Drei Frauen, deren Schicksal unwiderruflich miteinander verknüpft ist, die Feindinnen werden könnten und am Ende ein prekäres Bündnis des Überlebens schließen – die neun Jahre alte Deqo, die aus dem Flüchtlingslager, in dem sie geboren ist, in die Stadt flieht; Kawsar, eine einsame Witwe, die um ihre Tochter trauert und an ihr Bett gefesselt ist, und Filsan, eine junge Soldatin, die mithelfen soll, den Aufstand zu unterdrücken. In ihrem Roman «Der Garten der verlorenen Seelen» erzählt die britische Autorin Nadifa Mohamed eine Geschichte aus Somalia Ende der Achtzigerjahre, einem Land kurz vor dem Bürgerkrieg. Innig, offen, voll Schönheit und gelegentlich wilder Liebe erzählt sie von gewöhnlichen Leben in außergewöhnlichen Zeiten. Wir sehen und hören, riechen und spüren das Land, eine fremde Welt, und fühlen uns doch erinnert an die Geschichte anderer zerfallener, zerstörter Staaten, an den Libanon, Jugoslawien, Syrien. Und wie überall sind es die Netzwerke der Frauen, die ein Weiterleben ermöglichen.
Nadifa Mohamed, geboren 1981 in Hargeisa, Somalia, kam als Kind mit ihrer Familie nach London und studierte in Oxford Geschichte und Politik. 2010 erschien ihr Roman «Black Mamba Boy», der auf der Longlist des Orange Prize for Fiction stand und auf der Shortlist des Guardian First Book Award, des Dylan Thomas Award, des John Llewellyn Rhys Prize, des PEN/Open Book Award und den Betty Trask Award gewann. Nadifa Mohamed gehört mit einem Auszug aus «The Orchard of Lost Souls» zu den 20 «Best of Young British Novelists» der renommierten englischen Zeitschrift «Granta».
Susann Urban ist, nach einem Studium der Germanistik und der Arbeit als Buchhändlerin, als freie Übersetzerin und Lektorin tätig. Für C.H.Beck übersetzte sie zusammen mit Ilija Trojanow den Roman «Letzter Mann im Turm» von Aravind Adiga (2011). Zuletzt erschien ihre Übersetzung von Nuruddin Farahs Roman «Gekapert».
NADIFA MOHAMED
Roman
Aus dem Englischen von
Susann Urban
C.H.BECK
Titel der englischen Originalausgabe:
«The Orchard of Lost Souls», Simon & Schuster UK, London, 2013
© 2013 Nadifa Mohamed
Für die deutsche Ausgabe:
1. Auflage. 2014
© Verlag C.H.Beck 2014
Titel der englischen Originalausgabe: The Orchard of Lost Souls,© Nadifa Mohamed 2013
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typographie, Conny Hepting
Umschlagabbildung: © haya_p/Getty Images
ISBN Buch 978 3 406 66313 0
ISBN eBook 978 3 406 66314 7
Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website
www.chbeck.de.
Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
Für Hooyo, Aabbo und Abtiyo Kildi
Wenn die erste Frau, die Gott je schuf,
stark genug war,
ganz allein die Welt auf den Kopf zu stellen,
sollten doch alle Frauen zusammen es fertigbringen,
sie wieder auf die Beine zu stellen.
«Ain’t I a Woman?» – Sojourner Truth
Fünf Uhr morgens. Zu früh, um etwas zu essen. Kaum Licht, vielleicht gerade genug, um einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden zu können. Doch im Bad wäscht sich Kawsar am Waschbecken bereits das Gesicht, fährt sich mit einem caday, einem Zahnputzhölzchen, über die Zähne und schlüpft in die Tracht, ohne einen Tropfen Petroleum zu verschwenden. Sie tastet sich in den Unterrock und das rote Etuikleid, zwängt dicke Bernsteinreifen über beide Ellbogen und streicht über ihren schlaffen Brüsten eine schwere Silberkette glatt, ordnet auf ihrem schmalen Bett Laken und Decke. Sie trinkt das Glas Wasser aus, das auf dem Nachttisch steht, und schüttelt ihre Ledersandalen aus, für den Fall, dass in der Nacht Spinnen oder Skorpione darin Zuflucht gesucht haben, ehe sie schließlich die Tür zwischen Wohnraum und Küche verschließt. Der Tag wird lang werden, und sie sollte sich zu einem kleinen Frühstück zwingen, aber ihr Magen fühlt sich an wie eine geballte Faust. Mit Sandalen an den Füßen und einem langen Umschlagtuch um die Schultern öffnet Kawsar die Haustür und sieht im Hof die Nachbarinnen versammelt, Maryam English, Fadumo, Zahra und Dahabo.
«Warum hast du so lange gebraucht, saamaleyl?» Dahabo schwenkt die Thermoskanne in Richtung Kawsar.
«Ich habe mir die Knie eingeölt», antwortet Kawsar lächelnd und hakt sich bei Dahabo ein, mit der sie seit Kindertagen befreundet ist.
Die Männer und Frauen der Guddi, der Nachbarschaftswache, haben die Nacht über Anweisungen durch Megafone gebrüllt, was man anzuziehen und wo man sich zu versammeln habe. Alle Frauen tragen die gleiche traditionelle Kleidung. Zahra verteilt Zweige, die sie von einem miri-miri-Baum gerupft hat; sie haben diese, eine weitere Anweisung aus den Megafonen, im Stadion zu schwenken. Auf der schmalen, sandigen Straße, die vor ihnen liegt, wimmelt es von gleichfalls traditionell gekleideten Frauen, denen weitere träge folgen. Sie gehen an Umar Fareys Achtzehn-Zimmer-Hotel vorbei, die Fenster blind, die Läden geschlossen, als schliefe das Gebäude. Aus Zahras Videohalle dringen weder Hindi-Songs noch Kung-Fu-Geräusche und Raages Eckladen ist nicht mehr Aladins Schatzhöhle, sondern nur noch eine Wellblechhütte.
«Wie früh die uns aus dem Bett reißen! Diese Schweine kennen keine Grenzen.» Maryam English zieht den Gurt fester, mit dem sie sich ihr Baby auf den Rücken geschnallt hat; die beiden älteren Kinder hat sie zu Hause eingeschlossen.
Kawsar massiert dem schlafenden Baby den Rücken und wünscht, es wäre Hodan, ihr Kind, als Säugling zurückgekehrt, mit der Chance auf ein zweites Leben.
«Schaut uns an, wir sehen aus wie dieselbe Frau in verschiedenen Lebensaltern», lacht Fadumo und bahnt sich mit ihrem Stock den Weg.
Es stimmt, sie ähneln einander sehr, außer dass Maryam English Ende zwanzig ist, Zahra Mitte vierzig, Dahabo wie auch Kawsar Ende fünfzig und die arme Fadumo über siebzig. Wie Zeichnungen in einem Schulbuch sehen sie aus, alle im gleichen Gewand, lediglich ein paar Falten im Gesicht oder ein gekrümmter Rücken verraten ihr Alter. So will die Regierung sie offenbar haben – schlichte, lächelnde Karikaturen ohne Ansprüche oder eigene Bedürfnisse. Jetzt sind diese Karikaturen zum Leben erwacht – nicht wie die Figuren auf den Geldscheinen beim Säen, Weben oder in einer Fabrik schuftend, sondern unter Zwang zu einer Feier trottend.
