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Jürgen Osterhammel

Die Entzauberung
Asiens

Europa und die asiatischen Reiche
im 18. Jahrhundert

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck


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Zum Buch

Asien war eines der großen Themen der Aufklärungsepoche. Im 18. Jahrhundert wurden auch entlegene Teile Asiens bereist und erschlossen. Um 1780 waren die Gebildeten Europas über Asien hervorragend informiert. Asien wurde damals zugleich entzaubert und besser verstanden als in den Jahrhunderten davor. Für eine kurze Zeit wurden Araber, Inder, Perser oder Chinesen zu entfernten Nachbarn, mit denen sich trotz offenkundiger Kommunikationsschwierigkeiten ein Dialog führen ließ. Weltoffenheit und wissenschaftliche Neugier kippten um 1800 in eine neue, heute noch nachwirkende Arroganz um. Zur kolonialen Unterwerfung eines entzauberten Kontinents war es dann nur ein kleiner Schritt.

Für die Neuausgabe wurde das Buch um ein Nachwort erweitert, das sich kritisch mit der Diskussion um eurozentrischen «Orientalismus» auseinandersetzt.

Über den Autor

Jürgen Osterhammel ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Für «Die Entzauberung Asiens» erhielt er den «Gleim-Literaturpreis» und den «Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin». Bei C.H.Beck ist zuletzt sein monumentales Werk «Die Verwandlung der Welt» (5. Auflage, 2010) erschienen, für das er den «NDR Kultur Sachbuchpreis» erhalten hat. 2010 erhielt er für seine herausragenden Forschungsleistungen den Leibniz-Preis.

Sabine Dabringhaus
gewidmet

Inhalt

Vorbemerkung

      I. Einleitung

1. Asiens «Niedergang» – Europas Arroganz

2. Die Große Landkarte der Menschheit

3. Diskurszwang, Bildungsfracht, Autismus

4. Differenzwahrnehmung

5. Räume

6. Epochengrenzen

WEGE DES WISSENS

    II.  Asien – Europa: Grenzen, Gleichgewichte, Hierarchien

1. Asien und Europa im Russischen Imperium

2. Das Osmanische Reich: Europäische Großmacht oder barbarische Fremdkultur?

3. Asien: Vornehmster der Kontinente?

4. Charaktertypus und Enzyklopädie

5. Europas Primat – transeuropäische Globalisierung

   III. Perspektivenwechsel: Spielräume europäischer Selbstrelativierung

1. Kulturtransfer und Kolonialismus

2. Theorien des Ethnozentrismus

3. Interkultureller Leistungsvergleich

4. Diskursive Gerechtigkeit

5. Chinesische Interviews, tamilische Briefe

6. Niebuhrs Affe

    IV. Reisen

1. Sir John Malcolms Tafelrunde

2. Die Tränen des Mandarins

3. Meer und Land

4. Ostasien: Mauerreiche

5. Südost- und Südasien: Imperiale Freizügigkeit

6. Der Nahe Osten: Antikenpilgerschaft

7. Abenteurer und Überläufer

8. Forscher und Funktionäre

     V. Begegnungen

1. Strapazen, Enttäuschungen, Katastrophen

2. Der mysteriöse Mister Manning

3. Dolmetscher und Dialoge

4. Sprachblindheit

5. Mimesis und Täuschung

6. Soziologie der Wahrnehmungschancen

    VI. Augenzeugen – Ohrenzeugen: Asien als Erfahrung

1. Riesen und Einhörner

2. Vorurteilslosigkeit

3. Augenschein

4. Vor dem Hochgericht der Philosophie

5. Methoden der fragenden Klasse

6. Hören und Hörensagen

7. Local knowledge: Asiatische Wissenschaft in europäischen Texten

  VII.  Berichten, edieren, lesen: Von der Erfahrung zum Text

1. Der Reisebericht als Erkenntniswerkzeug

2. Stil und Wahrheit

3. Anthologien, Collagen, Super-Erzählungen

4. Verbesserndes Übersetzen

5. Aktualität und Kanon

6. Lesespuren

7. Lesekünste

8. Brechungen der Repräsentation

ZEITGENOSSENSCHAFT UND GESCHICHTE

VIII.  Das Elementarhistorische: Steppenkrieger, Eroberer, Usurpatoren

1. Stammesasien: Attila und die Folgen211

2. Ein Kontinent der Revolutionen

3. Timur: Reichsgründer und Monster

4. Nadir Schah: Kriegskomet und Patriot

5. Haidar Ali: Tyrann und aufgeklärter Reformer

6. Die Modernisierung vulkanischer Politik

   IX. Wilde und Barbaren

1. Verlorene Wilde

2. Viererlei Barbarei

3. Dach der Welt

4. «Tartarei»: Geographisch, geschichtsphilosophisch, ethnographisch

5. Ritter und Exoten auf der Krim

6. Ethnologie und Politik der arabischen Freiheit

7. Theorie des Nomadentums

8. Der Triumph der Seßhaften

    X. Wirkliche und unwirkliche Despoten

1. Neros und Salomos Erben

2. Montesquieu liest Sir John Chardin

3. Despotismus und Geschichtsphilosophie

4. Zweifel an der «orientalischen Despotie»

5. Anquetil-Duperron und die Entdämonisierung des europäischen Asienbildes

6. Indien: Translatio despotica

7. China: Bürokratisches Management

8. Osmanisches Reich: Prätorianer und Papiertiger

9. Ex Occidente lux

   XI. Gesellschaften: Ordnungen und Lebensformen

1. Die Solidarität der Zivilisierten

2. Städte

3. Batavische Kolonialsoziologie

4. Nahsicht: Städtisches Leben in Aleppo

5. Sklaven

6. Doktoren an der Macht

7. Kasten: Religionszwang oder Sozialutopie?

8. Feudalismus

9. Masken und Gefühle

10. Die Geburt der Soziologie aus dem Geiste kultureller Differenz

  XII. Frauen

1. Der größte Unterschied

2. Reiche der Sinne

3. Sphären der Häuslichkeit

4. «Vielweiberey»

