Verlag C.H.Beck
Venedig war im Laufe seiner Geschichte viel mehr als die Stadt der Träume und des Todes, als die es heute bekannt ist. Lange Zeit war es ein Staat mit einer einzigartigen republikanischen Verfassung, für die es überall in Europa bewundert wurde. Auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung gehörten zu diesem Staat große Gebiete Oberitaliens, Inseln in der Adria und der Ägäis, aber auch die großen Mittelmeerinseln Zypern und Kreta. Der Handel hatte Venedig reich und bedeutend gemacht, und die regen Beziehungen zum Orient spiegelten sich auch in der venezianischen Kunst und Architektur, die der Stadt bis heute ihren fremden Reiz verleihen. Arne Karsten bietet in diesem Band einen glänzenden Überblick über die Geschichte der Stadt und des Staates Venedig.
Arne Karsten ist Junior-Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Bergischen Universität Wuppertal. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Bernini. Der Schöpfer des barocken Rom (2006) und Kleine Geschichte Venedigs (2008).
Einleitung
1. Der Aufstieg (Von der Spätantike bis 1204)
Die Siedlung im Sumpf
Eine Stadt und ihr Heiliger
Auf dem Weg zur Unabhängigkeit
Zwischen Kaiser und Papst
Der Vierte Kreuzzug
2. Die Glanzzeit (1204–1509)
Der große Reichtum
Der stato da mar und die Eroberung der terra ferma
Die Verfassung von Gesellschaft und Staat
«Toleranz» und «Liberalität»
Feste und Kunst
3. Der Niedergang (1509–1797)
Agnadello und die Folgen
Handel und Gewerbe
Die kulturelle Hochblüte
Krieg im Osten
Verfall und Untergang der Republik
4. Kunst und Kommerz (1797 bis heute)
Franzosenzeit
Unter dem Doppeladler
Im Königreich Italien
Die Ära des Faschismus
Auf dem Weg nach Disneyland
Dank
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Das Bild ging um die Welt: Am 4. November 1966 stand der Markus-Platz in Venedig fast zwei Meter unter Wasser (Abb. 1). Auch wenn die Stadt in der Lagune seit jeher mit Überschwemmungen vertraut ist – so bedrohlich, so zerstörerisch hatte sich ihr Lebenselement seit Menschengedenken nicht mehr gegen sie gewandt. Die Katastrophe löste eine Welle internationaler Solidarität aus, die bemerkenswerterweise auch dann noch vorhielt, als die unmittelbaren Folgen der Katastrophe längst beseitigt waren, und die bis heute Bestand hat. Längst zählt die Lagunenstadt zum «Weltkulturerbe der Menschheit», und eine Vielzahl von italienischen und internationalen Institutionen hat sich der Bewahrung dieses einzigartigen Erbes verschrieben.
Denn Venedig ist mehr denn je nicht nur eine faszinierende, sondern auch eine in höchstem Maße gefährdete Stadt. Wer diese Gefährdung verstehen will, tut gut daran, Venedig als historisch gewachsenes Gebilde verstehen zu lernen, seine Geschichte zu kennen, die zugleich die Geschichte eines Staates ist, dessen Haupt die Stadt bis zum Jahr 1797 war. Er sollte zurückschauen und nach den Gründen fragen, die zur Besiedelung eines so unfreundlichen Lebensraums wie der Lagune führten; nach den Voraussetzungen, die dieser Siedlung zum Erfolg verhalfen; nach dem Bild, das Venedig zu seinen Glanzzeiten von sich selbst pflegte und zugleich den vielen Fremden bot; nach den Ursachen von Verfall und Untergang der Republik Venedig; und schließlich nach dem weiteren Schicksal einer Stadt, die sich im 19. und 20. Jahrhundert von der selbstbewussten Hauptstadt eines Seereichs zur Touristenmetropole wandelte.
Dies alles soll im Folgenden geschehen, in der Form eines knappen Überblicks, der versuchen will, die Zusammenhänge zwischen politischen und religiösen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Sein Ziel ist es, die Geschichte Venedigs in ihren wesentlichen Grundzügen zu skizzieren und gleichzeitig durch diesen Blick auf die Vergangenheit die Faszination zu erklären, welche die Stadt in der Lagune auch und gerade auf unsere Gegenwart weiterhin ausübt. Venedig gilt heute gemeinhin als die Stadt der Träume – und als die Stadt des Todes, in jedem Fall aber als «unnormal», fremd, irritierend, verzaubernd, bedrohlich.
