Daniel Magariel
Einer von uns
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Sky Nonhoff
C.H.Beck
Ein fesselnder, erschütternder Roman über zwei junge Brüder und ihren zugleich liebevollen und übergriffigen Vater – Daniel Magariels Buch ist das verblüffende Debüt eines neuen, großen Talents. Die drei – ein zwölfjähriger Junge, sein älterer Bruder und ihr Vater – haben den «Krieg» gewonnen: So nennt der Vater seine bittere Scheidung und den Kampf ums Sorgerecht. Sie verlassen Kansas und fahren nach Albuquerque, um noch einmal neu zu beginnen. Die Jungen gehen zur Schule, spielen Basketball, finden Freunde. Ihr Vater arbeitet von Zuhause aus. Bald aber wachsen sich kleine Fehltritte des Vaters zu einer finsteren Irritation aus, müssen die Jungen erkennen, dass sich ihr Vater verändert, unberechenbar wird, mitunter brutal. Vor der karg-erhabenen Kulisse der Landschaft New Mexicos erzählt Magariel mit bestechender Klarheit, wie die Jungen verzweifelt versuchen, die Familie zusammenzuhalten, sich gegenseitig schützen und helfen, und schließlich ums eigene Überleben kämpfen. «Einer von uns» ist eine kurze Geschichte mit gewaltiger emotionaler Wucht.
Daniel Magariel stammt aus Kansas City. Er hat einen B.A. von der Columbia University und einen M.F.A. von der Syracuse University, wo er Cornelia Carhart Fellow war. Er hat in Kansas, Missouri, New Mexico, Florida, Colorado und Hawaii gelebt. Derzeit lebt er zusammen mit seiner Frau in New York. «Einer von uns» ist sein erster Roman.
Sky Nonhoff ist Kulturjournalist, Autor («Die dunklen Säle», «Don’t Believe the Hype») und Kolumnist beim MDR. Er hat u.a. Bücher von Jonathan Coe und Dennis Lehane ins Deutsche übertragen. Für C.H.Beck übersetzte er u.a. Alex Ohlins Roman «In einer anderen Haut» (2013) und Caitlin Doughtys «Fragen Sie Ihren Bestatter» (2016).
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Epilog
Danksagung
Meiner Familie
Mein Vater überholte einen Wagen nach dem anderen, trat aufs Gas, hupte. Ich ließ den Kopf gegen den Sicherheitsgurt sinken, versuchte, nicht darauf zu achten, wie schnell er fuhr, unsicher, ob er dem Unwetter davonfahren wollte oder einfach nur sauer auf mich war. Ich hatte mich mit meiner Mutter gestritten, und sie hatte ihn angerufen, er solle mich abholen. Er wollte nichts mit ihr zu tun haben. Es war Frühling, Mittag. Ein Schatten hatte sich über die Felder gelegt. Krähen saßen auf den Oberleitungen, sahen aus wie Knoten in einem Seil. Die Sturmsirenen heulten.
«Lass dich mal ansehen», sagte er. Er zupfte mich am Ohrläppchen. «Und?»
Ich warf einen Blick durch die Windschutzscheibe, um ihn daran zu erinnern, dass er fuhr.
«Was hat sie dir erzählt?», fragte ich.
«Du beantwortest eine Frage mit einer Gegenfrage? Sie hat gesagt, du wärst kaum zu bändigen gewesen.»
«Sonst nichts?»
«Wieso bist du so rot im Gesicht?», sagte er.
Ich schwieg verlegen, gab keine Antwort. Er wusste, dass ich geweint hatte. Als wir in die Einfahrt einbogen, öffnete ich die Tür. Er sagte, ich solle sie wieder schließen. Ich schlug sie ein bisschen zu fest zu.
«Ich wollte ins Kino», sagte ich. «Das war fest geplant.»
«Vor der Sturmwarnung?»
Ich nickte.