5. Arbeit, Freiheit und Opfer

6. Fortschritt: Das Galanteriekriterium

XIII.  Zeitenwende: Der Aufstieg des Europazentrismus

1. Intellektuelle Schwebelagen und neue Ausgrenzungen

2. Von Aladins Schatzhöhle zum Entwicklungsland

3. Niedergang, Degeneration, Stagnation385

4. Von der Zivilisationstheorie zur Zivilisierungsmission

Nachwort zur Neuauflage

Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Namenregister

Orts- und Sachregister

Vorbemerkung

Bei unseren Versuchen, die Stellung Europas in der Welt der Gegenwart zu bestimmen, ist keine frühere Epoche lehrreicher als das 18. Jahrhundert. Selbstverständlich war die Haltung europäischer Intellektueller des Aufklärungszeitalters zu anderen Zivilisationen «ethnozentrisch». Es ist leicht, dies in einem Fall nach dem anderen entlarvend nachzuweisen – zumal in einer Zeit, wo ein globales Bewußtsein, multikulturelle Empathie oder ein gelebtes Weltethos mit nichts als einem kleinen Gesinnungsruck wohlfeil erreichbar zu sein scheinen. Wenn wir alle Weltbürger sind, fallen die Mühen derjenigen, die es vor zwei Jahrhunderten – ohne die Wohltaten von TV-Reportagen, Ferntourismus und Internet – sein wollten, kaum ins Gewicht. So scheint es. Aber eine solche Gegenwartsarroganz ist anachronistisch. Sie verfehlt genau das, was sie an den Aufklärern zu vermissen meint: ein Verständnis für den Eigensinn «fremder» Epochen und Kulturen. Denn das 18. Jahrhundert ist uns in mancher Hinsicht fremd. Zwischen ihm und uns liegt kein stetiger Fortschritt im angemessenen Begreifen oder Repräsentieren außereuropäischer Zivilisationen, sondern eine lange Phase der Verdunkelung des nichtokzidentalen Rests der Welt. Man kann sie kurz durch die herrschenden «Ismen» kennzeichnen: Europazentrismus, Nationalismus, Rassismus, Imperialismus; Edward Said hat vor zwanzig Jahren hinzugefügt: Orientalismus. Diese Tendenzen und Haltungen entstanden während der so vieles entscheidenden «Sattelzeit» um 1800; es ist sicher vorschnell zu behaupten, daß sie schon ganz überwunden wären.

Das Studium und die intellektuelle «Erfassung» – den Begriff borge ich bei Ernst Schulins bedeutendem Buch Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke – außereuropäischer Zivilisationen war für Gelehrte und Gebildete des 18. Jahrhunderts mehr als Mummenschanz und eitle Selbstbespiegelung. Die sogenannten Wilden Amerikas und der Südsee und die Barbaren und Zivilisierten Asiens wurden besucht, beschrieben und kommentiert, weil die «Wissenschaft vom Menschen», die den Aufklärern in Frankreich, Schottland, England, Deutschland und Italien vorschwebte, über Europa hinausdrängte. Asien war keine exotische Zutat, sondern ein selbstverständliches und zentrales Feld von Welterfahrung. Diese universale und vergleichende science of man oder science de l’homme, die von einem breiten Publikumsinteresse an allem Asiatischen begleitet war, erreichte ihren Höhepunkt während der letzten vier Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Kurz vor der Jahrhundertwende trat dann das Studium östlicher Sprachen, Literaturen und Philosophien in ein Stadium unerhörter Professionalität ein. Die «orientalische Renaissance», wie der französische Kulturhistoriker Raymond Schwab sie genannt hat, wurde indessen niemals zur prägenden Bildungsmacht. Persisch, Sanskrit oder Chinesisch vermochten die zu derselben Zeit humanistisch erneuerte Herrschaft des klassischen Altertums und seiner Sprachen über das Bewußtsein des 19. Jahrhunderts nicht zu brechen. Aus der orientalischen Renaissance entstanden die orientalistischen Disziplinen. Da die Beschäftigung mit Asien nun aber philologischen Spezialisten überlassen war, konnte sich die intellektuelle Öffentlichkeit davon entlasten. Die kosmopolitische Wissenschaft vom Menschen wich einer Vielzahl von Einzelfächern, deren gemeinsamer Gravitationspunkt das moderne Europa war. Dabei ist es bis in die jüngste Vergangenheit geblieben.

Die Entzauberung Asiens im 18. Jahrhundert war – wie die der Welt überhaupt – ein doppelsinniger Prozeß von widersprüchlicher Wertigkeit. Auf der einen Seite bedeutet Entzauberung einen Verlust von Sinnschätzen vormoderner Vielfalt, eine Niederlage des Ästhetischen und einen Sieg der Fähigkeit, «die anschaulichen Begriffe zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen» (Friedrich Nietzsche). Die geordnete Welt wird verfügbar. Romantische und neoromantische, oder sagen wir: postmoderne, Sensibilitäten haben stets dagegen aufbegehrt. Die Wiederverzauberung Asiens, vor allem eines uraltmythischen Indien, ließ denn auch nach 1800 nicht auf sich warten. Wem heute «das Fremde» gar nicht fremd, bunt und exotisch genug sein kann, der pflegt solche distanzierenden Bedürfnisse: bis hin zu «New Age»-Phantasien von tiefster tibetischer Weisheit, die mit dem wirklichen Asien wenig zu tun haben. Auf der anderen Seite bedeutet Entzauberung einen Rationalitätsgewinn. Wer nicht mehr daran glaubt, daß Hexen fliegen können, wird weniger bereit sein, sie zu verbrennen, und wird sich irgendwann einmal fragen, ob es überhaupt «Hexen» gibt. Die Entzauberung Asiens nahm einem Kontinent, der lange als der Ursprung aller Religion und Kultur gegolten hatte, seinen Glanz, aber auch seine Dämonie. Für eine kurze Zeit wurden Araber, Inder, Perser oder Chinesen zu entfernten Nachbarn, mit denen sich trotz offensichtlicher Kommunikationsschwierigkeiten ein durch ethnologische Rücksichten kaum verzerrter Dialog führen ließ. Spätestens der im frühen 19. Jahrhundert aufkommende Rassismus, gleichsam der finstere Zwilling einfühlsamer Romantik, machte diese Chancen zunichte.

Dieses Buch hat Helden, und es sind jene philosophes, ob nun unterwegs auf Reisen oder am Schreibtisch über Reisebeschreibungen gebeugt, denen die Ambivalenz der Entzauberung deutlich war und die fortwährend Harmonie und Konflikt der Kulturen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu setzen versuchten: John Chardin, Voltaire, Adam Ferguson, Edward Gibbon, Carsten Niebuhr, Alexander Russell, Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron, Joseph von Hammer-Purgstall und manche andere. Im Hintergrund stehen Diderot, Georg Forster und Alexander von Humboldt, von denen man nur ahnen kann, was sie über Asien geschrieben hätten. Es ist mir wichtig, kaum bekannte oder gar völlig verschollene Autoren vorzustellen und damit das Personal der Aufklärungsepoche zu erweitern. Dennoch ist dieses Buch keine um Vollständigkeit bemühte Enzyklopädie der europäischen Asienliteratur des 18. Jahrhunderts. Dazu wäre ein Vielfaches an Aufwand und Umfang erforderlich gewesen, und am Ende wäre vielleicht doch nur eine Materialsammlung herausgekommen. Die konsultierte Forschungsliteratur habe ich leider nicht vollständig nennen können. Wer «Theorie» sucht, wird sie versteckt finden. Auf die Ausarbeitung der vorgesehenen Kapitel über die Wahrnehmung asiatischer Religionen, Rechtssysteme und Sprachen mußte verzichtet werden. Fremdsprachige Zitate werden in der Regel übersetzt. In manchen Fällen ist der originale Wortlaut wichtig oder attraktiv genug, um erhalten zu bleiben. Für Namen in asiatischen Sprachen werden vereinfachte Transkriptionen verwendet.