Insofern lässt sich Venedig nicht zum wenigsten als ein Gegenentwurf zum Prinzip der Effizienzmaximierung, zum Modernisierungsglauben der Gegenwart verstehen. Wer Venedig zu einer zeitgemäßen Stadt machen wollte, müsste es zerstören, und zwar in einer viel fundamentaleren Weise als die übrigen Städte des alten Europa, denn er müsste das Wasser vertreiben und damit Venedigs Lebenselement. Die Omnipräsenz des Wassers, des dem Menschen als Landwesen fremden Elements, sorgt dafür, dass wir in Venedig noch heute Lebenserfahrungen unserer Vorfahren aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit machen können, wie sie uns andernorts längst verwehrt sind: so die Erfahrung der Langsamkeit, die der Mensch macht, wenn er keine technischen Hilfsmittel zur Fortbewegung hat; die Erfahrung der Begrenztheit und Kostbarkeit des öffentlichen Raumes, da, wo dieser Raum mühselig dem Wasser abgerungen werden muss; die Erfahrung der Vergangenheit im dichtgedrängten Nebeneinander von Gebäuden aus den verschiedensten Epochen, planlos ineinander gewachsen, unauflöslich ineinander verschachtelt; und schließlich: die Erfahrung, dass das Leben, allen menschlich-allzumenschlichen Bemühungen um Sicherheit zum Trotz, nur in sehr engen Grenzen plan- und kontrollierbar ist. Alle Anstrengungen der Venezianer, ihre Stadt durch Gesetze und Gemeinsinn zum allgemeinen Nutzen zu gestalten, fanden ihre Grenzen im unberechenbaren Widerstand der Naturgewalt Wasser, wie jeder Venedig-Besucher sogleich erfährt, wenn er sich wenige Minuten nach dem Verlassen der Touristen-Highways im Gewirr der gekrümmten Gassen heillos verlaufen hat. Venedig, die irrationale Stadt: Vielleicht ist es gerade dieser Aspekt venezianischer Wirklichkeit, der heutzutage am intensivsten empfunden wird – als Irritation und Beruhigung gleichermaßen.
1 Der überschwemmte Markus-Platz während des Hochwassers 1966
Venedig, die irrationale Stadt – beim Blick zurück in die Geschichte wüsste man gern, was wohl die Venezianer vergangener Tage zu diesem Urteil über ihr Gemeinwesen gesagt hätten. Denn was aus heutiger Perspektive als ein einzigartiges Relikt aus vormoderner Zeit erscheint, als ein aus Stein und Wasser gemischter Protest gegen die Allmachtsphantasien eines technizistischen Fortschrittsglaubens, das war zu den Glanzzeiten Venedigs, und zwar keineswegs nur in den Augen seiner Bewohner, sondern in denjenigen ganz Europas, geradezu ein Ausbund an rational gestaltender menschlicher Klugheit. Der Handel hatte Venedig reich und bedeutend gemacht, und die venezianischen Händler, die im hohen Mittelalter einen Großteil des Warenaustauschs zwischen dem Abendland und dem Orient kontrollierten, sie galten nachgerade als Inkarnation des kühl kalkulierenden Kaufmanns, dessen Tun nicht so sehr von Glaubensüberzeugungen und Ehrvorstellungen, sondern vor allem von nüchternen Berechnungen des zu erwartenden Profits geleitet war.
Diese planende menschliche Vernunft schien auch der politischen Verfassung jenes Staates zugrunde zu liegen, der Venedig lange Zeit, vom Hochmittelalter bis zum Ende der Republik 1797, ebenfalls war. Ein Staat, zu dem auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts große Gebiete Oberitaliens gehörten: das heutige Veneto, Teile der Lombardei, Friaul, weite Abschnitte der dalmatinischen Küste, dazu kleinere Inseln in der Adria und der Ägäis, aber auch die großen Mittelmeerinseln Zypern und Kreta. Ein Staat, in dem knapp drei Millionen Menschen lebten, gelenkt und geleitet von Venedig aus. Dort hatte sich über die Jahrhunderte hinweg eine Verfassung herausgebildet, die der Stadt und dem von ihr beherrschten Staat eine erstaunliche Stabilität gewährte und für die Venedig in ganz Europa bewundert wurde. Dies bestärkte die Venezianer in der Überzeugung, dass ihre Verfassung als die schlechterdings perfekte Leistung menschlicher Vernunft zu preisen sei und sich das Zusammenleben der Menschen nicht gedeihlicher gestalten lasse, als durch eben diese Verfassung.
