Reisen in eine beunruhigte Welt
C.H.Beck
Es ist die Welt hinter Lampedusa: der Krisengürtel, der sich von Kaschmir über Pakistan und Afghanistan bis in die Arabische Welt und noch an die Grenzen und Küsten Europas erstreckt. Von dieser Region berichtet Navid Kermani, von unserer unmittelbaren Nachbarschaft, so fern sie unserem medialen Bewußtsein auch erscheint. Wie von Zauberhand gelingt es ihm dabei, einzelne Schicksale und Situationen so lebendig werden zu lassen, daß schlagartig weltpolitische, ja existentielle Problemlagen deutlich werden, die uns unmittelbar berühren. Auch hinter Lampedusa liegt unsere Welt.
„Wer den Alltag der Menschen in den Krisenregionen des Nahen und Mittleren Ostens sehen will, das Leben hinter den Nachrichten, der sollte Navid Kermanis einfühlsame Reportagen lesen. Reportagen, die einen so schnell nicht mehr loslassen.“ Deutschlandradio Kultur
„Intensiv, farbig, gefühlsbetont, subjektiv.» WAZ
„Man legt das Buch nach der Lektüre beglückt aus der Hand, weil man sowohl berührt als auch belehrt worden ist.“ NZZ am Sonntag
Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für seine Romane, Reportagen und wissenschaftlichen Werke wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, dem Heinrich-von-Kleist-Preis sowie dem Joseph-Breitbach-Preis. Bei C.H.Beck erschienen von ihm unter anderem „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ (2015), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (Paperback 2015) sowie „Zwischen Koran und Kafka“ (3. Auflage 2015).
Kairo, Dezember 2006
PARADIES IM AUSNAHMEZUSTAND
Kaschmir, Oktober 2007
Hausboot 1
In der Stadt
Hausboot 2
Politiker 1–4
Nachts
Hausboot 3
Der Schrein
Hausboot 4
Auf dem Land
Hausboot 5
Die Mutter
Hausboot 6
Ahad Baba
In Kaschmir, weit weg von Kaschmir
OHNE BODEN
Zwischen Agra und Delhi, September 2007
Lumpenproletariat formiert sich
Why complain?
Sie wollen Land
Vertreibung als Industriepolitik
Himmel und Boden
Ram Paydiri versteht nicht
DAS LABORATORIUM
Gujarat, Oktober 2007
Ein Idol
Auf der Müllkippe
In die Mitte
Soziale Praxis
Die Zukunft Indiens
Wo selbst die Atheisten beten
Das Loch
EINE REISE ZU DEN SUFIS
Pakistan, Februar 2012
Gottes Rhythmus
Krieg gegen sich selbst
Das Grab der Liebenden
O Papa, beschütz mich
Im Villenviertel
Der Frieden der Armen
Ruhe, Sauberkeit und Ordnung
Das Fest
Die kosmische Ordnung
TROSTLOSE NORMALITÄT
Afghanistan I, Dezember 2006
Der Mensch verändert sich so wenig
Richtig verrückt
Zwei britische Befehlshaber
Humanitärer Einsatz
In Kabul
Wo ist der Fortschritt?
Meister Tamim
Die neue Autobahn
Amerikanisches Hauptquartier
Besuch bei der Paßbehörde
Cola im Dunkeln
GRENZEN DES BERICHTBAREN
Afghanistan II, September 2011
Friedhof I
Die Mauern vor den Mauern
Nach Norden
Mazar-e Sharif
Der beste Ort am Platz
Über die Dörfer
Im Panjschirtal
In den Süden
Friedenskonferenz
Stammesführer I
Kandahar
Stammesführer II
Die Grenze der Berichterstattung
Friedhof II
DER AUFSTAND
Teheran, Juni 2009
Zufallsgemeinschaft
Ankunft
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Zurück zum Samstag
Sonntag
Nacht zum Montag
WENN IHR DIE SCHWARZEN FAHNEN SEHT
Irak, September 2014
I. NADSCHAF – IM HERZEN DER SCHIA
Allgegenwart des Todes
Ein gefährliches Thema
Eine andere Schia
Mit schwertgleichem Zeigefinger
Die Botschaft von Großajatollah Sistani
II. BAGDAD – DIE ZUKUNFT IST VORBEI
Längst ein dreißigjähriger Krieg
Wasserpfeife mit Goethe und Hölderlin
Nebel der Melancholie
Wie bei Ali Baba
Der letzte Christ
Ein Krieger
III. KURDISTAN – DER KRIEG AUCH FÜR UNSERE WELT
Buchstäblich über Nacht
Weshalb?
An die Front
Der General
EINGANG ZUR HÖLLE
Syrien, September 2012
Mitte und Rand
Künstler der Revolution
Zwei Sichtweisen
Das Outsourcen des Terrors
Das Fest des Heiligen Elian
Am Grabe von Ibn Arabi
Denken ohne Zwischentöne
Die Intensivstation
Wer lesen kann, der lese
AUCH WIR LIEBEN DAS LEBEN
Palästina, April 2005
Auf der Suche nach Palästina
Ohne Hoffnung
Die Mauer vor dem Mitgefühl
Die eigene Kapitulation
Es sind Menschen
DAS LEBEN, ALS WAS ES IST
Lampedusa, September 2008
Sonntagsausflügler
Geister
Mitternacht
Der frühere Bürgermeister
Das Lager
Der neue Bürgermeister
Wieder nachts
Mit oder ohne Zustimmung
Kairo, Oktober 2012
Editorische Notiz
Das Teehaus, in dem ich vor beinah zwanzig Jahren der jüngste Stammgast war, hat sich erweitert, ohne Schaden genommen zu haben. Genau gesagt sind nur einige zusätzliche Plastikstühle in die enge Passage zwischen zwei verrußten Kolonialhäusern gestellt worden, aber an diesem Ort ist selbst bloßes Stühlerücken eine Kulturrevolution. Da der natürliche Geschmackssinn vor drei, vier Jahrzehnten verkümmert zu sein scheint, bedeutet Fortschritt in Kairo meist mit Adorno, Fortschritt zu verhindern. Bestimmt tauchen ab ein, zwei Uhr die müdesten Nutten Kairos auf, für eine letzte Cola oder einen ersten Kunden, während Umm Kulthum wie jede Nacht von «jenen Tagen» singt. Der Zauber des Teehauses genauso wie weltweit aller Gaststätten, die den Namen verdienen, besteht darin, daß nichts aufeinander abgestimmt ist und gerade wegen des Zufalls alles stimmt, die Einrichtung und das Dekor, die bei der Gründung schon abgenutzt gewesen sein müssen, das freundliche Personal, das dennoch zuviel berechnet, die kunstvollsten arabischen Orchester aus den quälendsten Lautsprechern, die Männer, die bei ihren Karten- und Brettspielen zu kleinen Jungen werden, die Frauen, die ebenfalls so tun, als seien sie noch jung, und vor allem das Lachen, das laute, glucksende, polternde, quiekende, heisere, schadenfrohe, selbstironische, diebische, verschmitzte, gutmütige, verzeihende Lachen, das man in Kairo öfter als in jeder anderen Stadt hört und nirgends in Kairo öfter als an einem Abend im Teehaus, glücklicherweise immer noch hört, muß ich schreiben, denn vor jeder Rückkehr fürchte ich, daß die Fee, die alles fügt, verschwunden sein könnte. Ein Eintrag in einem Reiseführer könnte genügen oder der Hinweis von einem der neuen Zeloten in den Zeitungen, die sich auf etwas besinnen, was niemals existierte, gehört doch zur Tradition in Kairo nicht der Puritanismus, aber die Prostitution. Unmöglich, daß eine Symphonie wie das Teehaus heute noch komponiert werden könnte. Es ist ja nicht komponiert worden, es war einfach da, ein Relikt schon an seinem ersten Tag. Für die Tochter, die mit ihrem Geburtstagsgeschenk ein Photo machen möchte, stellen sich sämtliche Gäste mitsamt dem Personal und den umliegenden Ladenbesitzern in Pose. Anschließend macht der Oberkellner das Photo von Vater und Tochter, wegen dem allein sich die zwanzigjährige Reise gelohnt hätte.