Er wiederholte die Frage.
«Ja, davor.»
«Und weiter?»
«Ich wollte los, aber sie hat mir den Weg versperrt. Und dann habe ich mir das Telefon geschnappt und bin in mein Zimmer gerannt.»
«Ach so! Heute fällt ihr plötzlich ein, dass sie deine Mutter ist.» Er lachte schallend. «Ist sie handgreiflich geworden?» Das war eher eine Feststellung als eine Frage. «Hat sie dir wehgetan?»
Ich versuchte, mich zu erinnern. Sie hatte mich aufs Bett gestoßen. Dann hatte ich auf dem Bauch gelegen, und sie hatte mir die Hand verdreht und das Telefon entwunden. Ich hatte mich zu befreien versucht, und in dem Moment hatte sie mich mit dem Telefon am Kopf erwischt. Ich fuhr mit den Fingern über die wunde Stelle, drückte fester zu, sehnte den Schmerz herbei und wünschte, ich hätte eine sichtbare Beule gehabt.
«Weiß nicht», sagte ich. «Nein.»
«Hat sie dich geschlagen?»
«Nicht absichtlich, glaube ich.»
Er zog mich eng an sich und klopfte mir im Rhythmus der Scheibenwischer auf den Rücken. Es war eine hilflose Geste; so umarmte man einen trauernden Fremden. «Das wird schon, mein Junge», sagte er. «Das wird schon.» Er ließ mich wieder los. Mein älterer Bruder stand vor dem Jeep, hielt die Handflächen gen Himmel und zuckte mit den Schultern, während der Regen immer stärker wurde. «Lass uns reingehen.»
***
Für meinen Vater war Privatsphäre gleichbedeutend mit Respekt. Selbst wenn unsere Zimmertüren offen standen, klopfte er erst an. Zu jenem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, warum er manchmal nicht reagierte, wenn wir an seiner Tür klopften. Seit unsere Mutter ausgezogen war, hatte jeder von uns sein eigenes Bad. Seins – das frühere gemeinsame Bad unserer Eltern – befand sich oben, das Bad meines Bruders auf unserer Etage. Um zu entscheiden, wer es bekommen sollte, hatte mein Vater die Entfernung mit Schritten abgemessen – die Zimmertür meines Bruders lag näher als meine. Und so befand sich mein Badezimmer zwei Etagen tiefer, im Keller. Nur wenn mein Vater mitten in der Nacht – das Ende seiner Zigarre glühte im Dunkel – aus meinem Fenster starrte und mich mit den Worten Sei meine Augen wachflüsterte, war es mir erlaubt, das Bad auf unserem Stockwerk zu benutzen, und auch nur deshalb, weil er mein Zimmer ohne Anklopfen betreten hatte.
Während wir nun in meinem Bad standen, drang der Wetterbericht aus dem Fernseher im Wohnzimmer zu uns herüber. Mein Bruder blickte auf die Polaroids, die sich auf dem Waschbeckenrand entwickelten, die geisterhaften Umrisse meiner selbst, die allmählich Gestalt annahmen, meine gesenkten Lider, mein ohnehin schon zerzaustes Haar, das ich noch ein wenig mehr verstrubbelt hatte, der Hemdkragen geweitet, um noch ein bisschen mitgenommener auszusehen. Mein Vater war aber offensichtlich nicht zufrieden.
«Du siehst zu gut aus», sagte er. «Als ich dich abgeholt habe, warst du in einem viel schlimmeren Zustand, nicht wahr?»
Die Frage stellte er einzig und allein, um meinen Bruder auf seine Seite zu ziehen.
«Stimmt», erwiderte ich.
«Mehr Licht vielleicht?», sagte mein Bruder.
Er holte eine Lampe, stöpselte sie sein und kippte sie, sodass der Schein direkt auf mich gerichtet war.
