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Stefan Rinke

GESCHICHTE
LATEINAMERIKAS

Von den frühesten Kulturen
bis zur Gegenwart

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Lateinamerika war das «erste Amerika» im Zeitalter der Entdeckungen. Es war die Säule der ersten europäischen Kolonialreiche und Schnittstelle riesiger Menschen- und Warenströme aus vier Kontinenten. Doch nicht nur die «entdeckenden» Europäer, sondern auch die ursprünglichen Bewohner gestalteten die Geschichte Lateinamerikas. Lateinamerika wurde zum Land der Befreiung vom Kolonialismus und zum Kontinent der Diktatoren. Im Zeitalter der neuen Globalisierung bleibt Lateinamerika ein Brennpunkt und ein Labor von Entwicklungen, die weit über den Kontinent hinausweisen.

Über den Autor

Stefan Rinke ist Professor für Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Bei C.H.Beck erschien zuletzt mit Frederik Schulze: Kleine Geschichte Brasiliens.

Inhalt

Vorwort

    I. Ursprünge und frühe Kulturen, bis ca. 900 n. Chr.

   II. Indigene Kulturen bis zum Kontakt mit den Europäern, ca. 900–1540

  III. Entdeckung, Eroberung und Aufbau der Kolonialreiche, 1492–1570

  IV. Konsolidierung und Reform im 17. und 18. Jahrhundert

   V. Revolutionäre Wege in die Unabhängigkeit, 1760–1830

  VI. Staatenbildung und Weltmarktintegration, 1830–1910

 VII. Nationalismus und globale Krisen, 1910–1945

VIII. Demokratien und Diktaturen im Schatten des Kalten Kriegs, 1945–1990

  IX. Die Herausforderungen der neuen Globalisierung

Grunddaten zur lateinamerikanischen Geschichte

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Vorwort

Die Entdeckung einer für die Europäer neuen Welt ist der Ursprung der «Neuzeit» und der Beginn einer Globalisierung, die sich mittlerweile enorm beschleunigt und intensiviert hat. Lateinamerika war das «erste Amerika» des Zeitalters der Entdeckungen. Es war die Säule der ersten europäischen Kolonialreiche und Schnittstelle von Menschen- und Warenströmen aus vier Kontinenten. Doch nicht nur die «entdeckenden» Europäer, sondern auch die ursprünglichen Bewohner, denen sie dabei – selten friedlich und meist gewaltsam – begegneten, gestalteten die Geschichte Lateinamerikas. Das gilt auch für die vielen Menschen aus Afrika und Asien, die als Sklaven nach Lateinamerika verschleppt wurden oder dort Arbeit suchten. Die Vorfahren der Menschen, auf die Kolumbus traf, hatten Jahrtausende zuvor das Land besiedelt und ganz unterschiedliche Lebensweisen hervorgebracht und sollten dies auch nach der Eroberung allen Unkenrufen von ihrem «Aussterben» zum Trotz weiter tun. Heute, im Zeitalter der neuen Globalisierung und zweihundertjährigen Unabhängigkeit, des bicentenario, vieler Länder der Region, bleibt Lateinamerika ein Brennpunkt von Entwicklungen, die weit über den Kontinent hinausweisen.

Eine Geschichte Lateinamerikas von den Anfängen der menschlichen Besiedlung bis zur Gegenwart im vorgegebenen Format kann nur die zentralen Entwicklungslinien aufzeigen und muss auf viele wichtige Aspekte verzichten. So werden etwa die präkolumbischen Kulturen im Folgenden nur gestreift. Informierte Leserinnen und Leser werden weitere Lücken entdecken, die sich auch in der 2. Auflage nicht vermeiden ließen. Dieser Essay will die lateinamerikanische Geschichte in Grundzügen darstellen und eine Orientierung ermöglichen – nicht mehr und nicht weniger.