Mein Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken, auf deren Beständen die Untersuchung vornehmlich beruht: der British Library, der London Library, der Bibliothek der School of Oriental and African Studies (Marsden Collection), den Staatsbibliotheken in München und Berlin und der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. Freunde und Kollegen haben mir über die Jahre hinweg so viele sachliche und bibliographische Hinweise gegeben, daß ich auf eine namentliche Danksagung verzichten muß. Nur die Hilfe derjenigen, die einem Politik- und Wirtschaftshistoriker die Kulturwissenschaften nahezubringen versuchten, sei mit tiefer Anerkennung vermerkt. Im London der mittleren achtziger Jahre konnte ich mit Stig Förster, Paul Luft, Regina Schulte und Peter J. Marshall erste tastende Gespräche über das Thema führen. In Freiburg hat mich später Wilhelm Hennis gelehrt, dort Politikwissenschaft zu finden, wo man sie heute nicht vermuten würde. Ernst Schulin hat mir die Historiographiegeschichte und die Rückkehr in die Geschichtswissenschaft eröffnet. Die Zusammenarbeit mit Folker Reichert an unserer gemeinsamen Editionsreihe Fremde Kulturen in alten Berichten ist seit Jahren eine Quelle der Inspiration. Aus verstreuten Studien wäre niemals ein Buch entstanden, hätte mich nicht das Wissenschaftskolleg zu einem Gastjahr nach Berlin eingeladen; dort ist das Manuskript geschrieben worden. Mein herzlicher Dank gilt der Leitung, insbesondere Jürgen Kocka, und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieses wundervollen Hauses. Von fast sämtlichen meiner Mit-Fellows im Jahrgang 1996/97 habe ich auf irgendeine Weise lernen können. Die Zueignung an Sabine Dabringhaus dankt nicht nur der Expertin für das frühneuzeitliche China und Zentralasien.

1.
Einleitung

Nos peuples occidentaux ont fait éclater dans toutes ces découvertes une grande supériorité d’esprit et de courage sur les nations orientales. Nous nous sommes établis chez elles, et très souvent malgré leur résistance. Nous avons appris leurs langues, nous leur avons enseigné quelques-uns de nos arts. Mais la nature leur avait donné sur nous un avantage qui balance tous les nôtres: c’est qu’elles n’avaient nul besoin de nous, et que nous avions besoin d’elles.                Voltaire[1]

Unsere Völker des Westens haben in all diesen Entdeckungen eine große Überlegenheit an Geist und Mut gegenüber den östlichen Nationen unter Beweis gestellt. Wir haben uns, sehr oft gegen ihren Widerstand, unter ihnen niedergelassen. Wir haben ihre Sprachen gelernt und ihnen einige unserer Künste beigebracht. Aber die Natur gab ihnen einen Vorteil über uns, der alle unsere Vorteile aufwog: Sie brauchten uns nicht, aber wir brauchten sie.

Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nimmt die Welt manche der Ergebnisse des neunzehnten zurück. Eines der Ergebnisse eines historisch beispiellosen Prozesses globaler Überwältigung von vier Kontinenten durch die Europäer war eine Haltung arroganter Herablassung gegenüber all jenen Zivilisationen, die durch militärische Niederlagen, wirtschaftliche Ausbeutbarkeit und technologischen Rückstand ihre Unterlegenheit, gar ihre Minderwertigkeit zu beweisen schienen. Der «Westen», also die europäischen Großmächte unter britischer Führung sowie die zunehmend imperial auftretenden Vereinigten Staaten von Amerika, kostete seinen Triumph vor allem über Asien aus. Daß man die Ureinwohner Amerikas, die schwarzen Afrikaner sowie die Bewohner Australiens, Neuseelands und der pazifischen Inseln unterworfen, verdrängt und kolonisiert hatte, schien sich von selbst zu verstehen. Seit man in Europa zuerst von ihnen gehört hatte, stand das Gefühl eigener Überlegenheit gegenüber diesen «Wilden», wie es in der Ethnographie seit der Antike hieß, außer Frage. Asien hingegen war stets das große Gegenprinzip Europas gewesen, eine Welt mächtiger Reiche und wohlhabender Gesellschaften, glanzvoller Kulturschöpfungen und ehrwürdiger Religionen.[2] Der eurasische Kontinent hatte seit Jahrtausenden einen historischen Wirkungszusammenhang gebildet. Bereits Entstehung und Verbreitung von Landwirtschaft waren ein Prozeß gesamteurasischer Diffusion.[3] Asiatische Völker hatten immer wieder in die Geschichte der Länder am Mittelmeer und nördlich von ihm eingegriffen, sie hatten die Weiten Rußlands in ihre Reiterimperien eingeschlossen. Kleinasien und die Levante waren dem Imperium Romanum einverleibt worden, doch hatte bis in die Frühe Neuzeit hinein Asien eher Europa bedroht als umgekehrt. Parther, Hunnen, Araber, Mongolen und Türken hatten das West- und Oströmische Reich und seine Nachfolgestaaten angegriffen und zuweilen viele Jahrhunderte lang politische Herrschaft über bereits christianisierte Gebiete ausgeübt. Noch Gottfried Wilhelm Leibniz, ein aufmerksamer und nüchterner Beobachter der weltpolitischen Szene seiner Zeit, fürchtete – vielleicht noch in der Erinnerung an die Einfälle der Krimtataren nach Siebenbürgen und Mähren in den Jahren 1657 bis 1666[4] – einen neuen Mongolensturm. «Und wenn diese Tataren nicht unentwegt Krieg untereinander führten», schrieb er 1699 in einem Brief, «wären sie fähig, einen großen Teil der Welt zu überfluten, wie es einst Dschingis Khan getan hat.»[5]

1. Asiens «Niedergang» – Europas Arroganz

Im Vergleich zu Leibniz’ ernster, wenngleich damals schon arg übertriebener Sorge waren die Warnungen von Autoren des späten 19. Jahrhunderts vor einer angeblichen «gelben Gefahr» wenig mehr als panikschürende Propaganda. Die politische Macht Asiens schien zu jener Zeit endgültig gebrochen, sein kulturelles Prestige verblaßt zu sein. Um die letzte Jahrhundertwende, die Zeit des Hochimperialismus, war der größte Teil Asiens einer europäischen Kolonialherrschaft unterworfen, deren Ende nur die kühnsten Propheten vorauszusagen wagten. Halbkoloniale Staaten wie China, Siam (das spätere Thailand) oder das Osmanische Reich, die in ihrem territorialen Kern intakt geblieben waren, sahen ihre politische Handlungsfähigkeit drastisch beschnitten. Nur Japan hatte sich in einem kollektiven Kraftakt ohnegleichen und unter beispiellos günstigen äußeren Bedingungen vom Opfer zum Juniorpartner der europäischen Mächte und der USA empormodernisiert. Überall sonst in Asien triumphierten die Wirtschaftsformen des europäischen Kapitalismus, vorwiegend unter ausländischer Ägide; erst spurenweise wurden sie von einheimischen Kräften übernommen. Ganz Asien schien die historische Initiative verloren zu haben, schien zu einem Kontinent der Modernisierungsverlierer hinabgesunken zu sein. Nicht ein eifernder Propagandist des Imperialismus, sondern der besonnene und seriöse österreichische Nationalökonom Friedrich von Wieser formulierte 1909 Sätze, die das allgemeine europäische Urteil zum Ausdruck brachten:

Asien, die Wiege des Menschengeschlechtes, ist mit dem Schutt entkräfteter, entwürdigter Völker bedeckt, die von den Möglichkeiten des Auftriebes keinen Gebrauch mehr machen können, welche ihnen die technischen Fortschritte der Gegenwart bieten.[6]

Die Geschichte schien im Begriffe zu sein, über Asien und die Asiaten hinwegzugehen.

Kaum jemand in Europa hätte Friedrich von Wieser in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg widersprochen und wenige in den Jahrzehnten danach. Ein erstes Indiz für eine neue Vitalität vor den Toren Europas war Kemal Atatürks energische und erfolgreiche Modernisierungspolitik in der Türkei, die um 1923 begann. Doch erst in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts gewannen, für alle Welt sichtbar, Asiaten ihre historische Handlungsfähigkeit zurück: mit dem japanischen Angriff auf die amerikanische Pazifikflotte im Dezember 1941 und der Kapitulation der angeblich uneinnehmbaren britischen Festung Singapur kaum mehr als zwei Monate später, mit der vietnamesischen Revolution von 1945 und der chinesischen von 1949, mit der Unabhängigkeit der Philippinen, Indiens, Pakistans, Ceylons, Burmas und Indonesiens in den Jahren 1946 bis 1949.

Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere während seines vierten Quartals verschwanden die Gründe und Anlässe für europäischen Hochmut gegenüber einem Asien, in dem – neben fortdauernder Massenarmut in weiten Bereichen – außerordentlich dynamische Zonen wirtschaftlichen Wachstums entstanden, die einer Mehrheit ihrer Bewohner eine auskömmliche Lebensführung ermöglichen. Das letzte Rückzugsargument des europäischen Sonderbewußtseins verlor an Stichhaltigkeit: daß nämlich Asiaten bloß zu imitierenden, niemals zu kreativen Leistungen fähig seien. Auf asiatischer Seite trat nunmehr ein eigener kultureller Nationalismus auf den Plan, der die Bevormundung durch den Westen selbstbewußt von sich wies, sich jeglichen «kulturellen Imperialismus» verbat und sogar das alte europäische Klischee von der rettungslosen Dekadenz Asiens in Prognosen eines kommenden Untergangs des Abendlandes umpolte. Seit der iranischen Revolution von 1979 gewann diese ideologische Abwehrschlacht weltpolitische Bedeutung. Anfang der neunziger Jahre mit schrillem Nachdruck, seit der großen asiatischen Wirtschaftskrise von 1997 in gedämpfteren Tönen haben Stimmen aus Japan und China, aus Malaysia, Singapur und Südkorea die Überlegenheit der eigenen Kulturwerte und gesellschaftlichen Organisationsformen gegenüber denjenigen des Westens verkündet.[7] Westliche Warner vor einem aggressiven Islam und einer «neuen gelben Gefahr» konnten sich wiederum bestätigt sehen, und Visionen von einem bevorstehenden Zusammenprall aggressiver Zivilisationsblöcke blieben nicht aus.[8]

So ist am Ende des 20. Jahrhunderts von der europäischen Hybris des voraufgegangenen fin de siècle wenig geblieben. Weltherrschaft, Kontrolle über wirtschaftliche Globalisierungsprozesse und kulturelle Ausschließlichkeitsansprüche sind unwiederbringlich dahin. War das 19. Jahrhundert das Jahrhundert Europas, so muß schon das 20. eher das Jahrhundert Nordamerikas heißen, und das 21. mag zum Saeculum Chinas werden. Die Zeit ist günstig für Historiker, nach den Ursprüngen eines lange so mächtigen europäischen Sonderbewußtseins,[9] eines Glaubens an die eigene natürliche Vorrangstellung vor anderen Zivilisationen, zu fragen. Dieses Sonderbewußtsein ruhte auf frühen antiken und christlichen Grundlagen, kristallisierte sich im Zeitalter der Aufklärung zu einer säkularen, auf religiösen Erwählungsglauben verzichtenden Weltanschauung, bestimmte im 19. Jahrhundert, mit rassistischen Beimischungen versehen, das Auftreten von Europäern in Übersee und milderte sich im Zeitalter der Dekolonisation zu besserwisserischer Herablassung. Zu seiner Formierungsepoche, dem 18. Jahrhundert, zurückzugehen bedeutet nicht nur, eine einfache ideengeschichtliche These vom Aufstieg und Fall einer diskursiven Formation, hier des europäischen Exzeptionalismus,[10] aus den Quellen zu illustrieren und sich damit an der Kritik europäischer Heucheleien, Illusionen und machtgeschützter Wahnvorstellungen zu beteiligen, wie sie seit Edward W. Saids einflußreichem Pamphlet Orientalism (1978) mit dem Gestus der Entlarvung und manch einseitiger Überzeichnung betrieben wird.[11] Zugleich eröffnet sich, in keiner These erschöpfbar, eine kulturelle Welt, die von einer auf binneneuropäische Verhältnisse fixierten Geschichtsschreibung nicht genügend beachtet wurde: die Welt des europäischen Asieninteresses im Zeitalter der Aufklärung.

2. Die Große Landkarte der Menschheit

Die europäische intellektuelle Welt im Zeitalter der Aufklärung war kosmopolitisch eingestellt. Nationale Grenzen spielten eine geringere Rolle als in früherer und besonders in späterer Zeit.[12] Die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, in der Latein nicht mehr vorherrschte, aber noch allgemein verstanden wurde, war mehrsprachig. Dichte Netze der Kommunikation, durch Briefe, Besuche und die Beschäftigung in ausländischem Dienst geknüpft, verbanden savants in Paris und Edinburgh, London und St. Petersburg, Uppsala und Göttingen, Leiden und Turin.[13] Leibniz und Voltaire suchten sogar in fernen Kulturkreisen nach ähnlich gesinnten Geistern, die am großen Werk der Mehrung des Wissens beteiligt werden könnten. Die chinesischen Gelehrtenbeamten, eine kongeniale Leistungselite, schienen eine Weile lang diese Rolle übernehmen zu können. Aufklärung wurde als universales Unternehmen entworfen.