Der Paris Photo Service, der auch Kodak-Filme verkauft, rudert vorüber. Die Berge, obwohl es sonnig ist, sehen aus, als habe sie der liebe Gott in Milch getaucht und zum Trocknen aufgehängt. Als nächstes bringt eine Schikara, wie die Gondeln in Kaschmir heißen, Lebensmittel ans Hausboot, das einheimische Freunde empfohlen haben. Es ist tatsächlich sauber und komfortabel, im britisch-kolonialen Stil wie alle achthundert schwimmenden Pensionen Srinagars, schwere, dunkle Möbel, Orientteppiche, wuchtige Sessel, allerdings auf indische Touristen ausgerichtet, nicht auf westliche, weil nahe an der Stadt, wo der Dal-See nicht breiter als ein Fluß ist. Das versprochene Erleben von Stille, Weite und schneebedeckten Bergen, die sich im Wasser spiegeln, fällt daher weniger majestätisch aus. Ich blicke auf Autos und Rikschas, mehrgeschossige Bürogebäude aus unverputztem Beton sowie einen Hügel mit einer Fernsehantenne darauf. Für Inder scheinen die fünfzig oder hundert Meter Abstand, die sie vom Straßenlärm haben, mehr als genug zu sein. Ich hingegen war gegen alle Vorsätze leicht enttäuscht, zumal die Abende auf der Bootsveranda so kalt sind, daß ich mich zum Schreiben ins Zimmer unter die Bettdecke verkrieche.
Mehr und mehr entdecke ich allerdings die Vorteile der Situation, in die ich geraten bin. Das Boot gehört einer alteingesessenen Familie, von deren zweiunddreißig Mitgliedern immer einer genau das besorgen kann, was ich gerade brauche, das ganze Spektrum an Meinungen, Forderungen und Wünschen, das Srinagar bietet, ebenso einen Fahrer, Umbuchungen oder eine SIM-Karte fürs Mobiltelefon. Die indische Karte funktioniert aus Sicherheitsgründen nicht. Um eine neue Prepaid-Karte zu kaufen, braucht man einen festen Wohnsitz und die Bewilligung der Armee. Nun muß die Nichte des Bootsherrn ein paar Tage auf ihr Handy verzichten. Viel scheint sie nicht zu telefonieren, jedenfalls sind außer den mitgelieferten Servicenummern mit Kurzwahl keine Kontakte gespeichert, Astro Tel, Dial A Cab, Dua (Gebet), Flori Tel, Food Tel, Horoscope, Info Tel, Movie Tel, Music Online, Odd Jobs, Ringtones, Shop OnLine, Travel Tel, Weather. Für eine Stadt im Krieg, in der abends kaum eine Straßenlaterne brennt, sind das erstaunliche Möglichkeiten. Nach beinahe zwanzig Jahren hat sich Kaschmir längst eingerichtet im Ausnahmezustand.
Die Teilung des indischen Subkontinents hat viele Wunden gerissen, eine Million Menschen, die starben, sieben Millionen, die ihre Heimat aufgeben mußten. Kaschmir ist die eine Wunde, die sich nie zu schließen scheint, ausgerechnet Kaschmir, das Himmlische, dessen Gletscher, Seen und Wiesen leider nicht nur die Dichter und Reisenden verzückten. Seit dem vierzehnten Jahrhundert hatte das Tal fremde Herrscher, die es eroberten, ausbeuteten und gern auch verschacherten. Nach dem Rückzug der Briten 1947 fiel der größere Teil der Provinz trotz seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung an Indien, der Westen an Pakistan, ein Streifen im Nordosten später an China. Vor den Vereinten Nationen verpflichtete Indien sich auf ein Plebiszit, in dem die Kaschmiris selbst über ihr Schicksal entscheiden sollten. Dazu ist es jedoch nie gekommen, stattdessen zu drei Kriegen mit Pakistan. Immerhin gewährte Delhi der Provinz weitgehende Autonomie, doch nach einer Serie offenkundiger Fälschungen bei den Regionalwahlen brach 1989 ein bewaffneter Aufstand aus, der mittlerweile hunderttausend Menschen das Leben gekostet hat – bei einer Einwohnerzahl von fünf Millionen. Etwa sechshunderttausend Soldaten soll die indische Armee in der Provinz stationiert haben, die meisten im Kaschmir-Tal, das gerade einmal doppelt so groß ist wie das Saarland. Es gibt auf der ganzen Welt keine auch nur annährend vergleichbare Präsenz von Streitkräften. Soldaten stehen überall, in allen Städten, in allen Dörfern, auf den Überlandstraßen genauso wie auf den Nebenstraßen, den Hauptstraßen, den Gassen und sogar den Feldwegen, noch auf den Feldern selbst und natürlich auf der gegenüberliegenden Uferpromenade, alle fünfzig Meter einer. Für die Inder ist es ein Krieg gegen den Terror. Für die Bevölkerung ist es Besatzung.
Funklöcher unterbrechen jedes Telefonat in der Nähe einer militärischen Einrichtung, also auf einer Autofahrt alle drei Minuten. Ansonsten würde man, wenn nicht überall Soldaten stünden, tagsüber nicht merken, daß Srinagar sich im Krieg befindet. Ist das überhaupt noch Krieg? Die Armee selbst, die nicht dazu neigt, die Gefahr herunterzuspielen, gibt die Zahl der Aufständischen, die noch verblieben sind, mit etwa tausend an. Die Journalisten in Srinagar, die ich treffe, auch die indischen, gehen eher von einigen Dutzend Kämpfern aus, allenfalls zwei-, dreihundert, dazu eine unbestimmte Anzahl von Männern, die tagsüber ihrer Arbeit nachgehen und abends der Sabotage. Im Durchschnitt wohl einmal die Woche vermelden die Zeitungen ein Scharmützel oder einen Anschlag, häufig im letzten Augenblick vereitelt. Etwa ab acht Toten schicken die Nachrichtenagenturen eine Meldung raus. Darin ist von getöteten Extremisten die Rede, immer nur Extremisten, ob bei Reuter, AP oder CNN. Liest man die einheimische Presse, fällt auf, wieviele Extremisten Adreßbücher bei sich tragen, in denen die Namen der Komplizen und Hintermänner fein säuberlich aufgelistet sind. Einige Tage später berichten dieselben Zeitungen von einer Verhaftungswelle und daß den Sicherheitskräften ein bedeutender Schlag gegen den Terrorismus gelungen sei.
