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HEINRICH AUGUST WINKLER

ZERBRICHT
DER WESTEN?

Über die gegenwärtige Krise
in Europa und Amerika

C.H.BECK

ZUM BUCH

Der Westen steckt in seiner schwersten Krise. Heinrich August Winkler analysiert die Ursachen und erklärt die Zusammenhänge. Mit seinem glasklar formulierten Buch gibt der berühmte Historiker der Geschichte des Westens dem Leser einen politischen Kompass in die Hand und zeigt, was falsch war, was richtig bleibt und was sich dringend ändern muss. Wer sich im gefährlichen Krisenbündel unserer Zeit zurechtfinden will, der muss dieses Buch lesen.

ÜBER DEN AUTOR

Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Er habilitierte sich 1970 in Berlin an der Freien Universität und war zunächst dort, danach von 1972 bis 1991 Professor in Freiburg. Seit 1991 war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Werke Der lange Weg nach Westen und Geschichte des Westens sind weithin gelesene Bestseller. 2014 erhielt er den Europapreis für politische Kultur der Hans Ringier Stiftung und 2016 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Bei C.H.Beck sind auch erschienen: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie (42005) sowie Zerreißproben. Deutschland, Europa und der Westen. Interventionen 1990–2015 (2015).

INHALT

EINLEITUNG

1.: EUROPÄISCHE ODER
WESTLICHE WERTE?

2.: DIE NATIONEN ÜBERWINDEN
ODER ÜBERWÖLBEN?

3.: EIN EUROPA
BIS ZUM EUPHRAT?

4.: WÄHRUNGSUNION OHNE
POLITISCHE UNION?

5.: WER SPRICHT
FÜR EUROPA?

6.: EUROPA VERSUS
AMERIKA?

7.: RÜCKKEHR
DER DEUTSCHEN FRAGE?

8.: ZUFLUCHTSORT
EUROPA?

9.: IN VIELFALT
VEREINT?

10.: WAS FOLGT AUS DEM BREXIT?

11.: WOHIN STEUERN DIE USA?

12.: ZERFÄLLT DIE EU?

13.: ZERBRICHT DER WESTEN?

14.: ZEIT DER ZERREISSPROBEN:
EIN FAZIT

WAS DANACH GESCHAH:
POSTSCRIPTUM

DANK

ANHANG

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ANMERKUNGEN

1.: Europäische oder westliche Werte?

2.: Die Nationen überwinden oder überwölben?

3.: Ein Europa bis zum Euphrat?

4.: Währungsunion ohne Politische Union?

5.: Wer spricht für Europa?

6.: Europa versus Amerika?

7.: Rückkehr der deutschen Frage?

8.: Zufluchtsort Europa?

9.: In Vielfalt vereint?

10.: Was folgt aus dem Brexit?

11.: Wohin steuern die USA?

12.: Zerfällt die EU?

13.: Zerbricht der Westen?

14.: Zeit der Zerreißproben: Ein Fazit

Was danach geschah: Postscriptum

PERSONENREGISTER

Für Dörte

EINLEITUNG

Dieses Buch handelt von dem krisenhaften Zustand, in dem sich die Europäische Union, die Vereinigten Staaten von Amerika und damit der transatlantische Westen insgesamt seit einiger Zeit befinden. Ich knüpfe damit an den vierten und letzten Band meiner «Geschichte des Westens» an, der Anfang 2015 unter dem Titel «Die Zeit der Gegenwart» erschienen ist und das knappe Vierteljahrhundert vom Untergang der Sowjetunion Ende 1991 bis zum Zusammenbruch der Nach-Kalte-Kriegsordnung im Russland-Ukraine-Konflikt von 2014 behandelt.

Als ich im Oktober 2015 mit der Arbeit an meinem neuen Buch begann, lag manches, wovon in diesem Band die Rede ist, noch in mehr oder minder weiter Ferne: das Referendum über das Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union im Juni 2016, die amerikanische Präsidentenwahl vom November desselben Jahres und die Präsidentenwahl in Frankreich vom Mai 2017. Was schon im Herbst 2015 offen zu Tage lag, war die Krise der Europäischen Union – eine Krise, die bei genauerer Betrachtung aus mehreren Einzelkrisen besteht: der Legitimations- und Vertrauenskrise der europäischen Institutionen, die bis auf den Anfang 1992 unterzeichneten Vertrag von Maastricht zurückgeht, der Krise der Eurozone, die ihren tieferen Grund im Fehlen einer gemeinsamen Haushaltskultur der beteiligten Staaten hat, und der Krise um den Umgang der EU mit Mitgliedstaaten, die sich als «illiberale Demokratien» verstehen und damit gegen die grundlegenden Werte der Europäischen Union stellen, wie sie unter anderem in den Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 niedergelegt sind.

Zu erkennen waren im Herbst 2015 auch schon die Verstärkung der zentrifugalen Kräfte innerhalb der EU durch die Flüchtlingskrise und die Isolierung, in die Deutschland, der größte und wirtschaftlich stärkste Staat der Union, durch seine Politik in ebendieser Krise geraten war. Dass die Flüchtlingskrise auch zum Erfolg der «Brexiteers» beigetragen hat, ist heute weithin unumstritten, desgleichen ihr Anteil am Erstarken nationalpopulistischer Kräfte auch in Deutschland selbst. Schon vor 2015 war eine internationale Diskussion darüber entbrannt, ob es eine «neue deutsche Frage» gebe, die Wiedervereinigung von 1990 also keine endgültige Lösung dieses Jahrhundertproblems gebracht habe. Die Ereignisse von 2015 haben die Debatte über das deutsche Selbstverständnis und die Rolle Deutschlands in Europa neu belebt, und es spricht wenig dafür, dass der Disput hierüber rasch enden wird.