Sie gehen durch Seitenstraßen, der Himmel über ihnen wird immer blasser, bis sie das Stadion erreichen. Die Guddi-Aktivisten mit ihren Armbinden wollen wissen, aus welchem Viertel sie kommen, und zählen die Frauen, als sie durchs Tor gehen.
«Da ist Oodweyne und überwacht uns!», schreit Dahabo und zeigt nach oben.
«Pst!», zischt Maryam. «Die hören dich noch.»
Kawsar dreht sich um, um zu prüfen, ob die Guddi tatsächlich etwas mitbekommen haben, aber sie sind mit den Menschenmassen beschäftigt, die durch das Tor drängen. Die Mütter der Revolution sind aus ihren Küchen und von ihren Pflichten weggerufen worden, damit sie den ausländischen Würdenträgern zeigen, wie beliebt das Regime ist, wie dankbar sie alle sind, dass es ihnen Milch und Frieden gebracht hat. Es braucht Frauen, um menschlich zu erscheinen.
Hinter Dahabos erhobenem Finger hängt ein riesiges Bild des Diktators wie eine neue Sonne über dem Stadion, Strahlen umkränzen sein Haupt. Die Maler haben versucht, dieses grausame, griesgrämige Gesicht sanfter erscheinen zu lassen, aber dabei ist Unstimmigkeit herausgekommen – das Kinn ist zu lang, die Nase zu knollig, die Augen sind asymmetrisch. Gut geraten ist einzig der kleine, nach dem Vorbild dieses deutschen Führers getrimmte Schnurrbart.
Hastig hängen Arbeiter weitere, kleinere Bilder seiner Gefolgsleute auf, den austauschbaren Ministern der Verteidigung, der Finanzen und der Inneren Sicherheit, deren Position so unsicher ist, dass vielleicht schon vor dem Ende des Tages neue Bilder in Auftrag gegeben werden. Fadumo geht voraus zur Tribüne, die anderen folgen, wohl wissend, dass es überall ungemütlich sein wird; die nächsten sieben Stunden lang wird es keinen Schatten, keine Ruhepause, kein Essen geben. 1987 ist ein Dürrejahr, und am Morgenhimmel zieht wieder ein erbarmungsloses, wolkenloses Blau auf.
Filsan hat die vergangenen drei Nächte nicht geschlafen. Sie hatte die Verantwortung für drei Guddi-Einheiten, die ihr ständig Probleme bereiteten. Nicht einmal im Albtraum hätte sie sich eine zänkischere, untauglichere, schwatzhaftere Truppe vorstellen können. Schließlich hat sie eine der Einheiten ins Saba’ad-Flüchtlingslager zurückgeschickt, damit sie eine Gruppe von Kindern in traditionellem Tanz unterrichtet, aber wahrscheinlich werden sie nicht einmal das hinbekommen. Mittlerweile hat sich eine Einheit am Nordeingang des Stadions postiert, während die andere Nachzügler aufsammelt und entlang der Paradestrecke Abfall entfernt und die Obdachlosen verjagt. Die VIPs werden zwar erst in einer Stunde erwartet, aber das Stadion sieht immer noch nackt und chaotisch aus; die meisten Teilnehmer kommen erst noch, und nur der Himmel weiß, ob sie bei ihrer Ankunft überhaupt präsentabel aussehen.
Filsan verbringt den 21. Oktober zum ersten Mal in Hargeisa, und im Vergleich zu dem, was sie aus Mogadischu gewöhnt ist, kommt ihr alles chaotisch vor. Genau achtzehn Jahre ist es jetzt her, dass der Präsident durch einen Militärputsch an die Macht kam, und die Feiern in Mogadischu zeigen das System von seiner Schokoladenseite, alle arbeiten zusammen, damit etwas Schönes geschaffen wird. General Haaruun, der Militärbefehlshaber der Nordwestregion, wird den Präsidenten in Hargeisa vertreten und hat die Militärparade geplant, die mit einer Flugschau beginnt und endet. Der zivile Teil der Zeremonie ist von den Guddi zusammengestückelt worden, ein Anlass für sie, dilettantischen Gesang, Tanz und Vortrag darzubieten.
Filsan streicht über die Zinken des Plastikkamms in ihrer Hosentasche und kaut auf der Unterlippe herum; sie betrachtet das leere Podium, auf dem General Haaruun und die Würdenträger Platz nehmen werden, und stellt sich vor, wie sie dort in der Mitte sitzt, nicht als seine Begleiterin, sondern als seine Nachfolgerin, und ihren Untertanen zuwinkt. Ihre Stiefel sind schön poliert, ihre Kakiuniform ist sauber und mit Bügelfalten versehen, das schwarze Barett ist gebürstet und sitzt im perfekten Winkel auf ihrem Kopf. Die Augen hat sie dezent mit Kajal umrandet und mit den Fingern Farbe auf die Lippen gedrückt. Sie sieht immer noch aus wie sie selbst, etwas hübscher, ein wenig weiblicher; bis jetzt hat sie sich diesen Spielchen verweigert, aber wenn die anderen Soldatinnen auf diese Weise Aufmerksamkeit bekommen, warum dann nicht auch sie?
Filsan schiebt den Kamm tiefer in die Hosentasche und zieht den Uniformrock über dem Po glatt. Als sie am Südeingang vorbeieilt, salutieren zwei Polizisten in Zivil, die einander einen lächelnden Blick zuwerfen. Verärgert verzieht Filsan das Gesicht, weiß sie doch, dass sie ihr gleich auf den Hintern starren werden. Vor dem Südeingang bilden die Militärkonvois eine Schlange: Panzer, Jeeps, gepanzerte Fahrzeuge, Lastwagen mit allen erdenklichen Raketen und Geschossen, neben und in den Fahrzeugen warten geduldig grünbehelmte Soldaten. Bei ihrem Anblick empfindet Filsan Stolz. Sie ist Teil der drittgrößten Armee Afrikas, einer Streitmacht, die 1978 ganz Äthiopien und nicht nur den Ogaden eingenommen hätte, wenn die Russen und Kubaner nicht die Seiten gewechselt hätten.
Filsan geht den Konvoi entlang, und anders als die notdürftig ausgebildeten Polizisten starren oder lächeln die Soldaten sie hier nicht an; sie erweisen ihr den Respekt, der einem anderen Soldaten gebührt. Schon immer hat sich ihr Leben um diese Männer gedreht, angefangen bei ihrem Vater bis hin zu ihren Politologie-Dozenten am Halane College; ihr Urteil hat für sie Gewicht, und noch immer fühlt sie sich in ihrer Gegenwart klein. Filsan hat sich freiwillig für den Einsatz im Norden gemeldet, in der Hoffnung, damit beweisen zu können, dass sie, eine Frau, sich der Revolution mehr verschrieben hat als alle ihre männlichen Altersgenossen. Hier kann man an vorderster Front bei der Bekämpfung der Banditen des National Freedom Movement, die die Regierung hartnäckig provozieren, wertvolle Arbeit leisten. Als sie sich umsieht, wird ihr plötzlich klar, dass durchaus Mitglieder der verbotenen Organisation unerkannt zwischen den Müttern in Tracht und den Schulkindern in Uniform durch die Tore schlüpfen könnten. Unmöglich, Feind und Freund auseinanderzuhalten.
