativ gestaltete Münchener Kodex Clm 14.080 mit den Prophetenbüchern Jesaja und Jeremia. Die Momente der Repräsentation und die Bereitstellung eines Bibeltextes gleichen in so auffälliger Weise dem Salzburger Cutbercht-Evangeliar und Tassilos Privatpsalter, dass man auch hierbei ein politisches Motiv vermuten darf. Zumindest wird deutlich, dass man sich den lateinischen Bibeltext im Umfeld der Agilolfinger in repräsentativer Aufmachung auf europäischem Niveau gesichert hatte.
Freising stellte wie Regensburg und Salzburg ebenfalls einen architektonisch ausgezeichneten Pfalz- und Residenzort dar, obwohl hier nicht auf römische Architekturtraditionen zurückgegriffen werden konnte. Der Domhügel beherbergte gleichwohl eine mächtige Festungsanlage. Die Freisinger Herzogspfalz verfügte über eine Kanzlei, für die unter den Agilolfingern ebenfalls Romanen als Schreiber nachgewiesen sind. Daneben florierte in Freising wohl auf Initiative von Bischof Arbeo eine bedeutende Schreibschule. Ihr hohes theologisches Niveau zeigen insbesondere die vergleichsweise zahlreichen Abschriften von Texten der Kirchenlehrer, besonders die Gregors des Großen. Das auffällige Interesse am Werk dieses berühmten Papstes spiegelt nicht zuletzt das (antikarolingische) Bemühen um eine unmittelbare Unterstellung der baierischen Diözesen unter das Papsttum als zentrales Projekt der agilolfingischen Kirchenpolitik im 8. Jahrhundert wider.
In Freising entfaltete der Südtiroler Arbeo selbst eine fruchtbare Tätigkeit als Schriftsteller: Er verfasste nicht nur die Vita des Bistumsheiligen Korbinian, sondern auch jene des Regensburger Heiligen Emmeram. Während die Motive Arbeos für die KorbiniansVita relativ klar sind, nämlich die Heraushebung der eigenen Person als Translator der Korbiniansreliquien aus Arbeos Südtiroler Heimat in sein Freisinger Bistum, fehlt ein solches persönliches Motiv für die Abfassung der EmmeramsVita. Denkbar wäre, dass ein agilolfingischer Auftrag Arbeo antrieb: Unter Herzog Tassilo III. hätten dann (aus kirchenpolitischen Gründen) alle drei Herzogspfalzen, die zugleich Bischofssitze waren, eine (lateinische) Vita des jeweiligen Bistumspatrons erhalten – die Vita des heiligen Rupert aus dem Virgil-Kreis für Salzburg, die Viten des Korbinian für Freising und des Emmeram für Regensburg aus der Feder Arbeos. Hinzuweisen wäre in diesem Kontext auch auf die Viten der angelsächsischen Missionare Willibald und Wynnebald aus der Feder der Heidenheimer Nonne Hugeburc, die als Wirkungsort Willibalds «vasta Baguariorum provincia» nennt und Wynnebald in «Nordfilusa» unter Herzog Odilo verortet. Darüber hinaus wird der hochberühmte Willibald in rhetorisch wohlgesetzten Worten als dem Papst (und den päpstlichen Befehlen) besonders treu ergebener Streiter Christi hervorgehoben («Tunc ille inclitus Christi anthletus Willibaldus petitionibus pontificis simulque iussionibus se sollerter subsummatim effectum seuque oboedientiam pericere promittebat […]»). Die ambitionierte Stilistin Hugeburc darf man durchaus als Bayerns erste namentlich bekannte Autorin bezeichnen, die den Vergleich mit Arbeo von Freising nicht zu scheuen braucht.
Mit dem ambitionierten Lateiner Arbeo ist jedoch in der Germanistik die strittige Frage verbunden, ob sein Augenmerk auch auf die Pflege der althochdeutschen Sprache gerichtet war. Denn lange hatte man im Freising Arbeos die Entstehung des berühmten Abrogans als des ersten deutschen Buchs vermutet. Demnach wäre dieses lateinische Synonymwörterbuch aus dem langobardischen Italien mit seiner in Freising zu verortenden althochdeutschen Glossierung ein früher Glanzpunkt der baierischen Literaturgeschichte gewesen. Neuere Forschungen haben dagegen den stark hypothetischen Charakter dieser Vermutung herausgearbeitet und Arbeos Urheberschaft am Abrogans nachhaltig erschüttert. Für Wolfgang Haubrichs gehört der Abrogans sogar erst in die Zeit der karlischen Reformen; immerhin verweise jene Handschrift, die dem Archetyp am nächsten steht, in den Regensburger Kreis des Bischofs Baturich. Mit dem agilolfingischen Freising hat der Abrogans also nichts zu tun.