Dass der Aufstieg des Populismus eine Herausforderung nicht nur für Europa, sondern auch für die Führungsmacht des Westens ist, hat der Präsidentschaftswahlkampf von 2016 in den Vereinigten Staaten gezeigt. Die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, die er sichtbar machte, hat Ursachen, die zum Teil weit in die Geschichte zurückreichen. Manche dieser Ursachen sind spezifisch amerikanische, andere kennen die europäischen Nationen aus eigener Erfahrung. Misstrauen gegenüber den «Eliten», dem «Establishment», der «politischen Klasse» ist ein transatlantisches Phänomen. Es sind die Grundlagen der repräsentativen Demokratie, die von den populistischen Bewegungen in Frage gestellt werden, und deshalb ist es keine Übertreibung, von einer gemeinsamen Herausforderung des Westens insgesamt zu sprechen.

Die Wahl des radikal nationalistischen Republikaners Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA markiert die tiefste Zäsur in der Geschichte der transatlantischen Beziehungen seit 1945. Bislang konnten Europäer und Amerikaner, wenn sie Kontroversen über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung ausfochten, davon ausgehen, dass sie über unterschiedliche Auslegungen gemeinsamer Werte stritten. Ob das auch künftig noch gelten wird, ist eine offene Frage. Donald Trump hat bisher nicht erkennen lassen, dass ihm die Werte, in deren Zeichen die Vereinigten Staaten gegründet wurden, obenan die unveräußerlichen Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, die gewaltenteilenden «checks and balances» und die repräsentative Demokratie, etwas bedeuten. Was er durch seine Politik in Zweifel zieht, ist nichts Geringeres als das normative Projekt des Westens, wie es sich in den beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, herausgeformt hat und das seitdem den Maßstab bildet, an dem westliche Demokratien sich messen lassen müssen.

Die Frage, ob der transatlantische Westen zerbrechen könnte, stellt sich zu einer Zeit, in der auf dem «alten Kontinent» darüber diskutiert wird, ob die Europäische Union ihren Zerfall noch aufhalten kann und es schafft, in wichtigen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. Dass sie nicht in der Lage ist, die Vereinigten Staaten politisch und militärisch zu ersetzen, liegt auf der Hand. Möglich erscheint aber, dass die europäischen Demokratien mit vereinten Kräften dazu beitragen können, dass die Werte des Westens die Präsidentschaft von Donald Trump überleben. Allein stünden sie, wenn sie sich das vornehmen, nicht. Sie hätten weltweit Verbündete in Gestalt der Kräfte, die sich den Prinzipien der westlichen Demokratie verbunden fühlen, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten selbst.

1.

EUROPÄISCHE ODER
WESTLICHE WERTE?

Zu den Schlagworten unserer Zeit gehören die «Werte Europas» oder die «europäischen Werte», auf die wir uns nicht nur in feierlicher Rede so gern berufen. Doch der Begriff verdient es, hinterfragt zu werden. Denn im geographischen Sinn hat Europa nie eine Wertegemeinschaft gebildet. Anders steht es um den konkurrierenden Begriff «westliche Werte». Den Unterschied mag ein Zitat des Wiener Historikers Gerald Stourzh verdeutlichen: «Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber Europa geht auch über den Westen hinaus.»[1]

Der Westen: Das ist zunächst einmal jener Teil Europas, der im Mittelalter (und in manchen Ländern lange darüber hinaus) sein geistliches Zentrum in Rom hatte, also zur Westkirche gehörte. Nur dieser Teil Europas hatte die beiden vormodernen Formen der Gewaltenteilung, die ansatzweise Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt sowie die von fürstlicher und ständischer Gewalt erlebt. Um die erste der beiden Unterscheidungen ging es im Investiturstreit in der zweiten Hälfte des 11. und dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts: einem Konflikt zwischen dem römischen Reformpapsttum auf der einen, den fränkisch-salischen Kaisern und den Königen von Frankreich und England auf der anderen Seite, bei dem vordergründig um das Recht der Einsetzung von Bischöfen und Äbten in ihre Ämter, letztlich aber um nichts Geringeres als das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt gestritten wurde.

Am Ende standen historische Kompromisse in Gestalt von Vereinbarungen zwischen der Kurie und den gekrönten Häuptern, darunter dem Wormser Konkordat, das 1122 zwischen den Legaten von Papst Calixt II. und Kaiser Heinrich V. abgeschlossen wurde. Keiner Seite war es gelungen, die andere zu unterwerfen. Die Kirche konnte sich aus ihrer Abhängigkeit vom deutschen König- und Kaisertum befreien, während die weltlichen Gewalten ihre Handlungsspielräume zu behaupten und langfristig zu erweitern vermochten.

Das symbolische Datum der zweiten mittelalterlichen Gewaltenteilung, der Ausdifferenzierung von fürstlicher und ständischer Gewalt, ist der 15. Juni 1215: der Tag, an dem auf der Wiese Runnymede an der Themse der englische König Johann «Ohneland», politisch geschwächt durch eine Niederlage, die ihm im Jahr zuvor die Franzosen in der Schlacht von Bouvines zugefügt hatten, den aufständischen Baronen in der Magna Charta Libertatum Rechte zugestehen musste, die seiner Macht Fesseln anlegten. Der König war fortan an das Recht gebunden; er durfte ohne Zustimmung eines Ausschusses der Kronvasallen, der als Vertretung des ganzen Landes galt, keine Abgaben erheben; kein freier Mann durfte gefangen genommen oder um seinen Besitz gebracht werden, wenn nicht ein Gericht aus Standesgenossen oder das Gesetz des Landes dies erlaubte.