Sich auf diese Weise ein Paar neue Schuhe zu verdienen, war mühsam, aber für Deqo hat es sich gelohnt. In einem Monat Tanzunterricht hat sie den Hilgo, den Belwo, den Dudi und den überaus komplizierten Halawalaq gelernt. Sie ist keine schlechte Tänzerin, aber sie kann besser improvisieren als die Schrittfolgen einhalten, und selbst jetzt noch dreht sie sich nach links statt nach rechts, macht einen Schritt vorwärts statt rückwärts. Die Schuhe haben sie noch nicht zu Gesicht bekommen, aber während des Unterrichts kann Milgo-Zahnlos von nichts anderem reden. Im Schweiße ihres Angesichts haben sie sich diese Schuhe verdient, und Deqo gedenkt sie zu tragen wie ein Soldat seine Orden.
«Denkt an die Schuhe. Wollt ihr diese Schuhe denn nicht? Wollt ihr ewig barfuß gehen? Dann konzentriert euch!» Ein Akazienzweig peitscht über ihre Füße.
Sie haben gelernt, zum Taktschlag von Milgos schwieliger Handfläche auf dem Boden einer Plastikschüssel zu tanzen, aber bei der Parade werden es richtige Trommeln, Trompeten, Gitarren sein. Vor Tausenden werden sie tanzen, sogar der Gouverneur der Region wird ihnen zusehen, also müssen sie üben, üben, üben.
Jetzt ist der Tag der Parade endlich gekommen. Noch vor Morgengrauen wird die Truppe, fünf Mädchen und fünf Jungen, allesamt aus dem Waisenhaus, in den Hof hinter der Klinik des Flüchtlingslagers getrieben und beinahe zu Tode geschrubbt. Die stechend riechende Seife hat Deqos Augen gerötet, und sie reibt sie unausgesetzt, damit das Brennen nachlässt. Neben dem Apothekenzelt wartet ein Lastwagen, sie werden alle in traditionelle macaweis und guntiino gesteckt und dann hinten eingeladen. Der Lastwagen springt an, eine braune Rauchwolke stiebt aus dem Auspuff und Deqo klammert sich an der Seite fest, als sie schneller werden. Sie sitzt zum ersten Mal in einem Fahrzeug, und der starke Luftzug im Gesicht überrascht sie, ihre Haarspitzen werden herumgepeitscht wie an einem stürmischen Tag. Als der Lastwagen langsamer wird, lässt auch der Luftzug nach, und Deqo blinzelt wegen des aufstiebenden Schotters und presst die Lippen zusammen.
Während die anderen Kinder die Lieder üben, die sie bei der Parade singen werden, wird Deqos Aufmerksamkeit vom Flüchtlingslager gefesselt, auf einmal sind die halbrunden hölzernen aqals nur noch Tupfen in der Landschaft. Von hier aus sind der Getreidespeicher und die verschiedenen Kliniken, die ständig von Flüchtlingen umlagert werden, nicht zu sehen, Streit, Groll und Traurigkeit weit weg. Die Straße schlängelt sich nach Hargeisa hinunter, die Landschaft ist bis auf den einen oder anderen Aloebusch, vereinzelte Tierknochen und Plastikschuhe kahl, der einzige Unterschied zum Lager ist die frische Luft. Der Horizont ist ganz blauer Himmel, lediglich ein Streifen Gelb weist ihnen den Weg, und es fällt schwer, sich vorzustellen, dass etwas Greifbares vor ihnen liegt. Beinahe erwartet Deqo, dass der Lastwagen über den Rand der Erde fällt, wenn er den gelben Streifen erreicht, aber stattdessen fährt er die schlecht geteerte Straße entlang, bis er den ersten Militärcheckpoint vor der Stadt erreicht.
Kawsar und ihre Nachbarinnen quetschen sich auf die zweite Tribüne; das Stadion ist für dreitausend Zuschauer gedacht, aber heute drängen sich mehr als zehntausend darin. In ihre Gespräche vertieft, zwängen sich korpulente Frauen durch die schmalen Gänge, treten Kawsar auf die Zehen und halten sich an ihrem Arm fest, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Noch ist es kühl, aber es wird so heiß werden, dass sie sich vorkommen wie Leder, das in der Sonne trocknet. Kawsars Knie sind geschwollen, und bereits jetzt verlagert sie alle paar Minuten ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.
Das Fest des 21. Oktober ist eine armselige Nachahmung der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag, denkt sie – wie ein schlechter Ehemann, der seine unglückliche Frau an die guten alten Zeiten erinnert, wohl wissend, dass sie endgültig vergangen sind. Als die Briten am 26. Juni 1960 abgezogen waren, waren alle in ihren Eid-Kleidern aus den Häusern geströmt und hatten sich beim städtischen khayriyo zwischen Nationalbank und Gefängnis versammelt. Es war, als wären sie betrunken oder verrückt; Mädchen wurden in dieser Nacht schwanger, und auf die Frage, wer der Vater des Kindes sei, antworteten sie dann: «Fragt die Flagge.» In dieser Nacht, eingequetscht in eine bunte Menschenmenge, hatte Kawsar einen langen Goldohrring verloren, der Teil ihrer Aussteuer gewesen war, aber Farah, ihrem Mann, war es egal gewesen – es sei ein Geschenk an das neue Land, meinte er. Die Party war zum Freedom Park weitergezogen und hatte bis zum nächsten Morgen gedauert, die verschlafene Stadt hatte sich in einen Spielplatz verwandelt, die Jugend des Landes trunken im Glauben, etwas erreicht zu haben, was ihren Altvorderen nicht gelungen war. Später meinten die Menschen halb im Scherz, dieser Tag habe die Frauen von Hargeisa verändert, nach diesem Bacchanal seien sie nie wieder zu ihrem bescheidenen, ruhigen Leben zurückgekehrt, habe man erst einmal einen Zipfel der Freiheit zu fassen bekommen, wolle man das ganze Tuch.
Ein Flattern in der Gebärmutter lenkt Kawsar von der Marschkapelle ab, die neben ihr die Instrumente stimmt. Ein Gefühl, das mittlerweile regelmäßig wiederkehrt, als streiften Fingernägel über ihr Innerstes, als pulsierte tief in ihr ein Herzschlag. Schon jetzt zappelt Maryams Tochter herum, zieht beim Versuch, sich aus dem Tragetuch zu winden, ihre Mutter mit den molligen Händchen an den Haaren. Maryam klapst dem Kind auf den Schenkel, damit es sich beruhigt, bringt es damit aber nur noch mehr in Harnisch. Was war das doch für eine unkomplizierte Phase, wenn einem Kind der Sinn lediglich nach ein bisschen Herumlaufen stand, ehe es einem müde wieder in die Arme sank. Hodan hatte sich an solchen Tagen an Kawsars Schulter geschmiegt und geschlafen, damals, als die Menschen noch leichtgläubig waren und mit echten Gefühlen das Regime feierten, als der Glanz der Unabhängigkeit allem noch einen Zauber verlieh – unsere ersten Schulbücher auf Somalisch, unsere erste Fluggesellschaft, alles ein Wunder. Es war der Stern, der den ganzen Kummer verursacht hatte: Jener fünfzackige Stern auf der Flagge – jede Spitze stand für einen Teil des somalischen Vaterlandes – hatte zum Krieg mit Kenia und später mit Äthiopien geführt, hatte das zerstörerische Verlangen befeuert, Landstriche zurückzuerobern, die seit Langem verloren waren. Die letzte Niederlage veränderte alles. Nach 1979 richteten sich die Waffen von außen nach innen, auf die Somalier; die Wut gedemütigter Menschen feuerte über die Haud-Wüste hinweg zurück.