Die Menschen selbst, durchgängig alle Menschen, mit denen ich spreche, haben die Nase voll vom Krieg. Fed up ist der Ausdruck, den ich mit Abstand am häufigsten höre. Gut, Salamualeykum höre ich noch öfter, oder Aleykum salam, wann immer ich die Menschen mit dem islamischen Gruß überrascht habe. «Friede sei mit Ihnen», das hat in Kaschmir einen ganz eigenen Klang. Mit der Zeit wirkt es auf mich wie ein Flehen, was mehr ist als nur eine Einbildung, nämlich die Ahnung, daß auch dieser Gesprächspartner gleich versichern wird, nun wirklich genug zu haben vom Krieg, fed up, von den nächtlichen Durchsuchungen, den Ausweiskontrollen, den Straßensperren, fed up vor allem von der Willkür dieser fremden Soldaten, die fremd auch aussehen, dunklere Haut, fremde Sprache, fremde Religion, fremdes Essen, fremde Sitten, und mit ihren geladenen Maschinengewehren noch die Hühnerställe zu bewachen scheinen. Selbst an der Universität, vor einigen Jahren das Herz der Unabhängigkeitsbewegung, begegne ich niemandem, der noch bereit wäre zu kämpfen: fed up. Alle unterstützen die Forderung nach Selbstbestimmung, bekräftigt eine Anglistik-Professorin, die ungefähr so alt sein dürfte wie der indische Staat, also emeritiert – aber was ist am Tag danach? fragt sie ihre Studenten. Man müsse das vorher wissen: Niemand von euch hat mir darüber etwas gesagt. Werden andere Mächte intervenieren, die Nachbarn, China, die Vereinigten Staaten? Wird es ein Afghanistan werden? Was ist mit den Andersgläubigen, was mit den Frauen? Ein säkulares Kaschmir sieht sie nicht. Ein Blick auf die möglichen Führer des freien Kaschmir genügt ihr: Islamisten. Die Studenten schweigen. Einige haben eine Zeitschrift gegründet, die sich weitgehend auf die Probleme am Campus beschränkt. Darauf sei der ganze Widerstand geschrumpft, sagt einer der Redakteure, auf diese paar zusammengehefteten Seiten aus dem Kopierer. Das Examen ist wichtiger. Seht bloß zu, daß ihr euch nicht in die Politik einmischt, warnen die Eltern, von denen viele selbst noch gekämpft haben für Azadi, wie das Zauberwort 1989 auch in Kaschmir hieß: für die Freiheit.
Immerhin fanden 2002 regionale Wahlen statt, die einigermaßen sauber gewesen sein sollen. Die Koalition in Srinagar bemüht sich, die Menschenrechtsverletzungen der indischen Armee einzudämmen, und verlangt deren Rückkehr in die Kasernen. Aus der Altstadt mit ihren engen Gassen hat sich die Armee bereits zurückgezogen. So überrascht bin ich, dort keine Uniformen anzutreffen, daß ich Ausschau halte. Einzelne Soldaten entdecke ich. Das Maschinengewehr auf dem Rücken, gehen sie scheinbar sorglos umher, kaufen auch ein, verhandeln die Preise. Hingegen die indischen Touristen scheinen sich noch nicht in die Altstadt zu trauen, die mit ihren Häusern aus Stein und Holz so pittoresk ist, daß man jeden Augenblick eine Herde Japaner, eine Deutsche im Sari oder einen Amerikaner in Shorts erwartet. Teehäuser, Plätze, an denen man absichtslos verweilt, gehören seit dem Krieg allerdings nicht mehr zur kaschmirischen Kultur, dafür Moscheen, so gut frequentiert, wie ich sie nur in Kriegen antreffe.
Ja, die Inder sind zurückgekehrt, zu erkennen an der Kleidung, an den Fotoapparaten, an der dunkleren Hautfarbe. Auch auf meinem Hausboot hat eine indische Familie eingecheckt, ein Ingenieur aus Kalkutta mit Frau, Schwester und zwei Kindern. Der Ingenieur und ich stellen fest, daß wir fast auf den Tag gleich alt sind. Hey, darauf müssen wir anstoßen, findet er und bedauert, daß die Hausboote keinen Alkohol mehr ausschenken. Seine Ansichten sind genauso moderat wie die unserer Gastgeber, also unvereinbar. Kaschmir ist für den Ingenieur Bestandteil von Indien, an integral part, wie er betont, of course. Nein, in den Schulbüchern stehe nichts von dem Versprechen der indischen Staatsgründer, ein Plebiszit abzuhalten. Also wissen die Soldaten nichts davon? Nein, die nicht, man müsse studieren oder sich aus anderen Gründen mit der Geschichte beschäftigen, um das Anliegen der Kaschmiris nicht für absurd zu halten. Indien stecke Unsummen in Kaschmir. Für Tomaten bezahle er in Kalkutta doppelt so viel wie in Srinagar. Kaschmiris wollten Frieden, jedes Volk wolle Frieden – aber der Terrorismus … wenn der Terrorismus nicht wäre. Den heutigen Tag verbringt die indische Familie in Gulmarg, einem Ausflugsziel auf dreitausend Metern Höhe. Bis heute abend. Ja, bis heute abend.
Der Bootsherr, ein gebildeter, selbst abends frisch rasierter Mann von vielleicht fünfzig Jahren, weist mit einem Nicken auf ein weißes Gebäude am Ufer, ein ehemaliges Hotel, das die indische Armee als Kaserne beschlagnahmt hat. Vor ein paar Tagen sind dort zwei junge Leute erschossen worden, offiziell zwei Selbstmordattentäter, die eindringen wollten. Der Bootsherr sagt, daß die jungen Leute von der Armee nach Srinagar gebracht und hier hingerichtet worden seien. Keiner der Bootsführer und örtlichen Polizisten habe etwas von einem angeblichen Überfall mitbekommen. Auf den Photos in den Zeitungen, die der Bootsherr mir zeigt, sind die Gesichter entstellt, so daß man keinen Anhaltspunkt dafür hat, ob es Kaschmiris sind oder tatsächlich Ausländer, wie die Armee behauptet. Selbstmordattentäter seien es jedenfalls nicht, sondern Gefangene, ist der Bootsherr überzeugt. Die Regierung von Kaschmir übe Druck auf die Armee aus, die Hotels freizugeben und die Präsenz in der Stadt zu reduzieren. Die Armee lege ihre Art von Beweis vor, daß der Terrorismus den Staat weiter bedrohe.
Zwischen den Gästen und den Gastgebern bin ich beinah so etwas wie eine Schaltstelle, versuche mal für den einen, mal für den anderen Standpunkt Verständnis zu wecken. Sie selbst haben sich, obwohl keine unfreundlichen Töne zu hören sind, kaum mehr als die Essenszeiten zu sagen und die Frage, wo die Fernbedienung des Fernsehers liegt: Herren die einen, nicht als Inder über Kaschmiris, sondern als Gäste über Angestellte, vorurteilsfrei genug, die Ferien bei den Aufständischen zu verbringen; Diener die anderen, die sich darüber freuen, daß überhaupt wieder jemand auf ihren Hausbooten schläft.