Die Magna Charta bedeutete nicht das Ende des Machtkampfes zwischen dem König und seinen Vasallen. Aber hundert Jahre später stand fest, dass der niedere Adel, die «gentry», und das städtische Bürgertum den größten Nutzen aus dem Konflikt gezogen hatten. Das «Parlament» (der Begriff lässt sich bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückverfolgen) war die anerkannte Vertretung des Landes. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts bildeten sich das Unterhaus als Vertretung der Grafschaften und Kommunen und das Oberhaus, in dem die Barone des Königreichs saßen, als getrennte Einrichtungen heraus, wobei die niedere Kammer schon damals über mehr Macht verfügte als die höhere.

Was 1215 in England geschah, hat sich der Nachwelt besonders eingeprägt, und das vor allem deshalb, weil die Verfassungsentwicklung nirgendwo in Europa ein derart hohes Maß an Kontinuität aufweist wie hier. Aber nicht nur auf der Westseite des Ärmelkanals bedurften Herrscher, die mit ihresgleichen um Macht und Geltung wetteiferten, eines dauerhaften Rückhalts bei denen, die im Innern des Landes über Macht und Einfluss verfügten. Und nicht nur in England konnten auch die Umworbenen ihrerseits etwas fordern: die förmliche Verbriefung ihrer Rechte und die Institutionalisierung ihres Anspruchs auf Mitsprache. Auf die eine oder andere Weise wurden solche Vereinbarungen im Verlauf des Mittelalters überall im europäischen Okzident getroffen.

Die ansatzweisen Trennungen von geistlicher und weltlicher Gewalt einerseits, von fürstlicher und ständischer Gewalt andererseits stehen nicht unverbunden nebeneinander. Der historische Kompromiss, mit dem der Investiturstreit endete, setzte die Kräfte frei, die den Westen dauerhaft prägen sollten. Die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt führte zur Herausbildung von zwei unterschiedlichen Rechtssystemen, die beide auf das römische Recht zurückgriffen: das um 1140 im Decretum Gratiani zusammengefasste kanonische oder Kirchenrecht ebenso wie, sehr viel unmittelbarer, das neue weltliche Recht, das auf der Rezeption des unter Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert nach Christus kodifizierten, um 1080 wiederentdeckten Corpus Juris beruhte, im späten Mittelalter seinen Siegeszug durch Europa, genauer gesagt, den europäischen Okzident antrat und dort einen umfassenden Rationalisierungsschub auslöste.

Die Systematisierung erst des kirchlichen, dann des weltlichen Rechts war nicht möglich ohne die Jurisprudenz, die sich seit dem späten 11. Jahrhundert aus der Theologie heraus entwickelte. Ohne Systematisierung des Rechts kein moderner Staat: Das erste Fallbeispiel für diesen Zusammenhang war, so paradox es klingt, der Kirchenstaat, wie er sich unter Papst Gregor VII., dem machtbewussten Verfasser des «Dictatus Papae» von 1075, herauszuformen begann. Die Wirkungen seiner (von dem Universalhistoriker Eugen Rosenstock-Huessy so genannten) «Papstrevolution» halten bis heute an.[2] Die anstaltliche Verfassung der Kirche wurde zum Vorbild der anstaltlichen Verfassung weltlicher Herrschaft. Die innere Staatsbildung ging einher mit der Herausbildung eines europäischen Staatensystems und wurde durch sie weiter vorangetrieben. Die Ausdifferenzierung von fürstlicher und ständischer Gewalt gehört in diesen Zusammenhang.

Es sei der «dualistische Geist, der im Abendland die ständischen Verfassungen hervorgebracht» habe: So lautet ein Verdikt des deutschen Historikers Otto Hintze aus dem Jahr 1931.[3] Dualistisch war schon die Trennung der weltlichen von der geistlichen Gewalt gewesen. Dualistisch war alles, was innerhalb der weltlichen und der kirchlichen Sphäre auf eine Trennung von ausführender Gewalt auf der einen, beratender, kontrollierender, gesetzgebender Gewalt auf der anderen Seite hinauslief. Dualistisch war das Nebeneinander von grundherrlicher und bäuerlicher Landwirtschaft, von mittelalterlicher Bürgerstadt und feudalem Umland, von genossenschaftlicher Selbstverwaltung (etwa der Zünfte oder der Universitäten) und obrigkeitlichem Weisungsrecht. Wenn es ein herausragendes Kennzeichen des Okzidents gibt, dann ist es dieses: der Geist des innerweltlichen Dualismus, der den Keim des Pluralismus wie des Individualismus und damit den der Freiheit und der Zivilgesellschaft in sich trug.

