Die Erwählte



Prolog

Im Jahre des Herrn 1277. Martin, ein Mönch des Domenikanerordens, apostolischer Pönitentiar und Chronist, arbeitete an der dritten, erweiterten Ausgabe seiner Chronik, welcher er den Titel Chronicon pontificum et imperatorum gegeben hatte. Seine beiden früheren Ausgaben waren in ganz Europa hochgelobt und oft abgeschrieben worden.

Doch er hatte nicht in allen Punkten die Wahrheit geschrieben und daher entschloss sich Martin, dies nun in seiner letzten Ausgabe zu korrigieren. Er fühlte, dass sein Leben nicht mehr allzu lange dauern würde. An der Schwelle des Todes verloren alte Männer oft die Angst vor der Welt und fühlen sich nur noch dem göttlichen Gericht verpflichtet, so auch Martin.

Nun also schrieb er auf, was er im Laufe seines langen Lebens herausgefunden hatte. Viele Jahre hatte er Nachforschungen angestellt und war in zahlreiche Klöster gereist. In deren Bibliotheken hatte er neben vielen anderen Quellentexten der Vergangenheit auch eine Abschrift des alten Liber Pontificalis studiert. Dies war die offizielle Biographiesammlung der Päpste, hergestellt von der päpstlichen Schreibstube in Rom. Freilich war es nur eine Abschrift, denn das Original war irgendwann verloren gegangen. Doch diese eine Abschrift war nicht nur die älteste, die er gesehen hatte, sondern auch sehr gut erhalten, obschon sie seit mehreren hundert Jahren in der Bibliothek stand.

Was er dort vorfand, erstaunte ihn, obschon er sich als Chronist durch zahlreiche politische Schweinereien der Könige und Kaiser in der Geschichte gearbeitet hatte. Irgendetwas war an einer Stelle im Buch verdächtig. Das Leben des Papstes Leo brach mitten im Wort ab. Der Rest der Seite war leer, so wie wenn der Kopist aufgestanden wäre – mitten im Wort – und weggegangen wäre, ohne je zu seiner Arbeit zurückzukehren.

Dann blätterte Martin weiter und auf der nächsten Seite des kostbaren Pergaments war es noch seltsamer. Der Stil, in dem die nachfolgende Biographie geschrieben wer, wich etwas von den vorhergehenden Lebensbeschreibungen ab. Das war an sich nicht ungewöhnlich, oft wurden Chroniken einige Jahre später von Jemand anderem weitergeführt.

Martin hatte sich damals an der Stirnglatze gekratzt und die wenigen Haare, die von seiner Tonsur noch da waren, glattgestrichen.

Martin rief sich die Gedanken zurück, die er damals gehabt hatte:

„Irgendein Mönch, der das in der Vergangenheit las, hat Korrekturen angebracht…Er hatte es recht rabiat mit roter Tinte und anderer Handschrift getan. Und sich dann noch selber korrigiert.“

Zunächst, so schien es Martin, hatte er den Namen BENEDICTVS über die Biographie geschrieben, doch dann hatte er BENEDICTVS duchgestrichen und stattdesen NICOLAVS darübergesetzt…

„Was sollte das bedeuten?“ dachte Martin bei sich.

„Es ist doch aus anderen Chroniken hinlänglich bekannt, dass Benedikt der Nachfolger von Leo war…“

Irritiert von solcher Unwissenheit und brachialer Korrektur begann Martin zu lesen. Nach einigen Sätzen verstand er: Der Papst in dieser Vita hatte die Bestattungszeremonie von Benedikt geleitet und konnte daher keinesfalls Benedikt sein. Darum hatte der frühere Leser auch seine erste Annahme korrigiert. Doch Martin kannte das Leben und Wirken von Papst Nikolaus. Er war ein Machtpolitiker gewesen und war mit seiner Politik in offenen Konflikt mit Kaiser Ludwig geraten. Die beiden hatten sich verabscheut.

„Doch hier wird von einem Festmahl erzählt, wo die beiden…“ Martin weigerte sich, den Gedanken auszuformulieren.

Der Gedanke, dass der Kaiser und der Papst in widernatürlicher…

„Unmöglich, Kaiser Ludwig war bekannt dafür, den Frauen nachzusteigen und die Frauen liebten ihn allesamt…“ erinnerte sich Martin.

Er hatte die Klosterbibliothek verlassen und hatte sofort weitere Nachforschungen anstellen lassen, als er in seine Diöszese zurückgekehrt war. Seit Jahrhunderten machte in den Klostermauern in ganz Europa ein Gerücht die Runde. Ein Gerücht, das so schlimm war, dass die Kirche dieses ungeheure Geheimnis vertuschen musste. Ein Skandal, der die heilige Mutter Kirche in ihren Grundfesten erschüttert hatte.

Jetzt, wo sein Hinscheiden nur noch wenige Jahre entfernt erschien, beschloss Martin die Wahrheit aufzuschreiben – oder zumindest das, was er bei seinen Nachforschungen herausgefunden hatte und für die Wahrheit hielt – und begann, seine Chronologie entsprechend zu ergänzen.

Er legte seine Schreibfeder auf das Pult und zog sich zum Gebet zurück. Er betete lange und bat Gott, ihm den rechten Weg zu zeigen. Dann arbeitete er fast die ganze Nacht hindurch und schrieb auf, was er von der Sache wusste: Die zwei Jahre, sechs Monate und vier Tage, die es in der Geschichte der Päpste von Rom offiziell nicht gegeben hatte – ebensowenig wie das Leben einer ausserordentlichen Persönlichkeit…

Dies ist ihre Geschichte:


Die Prozession

Die päpstliche Messe zu Ostern des Jahres 858 war gut verlaufen, zumindest in Anbetracht der gesundheitlichen Verfassung, in der sich der Stellvertreter Christi befand. Nun war nur noch die Prozession zurück zum Lateranpalast zu überstehen…Der Papst zog sich zurück in die Sakristei, um dort die Priestergewänder gegen die Prunkgewänder auszutauschen. In der Sakristei angekommen, dachte der Pontifex Maximus bei sich:

„Wie gut, dass ich mir damals bei der Wahl ausbedungen hatte, mich in der Sakristei und auch sonst stets selber anzukleiden – als Zeichen der Demut.“

Der Papst zog die Kasel aus; sie war reich bestickt mit Goldfäden, die auf dem Rücken Christus am Kreuz darstellten, welchen der Papst den Gläubigen im Ritual während langer Zeit zugekehrt hatte. Doch dann hatte sich der Stellvertreter Christi umgedreht und das Kirchenvolk hatte die Vorderseite der Kassel gesehen, wie Jesus aus dem Grab auferstanden war. Die Auferstehung des Herrn wurde in der Stickerei bildlich vorgeführt.

Die Kasel war schwer wie eine Rüstung und fast so steif wie ein Schuppenpanzer der Karolinger… Der Papst legte sie auf den Tisch für den Diakon, der sie reinigen und verstauen würde.