Kaschmirische Politiker, die nicht in die Illegalität abgetaucht sind, leben in einem eigenen Viertel, durch Straßensperren getrennt von der Bevölkerung. Will man die Villen besuchen, in denen der indische Staat sie unterbringt, muß man mehrere Kontrollen passieren. Zumindest den bekannteren Politikern scheint jeweils eine ganze Hundertschaft Soldaten zugeordnet zu sein, die sich auf den parkähnlichen Grundstücken eingerichtet haben, das Gartenhäuschen als Kaserne, die Besenkammer als Dienstküche, die Pförtnerwohnung für den Offizier. So stilvoll die Villen von außen wirken, haben sie im Inneren den Charme möbliert vermieteter Appartements. Gewiß, für die gewöhnlichen Menschen gehören Politiker einer eigenen Kaste an, deren Loyalität der indische Staat reich entlohnt. In den Villen selbst ist der Eindruck ein anderer. Da wirken die Politiker eher verloren inmitten des Mobiliars, das ihnen nicht gehört, vor den Fenstern Soldaten, die eigene Stadt ein Gebiet, das sie kaum je betreten, sondern meist nur in der schwer bewaffneten Wagenkolonne durchfahren können.
Besonders einem Politiker, Yussof Tarigami, Vorsitzender der Kommunistischen Partei Kaschmirs, die die Regierungskoalition toleriert, nehme ich das Unwohlsein ab, sitzt auf dem Sofa wie sein eigener Gast, ein melancholischer Mann in den Fünfzigern, der mit dem Seitenscheitel und den etwas zu langen schwarzen Haaren auch als Kriminalkommissar in einem italienischen Spielfilm durchgehen könnte. Ich habe keine Wahl, sagt er. Vor zwei Jahren erst ist er einem Anschlag knapp entkommen, nicht dem ersten.
Über den Staat, der ihr Leben beschützt, haben die Politiker nicht viel Gutes zu erzählen. In den Villen höre ich die gleichen Berichte über willkürliche Verhaftungen, die dauernden Demütigungen, die Entfremdung von Indien. Die Gewalt sei rückläufig, meint Tarigami, aber nicht etwa, weil die Kaschmiris sich mit der Besatzung abgefunden hätten, sondern aus schierer Erschöpfung. Er selbst habe den bewaffneten Widerstand von vornherein für falsch gehalten und sich entschieden, den Kampf innerhalb der Institutionen zu führen. Daß er in dieser Villa lebe, ja, eingesperrt, das sei eben die Konsequenz daraus, im System geblieben zu sein. Auch er fordert Selbstbestimmung, weist aber darauf hin, daß der Bundesstaat nicht nur aus dem Kaschmir-Tal mit seiner weitgehend muslimischen Bevölkerung bestehe, sondern auch aus Jammu, wo die Mehrheit hinduistisch ist, und Ladakh mit seinen vielen Buddhisten. Was wäre mit ihnen, würde Kaschmir an Pakistan fallen? fragt Tarigami mich wie am Vortag die Anglistin ihre Studenten. Unabhängigkeit klinge gut, ein säkularer, multikultureller Staat sei indes vollkommen unrealistisch angesichts dreier Riesen als Nachbarn, Indien, Pakistan, China, von denen keiner auf seinen Anteil an Kaschmir verzichten würde. Es gibt keine perfekte Lösung, seufzt Tarigami, um den Plan eines weitgehend autonomen Kaschmirs zu skizzieren, das nicht formell unabhängig ist, mit offenen Grenzen zum pakistanischen Teil und regionaler Selbstverwaltung in den drei Provinzen Jammu, Kaschmir und Ladakh. Nichts anderes haben der indische Ministerpräsident Atal Behari Vajpayee und der pakistanische Präsident Perveez Musharraf bereits 2003 vorgeschlagen. Auch Vajpayees Nachfolger, Mahmohan Singh, hat sich 2005 in diesem Sinne geäußert: Die Grenzen sollten nicht aufgehoben, aber irrelevant gemacht werden.
– Alles, was wir tun können, ist Druck auszuüben, mit friedlichen Mitteln, damit Indien und Pakistan endlich tun, worüber sie sich im Kern schon längst einig sind, erklärt Tarigami. Wir müssen die öffentliche Meinung in Indien und Pakistan auf unsere Seite ziehen. Wir müssen zeigen: Frieden ist möglich!
Zu den Paradoxien Srinagars gehört, daß es leichter ist, die Führer des Widerstands zu treffen als Politiker in Amt und Würden oder gar Vertreter des Militärs. Man klingelt einfach, und manchmal ist es der Führer selbst, der die Tür öffnet zu seinem Haus, das, bescheidender zwar, dafür ihm selbst gehört. Noch verwirrender ist allerdings, daß die Widerständler im Prinzip genau das gleiche verlangen wie die Regierungspolitiker: Autonomie, offene Grenzen, Rückzug der Armee – nichts anderes skizziert der Hodschatoleslam Abbas Ansari als Lösung.
Als Führer der schiitischen Minderheit gehört der Geistliche zu den Sprechern der Hurriyat-Konferenz, der Dachorganisation der verschiedenen Widerstandsgruppen. Die Anglistin meinte gestern auch Politiker wie ihn, wenn sie vor Islamisten warnte; er selbst versichert, die Theokratie abzulehnen. Die Fersen im Schneidersitz bis an die Beckenknochen hochgezogen, ein verschmitztes Lachen unter dem weißen Turban, bewegt er ohne Unterlaß die Hände, als begänne gleich etwas Spannendes, ein Spiel oder eine Partie, ein Coup oder eine Revolution. Vielleicht weil das Gespräch auf Persisch stattfindet, schildert er in erstaunlicher Offenheit die Streitigkeiten innerhalb des Widerstands. Alle wüßten, daß der bewaffnete Kampf vorbei sei. Man müsse verhandeln, um vielleicht nicht bei den nächsten, dann aber bei den übernächsten Wahlen anzutreten. Die Extremisten seien gar nicht so extrem, sondern nur beleidigt, daß niemand sie an den Tisch gebeten habe. Mach sie zum Minister, und du hast sie auf deiner Seite.
– Die Menschen sagen, daß sie von ihren Führern verkauft worden sind, bemerke ich und betone: von allen Führern.
– Die Menschen haben recht, erwidert Ansari.
– Das bedeutet, daß sie auch von Ihnen verkauft worden sind.
– Ja.
– Es heißt, daß die Führer des Widerstands das Geld von beiden Seiten empfangen haben.
– Stimmt. Wir Führer Kaschmirs haben alle miteinander versagt.
– Sie auch? frage ich.
Da schaut der Geistliche zur Decke, als überlasse er die Antwort Gott.