Die Abfolge von Gewaltenteilungen, die die Geschichte des Westens kennzeichnet, wäre freilich kaum möglich gewesen, hätte es nicht eine noch sehr viel ältere Urprägung des Christentums gegeben: die kategorische Unterscheidung zwischen göttlichen und irdischen Gesetzen. Den Berichten der Evangelisten Matthäus und Markus zufolge wurde Jesus eines Tages von den Anhängern der Pharisäer und den Gefolgsleuten des römischen Vasallen Herodes Antipas eine Fangfrage gestellt: Ob er, der wahrhaftig sei und den Weg Gottes auf rechte Weise lehre, es für recht halte, dass man dem Kaiser Steuern zahle, oder nicht. Ein Nein hätte als Aufruf zum Aufstand gedeutet werden können, ein Ja als eine (höchst unpopuläre) Unterstützung der römischen Fremdherrschaft. Die eine wie die andere Antwort wäre eine politische Parteinahme, ja eine Entscheidung in einem Freund-Feind-Verhältnis gewesen. Da Jesus eine solche Antwort nicht geben wollte, entschied er sich für eine dialektische Erwiderung. Er ließ sich einen römischen Denar reichen und bestätigen, dass dieser das Bild des Kaisers, des Tiberius, trage. Daraufhin erfolgte seine Antwort: «So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.»[4]

Die Gegenüberstellung von Gott und Kaiser lief nicht auf Äquidistanz, also auf gleichen Abstand zu beiden, hinaus, ebenso wenig auf Gleichrangigkeit. Der absolute Vorrang Gottes stand für den Antwortenden außer Frage. Seine Replik schloss aber eine Absage an jede Art von Theokratie oder Priesterherrschaft ein. Die Ausdifferenzierung von göttlicher und irdischer Herrschaft bedeutete die Begrenzung und Bestätigung der letzteren: eine Begrenzung, da ihr keine Verfügung über die Sphäre des Religiösen zugestanden wird; eine Bestätigung, da der weltlichen Gewalt Eigenständigkeit zukommt. Das war noch nicht die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt. Aber die Antwort auf die Fangfrage war doch die Verkündung eines Prinzips, in dessen Logik die Trennung lag – und mit ihr letztlich die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen.[5]

Über ein Jahrtausend später zog ein Teil der Christenheit aus der grundlegenden Unterscheidung Jesu die Folgerung einer institutionellen Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher Gewalt. Es war jener Teil, in dem es schon zuvor mehrere Könige, aber nur einen Papst gegeben hatte: der lateinische oder westkirchliche Teil. Im Bereich der Ostkirche, von Byzanz und später Moskau, fand die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt nicht statt. Das orthodoxe Europa kannte zwar nicht das, was man mit polemischem Unterton «Cäsaropapismus» genannt hat, eine personelle Einheit von geistlicher und weltlicher Gewalt, wohl aber eine Unterordnung der ersteren unter die letztere.

Im Bereich der Ostkirche konnten sich auch die anderen Dualismen nicht entwickeln, die den Westen prägten: nicht das wechselseitige Treueverhältnis von Lehnsherren und Gefolgsleuten, nicht die Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt, von genossenschaftlichen und obrigkeitlichen Elementen, von Grundherrschaft und Bauernwirtschaft, von selbstverwalteter Bürgerstadt und aristokratisch beherrschtem Umland. Dass Ost- und Südosteuropa sich so anders entwickelten als der europäische Okzident, lag gewiss auch an lang anhaltenden Erfahrungen von Fremdherrschaft: der tatarischen in Russland, der osmanischen auf dem Balkan und in Rumänien. In letzter Instanz aber markiert das unterschiedliche Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt die europäische «Urdifferenz».

Nur dort, wo es institutionelle Vorbedingungen von individueller und korporativer Freiheit gab, im Europa der Westkirche, konnte eine rationale Theologie aus sich heraus andere rationale Wissenschaften wie die Jurisprudenz und die Philosophie erzeugen und dem Geist des Rationalismus auch in anderen Wissenschaften und den Künsten Auftrieb verleihen. Nur im Bereich der Westkirche konnte sich ein methodischer Zweifel zu einer geistigen Produktivkraft entwickeln, die von der Kirche zwar schärfstens bekämpft wurde, aber nicht mehr ausgerottet werden konnte. Nur im Westen entstand ein städtisches Bürgertum, das wagemutige Kaufleute und Unternehmer in großer Zahl hervorbrachte. Nur hier konnten sich die großen Emanzipationsbewegungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit vom Humanismus und der Renaissance über die Reformation bis zur Aufklärung entfalten, die der westlichen Moderne bis heute ihren Stempel aufdrücken.

Die Aufklärung war mithin kein «Urknall». Sie fiel weder vom Himmel noch stieg sie, wie manche ihrer Gegner meinten, aus der Hölle empor. Sie hatte eine Vorgeschichte, aus der sich die christliche Unterscheidung von göttlichen und irdischen Gesetzen so wenig wegdenken lässt wie der «dualistische Geist» des Mittelalters. Was für die Geistesgeschichte gilt, trifft auch für die Geschichte der Gewaltenteilungen zu. Es bedurfte der vorangegangenen Ausdifferenzierungen von geistlicher und weltlicher sowie von fürstlicher und ständischer Gewalt, um die moderne Gewaltenteilungslehre hervorzubringen, wie sie der französische Staatsphilosoph Charles-Louis de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu 1748 im «Geist der Gesetze» vorlegte: die Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt.[6]

Was Montesquieu in die theoretische Form eines Gegenmodells zur absoluten Monarchie kontinentaleuropäischer Prägung brachte, entsprach seiner Deutung der Ergebnisse der englischen Verfassungsgeschichte im Allgemeinen und der, die seit der «Glorious Revolution» von 1688/89, dem Sturz des absoluten Königtums Jakobs II., vergangen war, im Besonderen. Nirgendwo zeitigte Montesquieus Buch ein so starkes Echo wie in den nordamerikanischen Kolonien der britischen Krone. Der «Geist der Gesetze» bestärkte die über den Nordatlantik ausgewanderten europäischen Siedler, überwiegend radikal protestantische Engländer, die sich gegen das anglikanische Staatskirchentum auflehnten, in ihrem Widerstand gegen eine Herrschaft, auf die sie keinen Einfluss hatten. «No taxation without representation»: Das Prinzip, dass nur besteuert werden durfte, wer auch das Recht hatte, Abgeordnete in das Londoner Unterhaus zu entsenden, sollte nicht nur für das Mutterland, sondern auch für die 13 rebellischen nordamerikanischen Kolonien gelten.