Danach zog der Papst die Dalmatica aus, ebenfalls aus kostbarem Stoff, doch viel leichter, da aus wertvoll gewebten Stoffen gefertigt, die aus Konstantinopel stammten. Der Patriarch der Stadt hatte sie dem Heiligen Stuhl als Geschenk geschickt. Nun wechselte der Papst die Dalmatica und Albe aus. Der Pontifex maximus entschied sich für die Prozession für dickere Kleider, ebenfalls kostbar gearbeitet, denn das Wetter war im März des Jahres 858 noch recht frisch, daher wurde vom höheren Klerus eine Pluviale über den liturgischen Gewändern getragen.

Doch zunächst betrachtet sich der Stellvertreter Christi in einem Spiegel. Nur wenigen Menschen war dieses Privileg gegeben, sich in einem Spiegel betrachten zu können.

Der Griff zum Spiegel brachte eine Überraschung:

 „Ist es das viele Bleiweiss im Gesichtspuder oder die Facies hippocratica, das Zeichen des herannahenden Todes, die mich wie Blei erscheinen lässt?“

Das Spiegelbild war nicht hässlich, doch die letzten Monate hatten zunehmend ihre Spuren hinterlassen. Die Beschäftigung mit Spiegeln war in den vergangenen Monaten zu einer Obsession geworden.

„Warum habe ich mich damals, vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren, nicht rundweg geweigert, den Thron als Stellvertreter Christi zu besteigen? Man liess mir gar keine Wahl, die Masse des Volkes war so begeistert und die Abstimmung war so eindeutig, dass ich nicht ablehnen konnte.“ Bilder der Erinnerungen kamen an diesen schicksalhaften Tag vor das geistige Auge. Man sagte schon seit langem, der Tag an dem jemand zum Papst gewählt wurde, sei die grösste Veränderung im Leben eines Menschen. Doch wer wurde schon zum Papst erwählt – gerade im Begriff aus Rom zu fliehen? Zusammen mit Arnoldus und Lucia, welche eine Art Tochter geworden war…

Der Papst ergriff den Hirtenstab aus vergoldetem Silber und rief den Diakon herein, der die päpstliche Krone herbeibrachte.

Der Diakon sprach, als er die Krone auf das Haupt aufsetzte: „Empfange die Camelaucum und wisse, dass Du der Vater der Fürsten und Könige, der Lenker des Erdkreises und der Vikar Jesu Christi – unseres Erlösers auf Erden – bist.“

„Der Ostertag im März ist bislang erstaunlich gut verlaufen“, dachte der Papst, ein Wunder, war seine Gesundheit doch stark angeschlagen. Wiederholte Anfälle von Müdigkeit und leichter Verwirrtheit waren glücklicherweise von kaum jemandem bemerkt worden und vorbeigegangen.

Für die Rückreise von Sankt Peter zum Palast im Lateran war es üblich, dass der Papst und andere wichtige Würdenträger zu Pferd ritten. „Wie gut, dass ich diese Sitte geändert und mich dem Volk in einer Tragesänfte gezeigt habe.

Der Papst trat aus der Sakristei.

„Wir werden die Prozession in der offenen Sänfte absolvieren.“ sprach der Stellvertreter Christi zu den versammelten Kirchenführern, die vor der Sakristei warteten.

Anastasius, der Abt von Santa Maria in Trastevere und wichtiger Mitarbeiter in der päpstlichen Verwaltung, war da, ebenso Nikolaus, der Kardinaldiakon und ein wichtiger Mitarbeiter im persönlichen Stab und Hadrian, ein populärer Kardinalpriester, der schon zuvor mehrfach auf die Papstwahl verzichtet hatte. Als Grund hatte er jeweils seine Unwürdigkeit für das Amt angegeben. Hadrian hatte in seiner Jugend eine Frau namens Stephania geheiratet und war noch immer verheiratet gewesen, als er zum Priester geweiht worden war. Zudem hatte er eine Tochter. Weil sowohl das Sakrament der Ehe, als auch jenes der Priesterweihe heilig war, hatte Hadrian von Papst Sergius II. einen Dispens erhalten und konnte so wegen seiner Fähigkeiten in der Seelsorge dennoch Priester werden.

Auch Arnoldos war unter den engsten Mitarbeitern des aktuellen Papstes. Er war der Kämmerer seiner Heiligkeit.

„Wie gut, dass nur Arnoldus von den dunklen Geheimnissen in meiner Vergangenheit weiss.“ dachte der Papst bei sich.

Ein kurzes Reuegefühl stieg auf: „Ach, hätte ich damals alles offengelegt, dann wären mir das Amt und die Würde des Papsttums erspart geblieben.“ Doch unvermittelt setzte der gesunde Menschenverstand ein: „Meinen Fall hätte man nicht mit einem Dispens lösen können. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu Schweigen.“ Wenigstens teilte der Kämmerer, der auch als Beichtvater des Heiligen Vaters agierte, das Geheimnis. Kein Wunder, denn er war ja auch aktiv daran beteiligt gewesen.

Die Prozession zog los und überquerte die Brücke über den Tiber. Wie ein langer Tausendfüßler bewegte sich die Prozession der Priester und Gardesoldaten durch die Menschenmenge. In den früheren Jahren war der Papst aktiv beteiligt gewesen, hatte die Menge gesegnet, jedem zugelacht. Doch dieses Mal fiel dem Stellvertreter Christi es zunehmend schwer, sich auf das Kirchenvolk einzulassen.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dies sei ein endgültiger Übergang in eine andere Welt.“ dachte der Papst.

„Mitte Dreißig bin ich - und es gibt noch so viel zu tun. Der Kampf von Kaiser Ludwig gegen den Emir von Bari – Der Bau des Waisenhauses...“ Die Gedanken schweiften von der Prozession ab.

„Ich muss mich zusammenreissen und mich auf die Segnung des Volkes konzentrieren!“ ermahnte sich der oberste Kirchenfürst.

Doch schon kurz darauf waren die Gedanken wieder bei ganz anderen Dingen. „Was wohl aus meinem Bruder Johannes geworden ist? Warum bin ich heute nur so zerstreut?“

Die Prozession zog nun nach Süden, dem Tiber entlang und passierte in Sichtweite das Collegium Angelorum, die Niederlassung der Engländer in der heiligen Stadt. „Hier habe ich bei meiner ersten Ankunft in Rom gastfreundliche Aufnahme gefunden, wegen meines Namens, obschon ich im Norden des Frankenreiches geboren wurde…

Der Gedanke wurde durch einen stechenden Schmerz im Unterleib unterbrochen. Unbewusst legte der Pontifex die Hand auf die Stelle.