Wenn in Palästina und Israel eine knappe Mehrheit weiß, worauf der Frieden hinausläuft, wissen es in diesem Konflikt alle Beteiligten, die Menschen, die Politiker, die Soldaten, das Ausland – aber geschehen ist seit Jahren nichts, es gibt keine weiteren Gespräche, keine Friedenskonferenzen, seit der neuen indisch-amerikanischen Allianz auch keinen internationalen Druck mehr auf Delhi und Islamabad. Das war in den neunziger Jahren anders, als der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton Kaschmir wegen der indischen und pakistanischen Atombomben den gefährlichsten Konflikt der Welt nannte. Heute ist Indien außenpolitisch zu stark, um Kompromisse eingehen zu müssen, und die pakistanische Regierung innenpolitisch zu schwach, um welche eingehen zu können. So reduziert sich der Frieden bisher auf einen Bus, der einmal die Woche zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil Kaschmirs verkehrt.
Schließlich treffe ich doch noch einen Führer, der am bewaffneten Kampf und dem Ziel eines islamischen Staates festhält. Zufall oder nicht – Seyyid Geelani ist mit Abstand der charismatischste Politiker, den Kaschmir zu bieten hat, ein alter, eleganter Mann mit schneeweißem Bart, die Wangen und bis auf einen dünnen Streifen auch die Oberlippe rasiert. Mit der viereckigen Stoffmütze erscheint das Gesicht noch schmaler. Müde Augen, leise Stimme, gutes Englisch, klare Artikulation. Zwei Tage zuvor wurde er mit Gewalt daran gehindert, das Freitagsgebet zu leiten – nicht etwa von der Armee, sondern von Kaschmiris, genau gesagt von den Anhängern einer rivalisierenden Widerstandsgruppe, die von der Forderung nach einem Plebiszit abgerückt ist. Vielleicht weil ihm die Demütigung noch in den Knochen steckt, umarmt er mich, der ich als Berichterstatter dennoch nach seiner Meinung frage, ein paar Sekunden länger als üblich und still. Als er meint, mich frieren zu sehen, bringt er mir, obwohl er einen Diener rufen könnte, aus dem Nebenraum eigenhändig eine schwere Wolldecke, sich selbst ebenfalls. So sitzen wir uns eingemummelt gegenüber.
Ich verstehe Seyyed Geelanis Standpunkt völlig, den Wunsch nach Selbstbestimmung, den er gut begründet, mit gleichbleibender Ruhe und Bestimmtheit. Ausführlich schildert er die Greueltaten der indischen Armee, insbesondere die Vergewaltigungen, die Zwölfjährige vor der Mutter, danach die Mutter vor der Zwölfjährigen, und so weiter. Das Problem ist, daß er leider nicht übertreibt, allenfalls ignoriert, daß die Zahl der Übergriffe rückläufig zu sein scheint. Die Berichte, wonach die Aufständischen ebenfalls für Mißhandlungen und Morde verantwortlich sind, verwirft er als indische Propaganda. Daß er für den Anschluß Kaschmirs an Pakistan eintritt, halte ich auf der Grundlage meiner eigenen Kenntnis Pakistans, mit Verlaub, für keine so gute Idee, ohne es direkt zu formulieren. Geelani strahlt eine solche Würde aus, daß man als Jüngerer nicht gern offen widerspricht. Die Pakistanis selbst seien doch von der Forderung nach einem Plebiszit abgerückt, wende ich schließlich ein. Als ob die Pakistanis etwas zu sagen hätten, wehrt Geelani meinen Einwand ab. Nicht die Pakistanis seien vom Plebiszit abgerückt, sondern Perveez Musharraf: Wieder einmal sei Kaschmir verraten worden.
Verräterin? Auf die Frage, ob sie sich als Inderin bezeichne, antwortet Mehbooba Mufti ohne zu zögern: Ja, natürlich bin ich Inderin. Ich bin Kaschmiri und Inderin. Wenn in den vergangenen Jahren überhaupt einmal ein westliches Fernsehteam den Weg nach Kaschmir fand, porträtierte es Mehbooba Mufti gern als Hoffnungsgestalt: eine Frau in mittleren Jahren, geschieden, die als Vorsitzende der demokratischen Volkspartei ihre Landsleute beschwört, von den Waffen zu lassen, und zugleich ihre Stimme gegen die Verbrechen der indischen Armee erhebt, eine muslimische Jeanne d’Arc der Diplomatie, religiös und feministisch. Bei den letzten Wahlen hat sie viele Kaschmiris überzeugt, an die Urnen zu gehen, und ihre Partei aus dem Stand in die Regierungskoalition geführt. Als ich sie in ihrer Villa aufsuche, ist sie viel mehr Politikerin, als ich nach den Berichten angenommen hatte, wie vorformuliert die Antworten, nicht weil sie unglaubwürdig wirken, sondern weil mir keine Fragen gelingen, die sie nicht vielfach schon beantwortet hat. Daß sie überlegt, die Koalition zu verlassen, weil die Landesregierung nicht genügend Druck ausübe auf die Armee und die Regierenden in Delhi, hat immerhin den Wert einer Lokalmeldung, wie ich später erfahre. Es sei doch auffällig, spielt auch Mehbooba Mufti auf die sogenannten faked encounters an, die fingierten Zusammenstöße, daß sich immer gerade dann ein terroristischer Anschlag ereigne, wenn der Ruf nach dem Rückzug der Soldaten lauter werde.
In ihrem Ambassador – der indischen Limousine, die man aus Agatha-Christie-Filmen kennt – und mit vierzehn Militärfahrzeugen Begleitung nimmt sie mich am nächsten Tag mit auf eine Tour durch die Dörfer ihres Wahlbezirks. Meinte sie gestern, daß die kaschmirische Polizei längst in der Lage sei, für die innere Sicherheit zu sorgen, gesteht sie heute ein, nicht auf die indischen Soldaten verzichten zu können, die sie bewachen. Die Reiseroute, vor allem aber die spontanen Abzweigungen und Pausen, die sie anordnet, sind ein Albtraum für ihre Bodyguards, denen der Frust und die Anspannung ins Gesicht geschrieben stehen. Ob es eine Show ist für den ausländischen Berichterstatter? Wahlen gewinnt sie, indem sie hier einen Brunnen, dort einen Friedhofzaun finanziert, sich die Klagen über den verhafteten Sohn, den mißhandelten Vater anhört, Namen aufschreibt, sich zu kümmern verspricht. Wenn alle Vertreter des Establishments Wahlkampf auf Feldwegen betrieben, hätte das Land ein paar Brunnen mehr und ein paar Folterer weniger, geht mir durch den Kopf. Die Menschen entlang der Straßen und Feldwege reagieren freundlich auf die Staatskarosse.
– Was hat denn der ganze Aufstand gebracht?, fragt Mehbooba Mufti und zeigt Anzeichen von Erregung: daß wir heute glücklich wären, wenn wir wieder die Autonomie hätten, die es bis vor dem Aufstand gab.
Kaschmir lehrt nicht nur, wie weit Demokratien gehen können. Erschreckender ist vielleicht noch, wie weit sie kommen, wenn sie einmal den Ausnahmezustand erklärt haben. Ein Soldat auf zehn Einwohner und äußerste Härte – das reicht, um selbst der widerspenstigen Bevölkerung das Rückgrat zu brechen. Als ich auf halber Wegstrecke aussteige, um mit meinem eigenen Fahrer nach Srinagar zurückzukehren, weist mich Mehbooba Mufti auf einen nahe gelegenen Schrein hin, das Grab eines Mystikers.