Am 12. Juni 1776 verabschiedete der Provinzialkonvent von Virginia die «Declaration of Rights». «Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, die sie, bei Begründung einer politischen Gemeinschaft, ihren Nachkommen durch keinerlei Abmachungen wegnehmen oder entziehen können, nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.» Mit diesem Paukenschlag begann die erste Menschenrechtserklärung der Geschichte. Es folgten die Verkündung der Volkssouveränität und 14 weitere Artikel, die die Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt sowie einen Katalog der wichtigsten Freiheitsrechte, darunter der Presse- und der Religionsfreiheit, enthielten.[7]

Gut drei Wochen später, am 4. Juli 1776, verkündete der Kontinentalkongress der 13 Kolonien die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. Am Anfang stand ein Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten im Geist der Erklärung von Virginia: «Folgende Wahrheiten erachten wir für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück (life, liberty and the pursuit of happiness) gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wann immer irgendeine Regierungsform sich diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint.»[8]

Die nordamerikanischen Rebellen konnten fraglos das Erstgeburtsrecht in Sachen Menschenrechte für sich beanspruchen. Aber schon bald wanderten die Grundsätze, die nach Virginia auch andere Einzelstaaten zu Papier brachten, über den Nordatlantik nach Europa. Zu denen, die in Frankreich in ihrem Sinn tätig wurden, gehörten der Marquis de Lafayette, der an der Seite der Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg gegen das Vereinigte Königreich gefochten hatte, und Thomas Jefferson, Mitverfasser der Virginia Declaration of Rights, Autor des Entwurfs der Unabhängigkeitserklärung und später dritter Präsident der USA, der von 1785 bis 1789 seinem Land als Sonderbotschafter in Paris diente. Kurz nach dem Ausbruch der Französischen Revolution entwarf Lafayette mit aktiver Unterstützung Jeffersons seine eigene Menschenrechtserklärung, die in die von der Nationalversammlung am 26. August 1789 verabschiedete Déclaration des droits de l’homme et du citoyen einging.

Die erste europäische Menschenrechtserklärung betonte die Gleichheit vor dem Gesetz deutlich schärfer als die amerikanischen Erklärungen, stimmte aber, was die Sicherung von Freiheit und Eigentum angeht, mit den überseeischen Vorbildern auf weiten Strecken überein.[9] Die unveräußerlichen Menschenrechte wurden also spätestens 1789 zu einem transatlantischen Vorhaben. Zusammen mit der Herrschaft des Rechts (rule of law), der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie (representative government) bilden sie seitdem das normative Projekt des Westens, an dem sich alle Staaten abzuarbeiten haben, die sich nicht nur auf dem Papier zu den Ideen von 1776 und 1789 und damit zur politischen Summe der Aufklärung bekennen.

Die Geschichte des alten und des neuen, des europäischen und des überseeischen Westens, zu dem neben den Vereinigten Staaten und Kanada auch Australien und Neuseeland gehören, lässt sich zu einem guten Teil als eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung dieses Projekts beschreiben. Es gab europäische Länder, die kulturell zum Westen gehörten und sich doch gegen einige der politischen Konsequenzen der Aufklärung wie die unveräußerlichen Menschenrechte, die Volkssouveränität und die repräsentative Demokratie, wehrten. Eines dieser Länder war Deutschland, das erst nach der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg seine Vorbehalte gegen die politischen Ideen des Westens aufgab.

Auch Italien wurde erst nach 1945 eine parlamentarische Demokratie westlicher Prägung, Portugal und Spanien erst nach der Überwindung ihrer nationalistischen und autoritären Diktaturen Mitte der siebziger Jahre. Zu einem vorläufigen Abschluss kam das Ringen um die Aneignung oder Verwerfung der politischen Ideen von 1776 und 1789 innerhalb des Westens erst nach den friedlichen Revolutionen von 1989. Durch sie konnte sich jener Teil des alten Okzidents, der 1945 im Gefolge der Beschlüsse von Jalta der sowjetischen Herrschaftsphäre zugeschlagen worden war, der politischen Kultur des Westens öffnen: eine tiefe Zäsur in der Geschichte Europas – eine der tiefsten seit der Französischen Revolution 200 Jahre zuvor.

Zu keiner Zeit beschrieb das normative Projekt des Westens die Wirklichkeit des Westens. Zu den Verfassern der ersten Menschenrechtserklärungen gehörten Sklavenbesitzer (unter ihnen auch Thomas Jefferson). Die aus Schwarzafrika stammenden Sklaven gehörten wie die indianischen Ureinwohner zu den Gruppen, denen die Menschenrechte lange Zeit vorenthalten wurden. Was die Bürgerrechte betraf, galt das bis zu einem gewissen Grad auch für die Frauen und die Arbeiter. Die Geschichte des Westens lässt sich mithin auch als eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte darstellen. Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus bilden einen wesentlichen Teil des westlichen «Sündenregisters».

Doch die Menschenrechtserklärungen waren klüger als ihre vielfach in männlichen und rassischen Vorurteilen befangenen Verfasser. Gruppen, die ganz oder teilweise von der Geltung der Menschenrechte ausgeschlossen wurden, konnten sich auf sie berufen, und sie taten das langfristig mit Erfolg. Die Geschichte des Westens ist also auch eine Geschichte von Lernprozessen, von Selbstkorrekturen, von produktiver Selbstkritik. Aus dem normativen Projekt wurde, mit anderen Worten, ein normativer Prozess.