„Hoffentlich schaffe ich es bis zu meinen Privatgemächern, wo ich mich niederlegen kann.“

Die Prozession war schon recht nahe am Hügel zum Lateranpalast vorangekommen, die Strassen waren eng und das viele Kirchenvolk machte das Vorankommen schwierig. Die Sänfte schwankte daher heftig. Nun nahmen die Schmerzen zu, ebenso die Übelkeit. „Seltsam, ich sehe meine alte Kirche der Schola Graeca am Tiber vor mir. Zuvor habe ich sie bei den früheren Osterprozessionen nie sehen können. Vielleicht bilde ich mir es auch nur ein.“

Wieder stiegen Reuegedanken auf: „Hätte ich doch mit Arnoldus, meinem vertrauten Kämmerer die Flucht angetreten, so wie damals im Kloster in Fulda“. Dies war eine schöne Zeit gewesen, die Reise nach Griechenland, das Studium des Griechischen. „Doch hat es mich nicht nach Rom geführt und auf den Heiligen Stuhl gesetzt? Hätte ich kein Griechisch gekonnt, so wäre ein anderer Papst geworden. Vielleicht Anastasius, der es immer werden wollte, aber dem das Volk nicht zur Seite stand?“

„Alle meine Hoffnung ruht nun auf dem Arzt der mich bereits im Lateranpalast erwartet.“ Die Operation war bereits geplant und vorbereitet…

Erneuter Schwindel und Schmerzen im Unterleib unterbrachen die Gedanken. Ein Zucken durchfuhr den ganzen Körper. Der Stellvertreter Christi hoffte, niemand habe es bemerkt. Ein Lächeln, ein erneuter Segensgestus für die jubelnden Menschen.

Der Prozessionszug überquerte nun das Forum Romanum. Einst war hier das politische Zentrum eines Weltreiches gewesen, doch nun weideten oft Schafe auf den Ruinen des zerfallenen Römischen Reiches. Doch heute, am Tag der Osterprozession, kehrte für einen kurzen Zeitraum die Glorie der früheren Triumphzüge zurück. Das Kreuz des Herrn hatte über die Adler der Legionen triumphiert. Doch der Preis war hoch gewesen. Das Reich der Römer war trotz Christianisierung auseinandergebrochen und der westliche Teil untergegangen. Vieles war verlorengegangen. „Hier im Senatsgebäude hatte der Redner Cicero die Reden vorgetragen, mit denen ich mich befasst habe…“

Seltsame Gedanken kehrten zurück, als die Prozession das Forum verliess und sich durch den Triumphbogen des Kaisers Titus zum Kolosseum bewegte. „Habe ich wirklich das Leben gelebt, das ich wollte? Bin ich wirklich von Gott auserwählt worden, sein Stellvertreter auf Erden zu sein?“

„Wenn ich ehrlich zu mir bin, habe ich mein Leben so gelebt, wie ich es wollte – bis zu dem Tag, als ich zum Papst gewählt wurde. Ich hätte kurz vor der Wahl aus der Stadt flüchten sollen, so wie ich es in den Jahren zuvor schon oft getan habe– immer dann, wenn es kritisch wurde.“

Nun zog die päpstliche Prozession am antiken Kolosseum vorbei, das langsam zerfiel. Schon vor Jahrhunderten hatte man die Christenhinrichtungen und grausamen Tierhetzen verboten. Nun war die Stätte ein Heiligtum, hatten hier doch christliche Märtyrer für ihren Glauben den Tod gefunden.

Die Schmerzen im Unterleib wurden stärker, die Wellen des Schmerzes brandeten wie eine Sturmflut an die Küste. „Bald werde ich mich zu den Märtyrern gesellen“ dachte der Stellvertreter Christi.

„Nur noch eine halbe Stunde, dann bin ich im Lateranpalast…“ Angstvoll sah sich der Papst um… Die Augen suchten etwas, ohne genau zu wissen was es war.

„Wo ist Arnoldus?“ Panik stieg auf.

In der Menschenmenge auf der Strasse zum Lateran glaubte der Papst ein bekanntes Gesicht zu sehen. Es war das Gesicht eines alten, bärtigen Mannes, der grosse Güte und Weisheit ausstrahlte. „Wartet dort nicht Benedikt auf mich? Sein gütiges Gesicht war unverkennbar. Doch dies konnte nicht sein, habe ich ihn doch selber zu Grabe getragen.“

Der Schwindel und die Verwirrtheit erklommen neue Höhen und der Heilige Vater glaubte sich in seine Kindheit zurückversetzt. Der Körper bäumte sich auf, statt sich vor Schmerz zusammenzuziehen.

„Alles wird gut ausgehen!“ fuhr es wie ein Blitz durch die Gedanken des Papstes.

Die Prozession schwankte bereits durch die enge Strasse und war nahe am Hügel, auf dem der Lateranpalast und die Kirche Sankt Johann im Lateran stand.

Das Schwanken der Sänfte wurde unerträglich, mit einer Geste der Hand befahl seine Heiligkeit den Trägern, einen Moment innezuhalten. Dann wurde es Dunkel…


Anno Domini DCCCXXV

Auch die Stellvertreter Christi erinnern sich nicht an ihre Geburt – es sei denn, es gäbe Wunder dieser Art und einen Nutzen dafür – und so erinnerte sich auch Johanna nicht daran.

Manche Chronisten behaupteten später, es sei der Ort Ingelheim gewesen, doch es war eine kleine Ansiedlung in der Umgebung dieser Kaiserpfalz. Hier hatte sich ihr Vater Randulf sein Haus gebaut, eigentlich nur eine Hütte ohne Fenster, wie alle Leute, die dort lebten. In der Dorfmitte erbaute er mit Hilfe der Anwohner eine kleine Kirche aus Holz und hielt dort den sonntäglichen Gottesdienst ab.

Im Jahre 814 starb der grosse Kaiser Karl und sein Sohn Ludwig der Fromme erbte die Krone und den Kaisertitel. Fromm war er, doch ein wenig begabter Herrscher und langsam begann das Reich der Franken auseinanderzufallen. Seine Kinder herrschten zunehmend unabhängig in ihren Territorien.

Die Probleme der Herrscher hatten keinen spürbaren Einfluss auf das Leben in der Ansiedlung nahe Ingelheim.

Nach einigen Jahren vergeblicher Versuche wurde Johannas Mutter Juliana schliesslich doch noch schwanger und schenkte im Jahre des Herrn 822 einem Sohn das Leben. Randulf beschloss, ihn Johannes zu nennen. Diesen Namen würde er bald nach der Sitte der Engländer als John abkürzen, so wie er auch den Namen seiner Frau Juliana oft auf Julian verkürzt aussprach.

Doch im Reich der Franken wurde eine wichtige Entscheidung getroffen, welche dereinst auch das Leben der Kinder von Randulf und Juliana grundlegend prägen würde. Im Mai des Jahres 824 war der Papst Paschalis I. gestorben und Eugen II. war neuer Heiliger Vater geworden. Auch gab es schon seit einiger Zeit einen neuen Kaiser: Lothar I. hatte die Nachfolge angetreten.