– Soll ich dort für Sie beten? frage ich.
– Nein, beten Sie für Kaschmir.
Weil die Stadt tagsüber so normal wirkt, dauert es ein paar Tage, bis ich begreife, warum sich niemand am Abend mit mir verabreden möchte. Wenn man ein Auto besitzt, kann man noch durch die leeren, unbeleuchteten Straßen fahren, zu einem Bekannten oder zu einem der vornehmeren Restaurants, die bis neun oder allenfalls halb zehn geöffnet sind. Wahrscheinlich würde man danach noch eine Bar finden, wenn man reich genug ist, die teuren Drinks zu bezahlen. Aber ein Taxi ist nach acht nicht mehr aufzutreiben, nach neun nicht einmal mehr eine Rikscha. Selbst Faroq, mein eigener Fahrer, der mich wie seinen persönlichen Staatsgast umhegt, läßt sich nicht überreden, nicht einmal für den doppelten Fahrpreis. Wenn überhaupt, müßte ich ihn um einen Gefallen bitten, aber dann nähme er überhaupt kein Geld. Einmal setzt mich Faroq um sieben in der Stadt ab, weil ich noch jemanden besuche. Die bringen mich schon zum Hausboot, beruhige ich ihn. Den Gastgebern gegenüber behaupte ich, daß draußen mein Fahrer warte, damit sie mich nicht selbst fahren. Irgendeine Rikscha findet man immer, sage ich mir. Als ich die nächsten zwei Stunden durch die Stadt laufe, ist mir dann doch so unheimlich wie auf einem Minenfeld. Nicht einmal die Soldaten sind noch zu sehen, auch an den Checkpoints nicht. Um diese Zeit sind nur noch Geister in der Stadt, sagt nervös der Fährmann, der am Steg gewartet hat, um mich zum Hausboot überzusetzen. Außer mit Jacke und Pullover wärme ich mich dort mit dem süßen Jasmintee, den der Bootsherr wie jeden Abend vor dem Schlafengehen in einer Thermoskanne bringt.
Eine weitere indische Familie ist gestern abend eingetroffen, dem Lärm nach, der mich lange nicht schlafen ließ, etwa in der gleichen Zusammensetzung wie die Familie des Ingenieurs aus Kalkutta: ein Mann, Frauen, weinende, übermüdete Kinder, vielleicht auch nur ein Kind. Der Mann, der gerade aufs Deck getreten ist, sprach mich vorhin auf Hindi an und war konsterniert, daß ich nicht zum Personal gehöre. Ich weiß nicht, ob er kein Englisch spricht oder mit mir nicht sprechen möchte. Dafür grüßt mich gerade die Frau des Ingenieurs. Ansonsten scheinen indische Frauen der Mittelklasse nicht die Angewohnheit zu haben, vom ersten Tag an auf den Gruß eines männlichen Zimmernachbarn einzugehen. Vielleicht aus Mitleid hat sie mir zum ersten Mal zugenickt, als ich beim Abendessen allein vor dem Huhn mit Tomate saß – Alleinsein scheint hier nur den Heiligen zumutbar zu sein –, hat gelächelt sogar, heute morgen auch die große Tochter, die größer ist als ich, pummelig, und aussieht wie siebzehn, keine Umstände, die es einer Dreizehnjährigen leichter machen. Wenn sie aufs Boot zurückkehrt, schaltet sie den Fernseher ein, noch bevor sie aufs Zimmer geht, Quizsendungen meistens. Gestern abend verfolgte ich in meiner Idylle auf dem Dal-Kanal frierend und mit einem Auge die Fernsehserie um einen Jüngling, der sich bislang vergeblich um eine Schöne bemüht, aber heute kommt die Fortsetzung.
Fahrt nach Sokkur im Westen Kaschmirs, von wo Ahad Baba, einer von Kaschmirs hochverehrten närrischen Heiligen, den ich besuchen möchte, gerade nach Srinagar abgereist ist. Er hatte so eine Eingebung, wird mir achselzuckend erklärt, als könne Ahad Baba morgen auch die Idee kommen, nach New York zu fliegen. Faroq, der Fahrer, schlägt vor, mich zum Schrein des mittelalterlichen Mystikers Baba Schukur-e Din zu bringen, damit wir nicht umsonst zwei Stunden gefahren sind. Daß die Islamisten sich nicht durchgesetzt haben, liegt nicht nur an der Übermacht und Brutalität der indischen Armee. Es liegt auch daran, daß die meisten Kaschmiris an ihrem traditionellen, mystisch geprägten Glauben festhalten. Anders als in Afghanistan, Iran oder manchen Gegenden Pakistans hat sich der Sufismus in Kaschmir gegen die neue Ideologie behauptet.
Der Schrein liegt auf einem einzelnen Berg, der als Vorsprung des Himalaya in den Wularsee ragt, den höchstgelegenen See Südasiens. Auf dem Gipfel kommt alles zusammen, was Kaschmirs Kultur und Anziehung ausmacht, ein gewaltiges Erleben der Natur und der Religion, unterhalb des Schreins die riesige Wasserfläche wie ein grünblaues Ölgemälde, im Tal die prallen Wiesen und Wälder, ringsum die Gletscher, aus dem Schrein der Gesang eines berückend traurigen Chors.
Anderen Gläubigen folgend, trete ich zunächst in eine kleine Moschee etwas abseits des eigentlichen Heiligtums. Als ich nach dem Gebet herauskomme, singt der Chor nicht mehr. Ich gehe in den Schrein und bin verblüfft, keine Gruppe vorzufinden, die vorhin noch gesungen haben könnte. Nur ein junger Mann trägt in leisem Singsang etwas aus einem Diwan oder einem Gebetsbuch vor. In der schmucklosen Halle befinden sich vor allem junge Leute, die Jungen mit modischen Frisuren, die Mädchen in ihren bunten Saris, das Halstuch über den Kopf gelegt, jeder und jede für sich im Gebet, auch Kinder, einige Greise und Greisinnen in unterschiedlichen Positionen, manche stehend, manche sitzend, manche hockend, zwei beim Ritualgebet. Andere Stimmen erheben sich, mischen sich in den Singsang, überall im Raum. Und plötzlich ist der Chor wieder da.
Die auch für östliche Verhältnisse umwerfende Herzlichkeit aller Kaschmiris, mit denen ich näher zu tun habe, wird von den abweisenden oder jedenfalls skeptischen Blicken kontrastiert, die mir auf der Straße begegnen. Ob man mich für einen Inder hält? In den Moscheen werden die Blicke nicht einladender, vielleicht weil am meisten die Überläufer gefürchtet werden. Kaschmiris, sagte der Bootsherr, als er heute morgen den Jasmintee brachte, Kaschmiris erkennen sich, wo immer sie sich treffen, ob Hindus oder Muslime, und wenn Sie sich in der Ferne treffen, dann weinen sie, während sie sich umarmen.