Berlin, im April 2014

Stefan Rinke

I. Ursprünge und frühe Kulturen,
bis ca. 900 n. Chr.

Amerika ist der Erdteil der Wanderungen. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass die ersten Menschen in die für sie neue Welt einwanderten, da sich dort bislang nur Überreste des Homo sapiens haben finden lassen. Wann die Wanderungen sich abspielten, woher und auf welchem Weg die Menschen kamen, ist wissenschaftlich nach wie vor umstritten. Größtenteils akzeptiert ist heute die These, dass eine Migration über eine eiszeitliche Landbrücke in der Beringsee aus Sibirien nach Alaska stattfand. Lange Zeit galten die archäologischen Funde von Projektilspitzen um den Ort Clovis im heutigen New Mexico, die bewiesenermaßen von ca. 11 500 v. Chr. stammen, als die ältesten Nachweise menschlicher Existenz. Wenn dies so war, wären Teile der Migranten in der Folgezeit rasch weiter nach Süden gewandert, um innerhalb der folgenden rund 1000 Jahre bereits Feuerland zu erreichen.

Diese relativ rasche Verbreitung über den gesamten Doppelkontinent gab Anlass zu Zweifeln. Seit 1997 hat sich die Vor-Clovis-These durchgesetzt, deren Anhänger seit Jahrzehnten behauptet hatten, dass die erste Besiedlung lange zuvor stattgefunden haben müsse, ohne dafür gesicherte Anhaltspunkte zu haben. Mit der Datierung der Funde im chilenischen Monte Verde auf das Jahr 12 500 v. Chr. sind die Zweifel an dieser These im Wesentlichen ausgeräumt. Die Arbeiten in Monte Verde zeigen, dass die Jäger und Sammler bereits in der Lage waren, ein provisorisches Dorf aus Tierfellen und Holz mit Gemeinschaftskochstellen anzulegen.

Diese Erkenntnis wird durch archäologische Funde der letzten Jahre in Brasilien erhärtet. So fanden sich in Zentralbrasilien, im Nordosten und in Amazonien Spuren, die zwischen 11 500 und 13.000 Jahre alt sind. Wie Monte Verde zählen sie zu den frühesten Zeugnissen menschlicher Präsenz im amerikanischen Doppelkontinent. Nur unwesentlich jünger, dafür aber wesentlich umfangreicher und aufschlusskräftiger sind die Fundstätten der Lagoa-Santa-Kulturen, die ihren Namen nach den im heutigen Bundesstaat Minas Gerais gefundenen menschlichen Überresten – darunter die berühmte 1975 entdeckte brasilianische Ikone «Luzia» aus Lapa Vermelha – haben.

Insgesamt lassen die neuesten Funde darauf schließen, dass die Wanderungen der ersten Menschen in Amerika entweder einige tausend Jahre vor der Clovis-Kultur stattgefunden haben oder dass es noch andere Migrationswege gegeben hat. Für letztere Version ist die Theorie aufgestellt worden, dass es eine Besiedlung übers Meer von Südostasien und Ozeanien aus gegeben habe. Doch bleibt die Frage, ob die ersten Amerikaner unterschiedliche Ursprünge hatten oder ob es sich um eine einzige Einwanderergruppe gehandelt hat, aus der heraus sich über die Jahrtausende die so heterogenen Bevölkerungen und Kulturen entwickelten, letztlich bislang unbeantwortet.

Bei den frühen Menschen in Amerika handelte es sich um Jäger und Sammler, die in erster Linie von der Megafauna lebten, doch starb diese mit dem Ende der Eiszeit ab ca. 10.000 v. Chr. aus. Fleischliche Nahrung stand vermutlich deshalb im Vordergrund, weil ihre Beschaffung weniger Risiken barg als pflanzliche. Andererseits ging durch die Jagd die Zahl der Tiere zurück, sodass die Gruppen gezwungen waren weiterzuziehen. Die These, dass die Menschen am Aussterben der Megafauna durch Überjagung schuld gewesen sein könnten, wird heute zumeist abgelehnt. Die Forschung geht davon aus, dass diese Entwicklung vor allem auf den Klimawandel und auf Veränderungen der Vegetation zurückzuführen ist.