Er ist noch längst nicht abgeschlossen. Denn die Adressaten der Menschenrechte sind grundsätzlich alle Menschen. Das gilt verstärkt seit dem 10. Dezember 1948. An diesem Tag nahm die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit 48 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 8 Enthaltungen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an, die den universalen Charakter dieser Rechte betont und globale Gültigkeit für sie beansprucht.[10] Solange viele Staaten sich nicht an diese Entschließung gebunden fühlen, steht diese Globalisierung ursprünglich westlicher Normen freilich nur auf dem Papier.

Westlich, nämlich transatlantisch, war das Ensemble der Entwicklungen, die in die politischen Ideen des späten 18. Jahrhunderts einflossen. Wenn es eine «Urformel» gibt, aus der sich die Werte des Westens herleiten lassen, ist es, wie wir gesehen haben, die Trennung der Sphären von Gott und Kaiser durch Jesus. Einen vergleichbaren «locus classicus» gibt es im Islam und in anderen Religionen nicht. Es bedurfte der mittelalterlichen Trennung von geistlicher und weltlicher sowie der von fürstlicher und ständischer Gewalt – einer Ausdifferenzierung, die es so nur im europäischen Okzident gab –, um die moderne Gewaltenteilung, die Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt, und damit einen festen Rahmen für die Herrschaft des Rechts und die Geltung der Menschen- und Bürgerrechte hervorzubringen. Auf nordamerikanischem Kolonialboden wurden diese Rechte zuerst verkündet, und von dort wanderten sie nach Europa. Was die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten als «ihre» Werte bezeichnen, steht in einem größeren, einem westlichen und inzwischen weltweiten Zusammenhang.

2.

DIE NATIONEN ÜBERWINDEN
ODER ÜBERWÖLBEN?

Im Jahr 1988 erschien das Buch eines aufstrebenden deutschen Politikers, des damaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes und stellvertretenden Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Oskar Lafontaine, unter dem Titel «Die Gesellschaft der Zukunft». Es enthielt ein Kapitel mit der Überschrift «Die Überwindung des Nationalstaates». Ein Schlüsselabschnitt lautete: «Gerade weil uns Deutschen die Vollendung der nationalstaatlichen Einheit versagt blieb und auf absehbare Zeiten versagt bleiben wird, gerade weil wir Deutsche mit einem pervertierten Nationalismus schrecklichste Erfahrungen gemacht haben, gerade deshalb sollte uns schlechthin der Verzicht auf Nationalstaatlichkeit leichter fallen als anderen Nationen, die mit der Entstehung ihres Nationalstaats auch die Entfaltung einer demokratischen Gesellschaftsordnung verbinden konnten und immer noch können. Aufgrund ihrer jüngsten Geschichte sind die Deutschen geradezu prädestiniert, die treibende Rolle in dem Prozess der supranationalen Vereinigung Europas zu übernehmen.»[1]

Dass der zitierte Passus außerhalb der alten Bundesrepublik öffentliche Beachtung gefunden hat, ist unwahrscheinlich. Andernfalls wäre vermutlich die Frage gestellt worden, ob der Rückschluss von der Perversion auf die Prädestination nicht eine geradezu tollkühne Form von deutscher Schuldbewältigung sei. In der Tat mutet die dialektische Volte Lafontaines wie eine weltliche Variante der frühchristlichen, auf den Kirchenvater Ambrosius zurückgehenden Lehre von der «felix culpa», der seligen, weil heilsnotwendigen Schuld, an.[2] Europäische Nationen, deren nationale Identität und Souveränität von Hitlers «Drittem Reich», manchmal bereits auch vom deutschen Kaiserreich oder Preußen in Frage gestellt worden war, dürften Berufungen auf eine «supranationale» Sendung Deutschlands als eine neue Spielart von deutschem Imperialismus empfinden.

Deutschland war zur Zeit der Spaltung nach 1945, anders als die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, kein Nationalstaat. Im Jahr 1976 bezeichnete der Bonner Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher die Bundesrepublik Deutschland erstmals als «postnationale Demokratie unter Nationalstaaten» und traf damit das Bewusstsein ganzer Generationen westdeutscher Intellektueller genau.[3] Als der Autor die These 1986 im fünften Band der «Geschichte der Bundesrepublik Deutschland» wiederholte, begann der Begriff Karriere zu machen.[4] Zum politischen Schlagwort wurde er endgültig, als Jürgen Habermas 1998 im Titel einer Sammlung von politischen Essays von einer «postnationalen Konstellation» sprach, wobei er diese im umfangreichsten Text als Entwicklungsstadium der wohlfahrtsstaatlichen Massendemokratie westlichen Zuschnitts im Zeitalter der Globalisierung diagnostizierte.[5]

Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Sonderkonstellation der alten Bundesrepublik bereits seit acht Jahren der Vergangenheit an. Das wiedervereinigte Deutschland war wieder ein Nationalstaat, wenn auch keiner der früheren Art. Es war, wie alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ein postklassischer Nationalstaat, der einige seiner Hoheitsrechte gemeinsam mit anderen ausübte oder auf supranationale Einrichtungen übertragen hatte.[6] Die Kennzeichnung der alten Bundesrepublik als «postnational» war von jeher anfechtbar gewesen. Sie suggerierte die Vorstellung, die Bundesrepublik könne das nationale Stadium der deutschen Geschichte auch einseitig, ohne Befragung der Deutschen des anderen deutschen Staates, der Deutschen Demokratischen Republik, für beendet erklären. Im Begriff der «postnationalen Konstellation» wurde der westdeutsche Sonderbefund gewissermaßen posthum generalisiert, ohne dass dem international vergleichende, empirische Untersuchungen vorausgegangen wären: ein Sachverhalt, der in der deutschen Diskussion meist ausgeblendet wird.