Eingeschüchtert durch Drohungen, Brandstiftungen und mehrere hundert Morde islamischer Extremisten, die den ursprünglich nationalen Aufstand mehr und mehr kaperten, haben im Laufe der neunziger Jahre fast alle Pandits, wie sich die kaschmirischen Hindus nennen, das Kaschmirtal verlassen, etwa sechshunderttausend Menschen. Der Ingenieur aus Kalkutta meint, daß die Pandits nicht von einzelnen fanatischen Gruppen in die Flucht geschlagen worden seien, sondern von den Massen. Der Bootsherr hingegen beteuert, daß die indische Armee einigen Terroristen ausdrücklich erlaubt habe, die Pandits in Angst und Schrecken zu versetzen, damit die Muslime als Barbaren dastünden. Was der Bootsherr dann sagt, würde der Ingenieur nicht bestreiten:
– Wir haben in den achtzehn Jahren nicht nur hunderttausend Menschenleben verloren, nicht nur unsere Wirtschaft ruiniert und eine Generation herangezogen, die nichts anderes als Krieg kennt. Wir haben unser Ansehen verloren, unsere Würde. Die Welt hält uns für Taliban.
– Nein, so ist es nun auch wieder nicht, sage ich und verschweige den Grund: daß die Welt sich überhaupt nicht um Kaschmir kümmert, sich allenfalls noch dunkel an die Enthauptung eines westlichen Touristen erinnert.
– Dann rangieren wir eben knapp hinter den Taliban, meint der Bootsherr.
Als es zu den Übergriffen kam, habe er oft bei seinen hinduistischen Freunden übernachtet, um sie zu schützen, nicht nur er. Jetzt würde er sie am Telefon zur Rückkehr drängen. Die Pandits hätten in der Regel die bessere Ausbildung, sagt der Bootsherr, die Kaschmiris bräuchten sie, vor allem in den Schulen, wo jetzt die Lehrer fehlten. Der Ingenieur findet, daß sich das Drängen der Kaschmiris in Grenzen halte, und verweist darauf, daß sich noch kein muslimischer Führer öffentlich für die Vertreibung entschuldigt habe.
– Das stimmt, antwortet der Bootsherr auf den Einwand, den ich mir zu eigen mache, aber bei sechshunderttausend indischen Soldaten, die uns alle Knochen gebrochen haben, ist es vielleicht zu viel verlangt, daß wir öffentlichkeitswirksam Abbitte leisten und Demonstrationen abhalten für die Rückkehr der Pandits.
Auf die Brutalität der Armee angesprochen, die er nicht rundweg bestreitet, verweist der Ingenieur aus Kalkutta jedesmal auf die Vertreibung der Pandits. Gleichzeitig beteuert er, daß es eigentlich keinen Haß zwischen Hindus und Muslimen, Indern und Kaschmiris gebe, und fragt, wie es eigentlich im Nahen Osten sei. Ich antworte, daß ein Israeli nicht ohne weiteres allein durch Hebron oder ein Palästinenser durch eine israelische Siedlung spazieren könne. Und in Deutschland? Der Ingenieur kennt natürlich die Berichte von verprügelten Ausländern, darunter Indern. Auch in Deutschland gebe es Orte, sage ich, die jemand mit dunkler Hautfarbe besser meide. Das sei in Kaschmir unvorstellbar, wundert sich der Ingenieur. In Kaschmir könne jeder Inder hingehen, wo er wolle, ohne die geringsten Schwierigkeiten zu haben oder sich um seine Sicherheit zu sorgen. Er selbst sei nirgends freundlicher aufgenommen worden.
Der Hausherr gibt mir den Reiseberichts eines Engländers aus dem 19. Jahrhundert zu lesen, der die Ausbeutung der Muslime durch die Pandits schildert und an die britische Kolonialverwaltung appelliert, endlich einzugreifen: «Everywhere the people are in the most abject condition.» Es werden nicht nur ein paar militante Gruppen gewesen sein, die das asienübliche Wir-sind-alle-Brüder mehr im Sinne Kains auslegten.
In der Luft des Mattin Suriyat Tempels liegt Frieden, wirklicher Frieden: Sikhs, die an der Tempelwand Kricket spielen, muslimische Alte, die sich auf der Wiese räkeln, ein paar ältere Pandits, die mir einen Stuhl anbieten. Weder die indische Regierung noch die Lokalregierung in Kaschmir tue etwas, um die Vertriebenen zurückzuholen oder sie wenigstens zu entschädigen, beklagen sie und lassen asienüblich nichts auf ihre muslimischen Nachbarn kommen. Von den zwei Toten, die sie hier im Dorf hatten, war ja einer selbst Muslim, sagen die Pandits, der Wächter des Tempels, den die auswärtigen Kämpfer für einen Hindu gehalten hätten. Zwei Frauen sehe ich, die mit den Händen im großen Wasserbecken spielen, die Jüngere von himmlischer Schönheit, wie man sie in Märchen geschildert bekommt. Sekundenverliebt, sie oder tot, frage ich die beiden, ob sie hier wohnen – ja – und wie das Leben für sie jetzt ist – gut. Es klingt ehrlich, und so freue ich mich, daß auch jüngere Pandits in Kaschmir anzutreffen sind, bis sich herausstellt, daß die Frauen Musliminnen sind. Für das Foto zieht die Himmlische leider das Tuch über den Kopf, als ob sie sich in dem Becken mit allen Märchenwassern gewaschen hätte. Von fünfhundert Hindu-Familien, die einst hier lebten, sind dreizehn geblieben, und fast nur die Alten unter ihnen. Rings um den Tempel abgebrannte Häuser, leerstehende Häuser, an einem Fluß Verkaufsstände für Ausflügler. Die Farben der Süßspeisen, die Farben der herbstlichen Wälder, die Farben der Felder und Wiesen, die Farben der Saris – man muß nicht überlegen, welche Farbtöne man sieht. Man muß lange hinschauen, bis man herausfindet, welchen Ton die Frauen meiden, nämlich nur grau. Ansonsten tragen sie sämtliche Grund- und Mischfarben in allen erdenklichen Kombinationen, außerdem gelegentlich Schwarz oder Weiß, und bei aller Vielfalt immer harmonisch wie durch einen Automatismus.
Ich fahre weiter nach Osten, durch Dörfer mit engen Gassen und Steinhäusern, die mehr nach Schweiz als nach Südasien aussehen. Die extreme Armut, sonst in Indien allgegenwärtig, scheint es in Kaschmir nicht zu geben. Die Familien besitzen Land. Aufgrund seiner Autonomie ist Kaschmir der einzige Bundesstaat Indiens, der nach der Unabhängigkeit die Bodenreform durchsetzen konnte. Hinzu kommt das Geld, das Indien und Pakistan während des Krieges nach Kaschmir pumpten, um die Führer des Widerstands entweder zu stärken oder zu kaufen. In den neuen Villen sitzen die alten Warlords.