Um das Jahr 8000 v. Chr. präsentierte sich Lateinamerika in seinen naturgeographischen Gegebenheiten so, wie wir es heute kennen. Diese Konstellationen und die archäologischen Funde lassen im Wesentlichen acht Großräume erkennen, die sich von Norden nach Süden, von Mesoamerika über ein Zwischengebiet aus Zentralamerika und dem nördlichen Südamerika, die Karibik, die Zentralanden, die Südanden, das tropische Tiefland und Ostbrasilien bis zum südlichen Kegel (Cono Sur) erstreckten. In den meisten Regionen setzte nun der Prozess der Sesshaftwerdung ein, wenngleich die Funde in Monte Verde lehren, dass dies punktuell auch schon vorher der Fall gewesen war. Es sind für diesen Zeitraum eine größere Bandbreite an Gerätschaften nachweisbar, die von Beilen bis hin zu Mahlwerkzeugen reichen. Auch die Jagdmethoden wurden ausgefeilter. Die Jagd nach Seesäugetieren erforderte Wasserfahrzeuge, die die Besiedlung von Karibikinseln wie Trinidad (um 5000 v. Chr.), Kuba und Hispaniola (um 3000 v. Chr.) – die Insel der heutigen Staaten Haiti und Dominikanische Republik – ermöglichte.

Insgesamt kam es zu einer Ausdifferenzierung der Kulturen. Entlang der Küsten sind Siedlungen mit Muschelhaufen entdeckt worden, die sich auf ca. 5000 v. Chr. datieren lassen. In diesem Zeitraum vollzog sich der Übergang vom Wildbeuter zum Sammler. Hinzu trat die stärkere Nutzung pflanzlicher Nahrungsmittel. Sammelte man zunächst noch Wildpflanzen, so konnten bald die ersten Kulturpflanzen genutzt werden. Funde aus Mesoamerika und der zentralen Andenregion zeigen, dass es sich dabei um Speisekürbis, Chili-Pfeffer, Avocado, Bohnen und Knollenfrüchte handelte. Selten lässt sich allerdings eindeutig klären, ab wann es sich tatsächlich um Kulturformen handelte. Dieses Problem stellt sich beispielsweise bei der botanischen Bewertung der ältesten Funde der Maispflanze in Mexiko um 5000 v. Chr. Der Anbau von Mais, der für die amerikanischen Kulturen sehr wichtig werden sollte, breitete sich wohl relativ schnell sowohl nach Süden als auch nach Norden aus.

Die frühen Formen des Pflanzenanbaus dienten der Ergänzung der Nahrungsversorgung. Bedingte der Nahrungserwerb anfangs noch das jahreszeitliche Wandern, so setzte sich mit der Zeit eine Wirtschaftsweise durch, die durch das Anlegen von Vorräten einen längeren Aufenthalt in ein und derselben Region ermöglichte. Das machte die Anlage von Siedlungen mit festen Unterkünften notwendig, von denen frühe Überreste (um 3500 v. Chr.) beispielsweise an der peruanischen Küste und in Ecuador gefunden wurden.

Im zentralen Andenraum kam es bereits sehr früh zur Viehhaltung (Lama, Meerschweinchen). Es entstanden besondere Bauten wahrscheinlich für Sakralzwecke, die sich im dritten vorchristlichen Jahrtausend in der Region verbreiteten. Auf die Existenz von Dauersiedlungen weist auch die Anlage von Friedhöfen hin. Was die Bestattungsformen angeht, so haben die künstlichen Mumien der Chinchorro-Kultur im Norden des heutigen Chile (ca. 5000 v. Chr.) besonderes Aufsehen erregt, da sie zu den weltweit ältesten Exemplaren zählen. Rechnet man hinzu, dass technische Erfindungen wie die Metallverarbeitung, die Weberei und das Töpfern auf das vierte und dritte vorchristliche Jahrtausend zu datieren sind und dass Funde aus diesem Zeitraum auf Handelstransaktionen verweisen, dann lässt sich das Ausmaß des Wandels bis 2000 v. Chr. ermessen. Besonders interessante Funde haben Archäologen in den letzten Jahren im bis dahin kaum erforschten Amazonasbecken gemacht. So fanden sich im nördlichen Küstengebiet des Bundesstaats Maranhão Keramiken, die mindestens 5500, vielleicht sogar 7000 Jahre alt sind. Es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich um die ältesten Keramikfunde des amerikanischen Doppelkontinents. Wahrscheinlich ist auch, dass der Maniok, der vor rund 4000 Jahren erstmals in Peru angebaut wurde, ursprünglich aus dem Amazonasbecken stammte.