Lothar I. und Eugen II. wollten an die gute alte Zeit von Karl dem Grossen und Leo III. anknüpfen und schlossen eine Vereinbarung, die sie Constitutio Romana nannten. Sie regelte das Verhältnis zwischen dem Kaiser und dem Kirchenstaat, aber auch die Wahl des Papstes. Die Wahl des Papstes durch den Klerus, Adel und Volk in Rom benötigte fortan die Zustimmung des Kaisers der Franken, noch vor seiner Weihe zum Papst. Der Papst, in seiner Funktion als weltlicher Fürst und Bischof von Rom, hatte zudem dem Kaiser den Treueeid zu leisten. Im Gegenzug benötigte der Kaiser für die formale Anerkennung seines Kaisertitels den Segen des Papstes als religiöses Oberhaupt und durfte sich nicht mehr in geistliche Angelegenheiten der Kirche einmischen. Papst Eugen II. war ein schwacher Mann, er hatte keine Ambitionen für die Machtpolitik und wollte sich als Papst einem rein spirituellen Leben widmen. Daher war er froh, einen Teil der Macht an den Kaiser abzutreten, der diesen Machtzuwachs sehr gerne nahm. Der Verzicht auf die Einmischung in die Führung der Kirche fiel wiederum Lothar nicht schwer, da er ohnehin nichts davon verstand.

Wie alle Herrscher der Franken konnte auch Lothar kaum lesen und schreiben. Dennoch liess er in der Stadt Pavia eine Rhetorikschule eröffnen und beschloss, dass seine Kinder Bildung bekommen sollten. Auch immer mehr Leute aus dem Volk sollten lesen und schreiben können, dies hatte schon sein Grossvater Karl der Grosse so angeordnet. Dereinst würden alle Bewohner des Reiches lesen können, ausser vielleicht der Kaiser und seine Mitkönige. Für sie war es politisch nützlich, bei Bedarf nicht zu wissen, was sie gerade mit ihren Namensmonogramm unterschrieben hatten.

Lothar und seine Brüder hatten ihren Vater, Ludwig den Frommen, abgesetzt und die Macht aufgeteilt. Lothar hatte als ältester den Kaisertitel und die formale Herrschaft über das gesamte Reich erhalten. Papst Paschalis I. krönte ihn 823 zum Kaiser des Römischen Reiches. Der abgesetzte frühere Kaiser Ludwig hatte sich eine neue Frau, Judith, die Tochter des Grafen Welf zur Gemahlin genommen und einen Sohn namens Karl gezeugt.

Als kleines Mädchen von 5 Jahren hatte Johanna ihre Mutter gefragt, wie es damals war, als sie auf die Welt gekommen war. So erfuhr sie die Geschichte ihrer Geburt:

Es war im Jahr 825, kurz vor Weihnachten. Heftige Schneeböen tobten um die Hütte von Randulf und Juliana in dem kleinen Dorf. Obschon seit über einem Monat das Herdfeuer ununterbrochen brannte, war es in der Hütte lausig kalt, durch die vielen Ritzen drang Kälte ein und der Wind pfiff durch den Raum. Zumindest fachte die Luft das Feuer stets an. Der Rauch im Raum war kaum zu ertragen. Randulf und der kleine Johannes hatten sich so nahe wie möglich am Herd platziert, um nicht zu frieren. Zwei Schritte hinter ihnen lag auf einem Bett, mehr ein Strohhaufen mit Decken, Juliana. Ihre Wehen hatten einige Tage früher eingesetzt als erwartet und wurden heftiger, die Abstände immer kürzer.

Nervös blickte Randulf zu seiner Frau. Er war ein Mann Gottes, nicht bewandert mit Frauendingen. Die Geburt von Johannes war im Sommer gewesen und alles nach Plan verlaufen.

Dieses Mal so schien es, hatte Gott andere Pläne. Die Hebamme war erst für das nächste Jahr bestellt gewesen, doch nun hatte Randulf einen Nachbarn eilig nach der alten Frau schicken lassen, die im Dorf diese Arbeit versah. Ihr Wissen um Probleme der Frauen und die Kenntnisse in Heilkräutern machte sie zwar verdächtig, schwarze Kunst zu praktizieren, doch einen Arzt gab es im Dorf nicht und die Fähigkeiten der Quacksalber und Bader reichte oft gerade aus, um jemanden nach der Behandlung ernsthaft krank werden zu lassen.

Zum Glück schaffte die alte Frau es trotz des schlechten Wetters rechtzeitig zum Haus. Sie trommelte heftig an die Türe, um nicht vom Wind übertönt zu werden. Mit einem Ausdruck der Erleichterung eilte Randulf zur verrammelten Türe. Er liess die Alte herein und begrüsste sie. Im Inneren des Hauses hörte man Juliana, wie sie stöhnte.

„Kann ich hereinkommen?“ frage die alte Frau.

„Selbstverständlich. Wir erwarten euch schon mit grosser Hoffnung.“ erwiderte Randulf.

„Ihr seid euch im Klaren – als Dorfpriester – dass meine Kunst von einigen Leuten der Kirche als Werk des Teufels gilt?“

„Ja, ich bin mir dessen bewusst.“ gab Randulf freimütig zu.

„Dann will ich eurer Frau helfen, wenn ich es vermag.“ versprach die Alte und begann ihre Umhängetasche auf dem kleinen, wackeligen Holztisch auszuräumen. Sie hatte verschiedene Beutel bei sich, dazu einen Stössel und eine Holzschale.

Doch zunächst trat sie an das Lager von Juliana heran, redete mit ihr, fühlte die Stirne und betastete zart den prallen Bauch.

„Die Geburt steht unmittelbar bevor. Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen – denn das Kind scheint noch nicht soweit zu sein.“

Die Hebamme begann nun, eine Arznei zur Unterstützung der Geburt zusammenzustellen.

„Was habt ihr an Nahrungsmitteln vorrätig? Habt ihr Wein oder Most?“  wollte die Hebamme wissen.

„Ich habe etwas Messwein und einen grossen Vorrat an Most…“ antwortete Randulf.

„So kocht mir etwas Most auf, ich will ihn mit Kräutern versehen und der Schwangeren geben.“

Randulf tat wie ihm geheissen und holte einen Tontopf mit versiegeltem Verschluss und brach das Siegel auf. Dann erwärmte er einen guten Schluck auf dem Feuer. Die Hebamme hatte aus ihrer Ledertasche einen je Beutel mit Raute, einer Heilpflanze und auch Minze entnommen und begann, die getrockneten Pflanzen fein zu verreiben.  Das Pulver streute sie in den langsam kochenden Sud.

Den Trunk flösste sie der schwer atmenden Juliana ein. Der Alkohol und die Pflanzen bewirkten bald eine Entspannung und die Geburt schritt endlich voran.

Schliesslich kam das Kind auf die Welt. Noch ehe die Hebamme das Geschlecht festgestellt hatte und dies den Eltern mitteilen konnte stöhnte Juliana leise: „Ich werde sie Johanna nennen!“

„Es ist in der Tat ein Mädchen!“ stellte die alte Frau fest.

Randulf war leicht enttäuscht, hatte er doch gehofft, dass er einen weiteren Sohn bekommen würde. Einer der Söhne wollte er an die Klosterschule schicken, während der andere sein Amt als Dorfpriester übernehmen sollte. Doch was nützte ihm eine Tochter? Würde er sie dereinst jemanden vom Dorf als Ehefrau geben, so wäre eine Mitgift fällig. Es sei denn, er würde sie als Kebse weggeben, als Nebenfrau mit dem Rechtsstatus einer Leibeigenen. Mit der Namenswahl hingegen war Randulf recht glücklich: Johannes und Johanna oder wie es die Engländer ausdrückten John and Joan…


Jugendjahre

Es war später Frühling und Juliana sass mit ihren Kindern vor der kleinen Hütte und begann zu erzählen:

„Wir beide sind damals aus England gekommen, um unserem Vorbild, dem Wandermönch Wynfreth zu folgen, der aus dem Königreich Wessex im Süden der Insel ins Frankenreich gezogen ist.“

„Wann war das?“ wollte die kleine Johanna wissen.