«Und jetzt versuch, so auszusehen, wie du dich gefühlt hast, als sie zugeschlagen hat.»
Mein Vater drückte auf den Auslöser, und die Kamera spuckte ein Foto aus. Mein Bruder legte es auf den Waschbeckenrand. Wir warteten.
«Ist es so besser?», fragte mein Vater.
Mein Bruder schüttelte den Kopf.
«Scheiße», sagte mein Vater.
Ich hielt den Atem an, biss mir auf die Lippe, bis Blut kam, und biss dann noch fester zu.
Zwei weitere Fotos.
«Was meinst du?», fragte mein Vater meinen Bruder. «Was könnten wir noch machen?»
«Hmm … Make-up?», schlug mein Bruder vor.
«Hast du welches?», fragte mein Vater.
«Oben», erwiderte ich. «Bei seinen Puppen und den Tampons.»
«Ich könnte ihm vielleicht eine reinhauen?» Mein Bruder grinste. «Das würde vielleicht funktionieren.»
Mein Vater wandte sich zu mir. «Was hältst du davon?»
Mein Bruder wollte etwas sagen, es war schließlich nur ein Witz gewesen, doch mein Vater brachte ihn mit einer Geste zum Verstummen. Ich hatte zu lange gezögert.
«Ich dachte, du willst mit uns kommen.»
«Will ich doch auch.»
«Ich dachte, du wärst auf unserer Seite.»
«Bin ich doch.»
«Schwör’s.»
«Habe ich schon.»
Mein Vater ließ die Kamera sinken.
«Wieso muss er nie irgendwas schwören?» Ich richtete den Zeigefinger auf meinen Bruder.
«Weil du derjenige bist, der seiner Mutter immer alles brühwarm erzählt», gab mein Vater zurück.
«Bitte, mach’s einfach», sagte mein Bruder. «Schwör!»
«Du kannst auch hier in Kansas bleiben», sagte mein Vater und wandte sich ab, schon halb auf dem Weg zur Tür. «Dann fahren dein Bruder und ich eben ohne dich.»
«Nein, Dad», sagte mein Bruder.
«Na schön», sagte ich. «Ich schwöre. Zum x-ten Mal.»
Mein Vater kam zurück und nahm die Kamera wieder zur Hand. Er legte mir die Hände auf die Schultern und drehte mich direkt zu sich.
«Mach die Augen zu», sagte er.
Ich schloss die Augen.
«So, und jetzt hör mir gut zu. Bei deiner Geburt, ich meine, direkt danach, wollte dich deine Mutter nicht in den Armen halten, ebenso wenig wie deinen Bruder. Sie hat euch sofort an mich weitergegeben, sobald der Arzt euch zur Welt gebracht hat. Unglaublich. Mal im Ernst, was für eine Art von Mutter will ihr Baby nicht in den Armen halten? Dass sie eine miserable Partnerin war, geschenkt. Aber dass sie euch so eine schreckliche Mutter war, das verfolgt mich jetzt schon seit Jahren. Erinnert ihr euch nicht an die Zeit, als ihr noch klein wart? Ehe der Krieg anfing?» Krieg war sein Wort für Scheidung. «Ihr habt das Kind in mir geweckt. Wir haben immer zusammen gespielt. Wir drei, wisst ihr noch?» Ja, dachte ich. Mein Bruder und ich sitzen auf dem Teppich und sehen fern, als plötzlich ein leises Knurren an unsere Ohren dringt. Wir blicken uns an. Flucht ist sinnlos. Das Herz schlägt mir von einer Sekunde auf die andere bis zum Hals, und dann kommt unser Vater auf Händen und Knien ins Wohnzimmer, stößt ein kehliges Brüllen aus, und dann sind wir auch schon über ihm, versuchen mit vereinten Kräften, die Bestie zu besiegen. «Erinnerst du dich, mein Kleiner?»
«Ja.»
Er drückte meine Schultern.