Bereits ca. 1800 v. Chr. wurden an der peruanischen Küste Bewässerungssysteme angelegt. Auf dieselbe Zeit lassen sich die frühesten Funde von Keramiken im heutigen Südmexiko (Chiapas), Guatemala und in der zentralen Andenregion datieren. Im Andenraum entwickelte sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend die Bearbeitung von Metall etwa durch Löten, Gießen und Legieren entscheidend weiter. An der Verbreitung von Techniken und Nutzpflanzen lässt sich die Zunahme der Austauschbeziehungen ablesen. Der Handel bildete eine Grundlage für die Entstehung religiöser und künstlerischer Zentren, die an der Küste und im Hochland des Andenraums bereits auf das vierte Jahrtausend v. Chr. zurückzuführen sind. So entstand im Casma-Tal am Cerro Sechín eine frühe Monumentalarchitektur. Ab ca. 1100 v. Chr. war Chavín de Huántar im nördlichen Peru mit seinem Stil prägend und gab einer Kultur ihren Namen, deren Architektur, Skulptur und Keramik lange dominant blieben.

Eine ähnliche formative und überregional verbindende Rolle wie Chavín in Südamerika spielte ungefähr zur selben Zeit die Kultur der Olmeken in Mesoamerika. Die wichtigsten Zeremonialzentren La Venta, San Lorenzo und Tres Zapotes lagen an der südlichen Golfküste des heutigen Mexiko. Die Steinreliefs und Pyramidenbauten in dieser Region deuten darauf hin, dass es sich um ein frühes Staatswesen mit Handelsbeziehungen bis nach Costa Rica handelte, von wo man Jade und Kakao importierte. Die Olmeken entwickelten nicht nur einen Kalender mit 260 Tagen, sondern auch Ansätze zu einer Schrift.

Nahe den olmekischen Kerngebieten kam es in Guatemala und den heutigen mexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca zu unabhängigen kulturellen Entwicklungen. Sie gipfelten um 400 v. Chr. im Aufstieg des Zentrums um Monte Albán, wo die Schrift weiterentwickelt wurde. Rund 100 Jahre später lässt sich in Oaxaca auch das Ballspiel nachweisen, das sich mit seiner religiösen Bedeutung in ganz Mesoamerika verbreiten sollte. Monte Albán erreichte seine Blütezeit ab 200 n. Chr. Fünf Jahrhunderte lang war die Stadt ein bedeutendes sakrales und politisches Zentrum der Zapoteken. Monumentale Paläste und Sakralbauten waren von den Wohnbezirken der nicht privilegierten Schichten abgegrenzt. Die Hochzeit war die als klassisch bezeichnete Phase von 200 bis 900 n. Chr.

Weiter nördlich, im Hochtal von Mexiko, konkurrierten seit 200 v. Chr. die beiden Stadtstaaten Teotihuacán und Cuicuilco miteinander. Teotihuacán konnte sich ab 150 n. Chr. gegen ihre von Vulkanausbrüchen heimgesuchte Konkurrentin durchsetzen und stieg binnen weniger Jahrhunderte zu einer der größten Städte der damaligen Welt auf. Auf einem Areal von 20 km2 lebten in der Blütezeit zwischen 200 und 600 n. Chr. an die 200.000 Menschen. Zunächst gewann die Stadt als religiöses Zentrum an Bedeutung, wovon die eindrucksvollen Pyramiden Zeugnis ablegen. Bald entfaltete sie auf Grundlage der Obsidian-Verarbeitung auch wirtschaftliche und politische Macht. Teotihuacán dominierte den mesoamerikanischen Raum und errichtete Stützpunkte und Kolonien entlang der wichtigen Handelsrouten. Die Stadt zog Menschen aus anderen Regionen an, die in eigenen Stadtvierteln lebten. Auch in dieser nach einem Raster angelegten Stadt waren die Wohnviertel der Oberschicht von denen der Masse der Bevölkerung getrennt.

