THOMAS PIKETTY
RASSISMUS
messen
DISKRIMINIERUNG
bekämpfen
Aus dem Französischen von
Stefan Lorenzer
C.H.BECK
«Alle Welt spricht von Identität, aber kein Mensch spricht von der Sozial-, Wirtschafts- und Antidiskriminierungspolitik, die wir für unser Zusammenleben brauchen und die umso mehr nach eingehenden und unaufgeregten Debatten verlangt, als die Herausforderungen neuartig und die Fragen, vor die sie uns stellen, offen sind. Ob es um den Zugang zu Bildung, Beschäftigung oder Wohnraum, zu Sicherheit, Respekt und Würde geht – die herkunftsbezogene Ungerechtigkeit ist so himmelschreiend wie noch nie zuvor. Und doch wurde noch nie so wenig wie heute über Gerechtigkeit, über gleiche Rechte und darüber gesprochen, wie Rassismus sich messen und Diskriminierung sich bekämpfen lässt. An alle Bürger, die sich mit dieser Lage der Dinge nicht abfinden wollen, richtet sich dieser Text.»
Thomas Piketty
Kein Land hat ein perfektes System zur Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung erfunden. Die Herausforderung besteht darin, ein neues und besseres universalistisches Modell zu entwerfen, das die Antidiskriminierungspolitik in den allgemeinen Rahmen einer Sozial- und Wirtschaftspolitik stellt, die auf Gleichheit und Universalität abzielt und die Realität von Rassismus und Diskriminierung wahrnimmt – um sie zu messen und zu korrigieren, ohne die Identitäten, die immer plural und vielfältig sind, dadurch zu fixieren. Genau dies ist das Anliegen der brillanten kleinen Schrift, mit der Thomas Piketty, der Autor des Weltbestsellers «Das Kapital im 21. Jahrhundert», zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit Stellung bezieht.
Thomas Piketty lehrt an der École d’Économie de Paris und an der renommierten École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Das Kapital im 21. Jahrhundert (42020), Ökonomie der Ungleichheit (32020), Kapital und Ideologie (2020) sowie Der Sozialismus der Zukunft (22021).
Überall Identität und nirgends Gerechtigkeit
Ein universalistisches Modell des Kampfes gegen Diskriminierung
Die Scheinheiligkeit der «positiven Diskriminierung»
Bildungsgleichheit und territoriale Gleichstellung: Stets gepredigt und nie praktiziert
Rassismus objektivieren. Für einen Jahresbericht über Diskriminierung
Eine nationale Beobachtungsstelle für Diskriminierungen einrichten
Diskriminierung verhindern, ohne die Identitäten erstarren zu lassen
Sollte man es bei der Frage nach dem Geburtsland der Eltern belassen?
Das Problem der ethnisch-«rassischen» Bezugssysteme nach angelsächsischem Vorbild
Für ein flexibles und dynamisches System der Diversitätsmessung
Wie lassen sich neue Formen religiöser Neutralität erfinden?
Denkanstöße: Auswege aus der identitären Sackgasse
Anmerkungen
Ob in Europa oder den Vereinigten Staaten, in Indien oder Brasilien – immer häufiger kippt die politische Debatte in Identitätshysterie und Herkunftsbesessenheit um. In Frankreich schüren neue rechte und rechtsextreme Volkstribune unermüdlich den Hass auf Migranten und die Angst vor dem «Großen Austausch», um dabei ganz nebenbei zu vergessen, dass dieses Land sich seit Jahrhunderten auf Durchmischungen aller Art gründet. Manche können sich offenbar noch immer nicht mit der Tatsache abfinden, dass die französische Bevölkerung heute zu 7 % bis 8 % aus Menschen muslimischen Glaubens besteht.[1] Vor fünfzig Jahren waren es noch weniger als 1 %. Auch wenn jede Fremdenfeindlichkeit ihre kontextspezifischen Besonderheiten hat, lässt doch die Vehemenz, mit der sie heute zuweilen auftritt, unweigerlich an die Hassrede denken, die sich in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts gegen jüdische und osteuropäische Migranten richtete. Gepaart mit der verzerrten Wahrnehmung einer Minderheit, die man bezichtigt, alle Vorrechte zu genießen und den Einheimischen ihre Arbeitsplätze und ihren Lohn wegzunehmen, nährt die radikale Ablehnung jeder Vielfalt der Herkünfte und religiösen, kulturellen oder die Kleidung betreffenden Traditionen eine Fantasievorstellung vom Nationalstaat und der vermeintlich homogenen Herkunft seiner Bürger. All das weckt ein heftiges Verlangen nach Vertreibung, nach «Säuberung» des Gesellschaftskörpers von unerwünschten Gruppen, einen wahren Zerstörungseifer, der heute so beunruhigend ist wie gestern.