Nein, «Irrationalität» ist zweifellos derjenige Begriff, der einem Menschen im frühneuzeitlichen Europa, er sei Venezianer oder nicht, zu allerletzt in den Sinn gekommen wäre, hätte er Assoziationen zu «Venedig» bilden sollen. Wenn wir Heutigen den Begriff umgekehrt als so überaus naheliegend empfinden, so bietet diese irritierende Diskrepanz Gelegenheit, auf den Veränderungscharakter aller historischen Prozesse hinzuweisen. Venedig, die Stadt der Träume und des Todes, war vor 500 Jahren nicht weniger berühmt als heute, aber es war für vollkommen andere Dinge berühmt. Geträumt wurden damals an der Lagune die hartherzigen Träume kalt rechnender Kaufleute und Bankiers von Reichtum und Macht; und der «Tod in Venedig» ereilte nicht etwa schönheitstrunkene Literaten am Strand des Lido, sondern Verbrecher und Verschwörer gegen die Macht der Serenissima, die auf Befehl der venezianischen Behörden des Nachts in aller Stille in der Lagune ertränkt wurden. Der strahlende Glanz, mit dem die Stadt ihre Besucher blendete, er war erkauft mit einer zielstrebigen und oftmals skrupellosen Machtpolitik, die aus einem unbedeutenden Fischernest am Nordrand der Adria eine europäische Großmacht werden ließ. Dieser staunenerregende Aufstieg aber nahm Jahrhunderte in Anspruch.
Die Anfänge Venedigs liegen im Dunkeln, und dieses Dunkel ist in doppeltem Sinne zu verstehen. Sie liegen in ferner Vergangenheit, und doch wüssten wir paradoxerweise mehr über sie, wenn sie noch weiter zurücklägen. Anders als die allermeisten Städte Italiens nämlich wurde die eigenartige Stadt im Wasser nicht in der Antike gegründet, sondern entstand in jener Zeit nach dem Untergang des Weströmischen Reichs und der antiken Zivilisation, welche die Historiker die «dunklen Jahrhunderte» nennen. Wir wissen wenig über die zweite Hälfte des 1. christlichen Jahrtausends, und wir wissen wenig über die Anfänge, besser wohl: die Vorgeschichte Venedigs. Denn die Festlandbewohner, die in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts n. Chr. damit begannen, die Lagune als Lebensraum zu entdecken, siedelten zumeist nicht dort, wo sich das heutige Venedig befindet, sondern an anderen Stellen.
Sie kamen nicht freiwillig, denn sie waren Flüchtlinge vor germanischen Eroberern aus dem Norden. Der Einfall der Langobarden in Norditalien im Jahre 568 bereitete der kurzzeitig gelungenen Eroberung der Apenninenhalbinsel unter dem oströmischen Kaiser Justinian (527–565) ein Ende. Er beendete auch dessen Pläne zur Wiederherstellung des alten Imperiums in West und Ost von Konstantinopel aus, und zwar definitiv, wie sich erweisen sollte. Denn die rustikalen Besucher aus dem Norden blieben auf Dauer und etablierten ein eigenes langobardisches Königtum, das gut 200 Jahre Bestand haben sollte. Seefahrer aber waren die Langobarden nicht und wurden es auch nicht. So entwickelte sich ein einigermaßen erträgliches Nebeneinander in Italien: Im Landesinneren des Nordens und der Mitte herrschten die Langobarden, der Süden dagegen und die östlichen Küstenregionen bis hinauf an den Nordrand der Adria gehörten weiterhin zum Oströmischen Reich mit dem Kaiser im fernen Byzanz, dessen Herrschaft über die westlichen Provinzen durch seine Flotte gesichert wurde.