Obwohl Teotihuacán eine beeindruckende Macht entfaltete, blieb in Mexiko Raum für andere Zentren. Neben Monte Albán, mit dem man trotz der ungleichen Größenverhältnisse einen partnerschaftlichen Kontakt pflegte, waren Cholula nahe der heutigen Stadt Puebla mit seiner immensen Sonnenpyramide und El Tajín im heutigen Veracruz solche Mittelpunkte. Als Monte Albán und Teotihuacán um 700 n. Chr. an Macht einbüßten, konnten sich die kleineren Zentren, zu denen auch noch Xochicalco und Cacaxtla zählten, frei entfalten. Das Reich von Teotihuacán brach 50 Jahre später aus nicht geklärten Gründen unter Gewalteinwirkung zusammen, während Monte Albán als Kultstätte bedeutsam blieb.

Parallel zu den Entwicklungen in Zentralmexiko waren im Süden auf der Halbinsel Yucatán und in Teilen Zentralamerikas, wo die Bevölkerung seit ca. 250 v. Chr. stark wuchs, die klassischen Maya-Kulturen entstanden. Die Maya legten zahlreiche Städte mit monumentalen Pyramiden an. Anfangs standen Zentren wie etwa Tikal und Kaminaljuyú unter dem Einfluss Teotihuacáns. Herrscherdynastien mit Gottkönigen bildeten sich heraus, die sich untereinander bekämpften. Wegen ihrer astronomischen Kenntnisse spielten Priester eine wichtige Rolle. Die Maya brachten eine hoch entwickelte Hieroglyphenschrift hervor und stellten Stelen mit Inschriften auf, die eine genauere Datierung ermöglichen. Die Machtentfaltung von Stadtstaaten der klassischen Periode wie vor allem Tikal und Calakmul fiel mit dem Niedergang Teotihuacáns zusammen. Das relativ abrupte Ende der klassischen Mayakulturen um 900 n. Chr. lässt sich auf Faktoren wie Überbevölkerung, ökologische Probleme, Naturkatastrophen sowie die Eskalation interner und externer Kriege zurückführen.

Eine ähnliche Staatenbildung erfolgte in der Karibik, im südlichen Zentralamerika sowie in den Gebieten der modernen Staaten Kolumbien und Venezuela in diesem Zeitraum nicht. Hier entwickelten sich unabhängig – wenngleich mit Austauschbeziehungen zu den Maya – Kulturen, die Bodenbau betrieben und Keramiken herstellten, aber keine Monumentalarchitektur errichteten. Die Kulturen Zentralamerikas zeichneten sich durch die Bearbeitung von Stein aus, während in Kolumbien, das mit San Agustín ein bedeutendes Zentrum aufwies, darüber hinaus die Metallproduktion Höchstleistungen vollbrachte, wie der Goldschmuck der Calima-Region beweist. Blieb Kolumbien eine Durchgangszone für Einflüsse aus Nord und Süd, so lag Venezuela eher im Abseits. Dort entwickelten sich offenbar ebenso wenig größere Kultzentren wie auf den Antillen.

Neben Mesoamerika avancierten die Zentralanden in der klassischen Phase ab ca. 200 v. Chr. zu einem kulturellen Entwicklungspol. Nach dem Ende des Chavín-Stils bildeten sich zunächst zahlreiche regionale Kulturen heraus. So entstanden entlang der Küste des heutigen Ecuador bedeutende Herrschaften, die Kultstätten anlegten und deren Kunsthandwerk sich mit dem in Kolumbien messen konnte. Die Bahía- und Tolita-Kultur führten technische Neuerungen bei der Gold-, Kupfer- und Bleiverarbeitung ein.

An der Nordküste des heutigen Peru entwickelte sich ab 200 n. Chr. die Moche-Kultur auf der Basis eines zentralisierten Staatswesens. Die ausdrucksstarke Keramik lässt auf eine machtvolle Gesellschaft schließen, die ihre Gefangenen opferte. Die Moche bauten in ihren Zeremonialzentren Pyramiden aus Lehmziegeln, in denen Herrscher wie der «Herr von Sipán» oder die «Herrin von Cao» bestattet wurden. Sie verfügten über ausgefeilte Ackerbaumethoden mit Bewässerung und Terrassierungen. Im Süden der Moche schloss sich die Lima-Kultur an, die das Orakel von Pachacámac aufweisen konnte. Noch weiter südlich entfaltete sich die durch ihre Erdzeichnungen bekannte Nazca-Kultur, die allerdings politisch nicht geeint war. In technischer Hinsicht ist für die peruanischen Kulturen dieser Phase insbesondere die Verfeinerung der Webkunst erwähnenswert.