Filsan verabscheut, wie flach Hargeisa ist. In Mogadischu ragen die Gebäude hoch auf und blenden das Auge mit ihrem Weiß; hier klebt alles am Boden, kauernd und unterwürfig, oft sind die billigen Lehmziegelbungalows nicht gestrichen, als wäre die Stadt von Riesentermiten bewohnt, die ihre Behausungen aus Dreck und Spucke zusammenschustern. In Mogadischu sind die ältesten Wohnhäuser aus Korallengestein, sie besitzen feines Gitterwerk aus Holz und Gewölbedecken, die einen mit Staunen erfüllen. Wenn man im Stadtzentrum herumspaziert, wo sich die Gässchen bisweilen bis auf Schulterbreite verengen, ist es manchmal, als ginge man durch einen Traum, weiß man doch nie, was hinter der nächsten Ecke auftaucht: ein Mann mit bloßem Oberkörper, der auf seinem schmalen schwarzen Rücken einen silbernen Schwertfisch trägt, eine Schar Kinder, die von ihren Holztafeln Koransuren ablesen, oder ein Mädchen, das eine weiße Kuh melkt, deren Hörner einer Leier gleichen. Dieser Ort ist voller Zauber und Geheimnis, mit jedem Schritt bewegt man sich durch die Zeiten; wie passend, dass die Stadt am Meer liegt, wo ihre Seele atmen kann, statt von Bergen umschlossen zu sein wie ein Dschinn von der Flasche.
Neben ihr steht die Guddi-Marschkapelle mit indigoblauen Uniformröcken und weißen Käppis, alte Männer, die ihre alten Instrumente stimmen. Was ihnen an Talent fehlt, machen sie mit Gefallsucht wett; quäkend werden sie herumstapfen, bis man sie zum Aufhören auffordert. Die Musiker in Hargeisa sind Dilettanten; jene, die es in Mogadischu nicht geschafft haben, betreiben ihr Gewerbe nun hier in abgelegenen Theatern oder auf Hochzeiten, die tagsüber in Bungalows gefeiert werden. Es braucht eine echte Stadt, um das Leben in einen neuen Rhythmus zu versetzen – das Ticken der Rathausuhr, das Kratzen einer Baggerschaufel, das Trillern eines Verkehrspolizisten –, all das braucht es, damit der Puls schneller schlägt.
Pünktlich entsteigen die ausländischen Würdenträger dem Konvoi, und Filsan erkennt einige von ihnen anhand der Fotos, die im überregionalen October Star abgedruckt waren. Der US-amerikanische Wirtschaftsattaché ist der erste, gefolgt vom ägyptischen Botschafter und einem Mann im wallenden weißen Gewand und Kufiya. Ungefähr ein Dutzend weiterer Funktionsträger stellt sich entlang des blau-weißen Podiums auf und wartet auf den General.
Hupen verkündet seine Ankunft. Unbeholfen rollt ein Soldat einen abgelaufenen roten Teppich vom Eingang bis zum Podium aus, und General Haaruun steigt aus einem schwarzen Mercedes. Durch die Tribünen scheint ein Stromschlag zu zucken, als er von Bodyguards umringt zu seinem Platz geht, die Atmosphäre ist angespannt, in der plötzlichen zittrigen Stille wirkt jedes Geräusch doppelt so laut. Schnell dreht Filsan sich um und überprüft die Lage hinter ihrem Rücken: Das Publikum brüllt nicht und wirft auch keine Geschosse, sondern hat den Blick starr auf den großen, hageren Mann in Militärkleidung gerichtet. Einer Körperlawine gleich, die jederzeit auf Filsan stürzen und das Stadion unter sich begraben könnte, beugen sich die Menschen auf ihren Sitzen vor.
Beim Anblick von General Haaruun hämmert Kawsar das Herz in der Brust. Er ist wie eine Hyäne – dünn, bedrohlich, seine bloße Anwesenheit scheint den Tod zu verkünden. Sie macht ihn nicht nur für Hodans Ableben verantwortlich, sondern auch für ihre Verhaftung, ihr Verschwinden und ihre Verwandlung in ein zusammengekauertes, zusammengefallenes Wesen. Trotz der Menge um sie herum spürt Kawsar, wie sich eine schwarze Decke der Trauer über sie legt, sie blind und taub und stumm macht, als befände sie sich auf dem Grund eines Brunnens und schaffte es immer nur, bis zur Hälfte hochzuklettern, ehe sie wieder den Halt verliert.
«Bleib bei uns.» Dahabo tätschelt Kawsars Hand, und sie spürt durch ihre taube Haut die Wärme der anderen.
«Wann geht es denn verflucht noch mal los?» Sie tut, als würde sie sich wieder ihrer Umgebung zuwenden, aber in Gedanken steckt Kawsar immer noch in diesem Brunnen.
«Da! Sieh mal!»
Drei MiGs dröhnen in Pfeilformation über sie hinweg, grau und langhalsig wie Geier, stoßen herab, als gierten sie nach einem Aas, und hinter ihnen werden die sechs Kondensstreifen breiter und vereinigen sich, bevor sie erneut auseinanderfallen. Die Würdenträger stehen stramm, Geier einer anderen Art; in ihrem Putz gleichen sie eher Marabus, die mit vollem Magen rasten, die Augen hinter den dunklen Brillengläsern wachsam.
Mittlerweile ist Dahabo der einzige Mensch, dessen Berührung Kawsar noch kennt. Ungefähr jeden Monat treffen sie sich bei Kawsar zu Tee und Wehklage, und Dahabo legt Wert darauf, ihr beim Sprechen eine Hand auf den Oberschenkel zu legen, als wüsste sie, wie schrecklich das Alleinleben ohne menschliche Berührung, ohne menschliche Geräusche ist. Je nach Gesprächsthema drückt, knetet oder tätschelt Dahabo, nie ist ihre Hand weit weg, eine harte, schwielige Hand, die Nägel sind tief heruntergebissen, aber sie vermittelt nicht nur Wärme, sie schenkt auch Trost. Noch so eine Sache, die das Älterwerden mit sich bringt, das ständige Bedürfnis nach Wärme. Kawsars Knochen sehnen sich nach Sonnenlicht, und sie hat sich angewöhnt, sich an den meisten Tagen in der schlimmsten Mittagshitze in ihrem Garten wie eine Eidechse zu aalen. Aber heute verlässt sie das Gefühl der Isolation und Einsamkeit nicht, trotz der Wärme der Sonne, die den Himmel hinaufwandert, und der Nähe so vieler Menschenleiber.