Fände eine solche Untersuchung heute im Rahmen der Europäischen Union statt, gäbe es vermutlich außerhalb Deutschlands nur zwei Staaten, in denen der Begriff «postnational» nennenswerte Zustimmung, zumindest in der «politischen Klasse», finden würde: in Belgien und in Luxemburg – im ersten Fall aufgrund der schwach ausgeprägten nationalen Identität eines ethnisch und sprachlich höchst heterogenen Staatswesens, im zweiten Fall infolge des europäischen Mehrwerts, den das kleinste Gründungsmitglied der EU als Sitz wichtiger Gemeinschaftseinrichtungen und als «geborener» Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich genießt. In allen anderen Mitgliedstaaten dürfte die Selbsteinstufung als Nation und als Nationalstaat bei der Mehrheit der Bevölkerung unangefochten sein, der Begriff «postnational» folglich auf mehr oder minder großes Unverständnis stoßen.

In der Frühphase der westeuropäischen Einigungsbewegung, den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, war der gesellschaftliche Rückhalt der Idee eines föderativen Zusammenschlusses der europäischen Staaten über politische Lagergrenzen hinweg am stärksten gewesen. Unter den «Parteifamilien» waren die Christlichen Demokraten die europafreundlichsten, was vorrangig an katholischen Reserven gegenüber dem durch und durch säkularen Charakter des modernen Nationalstaates lag. In der jungen Bundesrepublik Deutschland war es die Partei des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, die Christlich-Demokratische Union, die das Projekt der westeuropäischen Integration, beginnend mit der 1952 in Kraft getretenen Montanunion, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, vorantrieb. Als schwere Niederlage empfand es der Bonner Regierungschef, dass im August 1954 eine Mehrheit der französischen Nationalversammlung die Verträge über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft, und mit ihnen auch das Vorhaben einer Europäischen Politischen Gemeinschaft, zu Fall brachte: ein Zeichen für das Wiedererstarken des Nationalismus in Frankreich.

Was blieb, war die Fortsetzung der wirtschaftlichen Integration der sechs Mitgliedstaaten der Montanunion – Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg – über den Bereich von Kohle und Stahl hinaus. An die Spitze der 1957 gegründeten, alle Wirtschaftssektoren umfassenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft trat im Jahr darauf als erster Präsident ihrer Kommission der bisherige Staatssekretär des Bonner Auswärtigen Amtes, Walter Hallstein. Radikale europäische Föderalisten wie der österreichische Schriftsteller Robert Menasse schreiben Hallstein die Absicht zu, die Nationen und die Nationalstaaten aufzulösen. Für die ihm in den Mund gelegten entsprechenden Zitate («Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee», «Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung des Nationalstaates» und «Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa») gibt es aber nicht nur keine Belege, sie widersprechen auch diametral dem, was Hallstein bei zwei der von Menasse genannten Anlässe tatsächlich gesagt hat.[7]

In seiner ersten Rede vor dem Europäischen Parlament beschrieb der frisch ernannte Kommissionspräsident am 19. März 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als eine «Staatengemeinschaft mit starken föderativen Zügen». Vor dem Europäischen Gemeindetag in Rom erteilte er am 15. Oktober 1964 zwar der Idee der nationalstaatlichen Souveränität alten Stils «und der heutigen politischen Form der Nationen» eine Absage, ebenso aber auch der Folgerung, «dass die bestehende politische Ordnung ausgelöscht, durch einen europäischen Supranationalstaat ersetzt wird». Es gehe vielmehr darum, die «Kraftquellen der europäischen Nationen zu erhalten, ja sie zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen».[8]

Für Hallstein war die Antwort auf die Frage nach der «Finalität» des Einigungsprozesses klar: Er beschrieb die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als «unvollendeten Bundesstaat», womit er sich unausgesprochen am Modell der Bundesrepublik Deutschland orientierte.[9] Zu seinem härtesten Widersacher wurde der einstige Führer der «France libre» im Zweiten Weltkrieg und erste Regierungschef nach der Befreiung Frankreichs im Juni 1944, Charles de Gaulle, der im Mai 1958 als Ministerpräsident an die Macht zurückkehrte und seit dem 8. Januar 1959 als Staatspräsident an der Spitze der von ihm gegründeten Fünften Republik stand. In seiner legendären Pressekonferenz vom 15. Mai 1962 warf er den Befürwortern eines supranationalen Europa vor, einer utopischen Konstruktion anzuhängen. Europa könne nur auf Elementen der Aktion, der Autorität und der Verantwortung, also auf der Grundlage der Staaten aufgebaut werden. «Zur Stunde kann es kein anderes Europa als das der Staaten geben … Errichten wir also dieses Gebäude auf den Grundfesten der Wirklichkeit, und nach getaner Arbeit wird dann Zeit sein, uns in den Märchen von Tausendundeiner Nacht zu wiegen.»[10]

Ironischerweise setzte sich de Gaulles Idee eines «Europa der Staaten» (Europe des états) nicht zuletzt mit Hilfe des Landes durch, dessen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der Gründer der Fünften Republik um jeden Preis hatte verhindern wollen: Großbritannien. Sein Nachfolger Georges Pompidou war sehr viel weniger antibritisch eingestellt als der im April 1969 zurückgetretene de Gaulle. Er zog das Veto seines Vorgängers zurück und verständigte sich mit dem britischen Premierminister Edward Heath im Mai 1971 darauf, künftig so weit wie nur irgend möglich auf intergouvernementale statt auf supranationale Zusammenarbeit zu setzen und eine enge Kooperation zwischen Paris und London zu pflegen, um ein Gegengewicht zum wirtschaftlich führenden Mitgliedstaat der Gemeinschaft, der auch politisch immer selbstbewusster auftretenden Bundesrepublik Deutschland, herzustellen.[11]