«Sind wir hier erst weg, ist auch der Krieg zu Ende», sagte er. «Kein Sorgerechtsstreit mehr, kein Hickhack um Unterhalt. Dann sind wir frei, können noch mal ganz von vorn anfangen. Ihr werdet schon sehen. In New Mexico wird es wieder wie früher. Als wir alle noch Kinder waren. Na, wäre das nicht schön? Das wollt ihr doch auch, oder?»
Ich nickte.
Ich hörte, wie mein Vater die Kamera lud.
Ich spürte, wie mein Bruder auf mich zu trat.
Die Augen nach wie vor geschlossen, verschränkte ich die Hände hinter dem Rücken. Das Ungeheuer ist besiegt, streckt alle viere von sich. Mein Bruder und ich liegen auf seinem Bauch, sehen uns an. Mein Bruder hat dunkleres Haar als ich, auch eine dunklere Haut, kommt ganz nach unserem Vater. Sie haben die gleichen schläfrigen, lächelnden Augen, die im Sonnenlicht braun wie Flaschenglas werden. Ich bin blond wie meine Mutter, und auch die haselnussbraunen Augen habe ich von ihr geerbt. Meine Ohren habe ich allerdings von meinem Vater; seine waren genauso groß, als er so alt war wie ich. Unsere Köpfe heben und senken sich mit den Atemzügen der Bestie, und mit einem Lächeln, das er von meinem Vater geklaut hat – und der wohl wiederum aus einem Film –, entblößt mein Bruder seine oberen Schneidezähne, wobei sich seine Oberlippe langsam wie ein Vorhang hebt. Ich öffnete die Augen. Mein Bruder hatte bereits mit der Faust ausgeholt. Aber ich wollte nicht, dass er mich schlug. Ich wollte nicht, dass er mich schlug, weil er sich dazu verpflichtet fühlte.
«Warte», platzte ich heraus.
«Was?», sagte mein Vater.
Ich blickte in den Spiegel und setzte eine Leidensmiene auf. Danach sind wir frei, sagte ich mir. Das war ich ihnen schuldig. Mit der rechten Hand schlug ich mir auf die rechte Wange, mit der linken Hand auf die linke Wange, wiederholte das Ganze, fester, abwechselnd links und rechts, immer heftiger, bis nicht mehr die Angst vor dem Schmerz, sondern die Wucht der Schläge selbst meinen Kopf zur Seite schnellen ließ. Rechts, links, rechts, links. Ich sah meinen Vater an. «Jetzt», sagte ich. «Knips mich.» Ich hielt ihm die Wange hin. «Aus dem Winkel.» Rechts, rechts, rechts. «Und jetzt noch eins», sagte ich. «Und noch eins.»
Mein Bruder zog die Fotos aus dem Kameraschlitz, eins nach dem anderen. Mein Vater knipste und knipste, bis der Auslöser klemmte. Nachdem sich die Polaroids entwickelt hatten, suchten wir fünf aus, die wir dem Jugendamt vorlegen wollten.
***
Eine Stunde später – Regen strömte über das einzige Fenster – war es im Keller dunkel geworden. Stumm verfolgten wir den Wetterbericht. Der Sturm, der zuerst ausgesehen hatte wie eine Amöbe, die über den Bildschirm kroch, hatte sich zu einem breiten, orangeroten Streifen ausgeweitet, als wäre das Fernsehbild eingefroren oder als hätte sich das Unwetter in eine neue Landmasse verwandelt, die nun über Ostkansas lag. Mein Vater hockte vornübergebeugt auf seinem Stuhl, die Absätze seiner Schuhe auf der untersten Strebe. Er platzte schier vor Ungeduld.
«Kommt, wir gehen Tornados jagen», sagte er.
Wir fuhren zum Wasserturm.