Der höchste politische Vertreter des Kaisers in Oberitalien war ein Exarch mit Sitz in Ravenna, zu dieser Zeit eine der bedeutendsten Städte Europas. Im 5. Jahrhundert war sie sogar Regierungssitz der letzten weströmischen Imperatoren gewesen, und auch wenn deren Macht damals schon in voller Auflösung begriffen war, so blieb Ravenna doch einiges an Glanz und Ruhm. Auch wirtschaftlich spielte es eine wichtige Rolle, denn die Stadt lag in dieser Zeit noch am Wasser einer Lagune, ähnlich derjenigen von Venedig – wie sich überhaupt im Nordwesten der Adria ein ganzes System von Lagunen ausgebildet hatte. Es waren empfindliche, höchst labile Lebensräume von sozusagen amphibischer Natur, gleichermaßen bedroht durch Sedimentierung von der Landseite und Erosion durch das Meer. Die perfekt geschützten Häfen in solchen Lagunen boten der Handelsschifffahrt jedoch ausgezeichnete Bedingungen, und so erklärt sich das Aufblühen verschiedener Städte in dieser Region, unter denen Venedig zu den späteren gehörte. Etwas nördlich von Venedig lag eine weitere Lagune mit einer weiteren großen, bedeutenden Handelsstadt namens Aquileia. In der Spätantike hatte sie zu den größten Städten des Imperiums gezählt, und im Zuge der Christianisierung des Römischen Reichs war sie sogar zum Sitz eines Patriarchen geworden; davon zeugt bis in die Gegenwart ein gewaltiger Dom, der in der heutigen Kleinstadt allerdings seltsam überdimensioniert wirkt. Aquileia fiel schließlich der Versandung seiner Lagune zum Opfer, und mit dem Niedergang des Handels schrumpfte auch die Bevölkerung.
Die adriatische Lagunenlandschaft bot ihren Bewohnern also zwar Schutz vor den germanischen Eroberern und hervorragende Voraussetzungen für den Seehandel; und in einer Epoche, in der Warenaustausch über große Entfernungen fast ausschließlich auf dem Wasser stattfand, stellte das einen unschätzbaren Vorteil dar. Zugleich aber war dieser Lebensraum überaus unsicher. Gewiss war das Leben der Menschen im Mittelalter überall in Europa von Naturgewalten bedroht, und der Kampf gegen diese prägte den Alltag in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maße. Doch in nur wenigen Regionen wies dieser Kampf so dramatische Züge auf, waren die Folgen menschlichen Scheiterns so fatal wie in den Lagunen. Nicht nur das Schicksal Ravennas und Aquileias legt davon beredtes Zeugnis ab, sondern auch die Geschicke einiger Siedlungen in der Lagune von Venedig.
Lange Zeit war Venedig keineswegs die wichtigste dieser Siedlungen. Ab der Mitte des 7. Jahrhunderts befand sich der Hauptsitz der byzantinischen Verwaltung in der Lagunenlandschaft im später untergegangenen Eraclea, benannt nach dem oströmischen Kaiser Herakleios (610–641). Mitte des 8. Jahrhunderts verlegte man dieses Verwaltungszentrum dann nach Malamocco, heute nur mehr ein Dörfchen auf dem Lidostrand. Ein Stück weit im Norden des heutigen Venedig entwickelte sich vor allem Torcello zu einem noch im 11. Jahrhundert blühenden Handelszentrum, wovon wie im Falle Aquileias bis heute eine eindrucksvolle Kirche zeugt – eines der wenigen erhaltenen Beispiele für die byzantinisch-venezianische Sakralbaukunst des Mittelalters (Abb. 2). Torcellos Niedergang aber begann nicht allein durch die Versandung des Hafens, sondern vor allem durch vermehrten Süßwasserzufluss vom Festland, der die Wachstumsbedingungen des Schilfröhrichts verbesserte, einer bevorzugten Brutstätte der Malaria-Mücke. Die durch sie übertragene Krankheit war über die Jahrhunderte hinweg im gesamten Lagunengebiet verbreitet, nahm aber in Torcello schließlich so überhand, dass sie der Siedlung zum Verhängnis wurde.
Will man die Geschichte Venedigs verstehen, so ist es wichtig, sich das Schicksal all dieser Vorgänger und Konkurrenten in Erinnerung zu rufen. Der Lebensraum der Lagune barg eine Vielzahl von Gefahren in sich, die es sorgsam im Auge zu behalten galt, gegen die man so früh wie möglich energisch intervenieren musste und die allein durch gemeinsame Aktivität in den Griff zu bekommen waren. Nicht nur die Stadt Venedig – das gesamte Leben in der Lagune kann als einzigartiges Kunstwerk betrachtet werden. Fragt man danach, wie aus ärmlichen Fischern auf den Laguneninseln märchenhaft reiche Kaufleute wurden, wie eine schäbige Siedlung im Sumpf zu einer europäischen Großmacht aufsteigen konnte, so sollte man sich vor Augen führen, dass die Venezianer im Kampf gegen die Bedrohungen ihres Lebensraums Eigenschaften entwickeln mussten, für die sie in den Glanzzeiten der Serenissima in ganz Europa gleichermaßen berühmt und berüchtigt wurden: eine vorbehaltlose Identifikation mit ihrem Gemeinwesen und eine rücksichtslose Härte, mit der sie dessen Interessen vertraten.