Das Interesse einer gebildeten Öffentlichkeit an Berichten aus Asien, Amerika, der Südsee und Afrika war stärker als je zuvor. Es wurde durch eine Flut von Reiseliteratur befriedigt. In fast keiner Gelehrtenbibliothek und fürstlichen Büchersammlung fehlten die maßstäblichen Reisetexte der Zeit.[14] Die riesige Privatbibliothek des Berliner Geographen Carl Ritter versammelte am Ende der Epoche nahezu die gesamte Außereuropa-Literatur in europäischen Sprachen.[15] Die Aufmerksamkeit für die Ereignisse etwa im Osmanischen Reich war so groß, daß 1789 der Geograph Johann Traugott Plant ein dickleibiges Türkeilexikon zum Nutzen von Zeitungslesern erscheinen ließ.[16] Der Horizont der Generation, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu schreiben und zu publizieren begann, spannte sich erstmals in der europäischen Geistesgeschichte weltweit. Edmund Burke, der Parlamentarier, politische Philosoph und – wie wir sehen werden – moralisch bewegte Interpret Indiens, schrieb 1777 überschwenglich an William Robertson, nachdem er dessen History of America, eines der historiographischen Meisterwerke der Epoche, gelesen hatte:

Nun ist die Große Landkarte der Menschheit (the Great Map of Mankind) mit einem Male entrollt worden, und es gibt keinen Zustand und keinen Grad der Barbarei, keinen Ausdruck der Verfeinerung, den wir nicht in ein und demselben Moment vor Augen hätten: die ganz unterschiedliche Gesittung Europas und Chinas, die Barbarei Persiens und Abyssiniens, die seltsamen Sitten der Tartarei und Arabiens, die Wildheit (the savage state) Nordamerikas und Neuseelands.[17]

Ähnlich formulierte nahezu gleichzeitig, an Sätze Jean-Jacques Rousseaus anschließend, Jean-Nicholas Demeunier in der Einleitung zu seiner großartigen ethnographischen Enzyklopädie, die das Wissen über Sitten und Bräuche aller Völker systematisch zusammenstellte: «Wir kennen nun beinahe alle Nationen, die zivilisierten (policées) und die wilden. Die Zeit ist gekommen, sie zu vergleichen.»[18] Und der schottische Sozialphilosoph Adam Ferguson, der 1767 eine bedeutende Abhandlung zur universalen Soziologie veröffentlichte, konnte sich dabei auf Material aus allen Epochen und Kulturen beziehen. «Neuere Entdeckungen», so erklärte er, noch bevor er von Kapitän Cooks Besuchen in der Südsee profitieren konnte, «haben uns die Kenntnis nahezu jeder Lage gebracht, in welche die Menschen versetzt werden».[19]

Als dies geschrieben wurde, war der Osten längst nicht mehr nur in Bildern und Texten präsent. Europäer konnten Gewürze aus «Ostindien» kaum noch entbehren, sie kleideten sich in indische Baumwollstoffe und chinesische Seide, tranken arabischen Kaffee und chinesischen Tee.[20] Opium aus der Türkei und aus Indien beflügelte die künstlichen Paradiese der romantischen Literatur und wurde, zumindest in England, zu einer Massendroge.[21] Asien war im 18. Jahrhundert sinnlich fühlbar, konsumierbar, eine Präsenz im europäischen Alltagsleben. Jeder hat schon Porzellan aus China gesehen, so wendet sich 1735 der Autor einer volkstümlichen Geschichte Asiens pädagogisch an seine Leser, warum sollen wir dann nicht auch die Geschichte dieses Landes studieren?[22] Zugleich blieb eine mögliche Bedrohung durch die leistungsfähigen Ökonomien des Ostens nicht unbemerkt. Schon um 1700 bereitete die chinesische Konkurrenz französischen Produzenten Kopfzerbrechen.[23]

Es war zwischen etwa 1750 und 1820 für die gelehrte und gebildete Öffentlichkeit Frankreichs und Großbritanniens, Deutschlands und Italiens viel selbstverständlicher als jemals zuvor und auch als jemals danach, sich über Zustände und Entwicklungen in Übersee auf dem laufenden zu halten. Nachrichten aus fernen Ländern wurden nicht vornehmlich wegen ihres Unterhaltungswerts aufmerksam aufgenommen. Sie dienten neben den Klassikern des Altertums und der Bibel, die vielfach wie ein Geschichtsbuch gelesen wurde, als Rohmaterial für eine empirische Wissenschaft vom Menschen. Diese science de l’homme war übernational, transkulturell und – wie Burke und Demeunier andeuteten – vergleichend angelegt; Autoren aus den verschiedensten Wissenschaftsrichtungen und aus ganz Europa trugen zu ihr bei. Schon Pierre Bayle, der erste Aufklärungsschriftsteller von europäischer Wirkung, hatte sich Beispiele vom Verhalten der Menschen aus allen Teilen der Welt zusammengesucht. Zahllose Autoren folgten seinem Vorbild.

Dieses globale Bezugsfeld des Wissens ging im 19. Jahrhundert verloren. Oder es wäre wohl besser zu sagen: es fragmentierte sich. Für außereuropäische Zivilisationen wurden nun die Fachleute in den neu geschaffenen orientwissenschaftlichen Disziplinen und in der ebenfalls jetzt entstehenden Völkerkunde oder Ethnologie zuständig. Dort blieben sie unter sich, während die maßgebenden Gelehrten in den Leitdisziplinen des akademischen Lebens ihr Blickfeld unbesorgt auf Europa verengten.[24] Ein Beispiel mag dies veranschaulichen. Die führenden deutschen Historiker des 18. Jahrhunderts, etwa August Ludwig Schlözer und Johann Christoph Gatterer an der Universität Göttingen, beschäftigten sich so gründlich, wie es ihre Informationsmöglichkeiten erlaubten, mit der Geschichte asiatischer Völker und bezogen sie in ihre universalhistorischen Entwürfe ein. Leopold von Ranke hingegen, der tonangebende deutsche Historiker des 19. Jahrhunderts, beschränkte sein eigenes Spätwerk, die Weltgeschichte (1881–88), auf die in seinen Augen allein geschichtsmächtigen Völker des klassischen Altertums und des nachantiken Europa. Immerhin legte Ranke, ein Mann von souveränem gesamteuropäischem Überblick, noch ein gewisses Interesse am Osmanischen Reich an den Tag und galt daher in der deutschen Öffentlichkeit sogar als Orientexperte.[25] In der Generation seiner Schüler obsiegte dann aber ein enger Europa- oder gar Germanozentrismus. Nur uncharakteristische Ausnahmegestalten wie Otto Hintze, Karl Lamprecht, Max Weber und Kurt Breysig knüpften, neue Erkenntnisse der Orientwissenschaften nutzend, um die Jahrhundertwende an den Kosmopolitismus des Aufklärungszeitalters an.