Aus den großen Lautsprechern dringen die Durchsagen nur verzerrt, aber das spielt keine Rolle, denn der Ablauf der Parade ist ohnehin wohlbekannt. Zuerst die Soldaten mit scherengleich auf- und zuschnappenden Beinen, dann die schwerfälligen älteren Polizisten und Polizistinnen in blauer Uniform, dann die Zivilisten in Arbeitskleidung – Lehrer, Beamte, Studenten. Einzig ihre Nachbarn und deren Kinder unter den Marschierenden zu entdecken, macht ihr Freude, wie sie mit blinden Augen und irrem Grinsen inmitten der vielen gleich aussehenden Gestalten auf den Tribünen nach ihren Familienmitgliedern suchen. Die Guddi kommen als Letzte, schwenken Zweige und tragen Bilder von Lenin, Kim Il Sung und Mao, den Kommunisten, die der Diktatur früher einmal als Inspiration dienten, jetzt sind die Fotos verblasst und werden nur einmal im Jahr wie Reliquien hervorgekramt. Mittlerweile sucht das Regime überall nach Freunden, egal ob Araber, Amerikaner oder Albaner.
Auf dem Weg ins Stadion hat Deqo einige schmuddelige Mädchen in ihrem Alter gesehen, die den Markt mit kurzen, aus getrockneten Gräsern gebundenen Besen fegten. So arm sie auch sind, hat doch jede ein Paar durchsichtige Plastiksandalen an den Füßen.
Nun lugt sie hinter Milgos Beinen hervor auf die Soldaten, die die Parade eröffnen. Sie bewegen sich wie ein einziges Wesen, ein Insektenschwarm mit grünen Panzerschalen auf den Köpfen, tausend Füße trappeln über den Boden, tausend Augen blicken in dieselbe Richtung. Noch nie hat sie so viele Männer auf einmal gesehen; das Lager besteht hauptsächlich aus Frauen und Kindern, die miteinander zanken und streiten. Die Soldaten sind jung, stark und einig. Sie scheinen zusammenzugehören, während sie dagegen zu niemandem gehört. Als die Männer an ihnen vorbeigehen, heult Milgo jubilierend auf, und Deqo versucht, sie nachzuahmen, lässt die Zunge im Mund hin- und herflitzen und jodelt. Während sie die Soldaten betrachtet, die Menschenmenge, die Flugzeuge am Himmel, gelangt sie zu der Überzeugung, dass dies der schönste Tag ihres Lebens ist, der Tag, an dem die ganze Welt vor ihr ausgebreitet liegt, damit sie sich daran erfreuen kann. Das Lager und sein Staub und seine Fliegen sind jetzt weit weg. Aufregung rumort in ihrem Magen; bald wird sie dort draußen im Mittelpunkt der Erde ihren Platz einnehmen.
Auf der Tribüne Kawsar gegenüber kommt jetzt Bewegung auf, Tausende von Lungen atmen aus, als sich die Zuschauer bücken und mit Plakaten in den Händen wieder aufrichten. Auf die Anweisung von Guddi-Aktivisten in traditionellen Gewändern hin werden die Plakate umgedreht und hochgehalten. Binnen weniger Sekunden ist die Tribüne verschwunden, und ein flirrendes Porträt von Oodweyne blickt zu Kawsar herüber. Ein paar Rebellen weigern sich, ihr Plakat hochzuhalten, verursachen winzige Löcher in seinem Gesicht, aber die Botschaft ist klar: Der Präsident ist ein Gigant, ein Gott, der über sie wacht, der sich zerteilen und alles, was sie tun, hören und sehen kann. Der kleine Nomadenjunge, der wusste, wie man einem Kamel die Vorderbeine fesselt und einem Schaf eine Zecke entfernt, ist zur Gottheit geworden. Ein Frevler, denkt Kawsar, als sein Gesicht vor ihr schwebt, sowohl er als auch sein Diener Haaruun. Ehe sie wieder weiß, wo sie sich eigentlich befindet, hat sie bei diesem Anblick auch schon heftig ausgespuckt und um sie herum ziehen die Zuschauer hörbar die Luft ein.
«Was machst du denn!», ruft Dahabo aus und packt Kawsars Oberarm.
Aber Kawsar hat keine Ahnung, sie ist nicht wirklich da, sie hat einfach ein Gesicht gesehen, das sie abstieß, und entsprechend reagiert. Auf den Gesichtern in der Reihe unter ihr zeigen sich Schock und die Angst, dass sie die Aufmerksamkeit auf sie gezogen haben könnte, aber Kawsar kann diese Angst nicht mehr fühlen, im Vergleich zu dem, was sie durchlebt hat, erscheint sie ihr belanglos und unsinnig. Welches Opfer können sie denn noch von ihr fordern, nachdem sie ihr das einzige Kind genommen haben? Angst lässt Soldaten tapfer sein, spornt Polizisten zur Plünderung an, flößt dem alten Mann in Mogadischu Leben ein. Ihr Leben oder ihr Besitz sind ihr nicht wichtig genug, um sich weiterhin selbst zu erniedrigen.
«Auf geht’s! Los jetzt, los!», brüllt Milgo.
Die Kinder strömen auf das Areal, Deqo als Dritte. Aus allen Richtungen explodieren Geräusche: Trommeln, Schreie, Gebrüll. Deqo kann beim Singen ihre eigene Stimme nicht hören. Schon jetzt hat sie die Schrittfolgen vergessen, sie ahmt Safiyas Bewegungen nach, aber ihre Glieder sind schwer, ihre Gedanken verwirrt. Sie konnte diese Tänze auswendig, war besser als Safiya, aber jetzt ist sie völlig verunsichert. Der Anspruch, ja keinen Fehler zu machen, ist erdrückend, sie sehnt sich danach, so unsichtbar zu sein wie im Lager, kann aber den Blicken nicht entkommen, die sie beobachten und beurteilen. Der von den Schild-und-Speertänzern aufgewirbelte Staub, der immer noch in der Luft hängt, lässt sie beinahe ersticken, und die schrägen Töne der Kapelle bringen sie noch mehr durcheinander. Das hatte sie sich anders vorgestellt.
Milgo kommt auf sie zu gerannt, die Hand zum Schlag erhoben.
Deqo tanzt weiter, den Blick auf Milgos wütendes Gesicht geheftet. Hinter ihr kommen noch mehr ebenso aufgebrachte Frauen angelaufen. Ein dünnes, dunkles Urinrinnsal tröpfelt auf ihre Füße.
Milgo packt sie am Arm, zieht sie so schnell fort, dass sie sich schon in dem dunklen Gang zwischen zwei Tribünen befindet, als sie die Augen öffnet.
Sobald sie außer Sichtweite der Menge sind, prasseln die Schläge von allen Seiten auf sie ein, Worte dringen ihr schmerzhaft ins Ohr. Brüllend beschimpft Milgo sie ohne Unterlass, unerbittlich plärrt hinter ihnen die Musik.
Im Zentrum der wirbelnden Tänzermassen bemerkt Kawsar einen Ruhepunkt, eine Leere, die ihre Gefühle widerzuspiegeln scheint. In diesem Kreis steht verloren ein rotgekleidetes Mädchen, das auf seine Füße starrt und offenbar nicht weiß, wo es sich befindet. Der Anblick rührt Kawsar, ein Augenblick der Wahrheit inmitten dieser Unwirklichkeit. Dieser friedliche Moment hält nur eine Sekunde an, dann stürzen sich die Guddi auf die Kleine, und Kawsar sieht, wie sie am Arm fortgezerrt wird, vier, fünf Frauen umringen sie. Sie liest ihnen vom Gesicht ab, was sie vorhaben, und steht auf, ehe sie das Mädchen fortbringen können. Kawsar spürt, wie sich in ihr etwas Bahn bricht – Liebe, Zorn, Gerechtigkeitssinn gar, sie weiß nicht genau, was es ist, aber es bringt ihr Blut in Wallung.