„Lange vor unserer Zeit, fast vor achzig Jahren. Wynfreth hat sich im Lande der Franken dann einen neuen Namen zugelegt und sich fortan Bonifaz genannt. Im Jahre des Herrn 755 ist er aber den Friesen in die Hände gefallen, die ihn getötet haben. Später folgten ihm weitere Priester und die Gebeine des Bonifaz wurden ins Kloster in Fulda gebracht und werden seither dort als heilige Reliquie verehrt.“

„Was sind Reliquien?“ wollte Johannes erfahren.

„Es sind die sterblichen Überreste von Heiligen und Märtyrern, deren persönliche Besitztümer und als niedrigste Form der Reliquie, Objekte die mit den Heiligen in Berührung gekommen sind.“ versuchte Juliana ihren beiden Kindern zu erklären.

„Und was machen diese Reliquien?“ wollte Johanna neugierig wissen.

„Man sagt, sie heilen Kranke und bewirken Wunder.“ erzählte Juliana, obschon sie selber an deren Wirksamkeit zweifelte.

„Ich selber glaube, dass Heilkräuter und gesunder Menschenverstand noch wichtiger sind. Das Christentum, das wir aus unserer keltischen Heimat mitgebracht haben, ist viel toleranter und lebensnaher als das, was wir hier vorgefunden haben. Darum hat sich unsere Deutung der Botschaft Christi auch so sehr verbreitet.“

Wie weit das ging, erzählte Juliana ihren Kindern nicht, denn in England gab es Klöster, wo Männer und Frauen gemeinsam lebten, Gott dienten und die Abstinenz in körperlichen Dingen unbekannt war.

Daher hatte Randulf, der seine Frau aus seinem Kloster im Süden Englands mitgenommen hatte, in den ländlichen Gebieten im Norden des Frankenreiches mit Freude festgestellt, dass dort praktisch alle Priester ebenfalls eine Frau hatten. Die Regula Benedicti, aufgestellt von Benedikt von Nursia, war noch weit davon entfernt, sich durchzusetzen und wurde meist nur in den Klöstern befolgt.

Randulf und Juliana lebten im grossartigsten Reich, das es seit langem gab. Das riesige Reich der Franken hatte sich all die germanischen Reiche einverleibt, die nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches entstanden waren. Nur das Reich der Westgoten in Spanien war in die Hände der Muslime gefallen, die dort ein Emirat errichtet hatten. Der glorreiche König Karl der Grosse hatte sie bekämpft und ihren Vorstoss in sein Reich gestoppt. Zuvor hatte er die heidnischen Sachsen besiegt, ihre heilige Eiche zerstört und Missionare ins Gebiet geschickt. Anschliessend hatte er die Langobarden in Italien unterworfen und war so auch zum Schutzherrn des Papstes geworden, der in Rom residierte. Zuvor waren die Kaiser in Konstantinopel die weltlichen Herren gewesen, welche auf die Politik des Heiligen Vaters Einfluss genommen hatten.

„Nun muss ich das Essen vorbereiten. Ich erzähle euch später weiter.“ beendete Juliana die Geschichte.

„Um die Suppe zu kochen brauchen wir Feuerholz. Könnt ihr beide nicht in den Wald gehen und Holz sammeln?“

Erst am nächsten Tag fand Juliana die Zeit, ihren Kindern von der Zeit vor ihrer Geburt zu erzählen. Während sie auf einem einfachen Webstuhl ein Stuck Tuch webte, erzählte sie, wie es dazu kam, dass der Papst den König der Franken zum Kaiser krönte:

„Es war viele Jahre vor eurer Geburt, da war Leo III. der Heilige Vater in Rom und seine Lage war kurz vor dem schicksalhaften Jahr 800 alles andere als gemütlich. Der römische Adel hatte sich damals bei seiner Wahl durch das Volk heftig gestritten und er war ein Kompromisskandidat gewesen, der niemandem so ganz recht war.“

„Was macht der Papst eigentlich?“ wollte Johanna wissen.

„Er ist der gewählte Stellvertreter von Jesus Christus auf der Erde und zudem der Bischof der Stadt Rom.“ sprach Randulf, der zu ihnen gekommen war. Er hatte seine Predigt für den Sonntag soeben vollendet und war aus der Hütte gekommen, um einen Moment Erholung zu finden. Als Priester interessierte ihn die Geschichte, die Juliana gerade erzählte.

Juliana fuhr fort: „Auch viele Angehörige des Adels waren nicht zufrieden mit der Besetzung des Heiligen Stuhls und es kam schliesslich im Jahre 799 zu einem Versuch, den Heiligen Vater zu ermorden.“

Juliana hatte ihre Arbeit am Tuch für den Tag beendet.

„Nun muss ich mich um das Abendessen kümmern. Erzähle du den Kindern doch, wie damals der Papst geflohen war…“ sprach sie zu ihrem Gatten und ging in den Vorratsraum.

Randulf, der die Geschichte ebenso gut kannte, fuhr fort:

„Nun gut. Papst Leo III. beschloss, ein Eiliger statt ein Heiliger Vater zu sein und floh aus Rom: Er reiste nach Paderborn, wo König Karl eine Pfalz unterhielt. Dort traf er sich mit dem mächtigen König der Franken, der sich trotz seiner zahlreichen Ehen und Neigung zu sinnlichen Genüssen und Festgelagen dennoch für einen guten Christen hielt. Auch Papst Leo III. mochte die schönen Dinge des Lebens und so wurden sich die beiden schnell einig. Leo III. versprach, den König der Franken als neuen Schutzherren zu betrachten und nicht mehr das ferne Kaisertum von Konstantinopel und Karl würde ihn in Rom wieder fest installieren. Karl zog mit Soldaten nach Rom, beseitigte einige der römischen Adeligen, die sich gegen den gewählten Kirchenfürsten gestellt hatten und setzte Papst Leo III. wieder ein. Der Papst dankte es ihm mit der translatio imperii, der Übertragung der Herrschaft des Römischen Reiches auf die Franken, anstelle der fernen Byzantiner.“

Zur gleichen Zeit als Juliana und Randulf ihren Kindern von der Vergangenheit erzählten, wurde auch ein anderes Kind unterrichtet. Einige Monate vor der Geburt von Johanna, im Sommer des Jahres 825 war in der Kaiserpfalz ein königliches Kind geboren worden.

Irmengard von Tours, die Ehefrau von Kaiser Lothar I., hatte einem Sohn das Leben geschenkt. Lothar nannte seinen erstgeborenen Sohn Ludwig. Dereinst würde er von ihm die Kaiserwürde erben und als Ludwig II. über die Franken herrschen.