3. Diskurszwang, Bildungsfracht, Autismus

Wie ernsthaft, wie genuin waren Kosmopolitismus und Außereuropainteresse des 18. Jahrhunderts? Wie weit erstrebte man tatsächlich eine dem Gegenstand angemessene Erkenntnis «der Anderen»? Handelte es sich nicht in Wahrheit um einen exotisch verbrämten Europazentrismus, vielleicht sogar um eine eitle Illusion allzu ehrgeiziger europäischer Intellektueller, die sich einen modischen Mantel der Weltläufigkeit umlegten?[26] Fanden die europäischen Beobachter jemals aus dem Kabinett der Selbstbespiegelung hinaus? Sahen sie nicht einfach nur das, was sie sehen wollten? Diese Fragen berühren mehr als das Problem subjektiven Bemühens und persönlicher Ehrlichkeit. Sie sind grundsätzliche Fragen nach der gesellschaftlichen und kulturellen Gebundenheit von Wissen, nach den Möglichkeiten der Menschen einer Zivilisation, sich ein angemessenes Bild von den Angehörigen einer anderen zu machen. Die neuere Literatur zu diesem Thema neigt zu skeptischen Urteilen. Sie treten in zwei Varianten auf.

Die erste könnte man das Modell des autistischen Diskurses nennen. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Edward W. Said und manche seiner Anhänger haben der europäischen Kultur einen allgegenwärtigen Autismus unterstellt, eine von imperialer Machtentfaltung getragene Unfähigkeit zum Dialog mit anderen Kulturen, die bestenfalls als stumme Objekte politischer Beherrschung und wissenschaftlicher Analyse in Frage kämen. Said ist stets sorgfältig genug gewesen, einen solchen totalen Ideologieverdacht auf das 19. und 20. Jahrhundert zu beschränken. In Napoleons Ägyptenexpedition von 1798 sieht er den Urknall einer Denkform, die er «Orientalismus» nennt.[27] In der Tat liegt die große provokative Kraft dieser Richtung der Diskursanalyse[28] in ihrer Kritik am objektivistischen Selbstverständnis der europäischen Orientwissenschaften des 19. Jahrhunderts, an der Spannung zwischen deren Wahrheitsansprüchen und ihren unausgesprochenen imperialen Voraussetzungen.[29]

Für das 18. Jahrhundert fehlen diese imperialen Voraussetzungen noch weitgehend. Europäer traten vor 1800 in Asien eher als Missionare, Forschungsreisende, Diplomaten und bewaffnete Kaufleute denn als Kolonialherren in Erscheinung. Um 1800 waren europäische Kolonien noch Einsprengsel in einer Welt asiatischer Reiche und Fürstentümer: Entlang der Küsten der Insel Ceylon (Sri Lanka) hatten erst die Portugiesen, dann seit etwa 1670 die hauptsächlich am Zimthandel interessierten Holländer in Gestalt ihrer 1602 gegründeten Ostindienkompanie (Verenigde Oostindische Compagnie, v.O.C.) koloniale Herrschaft ausgeübt. Während der Revolutionskriege kamen 1795/96 die holländischen Territorien unter britische Kontrolle. Weil man in London Ceylon für strategisch bedeutsam hielt, wurde es – ebensowenig wie etwa gleichzeitig das Kap der Guten Hoffnung – nicht wieder an die Niederlande zurückgegeben, sondern 1802 zu einer britischen Kronkolonie erklärt. Das Innere der Insel wurde aber nach wie vor vom König von Kandy regiert. Streitigkeiten zwischen König und Aristokratie und später einen fremdenfeindlichen Volksaufstand nutzend, eroberten die Briten zwischen 1815 und 1818 ganz Ceylon. Ebenfalls 1818 kam eine lange Reihe von Kriegen zum Abschluß, in denen sich die Briten den überwiegenden Teil des indischen Subkontinents unterwarfen. Bereits seit Mitte der 1760er Jahre hatten sie die tatsächliche Souveränität im reichen Bengalen ausgeübt. 1798 standen außer Bengalen mit seiner Hauptstadt Kalkutta das benachbarte Bihar, die Großstadt Bombay und einige kleine Gebiete im Süden Indiens unter britischer Herrschaft; mehrere benachbarte indische Staaten waren Verbündete oder Klienten der Briten. Während der folgenden zwanzig Jahre stieg Großbritannien zum Oberherrn ganz Indiens auf. Java bildete das Herzstück Niederländisch-Ostindiens, dessen übrige Inseln durch gelegentliche holländische Interventionen gefügig gehalten wurden; erst nach 1830 gelang es den Holländern, den indonesischen Archipel fest in den Griff zu bekommen. Die Philippinen schließlich waren eine Dependance des spanischen Mexiko: die älteste Flächenkolonie der Europäer in Asien, in Wirklichkeit aber kaum mehr als eine lockere Verknüpfung zwischen dem kommerziellen Brückenkopf Manila und einer lückenhaften Kontrolle der Kirche über die philippinische Landbevölkerung. Am Ende des 18. Jahrhunderts befanden sich Europa und Asien noch in einer Art von prekärem machtpolitischem Gleichgewicht. Es kippte in der Zeit zwischen der Errichtung der «Pax Britannica» in Indien 1818 und der Öffnung des verschlossenen Japan 1853/54.

Ebenso fehlt der Gelehrtenwelt des europäischen Ancien régime der Erkenntnisanspruch des 19. Jahrhunderts. Man wollte über fremde Kulturen so gut wie möglich unterrichtet sein und die Nachrichten über sie in das eigene Weltbild einfügen. Aber es gab noch keine spezialisierten Asienwissenschaften, die ein Kompetenzmonopol für die jeweils studierte Zivilisation beanspruchten und sich in der Zuversicht gefielen, den Orient besser zu verstehen, als er sich selbst verstand. Die für eine Diskursanalyse in der Nachfolge Michel Foucaults unerläßliche Verknüpfung von Wissen und Macht findet sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur in schwacher, nicht die Verhältnisse insgesamt charakterisierender Form.