«Wo gehst du hin?», will Dahabo wissen.
«Ich komme wieder, bleib hier.»
«Kawsar, warte!»
Aber sie ist schon weg, drängt sich an den Frauen in ihrer Reihe vorbei, tritt ihnen auf die Füße oder steigt über sie hinweg, wenn sie nicht schnell genug aus dem Weg gehen. Noch ein paar Stufen, und sie ist dem Gedränge entkommen.
«Schlampe!» – «Idiotin!» – «Miststück!», brüllen die Guddi neben der Tribüne, und da ist die Kleine – ein schmerzerfülltes, um Gnade bittendes Gesichtchen.
«Gebt sie mir», sagt Kawsar und hört sich gelassener an, als sie sich fühlt.
«Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten», entgegnet eine junge Frau herablassend.
«Das ist meine Angelegenheit. Ich sagte, gebt sie mir.» Kawsar stürmt vorwärts und greift nach dem Mädchen.
Die junge Frau hält Kawsar fest. «Du verrückte Alte, willst du, dass wir die Wachen rufen? Willst du denn ins Gefängnis?», brüllt sie.
«Machen Sie, was Sie wollen, mir können Sie sowieso nicht mehr wehtun. Ich stamme aus dieser Stadt, bin hier geboren worden, und Sie sagen mir nicht, was ich zu tun habe.» Ihre Stimme ist schrill, und sie versucht wieder, das Mädchen zu fassen zu kriegen.
Die Guddi stellen sich ihr in den Weg und bilden einen Halbkreis um das Kind. «Milgo, hol die Wachen, diese Verrückte ist auf Ärger aus», sagt die junge Frau, und eine hagere ältere Frau rennt zum Eingang zurück.
Die Kleine reißt sich von ihren Verfolgerinnen los und rennt blitzschnell davon.
«Naayaa, he, du! Keine Sorge, ich krieg sie.» Das jüngste Mädchen der Gruppe setzt ihr nach.
Die Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf Kawsar. «Willst du eine Nacht im Gefängnis verbringen, damit du kapierst, wie der Hase läuft? Alte Frauen haben harte Schädel und sind manchmal schwer von Begriff.» Vehement presst die Anführerin der Gruppe einen Finger auf Kawsars Stirn, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
Kawsar schiebt die Hand weg. Sie stehen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, als wollten sie sich duellieren.
Eine zierliche Soldatin mit Barett nähert sich, zwei Soldaten dicht hinter ihr. Sie scheint von der gesamten Situation angewidert und bedeutet Kawsar ungeduldig, ihr zu folgen. Die Guddi machen Platz, und Kawsar geht mit hocherhobenem Kopf davon.
«Kawsar! Wohin bringen sie dich?», fragt Dahabo und lehnt sich über den Tribünenrand, Maryam steht neben ihr.
«Ins Gefängnis», erwidert die Soldatin, «und dich nehmen wir auch gleich mit, wenn du nicht auf deinen Platz zurückgehst.»
«Setzt euch wieder, wir sehen uns nachher.» Kawsar verspürt ein eigenartiges Triumphgefühl, jetzt ist sie diejenige, die das Geschehen bestimmt.
Blindlings rennt Deqo in die fremde Stadt hinein. Sie blickt sich um und sieht, wie ihre Verfolgerin ihr immer noch schwerfällig nachrennt. Sie läuft schneller, macht große, elegante Schritte. In Saba’ad hat sie nie ungehindert zwischen den überfüllten buuls umherrennen können, in den engen Durchgängen zwischen den Hütten saßen Frauen mit ausgestreckten Beinen; es war eine Umgebung, in der Langsamkeit, Vorsicht anstelle von kindlicher Ausgelassenheit regierten. Jetzt bildet Deqo sich ein, dass dort Hände nach ihrem Rock gegriffen und an ihr gezerrt haben, in die Erde hinein, die täglich Menschen verschluckt. Hier gibt es Platz, endlos viel Platz, breite Straßen und Gebäude ohne Ende.
Mit pfeifenden Lungen und hämmerndem Herzen, rudernden Armen und stampfenden Beinen rennt sie dahin, treibt ihren Körper an den Rand seiner Leistungsfähigkeit. Sie kommt sich schneller vor als die Autos auf der Straße, die Krähen am Himmel, die Kugeln in den Gewehren der Soldaten. Sie läuft gegen sich selbst, bis das Stadion weit hinter ihr liegt; ihre Füße stampfen im Einklang mit ihrem Herzschlag über den staubigen Boden. Sie ist eine gut geölte Maschine, die völlige Kontrolle über sich hat. Deqo kommt zu einer Brücke und überquert den vibrierenden Beton. Vorbei am zweistöckigen Oriental Hotel, vor dessen Eingang zwei Landrover parken, vorbei an der Apotheke mit den großen Fenstern, der Autowerkstätte mit Stapeln schwarzer Reifen davor, der Wellblechhütte des Schrotthändlers. Die Straßen sind menschenleer, alle paar Meter an den Ecken ein Häufchen aus Dreck, Staub und Blättern, als wären gerade Straßenfeger durchgezogen; ein Bus fährt an ihr vorbei, als sie Richtung Markt flitzt.
Die alte Frau hinten im Lastwagen schweigt, die Nase hoch erhoben, als befände sie sich in einem Taxi. Einzig hinter ihrem Hochmut kann sie sich noch verstecken, der wird ihr aber auch nichts nützen. Wie all die anderen Missetäter wird sie eine Nacht auf nacktem Boden verbringen und für ihre Notdurft einen Eimer benutzen müssen, bis man ihr sagt, dass sie gehen kann. Sie ist nicht die älteste Unruhestifterin, mit der es Filsan je zu tun gehabt hat – die Marktfrau, die General Haaruuns Konvoi bewarf, muss über achtzig gewesen sein –, aber die hier sieht wohlhabender aus, gebildeter.
Sie halten vor dem Polizeihauptrevier. Filsan hat sich nicht die Mühe gemacht, ihr Handschellen anzulegen, wozu auch? Sie wird ihnen wohl kaum davonlaufen. Die alte Frau legt sich das Kopftuch um die Wangen, Filsan reißt ihr das Tuch weg, damit sie ihr Gesicht sieht. Erst jetzt blicken sie einander in die Augen, die der alten Frau sind voller Vorwurf und Verachtung. Filsan packt sie am Arm und bringt sie ins Gebäude; sie wird über ihr Betragen im Stadion Bericht erstatten und sie den Polizeibeamten überlassen.
«Die Zellen sind voll», fährt die Polizistin am Empfang sie an und schaut nicht einmal von dem Papier hoch, das sie in der Hand hält.
«Sie hat während der Feier öffentliches Ärgernis erregt.»
Die Polizistin hebt den Kopf und betrachtet die Verdächtige. «Was hat sie getan?»
«Frauen der Guddi belästigt und bedroht.»
Die Polizistin lacht und lehnt sich zu dem winzigen öffentlichen Ärgernis vor. «Bist du nicht zu alt für so was? Schämst du dich nicht?» Sie ist ungefähr zwanzig, unter ihrem Käppi lugen blondierte Strähnchen hervor. «Wo wohnst du?»