Im Wahlbezirk Mehbooba Muftis, durch den ich vorgestern in der Staatskarosse fuhr, treffe ich die Menschen, die niemals winken würden: Gespräch mit dem Filialleiter einer Bank, der auf die Inder schimpft, die seine Bank bewachen, und sich das islamische Reich herbeiwünscht, neben ihm seine unverschleierte Angestellte, die die Augen verdreht. Der Kampf sei noch lange nicht zu Ende, nur unbewaffnet jetzt eben, aber keinesfalls an Wahlurnen zu gewinnen, die die Inder bereitstellen. Am Ende wäre der Filialleiter aber mit dem gleichen zufrieden wie die Anglistik-Professorin, der Kommunist Tarigami, die Widerstandsgruppen und fast alle Parteien nicht nur in Kaschmir, sondern auch in Pakistan und Indien: Autonomie und offene Grenzen. Das ist mir schon auf vielen Reisen aufgefallen: Die Konflikte, die so hoffnungslos kompliziert erscheinen wie zwischen Israel und Palästina oder in Afghanistan, sind die Ausnahme. Die meisten Konflikte, etwa in Aceh, in Tschetschenien oder eben auch in Kaschmir, wären lösbar, die Bereitschaft zum Kompromiß hat sich längst eingestellt – es müßte sich nur jemand dafür interessieren, Druck ausüben auf die Akteure, wie es nach dem Tsunami tatsächlich in Aceh geschah, als innerhalb von Monaten Friedensverhandlungen nicht nur begonnen, sondern zum Abschluß geführt wurden.
Samir und Riaz, beide Akademiker, Mitte dreißig und Väter, Informatiker der eine, Angestellter der andere, zeigen mir ihre Kleinstadt, in der keine Häuserwand steht ohne Einschläge von Geschoßgarben. In der Gegend hier lag das Zentrum des Aufstands. Am Rande eines Fußballplatzes setzen wir uns auf die Wiese. Samir hat früher in der U 19 von Kaschmir mitgespielt. Was die Armee alles getan hat – Durchsuchungen, Erschießungen, Vergewaltigungen, die immer gleichen Berichte; jeder hat hier eine Schwester, einen Vater, einen Sohn, den es getroffen hat. Samir zeigt mir seine Narben. Aber es stimme, jetzt bemühten sich die Inder, Vertrauen zurückzugewinnen, auch die Armee selbst. Die Regierung habe ein paar Entwicklungsprogramme aufgelegt, soziale Einrichtungen eröffnet, ein wenig Geld in die Schulen investiert.
– Aber wenn jemand drei Söhne durch Armeekugeln verloren hat, wird er den Indern nicht mehr vertrauen, meint Samir.
Er habe die Hoffnung auf Freiheit nicht aufgegeben, doch müsse man schließlich auch leben, die Kinder ernähren. Hätten sich Anfang der neunziger Jahre alle jungen Leute der Stadt für den Widerstand engagiert, so seien es heute nur noch fünf Prozent. Sein Freund Riaz hält selbst diese Zahl für übertrieben:
– Hier wollen hundert Prozent der Leute nur noch Frieden.
– Vielleicht wird es der nächsten Generation gelingen, die Freiheit zu erlangen, hofft Samir, aber Riaz fragt:
– Willst du etwa deinen Sohn kämpfen sehen?
In der Abenddämmerung nimmt Samir mich in sein Dorf mit, einst eine Festung der Islamisten. Besuch beim Ältesten, einem Greis mit Stoffmütze und weißem Rauschebart, Wangen und Oberlippe rasiert wie bei einem ostfriesischen Fischer, der so liebenswürdig ist wie der Weihnachtsmann und als einziger an diesem langen Tag dem bewaffneten Widerstand noch das Wort redet. Kalifat und Demokratie wünscht er sich, so ähnlich wie in Saudi-Arabien.
– Aber in Saudi-Arabien gibt es doch kein Kalifat und schon gar keine Demokratie, bemerke ich.
– Ja, also nicht ganz wie in Saudi-Arabien, so ähnlich.
Sein Islambild sieht für die Frauen die Burka vor, die in seinem Dorf keine einzige Frau trägt, nicht einmal ein Kopftuch, nicht einmal die Frauen in seinem eigenen Haus, die mich anders als meine indischen Zimmernachbarinnen auf dem Hausboot mit einem freundlichen Lächeln begrüßen.
Die beiden Frauen nebenan quatschen und quatschen. Den Übergang zum Luftholen stelle ich mir bei ihnen wie beim Staffellauf vor, so, daß immer jemand redet. Zwischen den Sätzen haben sie jedenfalls keine Zeit zu atmen. Laut sind sie nicht, aber eben auch nicht so melodiös wie ein Wasserfall. Worüber reden sie nur? schimpfe ich in Gedanken: Was haben sie denn heute schon erlebt, Ausflug mit Kindern und einem wortkargen Mann zu einem der Moghul-Gärten, Fahrt mit der Schikara. Viel würde ich geben für eine fünfminütige Simultanübersetzung.
Am 18. August 1990 übernachtete Jawed Ahmad Ahangir, Schüler der zehnten Klasse, bei seinem Cousin in der Stadt, mit dem er für das Examen lernte. Gegen drei schlugen Soldaten an die Tür und riefen: Jawed, ist hier ein Jawed? Der Onkel öffnete das Fenster, auch Jawed Ahmad schaute hinaus: Ich bin Jawed. Soldaten zerrten ihn aus dem Fenster und schlugen auf ihn ein. Umsonst die Schwüre der Familie, daß der Junge nichts mit dem militanten Widerstand zu tun habe, ohnehin viel zu jung sei und vor dem Examen stünde. Später stellte sich heraus, daß im Nachbarhaus ein Militanter namens Jawed Ahmad Batt wohnte. Parweena Ahangir hat ihren Sohn nie wiedergesehen.
Mit ihrem Mann, einem einfachen Bauern, zog sie von Kaserne zu Wache, von Wache zu Behörde, von Behörde zu Ministerium. Einmal hieß es tatsächlich, Jawed Ahmad sei festgenommen worden und liege derzeit in einem Militärkrankenhaus. Erfolglos fragte sich Parweena Ahangir von Krankenhaus zu Krankenhaus durch. 1994 gründete sie mit anderen Angehörigen vermißter Söhne eine Selbsthilfegruppe, der heute sechshundert Familien angehören. Das ist keine fancy NGO mit Computern und jungen, englischsprachigen Aktivisten, die wissen, wie man Öffentlichkeit und Gelder – manchmal nur Gelder – akquiriert. An den Ausläufern Srinagars, kurz vor dem Flughafen, ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer in einem heruntergekommenen Hinterhaus, die Wände vor einer Ewigkeit giftgrün gestrichen, bis auf einen Schreibtisch aus Metall und ein paar Stühle keine Möbel – dort sitzt Parweena Ahangir, von dort arbeitet sie, wie sie sagt, vierundzwanzig Stunden am Tag daran, ihren und die anderen Söhne zu finden, die der Krieg verloren hat, eine so traurige wie entschlossene Frau, die unter ihrem gelben Kopftuch älter aussieht als ihre fünfundvierzig Jahre. Mal wurde ihnen eine Million Rupien angeboten, etwa achtzehntausend Euro, falls sie ihre Kampagne aufgäben, mal sechshunderttausend plus eine Anstellung, mal vom Militär, mal vom Bundesstaat. Manche Familien sind darauf eingegangen.