Nur wenig älter als Johanna, wurde Ludwig am Kaiserhof von den besten Lehrern, meist aus dem geistlichen Stand, in zahlreichen Fächern unterrichtet. Bislang hatten die Franken sich darin geübt, auf das Lesen zu verzichten. Doch die zunehmende Rivalität mit den hochgebildeten Kaisern von Byzanz löste bei Lohtar einen Sinneswechsel aus. So liess er seinen künftigen Nachfolger sorgfältig ausbilden.

Der Lehrer unterrichtete Ludwig über die Vorgänge im Reich der Byzantiner:

„Mein Prinz, die Bewohner dieses Reiches im Osten nennen sich selber Ῥωμαῖοι also ‘Römer’ und ihr Reich wird von ihnen selber als Βασιλεία τῶν Ῥωμαίων, das Reich der Römer bezeichnet.“

Ludwig machte sich einige Notizen, wusste aber nicht, wie er die griechischen Worte schreiben sollte, denn sein Unterricht im Griechischen hatte noch nicht begonnen. Also schrieb er Romaion auf, was der Lehrer recht gut fand.

„Heute wollen wir uns auf die jüngere Geschichte dieses Reiches konzentrieren und nicht auf die Sprache. Während der Herrschaft von Karl dem Grossen, als er König der Franken war, kam es zu einer wichtigen Entwicklung im Reich der Römer: Auf dem Thron in Konstantinopel sass damals eine Frau: Kaiserin Irene, sie wird nach ihrer Herkunft auch Εἰρήνη ἡ Ἀθηναία (Irene von Athen) genannt. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes Leo IV. 780 die Herrschaft für ihren unmündigen Sohn Konstantin VI. übernommen.“

Gespannt blickte Ludwig auf das Gesicht des Priesters, hing regelrecht an seinen Lippen, denn Geschichten interessierten ihn besonders, während er sich mit dem Erlernen des Lateinischen eher schwertat. Sein Lehrer fuhr fort:

„Kaiserin Irene hatte keine einfache Aufgabe, stritten sich doch die Priester über die Frage, ob man Ikonen verehren durfte oder nicht.“

Ludwig unterbrach seinen Lehrer mit der Frage, was Ikonen seien.

Der Priester klärte ihn auf: „Ikonen sind Heiligenbilder der Kirchen im Osten, die als wahrhaftige Abbilder verehrt werden. Es gibt aber Theologen, die sagen, man dürfe sich keine Idole schaffen, die man in der Art der Heiden anbetet. Daher ist es im Reich von Konstantinopel zum Streit gekommen.“

„Hat die Kaiserin gehandelt und für wen hat sie sich entschieden?“ wollte Ludwig wissen.

„Irene hatte die Partei für die Ikonenverehrer ergriffen und auf einem Konzil in Nicäa zumindest durchsetzen können, dass man Ikonen verehren, nicht aber anbeten durfte. Mehr war nicht möglich gewesen, ohne einen Bürgerkrieg zu riskieren.“ klärte ihn der Lehrer auf. „Gute Politik orientiert sich an dem, was machbar ist – und nicht was man gerne tun würde.“

Dann fuhr er fort: „Um sich selber zu stärken, hatte Irene im Jahr 787 mit dem König der Franken Kontakt aufgenommen und Boten ausgesandt, um die Möglichkeit zu verhandeln, Rotrud, die Tochter von Karl dem Grossen mit ihrem eigenen Sohn Konstantin zu verheiraten.“

Ludwig war von diesen Verhandlungen erstaunt.

„Dazu kam es aber nicht, da politische Unruhen zum Tod von Konstantin VI. und einer Alleinherrschaft von Irene geführt haben.“

Ludwig war aber noch zu jung, um sich vorzustellen, dass sein Vater auch für ihn eine Ehe mit einer sorgfältig ausgesuchten adeligen Dame arrangieren würde.

Johanna war gerade fünf Jahre alt geworden und der Winter neigte sich im Februar des Jahres 830 dem Ende entgegen. Ihr Bruder Johannes wurde fast täglich von Randulf unterrichtet und musste das Lesen aus der Bibel üben. Es war das einzige richtige Buch im Dorf, ausser ein paar kleinen Textbüchern von Randulf aus seiner Zeit im Kloster in England. Dort hatte er in der Klosterbibliothek einige Abschriften angefertigt, kurze Auszüge und Zusammenfassungen von spirituellen Schriften.

Johanna war noch zu jung, um mit dem Lesen zu beginnen, und der Vater zweifelte auch am Nutzen, seine Tochter zu unterrichten. Frauen konnten nur in Ausnahmefällen lesen und schreiben. Lediglich in den Klöstern, als Nonne, würde Johanna diese Fähigkeiten erlernen. Ansonsten war Bildung für Frauen unnütz, ja sogar gefährlich, sie könnte schnell als Hexe gelten oder zumindest keinen Mann finden.

Ein Jahr später: Am Sonntagnachmittag, nachdem Randulf die Predigt gehalten hatte, sass er mit seinen Kindern vor der Hütte und erzählte die Geschichte zu Ende:

„Damals zogen wir als Wanderprediger umher, bis wir uns entschlossen haben, ins hier im Dorf niederzulassen.“ erzählte Randulf.

„In der Nähe unseres Dorfes liegt die Stadt Moguntia, die ihren Namen von der keltischen Gottheit Mogon ableitet. Mogon war einst ein Sonnengott, der auch für die Heilkunde zuständig war. Moguntia bedeutet ‚Land des Mogon‘. Da wir beide Nachfahren der Kelten sind, hat mich der Name dazu bewogen, hier sesshaft zu werden.“

Am selben Abend sassen sie vor der Hütte an einem Feuer. Johanna wollte mehr über die Kelten wissen und so begann Randulf damit, ihr eine Geschichte aus der keltischen Heimat zu erzählen:

„Die Geschichte ist ein Gedicht das den Namen Preiddeu Annwfn – die Beraubung von Annwfn genannt wird.“

Johanna machte grosse Augen und hing ihrem Vater gebannt an den Lippen.

„Die Geschichte tauchte damals gerade auf, als wir die Insel verliessen.“

„Oh ja, ich erinnere mich…“ schwärmte Juliana.

„König Artus, von dem ich euch schon früher erzählt habe, reist in dieser Geschichte mit seinen Gefährten nach Annwfn. Es ist eine geheimnisvolle Insel, von welcher sie einen magischen Kessel erbeuten wollen. Dieser wird in einer Burg aufbewahrt und neun Jungfrauen heizen ihn nur mit ihrem Atem an.“

Golychaf wledic pendeuic gwlat ri.

Ich preise den Herrn, Prinz des Reiches, König.

ry ledas ypennaeth dros traeth mundi.

Seine Herrschaft hat sich erweitert auf der ganzen Welt.

bu kyweir karchar gweir ygkaer sidi…

Ausgestattet war das Gefängnis von Gweir in der Festung Mound…

Lange Zeit rezitierte Randulf so…

Johanna lauschte gespannt seinen Worten, doch sie verstand nur bruchstückhaft, was die Handlung war. Als der Vater geendet und alle ihm Applaus gespendet hatten, fragte sie ihren Vater, um was es in der Geschichte ging.