Der internationale Aufstieg der Diskursanalyse zur einflußreichsten Methode bei der Untersuchung der europäischen Wahrnehmung nichteuropäischer Zivilisationen, der sich seit den frühen 1980er Jahren beobachten läßt, war Teil einer allgemeinen Bewegung in den Humanwissenschaften, die auf den konstruierten Charakter kultureller Phänomene hinwies und die Prägung jeder Realitätserfassung durch sprachlichen Sinn betonte (linguistic turn). Was vordem als selbstverständliche Gegebenheit menschlicher Lebenswelten erschienen war, wurde nun als Erfindung und Erzeugnis kollektiver Einbildungskraft entschlüsselt. Man vermochte nachzuweisen, wie vorgeblich alte, den romantischen Volksgeist zum Ausdruck bringende Traditionen tatsächlich erst in jüngerer Zeit erfunden worden waren (invented traditions). Man sah, daß eine Nation keine soziale oder gar biologische Tatsache ist, sondern eine in der Vorstellung entworfene Großgemeinschaft (imagined Community). Konzepte, deren Anwendung auf Asien sich von selbst zu verstehen schien, entpuppten sich nun unter mißtrauisch sezierendem Blick als Kreationen westlicher Wissenschaft: Weder die Idee eines Kastensystems noch die Vorstellung von Hinduismus als einer homogenen, neben den anderen «Weltreligionen» auf gleicher Stufe theologisch systematisierten Glaubenslehre sind zum Beispiel dem authentischen indischen Denken bekannt. Sie sind im Grunde westliche «Erfindungen».[30]

Ob mit einem solchen Befund auch sogleich schon die Unwahrheit und Unbrauchbarkeit derart «konstruierter» Begriffe und Theoreme erwiesen ist, steht freilich dahin. Manche von ihnen mögen durchaus nützliche Hilfsmittel wissenschaftlicher Beschreibung und Erklärung sein; jede wissenschaftliche Modellbildung ist ihrem Wesen nach eine setzende, keine abbildende Leistung. Immerhin hat die diskursanalytische Richtung das Verdienst, Mißtrauen gegen Fremdbeschreibungen gesät zu haben, ein Mißtrauen, das freilich nicht zu dem entgegengesetzten Schluß führen darf, Selbstbeschreibungen seien stets authentischer und damit wahrer. Die diskursanalytische Denkweise geht von der «Uneigentlichkeit» der Diskurse aus: Wissenschaftliche Aussagen, die beanspruchen, etwas über die wirkliche Welt auszusagen, tun dies nicht, sondern geben, in dieser Sicht, allein Auskünfte über sich selbst und ihre Autoren. Damit entfallen Kriterien von Richtigkeit und Wahrheit.

An alten Texten über fremde Kulturen interessieren dann allein rhetorische Strategien und semantische Prozeduren, mit denen textimmanent Fremdheit oder Andersartigkeit (alterité) erzeugt wird. Es wird nicht länger nach der Annäherung spezifischer «Repräsentationen» an die Realität gefragt, nach den Graden ihrer Angemessenheit als Wiedergabe von Wirklichkeit. Ebensowenig interessieren die jeweiligen in der Vergangenheit akzeptierten Maßstäbe erstrebenswerter Erkenntnis. Daß, um sich ein Beispiel vorzustellen, der Verfasser eines Reiseberichts aus dem Jahre 1750 dem festen Vorsatz folgte, nach bestem Wissen und Gewissen akkurat und vorurteilsfrei zu beobachten und zu berichten, und daß ihn seine Leser nach denselben Kriterien beurteilten: dies muß die Diskursanalyse von ihren eigenen Voraussetzungen her ignorieren. Sie unterstellt von vornherein den fingierten und fiktiven Charakter der Repräsentation fremder kultureller und gesellschaftlicher Zustände. Damit wird der Unterschied zwischen Fiktion and Faktendarstellung, zwischen Imagination und Empirie verwischt oder sogar aufgehoben. Jede Äußerung eines Europäers über eine nichteuropäische Zivilisation erscheint dann als eine phantasierte Anmaßung von erheblichem Indizienwert für europäische Bewußtseinslagen, aber ohne Bezug zu einer – ohnehin europäischer Erkenntnis unzugänglichen – fremdkulturellen Realität. Ein postmoderner Zynismus wird anachronistisch zurückprojiziert. Ideengeschichte (oder intellectual history) verwirft ihre Aufgabe, vergangene Bedeutungen aufzuspüren. Sie wird, ärger als jede reduktionistische Ideologiekritik, zur Denunziation in politischer Absicht.

Die zweite, konventionellere und theoretisch weniger ehrgeizige Art der Argumentation kann man als das Modell des enttäuschten Humanismus bezeichnen. Sie zielt in die gleiche Richtung. Auch die Verfechter dieses Modells bezweifeln, ob der vielbeschworene Kosmopolitismus der Aufklärung (und bereits des früheren Humanismus) tatsächlich zu einer Öffnung des europäischen Bewußtseins gegenüber fremden Zivilisationen geführt habe. Anders als das von Edward Said auf der Grundlage von Gedanken Michel Foucaults entwickelte Modell des autistischen Diskurses leugnet das des enttäuschten Humanismus nicht grundsätzlich jede Chance einer angemessenen Erkenntnis außereuropäischer Wirklichkeit. Es beruht auf der hermeneutischen Grundannahme, daß jede Kultur einen Sinngehalt in sich birgt, der bei hinreichender Bemühung auch über kulturelle Grenzen hinweg verstehend erschlossen werden kann. Ein solches transkulturelles Verstehen könne freilich nicht, wie die positivistischen Orientwissenschaften des 19. Jahrhunderts glaubten, methodisch gesichert werden. Die einfühlende Interpretation gelinge nur unter den günstigsten Umständen und dank der grenzüberschreitenden Kunst außergewöhnlich begabter Deutungsvirtuosen. Sie sei ein nahezu unmöglicher Glücksfall.

So kam eine Gruppe von Historikern, die sich mit dem europäischen Amerikabild beschäftigt hatten, zu dem melancholischen Schluß, keinem einzigen der zahlreichen europäischen Besucher und Beschreiber Amerikas in dem Vierteljahrtausend zwischen 1500 und 1750 sei die vorbehaltlose kognitive Öffnung für die Herausforderung durch das Fremde gelungen. Niemand habe daher ein amerikazentrisches Amerikabild geschaffen. Europa sei an den neu gefundenen Ländern und Kulturen nicht «genuin» und «um ihrer selbst willen» interessiert gewesen, sondern nur, um sich durch den Kontakt mit ihnen materiell und geistig zu bereichern. Das europäische Wissen über Amerika sei vollkommen selbstbezogen geblieben,[31] die große Gelegenheit einer verstehenden Begegnung vertan worden. Nicht nur Egozentrik und ein Mangel an grenzüberschreitendem Mut hätten dies bewirkt, sondern auch der antike und christliche Bildungsballast, den Europäer an die Neue Welt herantrugen. Das große Projekt einer transkulturellen Hermeneutik sei nicht an einem Mangel an Vorwissen und Vorverständnis gescheitert, sondern geradezu an deren Überfluß.

Während die ältere Reiseforschung Überseereisenden gerne ihre angebliche Unbildung, Gutgläubigkeit und Naivität zum Vorwurf machte, beklagt der neue enttäuschte Humanismus umgekehrt die geistige Tyrannei der Antike über die frühneuzeitlichen Beobachter des Fremden. Keineswegs deshalb, weil man nicht verstand, was man sah, sei die Chance einer friedlich-verstehenden Kulturbegegnung ungenutzt verstrichen. Vielmehr habe man, ausgestattet mit den ethnographischen Vorstellungen der Antike, mit der aristotelischen Lehre von der Sklaverei und einer augustinischen Theologie gnadenreicher Erwählung, allzu selbstsicher zu verstehen geglaubt, wo man in Wahrheit nur vorgestanzte Schemata übertrug. Das Neue wurde in dieser Sicht allzueilig dem Bekannten assimiliert.[32] Amerika – oder Asien, auf das sich diese Überlegungen ohne Schwierigkeiten übertragen lassen – erscheint so als eine marginale Episode in der Geschichte europäischer Bildung.