2 Die Kathedrale von Torcello, um 1000
Mit Blick auf die politischen Ereignisse und Entwicklungen in der Frühzeit Venedigs ist nochmals auf den eminent dunklen Charakter der Zeitläufte bis ins 10. Jahrhundert hinzuweisen. Was wir von den Anfängen der Stadt wissen, wissen wir aus Berichten, die viel später entstanden. Unsere älteste erzählende Quelle, die der Geschichte Venedigs gewidmet ist, stammt aus der Feder eines Diakons namens Johannes, der um das Jahr 1000 herum eine «Istoria Veneticorum», eine «Geschichte der Venezianer», verfasst hat. In älteren Quellen finden sich hin und wieder einzelne Hinweise auf die Bewohner der Lagune, und einiges lässt sich durch Ausgrabungen und archäologische Funde rekonstruieren, etwa die Gestalt und Bedeutung der bereits erwähnten Siedlung Eraclea. Doch bewegen wir uns in jedem Fall auf schwankendem Boden, wenn wir versuchen, die frühe Geschichte Venedigs zu begreifen. Immerhin, die Grundzüge, die für die Entwicklung der Stadt und die Weltsicht ihrer Bewohner langfristig prägend waren, lassen sich mit hinreichender Klarheit ausmachen.
Da ist zunächst die Tatsache, dass Venedig seine Geschichte als byzantinische Provinzstadt begann. Eine solche sollte es auch über Jahrhunderte hinweg bleiben, und dieser Sachverhalt war folgenreich. Wenn uns Venedig, als italienische Stadt, heute gewissermaßen als Urgrund westeuropäischer Kultur erscheint, so handelt es sich bei dieser Vorstellung um die «Überschreibung» einer Tradition, bei der spätere Entwicklungen eine ursprüngliche Situation zwar verdecken und verdunkeln, aber nicht gänzlich vergessen machen können. Venedig wird eine abendländische Stadt erst ab dem 15. Jahrhundert. Sie wird es nur langsam, nach und nach, und ganz konsequent ist sie es bis in die Gegenwart nicht geworden. Der Zauber der Stadt, der den Besucher noch heute ergreift, rührt auch aus der immer wieder durchschimmernden morgenländischen Tradition, wie sie in einzelnen Gebäuden, am eindrucksvollsten in San Marco, zu erkennen ist. Auch der venezianische Dialekt enthält bis heute eine Vielzahl von griechischen Lehnwörtern. Bis ins Spätmittelalter hinein orientierten sich die Venezianer wirtschaftlich, politisch und kulturell nicht nach Westen, nicht zum italienischen Festland, sondern nach Osten, nach Konstantinopel und der Levante, auch wenn die politische Bindung im Laufe der Zeit schwächer wurde.
Denn das gewaltige Oströmische Reich verlor nach und nach seine italienischen Besitzungen, wie es überhaupt einem langfristigen Erosionsprozess unterworfen war, der mit seinem endgültigen Untergang durch die Eroberung Konstantinopels 1453 endete. Nicht dass der Verfallsprozess kontinuierlich verlaufen wäre. Immer wieder gab es Phasen der Stabilisierung, der Gegenoffensiven und Zukunftshoffnungen. Und so brauchte es auch Jahrhunderte, bis die Lagunenbewohner sich endgültig aus der direkten Abhängigkeit von den oströmischen Imperatoren gelöst hatten, denen sie ihre Steuern zu zahlen hatten und durch deren Beamte sie regiert wurden. Seit etwa 700 n. Chr. stand an der Spitze der Beamtenschaft ein dux, aus dem später der Doge werden sollte.