„König Artus und seine Männer segeln zur Insel, um dort nicht nur den Kessel zu erbeuten, sondern auch den dort gefangengehaltenen Gweir zu befreien. Doch Annwfn liegt in der Andeswelt, und so scheitert er schliesslich und kehrt nur mit sieben Männern zurück.“

Johanna fragte nun nach, denn ihr Vater hatte schon früher die Anderswelt erwähnt:

„Vater, was ist die Anderswelt? Und wie gelangt man dorthin?

„Die Anderswelt ist der Ort, wo wir alle hingehen, wenn wir gestorben sind. Doch zu Lebzeiten kann man nur ganz selten dorthin gelangen. An einem Tag im Jahr, an Beltaine, sind aber die Nebel dünner als sonst und dann gelingt es manchen, einen kurzen Blick auf die Anderswelt zu werfen…“ erklärte Randulf.

„Wie sieht die Anderswelt denn aus?“ drängelte Johanna in echter Neugierde.

Die Legenden in unserer Heimat erzählen, dass es Inseln sind, die manchmal sogar sichtbar, aber nicht zu erreichen sind. Segelt man los, kommt man in einen Nebel und findet sie nicht mehr. Eine dieser Inseln ist Ynys Avallach… Im Latein wird sie insula avallonis, Avalon genannt. Der Name bedeutet Apfelinsel, weil dort heilige Apfelbäume wachsen sollen.

Westlich von Irland soll zudem die Insel Hy Brasil liegen, doch noch hat niemand sie betreten und ist zurückgekehrt, um davon zu berichten. Keltische Mönche sollen sie entdeckt haben und man sagt, dass sie nur an einem Tag alle sieben Jahre aus dem Nebel auftaucht.

„Och, ich möchte auch mal dort hin…“ meinte Johanna.

„Das wirst du, aber erst wenn duch diese Welt verlässt.“ versicherte ihr der Vater.

Das Dorf lag nahe der Kaiserpfalz Ingelheim, eine Tagesreise von Magontia (Mainz) entfernt. Daher kamen über Dorfbewohner, die ihre Waren und Lebensmittel nach Ingelheim und Magontia lieferten, manchmal Nachrichten von der großen, weiten Welt. So erfuhr die Familie des Dorfpriesters, dass es im Reich der Franken gärte, wie ein überstarkes Bier.

König Pippin I. von Aquitanien und sein Bruder, Ludwig der Deutsche hatten gegen ihren Vater, Kaiser Ludwig revoltiert. Dieser war wieder zurück an die Macht gelangt und hatte sich eine neue Frau genommen. Von ihr bekam er einen weiteren Sohn, den er Karl nannte und für den er die etablierte Abfolge der Herrschaftsaufteilung in seinem Reich überging und damit seine Söhne aus der ersten Ehe brüskierte. Am Reichstag zu Worms bestimmte Kaiser Ludwig, dass Karl die Herrschaft über Alemannien erhalten sollte. Ludwig der Fromme, nicht der Kluge, hielt sich aber für schlau und verfügte, dass das Schwabenland der Alemannen nur ein Herzogtum und kein Königreich sein sollte. Damit blieb die „Ordinatio Imperii“ formal in Kraft. Doch damit hatte er dem Mitkaiser und ältestem Sohn Lothar I. einen wichtigen Teil seines Herrschaftsbereiches weggenommen. Lothar war brüskiert und es kam zum Bruch mit dem Vater. Ludwig war seinerseits auch beleidigt und verbannte seinen Sohn nach Italien. Die Mitregentschaft wurde Lothar ebenfalls weggenommen…

Das einstige Kernland des Römischen Reiches war zu dieser Zeit eine Randprovinz am unteren Ende des germanisch geprägten Frankenreiches, wohin man unliebsame Mitglieder der kaiserlichen Familie verbannen konnte.

Auch Pippin und Ludwig der Deutsche begannen um ihre Machtbasis zu fürchten und vermuteten, dass ihr Vater seinem jüngsten Sohn Karl auch Gebiete aus ihrem Herrschaftsbereich übereignen könnte.

Ebenso fürchtete die Kirche um ihre Macht und so waren es die Kirchenmänner, angeführt von Wala, dem Abt des mächtigen Klosters Corbie und Mitglieder der Staatskanzlei, die ihre Fähigkeiten zur Konspiration nutzten, um eine Revolte anzuzetteln.

Im Dorf bei Ingelheim erfuhr man, dass das Heer der Franken dem Kaiser Ludwig dem Frommen den Gehorsam verweigerte. Randulf begann, das Schlimmste für die nahe Zukunft zu erwarten.

Die Kinder bemerkten, dass ihr Vater seit einigen Tagen in sich gekehrt war, so als läge etwas schwer auf seiner Seele. In der Tat rang Randulf mit sich. Zum einem liebte er seine Kinder und wollte sie an seiner Seite wissen, zum anderen liebte er sie so sehr, dass er sie in Sicherheit wissen wollte. Eine Sicherheit, die er in der kleinen Ansiedlung nicht garantieren konnte. Auch wenn er der Dorfpriester war, ein Mann mit Autorität in der kleinen Gemeinschaft von Bauern, wie wenig würde sie ihm wohl nützen, wenn marodierende und plündernde Truppen der Franken durch die Gegend ziehen würden?

Also rief er seine Frau und seine Kinder zu sich, einige Tage nachdem er von Nachbarn erfahren hatte, was im Reich vorgefallen war.

„Ich habe euch gerufen, um euch zu sagen, dass das Reich der Franken wohl bald vor einem Bruderkrieg steht.“

Er liess seine Worte ein wenig wirken und fuhr dann fort:

„Hier im Dorf kann ich euch nur wenig Schutz bieten. Hinter den Mauern der Kirche seid ihr, meine Kinder, aber in Sicherheit.“

„Sollen wir beide Priester werden?“ fragte Johannes

„Sobald ich euch genügend Kenntnisse beigebracht habe, kann ich die Domschule bitten, euch als Schüler aufzunehmen. Dort werdet ihr für einige Jahre in Sicherheit sein.“

„Was müssen wir lernen?“ erkundigte sich nun Johanna.

„In der Domschule erwarten sie, dass die Neuen bereits etwas Lesen und Schreiben können und ansatzweise auch das Latein beherrschen.“ eröffnete ihnen Randulf.

Johannes schien nicht übermässig begeistert zu sein, ob der Vorstellung, Latein lernen zu müssen.

Randulf begann nun, neben Johannes auch Johanna im Lesen zu unterrichten. Er hatte nur wenige Bücher für den Unterricht, doch sonst in der Ansiedlung gab es sonst überhaupt keine. Die anderen Dorfbewohner konnten allesamt nicht lesen und so gab es keinerlei Bedarf an Büchern.

Das wenige, was er besaß, war auf Latein geschrieben. Latein war ohnehin die einzige Sprache, neben dem Griechischen, welche es wert war, auf Pergament aufgezeichnet zu werden. Die Bibel, die er aufbewahrte, war unvollständig. Genauer gesagt, war sie aus verschiedenen Bibeln, die kaputt gegangen waren, zusammengesetzt worden. Die Evangelien und die Briefe des Apostel Paulus waren vollständig, das Alte Testament dagegen nur in Teilen erhalten.