Im Hochland südöstlich des Titicacasees stieg Tiahuanaco zum Zentrum einer klassischen Kultur auf, die um 450 ihren Höhepunkt erreichte. Zu den typischen Monumentalbauten zählten Stümpfe von Pyramiden, abgesenkte Höfe und Palast- und Wohnviertel. Die kulturelle Ausstrahlung Tiahuanacos war wohl deutlich größer als die politische. So beeinflusste die Stadt auch die nördliche Nachbarregion mit dem Mittelpunkt Huari, wo sich ab 650 ein größerer Staat bildete, der Eroberungszüge in den Norden unternahm. Besatzungstruppen kontrollierten die unterworfenen Gebiete, und die Bevölkerung wurde teilweise umgesiedelt. Während das Reich von Huari nur zwei Jahrhunderte überdauerte, hielt sich Tiahuanaco bis 1000.

Die hochperuanischen Zentren strahlten bis in die Südanden nach Chile und Nordwestargentinien, wo mit El Molle und La Aguada eigenständige Kulturen entstanden, die allerdings nicht den Organisationsgrad der nördlichen Nachbarn erreichten. Das galt in noch stärkerem Maß für die Kulturen in Feuerland und Patagonien. Dort existierten hoch spezialisierte Jägerkulturen fort, die keinen Bodenbau betrieben, sondern sich von Jagd und Fischfang ernährten. Ähnlich war die Lage in Brasilien. Ab 500 breiteten sich tupiguarani-sprachige Gruppen aus, die andere indigene Gruppen von ihren angestammten Territorien verdrängten. Sie betrieben Wanderfeldbau und lebten vor allem von Maniok und Mais. Auch der Fischfang spielte eine große Rolle, weshalb sie sich entlang der Flusstäler ausbreiteten.

Seit der ersten Einwanderung waren die Menschen weit gekommen, hatten einen riesigen Kontinent fast flächendeckend besiedelt und sich dabei Überlebenstechniken und kulturelle Fertigkeiten angeeignet, welche an die verschiedenartigen Umweltbedingungen angepasst waren. Sie lebten unbeeinflusst von den Entwicklungen in den anderen Erdteilen und entwickelten selbstständige Kulturen. Die Thesen von Kulturbringern aus der Alten Welt sind nicht belegbar. Bei den Entwicklungen handelte es sich nicht um einen geradlinigen Prozess, sondern es differenzierten sich höchst unterschiedliche Lebensweisen heraus. Um 900 n. Chr. waren die kulturellen Unterschiede beispielsweise zwischen einem Wildbeuter aus Feuerland und einem Priester in Monte Albán groß, obwohl sie beide auf demselben Kontinent lebten.

II. Indigene Kulturen bis zum Kontakt mit den
Europäern, ca. 900–1540

Lange galt der Zeitraum von 900 n. Chr. bis zum Kontakt mit den Europäern in der Forschung als Entstehungsphase von «Hochkulturen», die im Aztekenreich im Norden und im Inkareich im Süden gegipfelt hätten. Dieses Entwicklungsverständnis setzte einen historischen Verlauf voraus, der von «primitiven» Wildbeutern über Stammesgesellschaften mit Bodenbau und kleinere Fürstentümer zu «hoch entwickelten» Staatsgesellschaften führte. Heute sind dieses rein auf die Staatenbildung bezogene Geschichtsdenken und die damit verbundene Bewertung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungen überholt. Die unterschiedlichen Kulturen werden als eigenständige Antworten auf spezifische Herausforderungen anerkannt.