Das Dunkel brach nicht von Osten, sondern von Westen herein. Aus den Wolken, die dem Sturm vorauseilten, zuckten Blitze. Ein riesiger Vogelschwarm wogte im Wind. Wer als Erster einen Tornado erspähte, sollte eine Belohnung bekommen. Wir blieben eine Weile dort, behielten den Horizont genau im Auge, entdeckten aber keine Windhose und fuhren schließlich zurück. Zu Hause angekommen, stellten wir fest, dass unser Zaun aus dem Boden gerissen worden war. Als mein Vater den Schaden sah, lachte er und sagte: «Tja, da hat der Sturm wohl eher uns gejagt.» Und nachdem wir nach New Mexico gezogen waren, brachte er den Spruch jedes Mal, wenn etwas klappte – aber ebenso, wenn etwas danebenging.
Im Park hinter unserem neuen Apartment scheuchten mein Bruder und ich Eidechsen aus dem Gestrüpp. Wir hatten das Haus in Kansas verkauft und waren nach Albuquerque gezogen. Mein Vater war sechzehn Stunden durchgefahren, nur in Oklahoma hatte mein Bruder für ein, zwei Stunden übernommen. In ein paar Wochen würde mein Bruder zur Highschool gehen, weshalb mein Vater meinte, ein bisschen Fahrpraxis auf dem Highway könne ihm nicht schaden. Obwohl ich erst in die siebte Klasse kam, achtete ich genau darauf, wie mein Vater die Kupplung bediente. Er würde ganz schön Augen machen, wenn er irgendwann entschied, dass ich dran war.
Der Umzugslaster war einen Tag nach uns gekommen, und mein Bruder und ich hatten erst das Zimmer unseres Vaters und dann unser eigenes eingerichtet – unser erstes gemeinsames Zimmer. Außerdem hatte ich mich der Küche angenommen, die Schränke gesäubert, die Speisekammer aufgefüllt, alles sorgfältig eingeräumt. Mein Bruder hatte sich um das Büro gekümmert, es mit einem Paravent vom Wohnzimmer abgetrennt. Mein Vater war Finanzberater. Er hatte nie von zu Hause aus gearbeitet. Aber er hatte einen fetten Kundenstamm in Kansas, mit dem wir erst mal im grünen Bereich waren, bis er genug neue Kunden an Land gezogen hatte und wir uns eine bessere Wohnung leisten konnten.
Mein Vater brüllte aus dem Fenster.
Wir rannten nach oben.
Er hatte gerade geduscht und trug Boxershorts. «Cremt mich ein», sagte er.
Unser Job war es, ihn von oben bis unten mit Nivea einzuschmieren.
Mein Bruder nahm sich seines Oberkörpers an, ich kümmerte mich um Beine und Füße.
Unser Dad hatte so seine Marotten. Der Fernseher in seinem Zimmer und die Kaffeemaschine in der Küche waren mit Zeitschaltuhren ausgestattet, die ihm anscheinend das tröstliche Gefühl gaben, dass ständig jemand – oder etwas – für ihn parat stand.
Als wir fertig waren, verkündete er, wir würden eine Spritztour machen.
«Wo fahren wir hin?», fragte ich.
«Sattelt die Gäule, Cowboys», sagte er.
Wir fuhren durch das Vorgebirge. Mein Bruder saß auf dem Beifahrersitz. Vom Rücksitz aus starrte ich auf die hässlichen Berge. Ich hatte mir die Sandia Mountains ganz anders vorgestellt, als gewaltige kahle Felsmassive, und jetzt war ich enttäuscht, weil überall Gestrüpp und Kakteen wucherten. Mein Vater fuhr Richtung Osten, in die Berge hinauf. Es ging höher und höher. Ich blickte aus dem Rückfenster, folgte dem Verlauf des Arroyo bis hinunter zum Rio Grande. Jenseits des schrumpfenden Schattens der Berge erstreckte sich die Ebene flach und weiß wie Papier.