Johanna bemerkte es lange Zeit nicht, denn ihr Vater war zu stolz, zuzugeben, dass seine Bibel unvollständig war.

Die unterschiedlichen Handschriften fielen ihr zunächst auch nicht auf. Doch nach einigen Wochen fand sie heraus, dass ein Abschnitt zweimal im Buch vorhanden war und ganz unterschiedlich aussah.

Sie fragte ihren Vater, warum dasselbe zweimal niedergeschrieben worden war.

Ihr Vater klärte sie auf: „Es ist von zwei verschiedenen Schreibern geschreiben worden und weil jeder Mensch anders ist, unterscheiden sich auch ihre Handschriften. Sie tragen in ihrer Handschrift die Merkmale ihres Charakters, ihrer Leidenschaften, ihre Schwächen und Stärken.“

Dann erzählte Randulf von der Domschule: „In der Domschule werdet ihr beide lernen, wie man die Schriftzeichen richtig schreibt. Obwohl sie darauf achten, dass die Schreiber ganz getreulich die Zeichen auf das wertvolle Pergament setzen, ist es dennoch möglich, zu sagen wer was geschrieben hat…“

„Doch warum sind die zwei gleichen Texte in der Bibel?“ wollte Johanna noch immer wissen.

Randulf war verzweifelt, denn nun musste er zugeben, dass seine Bibel eine Bastelarbeit war:

„Bücher sind unvorstellbar kostbar, mein Kind, darum werden beschädigte Bücher repariert und bei Bibeln, die ja dieselben Texte unseres Herrn Jesus von Nazarteh enthalten, werden aus verschiedenen Bibeln, die beschädigt sind, wieder eine ganze Bibel gebaut – oder zumindest so vollständig wie möglich. Darum gibt es in meiner Bibel einige doppelte Abschnitte.“

„Fehlen denn einige Teile der Bibel?“ Johanna war begeistert, denn sie hatte das Gefühl, ein wichtiges Geheimnis entdeckt zu haben.

„Das Alte Testament ist nur teilweise vorhanden, von den Evangelien fehlt nur wenig.“ gab Randult zu.

„In der Domschule wirst du dann die ganze Bibel kennenlernen.“ versprach ihr der Vater.

Sobald die Kinder genügend alt waren, dann konnte er sie nach der Domschule ins Kloster senden. Das Leben als Kirchenmann und Nonne war in Zeiten von Unruhen und Hungersnöten oft die sicherste Lebensgestaltung.

So unterrichtete Randulf beide Kinder, wobei er natürlich hoffte, sein Sohn Johannes würde hervorstechen. Mädchen galten allgemein als wenig bildungsfähig. Randulf sah sich im Irrtum. Johanna lernte viel schneller lesen und konnte auch bald ein wenig schreiben. Johannes blieb weit zurück, da er sich gar nicht für diese langweilige Kunst interessierte. Er spielte lieber mit den anderen Jungen im Dorf und wollte ein Krieger der Franken werden.



Das Lügenfeld

Ludwig der Fromme wurde zwar kurzfristig abgesetzt, doch konnte er Ludwig den Deutschen und Pippin wieder besänftigen, indem er ihre Gebiete sogar noch erweiterte. In Nimwegen versammelte sich das Reich und Lothar I. wurde herbeizitiert, wie ein ungehorsamer Klosterschüler. Die Reichsversammlung war für ihn ein Desaster: Lothar verlor die Mitregentschaft am Gesamtreich und wurde erneut nach Italien verbannt. Wie ein bestraftes Kind reiste er umgehend mit trotzigem Gesichtsausdruck ab und schwor in seinem Inneren, sich bei der nächsten Gelegenheit an seinen Verwandten zu rächen.

Die Bevölkerung des Reiches hatte gehofft, die Fürsten ihres Reiches würden sich nun beruhigen. Doch Ludwig der Fromme war ein so schwacher Kaiser, dass es schon im Jahr des Herrn 833 zur nächsten Revolte kam. Auf dem Reichstag von Colmar, der am 30. Juli auf einem Feld namens Rotfeld stattfand, musste Kaiser Ludwig feststellen, dass er jegliche Unterstützung des Adels verloren hatte. Er wurde gezwungen, erneut abdanken und seinen Sohn Karl und seine zweite Ehefrau Judith ins Kloster zu verbannen. Auf diesem Reichstag wurde so viel gelogen, dass fortan das Rotfeld den Namen „Lügenfeld“ trug. Nun war Lothar I. wieder Kaiser über das ganze Reich.

Auch im Byzantinischen Reich brodelte es, nicht wegen eines Streits um die Macht, sondern wegen der Auslegung der Religion: Im Jahre 832 hatte der Kaiser Theophilos ein Edikt erlassen, das den kultischen Gebrauch der Ikonen im Gottesdienst als heidnische Idolatrie verdammte. Er stieß damit die Entscheidung der Kaiserin Irene radikal um.

Die Freude über die Herrschaft von Lothar I. war von kurzer Dauer, denn seine jüngeren Brüder verbündeten sich mit dem abgesetzten Vater und sorgten dafür, dass Ludwig erneut feierlich in sein Kaiseramt eingesetzt wurde. Lothar musste nach Burgund fliehen und sich schliesslich unterwerfen. Nun verbannten ihn seine Brüder und der Vater definitiv nach Italien, wo er fortan nur noch als Unterkönig herrschen sollte.

Solche Sorgen und Probleme der Reichen und Mächtigen spielten im kleinen Dorf keine Rolle.

Schliesslich war der Tag des Abschieds vom Dorf gekommen. Ein Nachbar, der immer wieder einmal Getreide an die Domschule geliefert hatte, war dabei. Er erklärte den beiden Kindern, wie sie dorthin gelangen würden. Randulf hatte grosse Bedenken, sie alleine loszuschicken.

„Wenn ihr noch zwei Wochen wartet, dann werde ich wieder eine Lieferung an die Domschule machen und die Kinder können mit mir reisen.“ versprach der Nachbar und der Vater ergriff diese Gelegenheit. Zwei Kindern, die alleine unterwegs waren, konnte viel passieren.

So reisten die beiden erst später ab. Dennoch war Johanna froh, dass der Nachbar den Reiseweg genau beschrieben hatte.

„Wer weiss, vielleicht ist es eines Tages von entscheidender Wichtigkeit, wenn ich den Weg nach Hause kenne.“ dachte sie bei sich.

Johannes und Johanna trafen im Sommer an der Domschule ein. Die Schule nahm nur in Ausnahmefällen Mädchen auf und dann nur, wenn sie aus adeliger Familie waren. Johanna musste ausserhalb der Domschule einquartiert werden, während Johannes mit den anderen Jungen im Kloster selber lebte. Der Priester dort wunderte sich zunächst, warum der Dorfpriester Randulf beide Kinder geschickt hatte verstand aber bald, warum der Dorfpriester aus England auch seine Tochter unterrichtet haben wollte. Sie erwies sich als begabter als alle anderen Schüler der Domschule.