«Guryo Samo.»
«Name?»
«Kawsar Ilmi Bootaan.»
Sie kritzelt die Angaben in ein Formular und steckt sich dann den Stift hinters Ohr. «Allzu viel Platz wird sie wohl nicht brauchen.» Die Polizistin seufzt. «Dalassen, ich übernehme sie.»
Filsan sieht zu, wie Kawsar in eine Gemeinschaftszelle geführt wird. Ihr Schritt ist langsam, sie zeigt keine Gefühlsregung, bewegt sich wie ein Touristin auf Besichtigungstour, blickt nach links und rechts, als wollte sie sagen: «Ja, genau, alles, wie es sein soll.» Mit einem Klacken schließen sich die Gittertüren hinter ihr, und weg ist sie, verschwunden im Bauch des Polizeireviers, wo sie verdaut und an einem der nächsten Tage ausgeschieden werden wird.
Saylada dadka, denkt Kawsar. Hier endet also ihre Reise, im «Menschenmarkt». Die Glücklichen werden freigekauft, andere wiederum landen in der Leichenhalle des Krankenhauses oder verschwinden in irgendeinem Gefängnis des Landes. Dieser Ort hat ihr Kind vernichtet. Sie blickt sich um, versucht, sich vorzustellen, wo Hodan in dieser ersten Nacht saß, nachdem sie mit ihren Klassenkameraden verhaftet worden war. Die Zelle ist groß, die Wände waren früher einmal weiß, sind jetzt aber schwarzbrandig mit Schimmel überzogen, kaum mehr als ein Verlies. Ungefähr vierzig Frauen und Mädchen lagern auf dem Betonboden.
«Nimm Platz, eddo, Tante», ruft eine Insassin aus, die ihrem Kind die Brust gibt.
Kawsar zögert. Der zynische Blick und das knallbunte Kleid verraten, dass die Frau eine Prostituierte ist; die Frau rutscht auf ihrer Matte ein Stück zur Seite und klopft neben sich auf den Boden.
«Was macht eine Dame wie du an einem Ort wie diesem?»
«Mir ist klar geworden, dass ich mir von denen nichts mehr gefallen lassen will.» Langsam lässt sich Kawsar auf die Strohmatte nieder.
«Was hast du gemacht?», will die Frau wissen und schiebt dem Baby ihre Brustwarze wieder in den Mund.
Kawsar zuckt die Schultern. «Was kann ich schon groß tun? Ich habe den Guddi gesagt, sie sollen damit aufhören, ein Kind zu verprügeln.»
«Diese Schweine. Da hast du aber Glück, dass sie dich nicht zusammengeschlagen haben.»
«Schau mal», sie zeigt auf die Schläfe des Kindes, «siehst du diese Delle? Da hat ihn während einer Razzia ein Polizist mit dem Schlagstock erwischt. Keine Entschuldigung, nichts.»
Kawsar streichelt dem Jungen über die zarte, glatte Stirn. Noch bevor er sein erstes Lebensjahr vollendet hat, ist er schon von der brutalen Welt gezeichnet, in der er lebt; vielleicht wird er nicht sehen oder hören oder laufen können, aber bis auf diese schlampige, betrunkene Mutter, die ihn mit ihrem Gift säugt, kümmert das niemanden.
«Er ist wunderschön», sagt Kawsar.
«Das hat er von seinem Vater, der sah sehr gut aus, ein richtiger Ilmi Boodari.»
Kawsar lächelt. «Du siehst viel zu jung aus, um auch nur von Ilmi Boodari gehört zu haben.»
«Er starb in dem Jahr, in dem ich geboren bin.»
«Aus Liebe.»
«Natürlich ist er aus Liebe gestorben! Er war der romantischste Somalier, der je geliebt oder Gedichte geschrieben hat, und keiner kennt seine Lieder besser ich. Ich hab sie alle auf Kassette.»
Eine Liebes- und Trunksüchtige, denkt Kawsar, das passt, von einem Rausch in den anderen.
«Wie heißt du?»
«Die Leute nennen mich China.»
Kawsar entschlüpft ein Lachen. «Warum das denn? Bist du ein Kuli? Bist du in deiner Freizeit etwa beim Straßenbau tätig?»
«Nein, das nicht, aber ich unterstütze die Straßenbauer.» China sieht ihr in die Augen und zieht kokett eine Braue hoch.
Kawsar stellt sich vor, wie das Baby in einer Schublade unter dem Bett liegt, während Kulis mit schmutzigen Händen zu seiner Mutter ins Bett steigen.
«Guck nicht so scheinheilig. Wenn es nicht die Kulis sind, dann wahrscheinlich dein Mann oder dein Sohn.»
Kawsar steht von der Matte auf, fühlt sich klein und verletzlich.
«Geh! Geh zum Teufel! War ein Fehler, nett zu dir zu sein. Geh da rüber und setzt dich auf den kalten Boden», sagt China und stößt sie weg.
Kawsar geht auf die andere Seite der Zelle, wo sich um den stinkenden Toiletteneimer ein freier Kreis gebildet hat. Das Luftholen schmerzt, und sie atmet flach. Tragen Frauen wie China nicht bekanntlich immer eine Waffe bei sich?
«Bitte, Dahabo, komm schnell und hol mich hier raus», betet sie. Das durch ihren Widerstand gegen die Guddi entstandene Hochgefühl ist verflogen. Sie will nur noch eine Tasse starken Tee und zurück in ihr sauberes, sicheres Zuhause.
Schlitternd bremst Deqo ab. Vor ihr steigt ihre Retterin aus dem Stadion von einem Jeep. Als die Frau Milgo die Stirn bot, wirkte sie groß und mutig, aber jetzt wird sie von den Soldaten überragt. Sie geht hinter einer Soldatin die Betontreppe hinauf, auf der vierten Stufe scheinen ihre Knie nachzugeben, dann erlangt sie ihr Gleichgewicht wieder und betritt das Gebäude. Deqo überquert die Straße und starrt vom Fuß der Treppe nach oben. Kräftig und süß duften die Kleider der Frau nach Weihrauch, und Deqo atmet tief ein, stellt sich das Haus vor, in dem es so riecht – da brodeln Töpfe auf dem Herd, auf einer Leine trocknet Wäsche in der Sonne und auf einem Bett türmen sich Kissen und weiche Decken. Um nett zu sein, brauche es einen vollen Magen und ausreichend Schlaf, sagte Milgo, wenn sie es mit dem Prügeln übertrieb.
Deqo beschließt, im Schatten auf der anderen Straßenseite zu warten, bis die nette Dame wieder herauskommt, damit sie sich bei ihr bedanken kann; es war ungezogen gewesen, einfach so wegzurennen und sie im Stich zu lassen. Vielleicht hat sie keine Kinder, und sie kann bei ihr wohnen, so etwas ist schon vorgekommen – Frauen kamen in die Klinik, sahen in die Gitterbettchen und nahmen ein Baby mit nach Hause. Sie könnte kochen, putzen, Besorgungen machen, für eine alte Frau wäre sie viel geeigneter als so ein wimmerndes Baby.