Anknüpfend an die Entwicklungen der klassischen Phase, entwickelten sich ab ca. 900 vor allem in den Räumen, die schon zuvor die Entstehung von Stadtstaaten erlebt hatten, neue staatliche Herrschaftsbereiche mit einer fortgeschrittenen gesellschaftlichen Spezialisierung. Diese Staatsgebilde integrierten ethnisch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in ein soziales Schichtungssystem mit einem zumeist erblichen Adel, einer Priesterklasse, Militärs, Beamten, Kaufleuten, Handwerkern, Bauern und Sklaven. Sie entwickelten zentralisierte Herrschaftsformen mit festen administrativen und rechtlichen Strukturen. Weltliche und geistliche Herrschaft fielen oft ineinander. Der Fürst war zugleich auch oberster Priester und/oder gottähnliches Wesen und damit höchster Repräsentant eines Staatskultes oder einer Staatsreligion. Hinzu kam eine vergleichsweise intensive Wirtschaft, durch die Berufsstände ernährt werden konnten, die nicht selbst Ackerbau betrieben. Arbeitsteilung, ungleicher Zugang zu den Ressourcen wie vor allem Landbesitz und komplexe Marktbeziehungen im Inneren und nach außen kennzeichneten diese Reiche. Die chronologischen und räumlichen Übergänge zwischen Staaten und Fürstentümern sind allerdings fließend. Über diesen Zeitraum haben wir durch die vorhandenen schriftlichen Quellen deutlich bessere Kenntnisse.

In Zentralmexiko dauerte es nach dem Ende Teotihuacáns rund 250 Jahre, ehe um 1000 mit Tollan – dem heutigen Tula – ganz in der Nähe ein neuer mächtiger Stadtstaat entstand, der sich etwa in der Verarbeitung von Obsidian an seinen Vorgänger anlehnte. Die Bewohner, die Tolteken, waren ethnisch heterogene Zuwanderer. Wie die monumentalen Ausmaße der Zeremonialbauten und Aufmarschplätze, die Steinskulpturen und -reliefs verdeutlichen, handelte es sich um eine kriegerische Gesellschaft, die über ein umfangreiches Handelsnetz verfügte.

Noch im 11. Jahrhundert endete die Blütezeit Tollans, die Stadt fiel ca. 1170 Verwüstungen zum Opfer. Um einen der letzten Herrscher rankte sich ein Mythos, der in unterschiedlichen Versionen die Jahrhunderte überdauerte: Ce Acatl, der angeblich den Gottesrang in einer monotheistischen Glaubenslehre einnahm und den Titel Quetzalcoatl («gefiederte Schlange») trug, soll den Menschenopfern abgeschworen haben und später nach einem Sündenfall, der den Ruin der Stadt bedeutete, und seiner Läuterung über das Meer gezogen sein. Die wirklichen Gründe für den Untergang Tollans lagen wohl ähnlich wie im Fall der klassischen Maya-Kulturen im Zusammenwirken von ökologischen Problemen und Kriegen.

Parallel zu Tollan in Zentralmexiko entwickelte sich Oaxaca weiterhin unabhängig. Im Norden verbreiteten sich die Kleinstaaten der Mixteken, deren Bilderhandschriften über die Konflikte untereinander Auskunft geben. In der Nähe der heutigen Hauptstadt Oaxaca und unweit von Monte Albán wurde Mitla zum spirituellen Zentrum der Zapoteken und später auch der Mixteken, die in die Region einwanderten.

Auch in den Siedlungsgebieten der Maya kam es nach dem Verlassen der klassischen Stätten zu sozialen Verwerfungen. Das Zentrum der Maya-Kulturen verschob sich nach Norden ins Tiefland der Halbinsel Yucatán, wo die Stadt Chichen Itza eine führende Rolle einnahm, während das Hochland in rivalisierende Fürstentümer zersplitterte. Teile dieser Geschichte sind im Buch Popol Vuh der Quiché niedergeschrieben. Im gesamten Maya-Gebiet fanden um das Jahr 1000 Invasionen aus dem Norden statt, die in Chichen Itza einen Austausch der Eliten nach sich zogen. In der Forschung wird teilweise die These vertreten, es habe sich um Tolteken – möglicherweise unter Quetzalcoatl – gehandelt. Chichen Itza entwickelte sich zu einer hoch organisierten Zentrale, in der verschiedene kulturelle Stilrichtungen zusammenflossen und die über weiträumige Handelsnetze verfügte. Um 1200 verlor sie ihre Vorherrschaft an den rivalisierenden Stadtstaat Mayapán, der die Strukturen der Eroberten übernahm und die Region bis ca. 1500 dominierte. Bei Ankunft der Spanier war dieses Reich zerfallen, und 16 kleine Herrschaftsgebiete bekriegten sich untereinander.