«Lüftet mal ein bisschen durch», sagte mein Vater.
Wir ließen die Fenster herunter.
Kurz hinter einem kleinen Ort auf der anderen Seite des Sandia Peak kam ein Holzschuppen in Sicht. Auf dem Parkplatz standen etwa zwanzig Motorräder, ordentlich aufgereiht wie Zigaretten in einem vollen Päckchen.
«Da wären wir, Jungs», sagte mein Vater, während er auf den Parkplatz einbog. «Ist ’ne waschechte Biker-Bar.»
«Wow», sagte ich.
«Cool», sagte mein Bruder.
Niemand schenkte uns auch nur die geringste Beachtung, aber ich stellte mir vor, alle Augenpaare wären auf uns gerichtet. Besonders achtete ich darauf, wie die Absätze meines Vaters auf den abgetretenen Dielen klapperten. Eine Woche zuvor hatten wir eine kleine Pause beim Auspacken der Umzugskartons eingelegt und waren zu einem Western Store gefahren, wo sich mein Vater sein erstes paar Cowboystiefel gekauft hatte. Nun ging ich breitbeinig hinter ihm her. Er ist nicht allein, dachte ich.
«Ich hole uns mal was zu trinken», sagte er.
«Ich komme mit», sagte ich.
Er packte mich an der Schulter. «Du wartest hier.»
Mein Bruder und ich setzten uns an einen Tisch und ließen den Blick durch den Raum schweifen. An der Bar saßen ein paar Männer, die ein Baseballspiel im Fernsehen verfolgten. Eine Frau in einem kurzen Rock beugte sich über den Billardtisch und zielte mit ihrem Queue. Die meisten Anwesenden rauchten, tranken aus der Flasche, kippten Kurze. Mein Vater hatte auf einem Barhocker Platz genommen und unterhielt sich mit einem Mann. Unser Dad war stolz auf seine Fähigkeit, sich überall zu Hause zu fühlen. Soziale Mobilität, so nannte er das. Mein Vater stand auf und ging zur Toilette. Ein paar Sekunden später folgte ihm der Mann, mit dem er gerade gesprochen hatte. Ich beschloss, wachsam zu bleiben, bis er wieder wohlbehalten zurück war.
«Meinst du, er lässt uns ein Bier trinken?», fragte mein Bruder.
«Frag ihn doch», forderte ich ihn heraus.
Ich betrachtete den Schatten über seiner Oberlippe.
«Was ist?», fragte er.
«Ach, nur …» Ich lachte. «Du siehst wie ein Mexikaner aus.»
***
Mein Vater brachte unsere Drinks. «Ein Bud, ein Roy Rogers und ein Bier mit einer Extraportion Malz. Tja, mehr kriegen wir leider nicht. Der Barkeeper sagt, er will keine Kinder hier drin.» Ich warf einen Blick über die Schulter meines Vaters. Der Barkeeper redete mit ein paar Gästen und sah zu uns herüber. Mein Vater deutete mit dem Daumen auf seine Brust. «Mit meinen Kindern mach ich verdammt noch mal, was ich will», murmelte er wütend vor sich hin.
Er stürzte sein Bier auf einen Zug hinunter und wischte sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnäuzer. Dann setzte er sich auf und beugte sich zu uns. Manchmal änderte sich seine Stimmung von einer Sekunde auf die andere.
«Ich habe euch doch von dem Traum erzählt, den ich immer wieder habe, erinnert ihr euch? Ich sitze in einem spanischen Kerker, werde geschlagen, ausgepeitscht, die Folterknechte drohen mir, mich ans Kreuz zu schlagen.»
Wir nickten.