Auch diese Sichtweise kann nicht befriedigen. Zum einen mißt sie historische Äußerungen an einem unerreichbaren Ideal voraussetzungsloser Erkenntnis fremder Authentizität. Der Vorwurf der «Selbstreferentialität» trifft die Bedingungen jeglichen Verstehens. Die erstrebte Erkenntnis des Fremden «aus sich selbst heraus», wie sie auch einige vorurteilskritische Denker der Aufklärung im Sinn hatten, erweist sich als Chimäre. Jede Hermeneutik setzt das Eigene, das Bekannte, sie setzt Traditionen und Vor-Urteile als Bedingungen des Verstehens voraus.[33] Zum anderen ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die Wahrnehmung fremder Zivilisationen durch halbwegs gebildete Europäer der Frühen Neuzeit immer auch im Raster ihrer Altertumskenntnis gebrochen wurde. Europäische Asienbilder lassen sich in einer Epoche, deren höheres Bildungswesen auf dem Studium griechischer und römischer Klassiker beruht, niemals von den gleichzeitigen Antikenbildern trennen.[34] Aber bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts verliert die antike Norm an Verbindlichkeit. 1731 erklärt der Comte de Boulainvilliers, ein einflußreicher Philosoph der französischen Frühaufklärung, die Geschichte der Araber für mindestens ebenso lehrreich wie diejenige der Griechen und Römer.[35] Voltaire sieht dies später ähnlich. Ganz unzulänglich, heißt es dann 1768 bei dem Leipziger Kulturhistoriker Johann Christoph Adelung, sei die Weltkenntnis der antiken Autoritäten, man müsse die modernen Reiseschriftsteller lesen.[36] Um 1790 steht die universale Autorität des griechisch-römischen Altertums in Frage. Die Begegnung mit den Zivilisationen Asiens hat sie wirksamer erschüttert als die frühere mit den Wilden Amerikas. Erst ein «zweiter Humanismus» nach der Jahrhundertwende belebt sie mit neuen Argumenten.

Beide Deutungsmodelle, das diskursanalytische und das des enttäuschten Humanismus, gelangen auf unterschiedlichen Wegen zu ähnlichen Befunden. Ob als Folge einer unausweichlichen, zum konformisierenden Diskurs erstarrten Verschwörung von Kultur und Imperialismu[37] oder ob als Ergebnis einer Unfähigkeit, sich der eigenen Traditionsbefangenheiten zu entledigen: europäische Amerika- und Asientexte der frühen Neuzeit bezeugen, so wird behauptet, nichts als ein epistemologisches Desaster. Das Studium von Texten von fehlendem Wahrheits- und minderem Kunstcharakter rechtfertigt sich so allenfalls durch den Text um Text wiederholten Nachweis der Fehlrepräsentation, Zerrspiegelung und Entstellung außereuropäischer Kulturen im Zeitalter europäischer Welteroberung. Erst in der «postkolonialen» Gegenwart, so glauben zahlreiche Vertreter beider Richtungen, ist die Annäherung an die Wahrheit des «Anderen» möglich geworden.

Wäre diese Art von Agnostizismus das letzte Wort zum Thema Fremdbilder in der Geschichte, dann wäre es sinnlos, sich weiter mit ihm zu beschäftigen. Ganze Bibliotheken von Amerika-, Asien- und Afrikaliteratur enthielten dann nichts als Dokumente europäischer Narrheit und Anmaßung, die besser dem Vergessen anheimfallen sollten. Gibt es Alternativen?

Wenig befriedigend ist die offensichtlichste Alternative: die Rückkehr zu einer vorkritischen Geschichtsschreibung, die eine stetige Horizonterweiterung der Europäer als Anlaß zur Feier einer angeblich einzigartigen Einsichtsfähigkeit des neuzeitlichen Abendlandes in andere Zivilisationen nimmt.[38] Es ist richtig, daß in der Neuzeit keine andere der großen Kulturen die europäische in ihrer Neugier auf das ferne Fremde übertroffen und vergleichbare Wissenschaften von den anderen geschaffen hat.[39] Doch kann diese Expansion des Wissens vom Prozeß der imperialen und kolonialen Expansion Europas nicht isoliert werden. Der Erkenntnis- und der Aneignungscharakter von Wissen waren auf das engste miteinander verbunden. Auch steckt hinter der ideenhistorischen Ausprägung einer fortschrittsorientierten geographischen Entdeckungsgeschichte, die von der immer genaueren Vermessung und kartographischen Abbildung von Wirklichkeit fasziniert ist,[40] ein zu enger Begriff von Wissenschaftsgeschichte. Die Asientexte der Frühen Neuzeit erscheinen nur als Dokumente der Vorgeschichte der modernen Orientwissenschaften und der Ethnologie. Diese Richtung verschenkt die Einsichten der Textanalyse und stellt ihre Quellen weniger in den zeitgenössischen Zusammenhang ihrer Entstehungszeit als in eine zeitliche Folge, die im heutigen Stand der Forschung gipfelt. An Asienreisenden der Frühen Neuzeit interessiert dann vor allem, was sie nach heutigen Maßstäben «bereits» richtig gesehen haben. Allein für die Kartographie, die exakte Naturbeschreibung und mit Einschränkungen auch die Sprachwissenschaft kann eine solche immanente Geschichte der Kenntnisvermehrung in Grenzen tauglich sein.

4. Differenzwahrnehmung

In diesem Buch wird versucht, andere Wege zu gehen. Das, was leichthin als Asien-«Bilder» bezeichnet wird, ist vor allem in Texten greifbar. Mit Texten arbeiten wir aus Verlegenheit. Nicht weil «Kultur» selbst als Text aufgefaßt werden kann[41] und Kulturgeschichte daher in Textinterpretation ihre Erfüllung finden soll, sind Texte unser Ausgangspunkt, sondern deshalb, weil wir über keine Quellen verfügen, in denen besser als im geschriebenen Wort Eindrücke und Phantasien vom Fremden in eigene Wahrnehmungs- und Denkzusammenhänge importiert werden können. Mögen Texte für Literaturwissenschaftler die elementaren Gegebenheiten ihres Faches sein, so sind sie für den Historiker die Resultate individueller Erschaffung im gesellschaftlichen Rahmen. Es ist die Genese von Texten, die zunächst interessieren soll. Vor dem einzelnen Text stehen Erfahrung und Absicht, Wahrnehmung und Einbildung, Sehen und Hören, Konvention und Innovationswille. Der Text selbst, obwohl der meist unhintergehbare Stoff der Untersuchung, ist erst ein relativ spätes Ergebnis Logistik der Fremdbildproduktion42