Aus dem breiten, dunklen Gefängniseingang kommen ein paar Leute heraus, nicht aber jene Frau, auf die Deqo wartet. Zum Schutz gegen das gleißende Licht halten sie sich die Hand über die Augen, die Kleider sind fleckig und zerknittert, aber Deqo ist sich sicher, dass ihre Retterin nicht beschmutzt werden kann, sie wird bei ihrer Entlassung genauso gut riechen wie bei Haftantritt.
Von der Brücke her, die Deqo gerade erst überquert hat, sind Schwingungen zu spüren. Sie geht ein paar Schritte zurück und sieht einige Frauen, die sich langsam nähern und alle wie ihre Retterin gekleidet sind, eine rot-weiß-braune Woge bricht über die Straße herein; singend lobpreisen sie den Präsidenten und Somalia und schwenken Zweige. Sie marschieren in Zehnerreihen, manche auf der Straße, andere erobern den Gehweg, eine Hausfrauenarmee verdrängt die Stille. Deqo verzieht sich in ein Gässchen, falls Milgo unter ihnen sein sollte.
Ein somalisches Filmteam rennt vorbei. Mit ihren klobigen Kameras, Taschen und Mikrofonen erinnern sie Deqo an die ausländischen Fotografen, die sich während des Choleraausbruchs auf Saba’ad stürzten, den Leuten auf die Finger traten und ihnen die Kameras ins Gesicht hielten, während sie still und schweigend auf dem nackten Boden starben. Bis sie mit ihrer Arbeit loslegten, hatten sie freundlich gewirkt, dann übernahmen sie mit ihren Kabeln, Generatoren und den vielen anderen Geräten die Klinik geradezu. Sie hatten den alten Sulaiman gefilmt, der um seine tote Familie weinte, während seine Frau und die vier Kinder, für das Begräbnis in dünne Tücher gehüllt, dalagen, die Tränen rannen ihm in den Bart, und die Kameras waren nicht einmal einen Schritt von ihm entfernt. Er hatte überlebt, verließ das Lager dann aber ohne ein Bündel auf dem Rücken, seine Habseligkeiten hatte er den Nachbarn überlassen. Manche sagten, er sei in den Ogaden zurückgekehrt, andere meinten, er sei in die Stadt gegangen, jedenfalls wurde er nie wieder gesehen.
Die Marschierenden schwenken ihre Plakate und wedeln mit ihren Zweigen, allmählich versiegt ihr Strom, und zurück bleiben in den Asphalt getretene Blätter und Ästchen. Mit ihnen verschwindet das Leben aus der Straße, und Deqo bleibt mit dem Bild der vor der Klinik zum Begräbnis aufgereihten Leichname zurück, deren Geruch an ihrer Haut haftet wie Öl.
Endlich sind die Feierlichkeiten im Stadion vorbei, und die Würdenträger erheben sich, als die Nationalhymne aus den Lautsprechern dringt. Direkt unter General Haaruun steht Filsan inmitten einer Soldatenphalanx. Nachdem das Problem mit den Guddi gelöst war, hat sie sich zum Podium durchgeschlängelt. In der Nähe sind noch zwei Offizierinnen, aber sie ist dem General am nächsten; sie wirft einen abschätzigen Blick auf die Frauen und hofft, dass er die Bügelfalten in ihrer Uniform wahrnimmt, ihren geraden Rücken, die Präzision ihres militärischen Grußes. Sie hat den ganzen Tag über nichts gegessen, und vor ihren Augen verwandelt sich alles in eine Traumlandschaft: am Rand ihres Sichtfeldes winken ihr gespenstische Gestalten zu, die Tribünen wogen, Hände wie Wellenkämme; wo Sonne auf Metall trifft, lodert Feuer. Die letzten Töne der Hymne verklingen, da tippt ihr jemand auf die Schulter. Sie zuckt zusammen.
«Seine Exzellenz wünscht, dass Sie ihm vorgestellt werden», flüstert ihr ein Sergeant, auf jeder Epaulette ein Stern, ins Ohr.
«Was?» Filsan hat so lange auf diesen Augenblick gewartet, dass sie mehr nicht herausbringt.
«Schnell, er wartet.» Der Sergeant dreht ihr den Rücken zu und schnipst mit den Fingern, dass sie ihm folgen solle.
Sie hastet um die Absperrung und die Stufen hoch. Große Elektroventilatoren lassen die blauen und weißen Seidentücher, mit denen das Podium dekoriert ist, sanft flattern, und es kommt ihr vor, als stünde sie auf einer Wolke, die der Wind über den Himmel treibt.
Verstohlen tupft sie sich den Schweiß vom Haaransatz und salutiert vor General Haaruun.
«Stehen Sie bequem, Soldatin.» Seine Stimme ist sanft und leise, er ist sich seiner Macht so sicher, dass er sie nicht durch Gebrüll kundtun muss. «Ich treffe gern Genossinnen, und es ist mir ein Anliegen, ihre Karriere zu fördern. Wie heißen Sie?»
«Adan Ali, Filsan, Sir.» Sie bringt es nicht fertig, ihn anzusehen.
«Welcher Dienststelle gehören Sie an?»
«Innere Sicherheit, Sir.»
«Sehen Sie mich an, Genossin.»
Filsan hebt den Kopf und begegnet seinem Blick.
«Kommen Sie aus einer Familie mit Militärtradition?»
«Ja, Sir, mein Vater ist Irroleh.»
«Wir wurden zusammen in Ostberlin ausgebildet. Ein großartiger Soldat.»
Es hat funktioniert. Der Name ihres Vaters ist wie ein Schlüssel, der in ein Schloss geschoben wird; sie kann beinahe hören, wie sich die Tür für sie öffnet.
«Wie geht es ihm?»
«Sehr gut, Sir, er arbeitet im Verteidigungsministerium», lügt Filsan. Ihr Vater ist suspendiert und sitzt derzeit zu Hause, während die Untersuchung läuft.
«Dann werde ich, wenn ich das nächste Mal in Mogadischu bin, wohl mal bei ihm vorbeischauen müssen. Und Sie, seit wann sind Sie hier?»
«Erst seit drei Wochen, Sir.»
Er lächelt. «Die Welt ist doch ein Dorf.»
Sie lächelt zurück. Er ist wie einer der Männer, die sie als Kind auf den Schultern trugen, freundliche Riesen mit großen Händen und lautem Lachen.
Er wendet sich einem der Ausländer zu und schiebt dessen Stuhl zurück, spricht immer noch mit ihr. «Warum begleiten Sie uns nicht zum Oriental Hotel, dort können wir weiterreden.»
Filsan grinst und zeigt ihre kleinen, schief übereinanderstehenden Zähne. «Ja, Sir!» Die Leibwache umringt den General, und sie reiht sich in die äußerste Schutzreihe ein.
Er steigt in seinen schwarzen Mercedes und fährt mit der Wagenkolonne davon. Der Sergeant, der sie angesprochen hat, scheucht sie in seinen Jeep. Sollen doch die Guddi aufräumen und sich mit den Streunern und streitsüchtigen alten Frauen auseinandersetzen. Sie hat studiert, damit sie in der Schaltzentrale mitmischen kann. Der Jeep rast zum Oriental Hotel in der Nähe der Brücke, dem vornehmsten und ältesten Hotel der Stadt.
General Haaruun geht voran, berührt leicht den Rücken der Ehefrau eines asiatischen Botschafters, verbeugt sich und lässt ihr den Vortritt ins Hotel.
bedu