«Und ich habe euch doch auch erzählt, dass ich Ahnenforschung betrieben habe, richtig intensiv, bis ins kleinste Detail, um herauszukriegen, woher unsere Vorfahren kommen. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass wir spanischer Abstammung sind.» Er hielt einen Moment inne und überlegte. «Wie auch immer, nur eine Kleinigkeit, über die ihr mal nachdenken könnt, in aller Ruhe, ihr müsst jetzt nichts übers Knie brechen. Ich will euch nicht vor den Kopf stoßen. Wir sind Amerikaner, und das ist auch völlig okay so. Aber es gäbe da eine Möglichkeit, wie wir uns hier leichter einleben könnten – entschieden leichter, um genau zu sein.»
«Jetzt rück schon raus damit», sagte ich.
Er lächelte, biss die Spitze einer seiner Zigarren ab und zündete sie an.
«Also, ich fände es gut, wenn wir unseren Nachnamen künftig spanisch aussprechen würden. Nur ein Vorschlag, klar? Aber ihr wisst doch selbst, wie unsere Verwandtschaft den Namen ausspricht – die einen so, die anderen so. Ist letztlich also völlig egal, stimmt’s?»
«Und wie sollen wir ihn aussprechen?», fragte mein Bruder.
«He, Kollege, hast du mal ’nen Kugelschreiber?», rief mein Vater zum Barkeeper hinüber.
Der Barkeeper ließ sich Zeit, kam aber schließlich mit einem Kugelschreiber an unseren Tisch.
«Bist du Mexikaner?»
«Amerikaner.»
«Aber du sprichst Spanisch», sagte mein Vater, kritzelte unseren Nachnamen auf eine Serviette und drehte sie zu ihm. «Wie sprichst du das aus?»
Der Name kam dem Barkeeper locker über die Lippen.
Mein Vater sah uns an. «Na, klingt doch super, oder?»
«Sonst noch was?», fragte der Barkeeper.
Mein Vater antwortete nicht, musterte uns mit hochgezogener Augenbraue.
«Noch ein Bud?»
Der Barkeeper lachte, zögerte kurz und ging.
«Und?», richtete mein Vater das Wort wieder an uns. «Was meint ihr?»
Es gefiel mir, wie elegant unser Name aus dem Mund des Barkeepers geklungen hatte. Trotzdem kam mir die Idee irgendwie bemüht vor, an den Haaren herbeigezogen. Die Notwendigkeit leuchtete mir jedenfalls nicht so richtig ein. Ich hatte gedacht, wir hätten bereits ein neues Leben begonnen.
«Ich find’s ein bisschen komisch», sagte ich.
«Inwiefern?», gab mein Vater zurück.
«Na ja … was, wenn wir unseren Namen so wie sonst aussprechen, in der Schule oder so? Einfach, weil wir gerade nicht drauf achten?»
Er sah meinen Bruder an. «Mein Jüngster hat aber auch immer was zu meckern, oder?»
«Komisch finde ich’s nicht», sagte mein Bruder. «Aber wir müssen uns erst mal dran gewöhnen.»
«Alles ist eine Frage der Gewohnheit», erwiderte mein Vater. «Aber Bequemlichkeit und Gewohnheit sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Ich habe mich immer als Gewohnheitstier betrachtet, aber Gewohnheiten kann man auch ändern. Man braucht dazu nur ein bisschen Willenskraft. Und das bisschen Gewohnheit lässt sich ja wohl ändern – ist doch bloß ein Name. Hier unten können wir sein, wer auch immer wir sein wollen. Uns neu erfinden, versteht ihr?» Er hielt inne und gab einen Seufzer von sich. Dann fragte er mich: «Wer willst du sein, mein Junge?»
Das war eine ziemlich schwierige Frage, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
«Na gut, dann andersrum. Warum wolltet ihr mit mir nach Albuquerque kommen?»
«Um bei dir zu sein», sagte mein Bruder.
«Ich auch», sagte ich.
«Reizend», sagte mein Vater. «Immer plapperst du deinem Bruder alles nach.»
«Und warum wolltest du hierher?», fragte ich spitz.