Das Besondere an der gegenwärtigen Situation gegenüber den Erfahrungen der Vergangenheit liegt darin, dass die Hassverbreiter von heute sich auf die begründete Angst vor dem dschihadistischen Terror stützen können, um Millionen von Menschen zu stigmatisieren, die nichts mit ihm zu tun haben. Nach dem Schrecken und dem Trauma der Anschläge von 2015–2016 und der Enthauptung von Samuel Paty 2020 wollte jeder wissen, wie es dazu kommen konnte und wer die Schuldigen sind. Die zynischsten unter den politisch Verantwortlichen kamen auf den genialen Gedanken, nicht nur jeden Forscher, der sich für Diskriminierungsfragen oder die Geschichte des Kolonialismus interessiert, der Komplizenschaft mit den Terroristen zu verdächtigen, sondern auch alle Menschen muslimischen Glaubens, die halal einkaufen, am Strand Leggins oder beim Schulausflug auf der Straße Kopftuch tragen. In einer Situation, in der alle fest vereint hinter dem Rechtssystem, der Polizei und den Aufklärungsorganen stehen sollten, um der Ultraminorität der Terroristen die Stirn zu bieten, sind solche unlauteren Unterstellungen völlig unangebracht. Die Logik des Generalverdachts führt bloß zu verhärteten Fronten und dazu, dass keiner dem anderen mehr zuhört. Der dschihadistische Terror grassiert in Nigeria, in der Sahelzone, im Irak, auf den Philippinen. Will man allen Ernstes bei jedem Anschlag amerikanische oder französische Intellektuelle unter Verdacht stellen? Oder ganz normale Muslime, die oft genug die ersten Leidtragenden sind? All das ist albern und gefährlich. Statt angesichts neuartiger und komplexer sozialhistorischer Prozesse die kollektive Intelligenz zu mobilisieren, um sie zu verstehen – und nichts anderes tun Soziologen, Politologen, Ökonomen… –, richtet man sich in einer kurzsichtigen Sündenbocklogik ein.
In Indien bedienen sich die Hindu-Nationalisten der BJP (Bharatiya Janata Party) seit Jahren dieser Strategie einer extrem gewaltsamen Stigmatisierung der muslimischen Minderheit und der für sie eintretenden Intellektuellen (die von den Hassverbreitern als «antipatriotisch» gebrandmarkt werden), um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben, wobei Ausschreitungen, Pogrome und die Aberkennung der Staatsbürgerschaft an der Tagesordnung sind. Die migrantenfeindliche und antimuslimische Rechte Europas reproduziert diese Strategie im Grunde nur. Leider hat die derzeitige französische Regierung, die eine der Mitte zu sein behauptet, in den letzten Jahren dazu beigetragen, die widerwärtige Rhetorik vom «links-islamistischen Krebsgeschwür an der Universität» salonfähig zu machen. Von der extremen Rechten aufgebracht, wurde diese abscheuliche Ausdrucksweise von einer Partei übernommen, deren Wähler und Gewählte doch zum Teil aus der linken Mitte kommen. Sie hat damit den derzeitigen Rechtsruck, als dessen Gegenmittel sie sich empfiehlt, massiv befördert: Der Brandstifter spielt den Feuerwehrmann.