Ein wichtiges Ereignis im Rahmen dieses langsamen Emanzipationsprozesses stellte der Untergang des Langobardenreiches im Jahr 774 nach der Eroberung Norditaliens durch Karl den Großen dar. Mit dem Frankenreich nämlich etablierte sich auf der Apenninenhalbinsel an Stelle der kaum noch expansiven Langobardenkönige ein ernsthafter Konkurrent zu Byzanz um die Herrschaft auch in den Küstenregionen. Zumal Karl der Große seit der Kaiserkrönung im Jahre 800 wie die oströmischen Kaiser die Würde eines Nachfolgers der antiken Imperatoren für sich reklamieren konnte. Die Folgen dieser Konkurrenz bestanden nicht zuletzt darin, dass sich schon bald unter den Einwohnern der Lagunensiedlungen eine profränkische und eine probyzantinische Partei gegenüberstanden. Zunächst scheinen die Anhänger des Frankenreichs die Oberhand gewonnen zu haben, doch eine byzantinische Flotte erzwang 810 die Loyalität der alten Untertanen. Ihr Erscheinen sollte sich allerdings als der letzte Versuch Konstantinopels erweisen, auf militärischem Weg aktive Politik in der nördlichen Adria zu betreiben. Ein Versuch von Karls Sohn Pippin, die Lagunenlandschaft gewaltsam in Besitz zu nehmen, scheiterte, hatte aber zur Folge, dass der Amtssitz des Dogen aus Malamocco in das besser zu verteidigende Innere der Lagune verlegt wurde, genauer gesagt: auf eine kleine Inselgruppe, die man als «rivus altus» (hohes Ufer) bezeichnete, woraus im Laufe der Zeiten «Rialto» wurde. Ein erster Dogensitz entstand, und aus diesem Siedlungskern sollte sich schließlich das heutige Venedig entwickeln. Nach den Unruhen zu Beginn des 9. Jahrhunderts stand die Siedlung zwar weiterhin unter formaler Oberherrschaft Ostroms, erfreute sich aber in der Realität einer weitgehenden Unabhängigkeit.
Allerdings sollten wir uns hüten, die Bedeutung dieser Unabhängigkeit, überhaupt die Bedeutung dieser Siedlung am Rialto in der Frühzeit zu überschätzen. Vom zukünftigen Glanz der reichen Handelsmetropole war zur Zeit Karls des Großen noch nicht das Geringste zu erahnen. Die Bewohner der Lagune fristeten ihr Dasein vor allem als Händler mit Salz und Fisch, den einzigen Gütern, die ihre sonst so lebensfeindliche Umwelt reichlich bereithielt. Der Fernhandel mit Luxusgütern, der in späterer Zeit die Grundlage von Venedigs Macht und Wohlstand bilden sollte, spielte demgegenüber noch kaum eine Rolle, vor allem deshalb, weil es in der archaischen Agrargesellschaft des frühmittelalterlichen Europas weder Bedarf noch die notwendigen Produktionsüberschüsse für den Handel mit solchen Luxusgütern gab. Der Aufbruch Europas in die Moderne, in dessen Verlauf die Venezianer vom Anstieg der landwirtschaftlichen Produktivität ebenso wie von einer wachsenden Bevölkerung und einer zunehmenden Mobilität so sehr profitieren sollten, dieser Aufbruch setzte erst um das Jahr 1000 ein.
Zu den Voraussetzungen für den Aufschwung, den die Siedlung am rivus altus nach der Verlegung des Dogensitzes dorthin nahm und der sie schließlich alle Konkurrenten in der Lagunenlandschaft weit überflügeln ließ, gehört ein Faktor, der aus heutiger Sicht einigermaßen fremd wirkt, der jedoch im Mittelalter eine kaum zu überschätzende Bedeutung besaß und deswegen eine genauere Schilderung verdient. Gemeint ist der vielleicht berühmteste und folgenreichste Reliquienraub des in diesem Bereich an spektakulären Ereignissen nicht armen Mittelalters, nämlich der Raub der Gebeine des heiligen Markus.
Diese befanden sich im ägyptischen Alexandria, wo sie seit langem das Objekt frommer Verehrung waren. Nach der Eroberung Nordafrikas durch die Muslime im Laufe des 7. Jahrhunderts war jedoch der Zugang zu ihnen für die Christen bedroht. Ja – und hier setzt die Legende vom Transfer der Reliquien ein – die heiligen Knochen selbst gerieten in Gefahr, als der Kalif von Alexandria beschloss, sich einen neuen Palast errichten zu lassen; denn er befahl, dafür christliche Kirchen abzureißen, um auf diese Weise an marmorne Säulen zu gelangen. Das begab sich zu der Zeit, als Giustiniano Partecipazio (827–829)