Der Beitritt des Vereinigten Königreiches zu den Europäischen Gemeinschaften (in denen die EWG, die Montanunion und die Europäische Atomgemeinschaft 1967 aufgegangen waren) erfolgte, zeitgleich mit dem Irlands und Dänemarks, am 1. Januar 1973. Alle drei Staaten waren zwar an der Teilhabe am Gemeinsamen Markt interessiert, aber nicht an der supranationalen Integration Westeuropas. Dasselbe traf für die drei mediterranen Staaten Griechenland, Spanien und Portugal zu, die 1981 beziehungsweise 1986 den Europäischen Gemeinschaften beitraten.

Als der Kalte Krieg zwischen 1989 und 1991 zu Ende ging, war unschwer vorherzusagen, dass die europäischen Nationalstaaten ihre Zukunft noch längst nicht hinter sich hatten. Die Europäische Gemeinschaft glich vieles von dem aus, was ihre Mitgliedstaaten allein nicht mehr zu leisten vermochten, und wurde dadurch, wie der britische Wirtschaftshistoriker Alan Milward bemerkt, zu ihrem Retter.[12] Was die innere und die soziale Sicherheit, die Rechtsordnung und das alltägliche Zusammenleben der Menschen betraf, blieben den Nationalstaaten aber umfassende Zuständigkeiten. Eben deshalb waren auch noch viereinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende die Gefühle der nationalen Zusammengehörigkeit deutlich stärker entwickelt als das europäische «Wir-Gefühl». Das galt auch für die Bundesrepublik – jenen Teil Deutschlands, in dem ein Teil der meinungsbildenden Kreise Europa als eine Art von Ersatzvaterland zu sehen begonnen hatte.

In einem waren sich die Pioniere der westeuropäischen Einigungsbewegung immer einig gewesen: Durch fortschreitende Integration sollte der alte Kontinent dem Nationalismus den Boden entziehen, der Europa im 20. Jahrhundert an den Rand der Selbstzerstörung gebracht hatte. Als das Jahrhundert zu Ende ging, waren die westeuropäischen Demokraten auf dem Weg der friedlichen Zusammenarbeit so weit vorangeschritten, dass an kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihnen nicht mehr zu denken war und nur noch schlechte Karten hatte, wer an nationalistische Vorurteile zu appellieren versuchte.

Aber nicht überall in Europa war der Geist des Nationalismus überwunden. In Jugoslawien zeigte sich bereits in den achtziger Jahren, dass das kommunistische System des 1980 verstorbenen Marschalls Tito die nationalen Gegensätze zwischen den Teilrepubliken nicht zum Verschwinden gebracht hatte. In Serbien, der größten Teilrepublik, löste unter Führung des regionalen Parteichefs Slobodan Milošević ein großserbischer ethnischer Nationalismus den Kommunismus als Intergrationsideologie fast nahtlos ab. In Kroatien war es nicht viel anders; Slowenien und Bosnien-Herzegowina folgten diesen Beispielen. Die neunziger Jahre wurden zum Jahrzehnt der jugoslawischen Nachfolgekriege – und von völkermörderischen Gemetzeln, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hatte.

«Der Nationalstaat hatte durch die europäischen Revolutionen von 1989/90 eine Renaissance erlebt»: So lautet ein Diktum in Andreas Rödders Buch «21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart».[13] Die Auflösung Jugoslawiens in Einzelstaaten, die mit Ausnahme von Bosnien-Herzegowina ethnisch relativ homogen sind, spricht ebenso für diese These wie die Auflösung der Sowjetunion, die Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Republiken und die Trennung der Slowakei von Tschechien. Aber auch in den ehedem kommunistisch regierten Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, deren Staatsgebiet sich durch die epochale Umwälzung von 1989/90 nicht änderte, erfuhr der Nationalstaat eine qualitative Aufwertung: An die Stelle der «beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten» im Sinne der Breschnew-Doktrin von 1968 trat die volle Souveränität von Ländern, die nach der Auflösung des Warschauer Pakts im Jahr 1991 nun auch frei darüber entscheiden konnten, ob sie sich einem anderen, dem westlichen Bündnissystem anschließen wollten oder nicht.

Innerhalb der Europäischen Union, der zwischen 2004 und 2013 neun frühere Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts und zwei ehemalige jugoslawische Teilrepubliken, Slowenien und Kroatien, beitraten, gehörten die meisten der «Neuen» aus Ostmittel- und Südosteuropa erwartungsgemäß zu denen, die großen Wert auf die Bewahrung ihrer frisch gewonnenen Souveränität legten, einer Abtretung von Hoheitsrechten an supranationale Einrichtungen also skeptisch gegenüberstanden. Was ihre äußere Sicherheit anging, vertrauten sie weniger «Brüssel» als den USA und der NATO, deren Mitglieder sie allesamt zwischen 1999 und 2009 wurden. Die Erweiterung der EU machte infolgedessen sehr viel raschere Fortschritte als ihre Vertiefung, zu der freilich noch sehr viel mehr gehörte und gehört als die Steigerung der institutionellen Effizienz und die Beschleunigung der Entscheidungsprozesse der Gemeinschaft, nämlich die Stärkung des Gefühls der inneren Zusammengehörigkeit und der wechselseitigen Solidarität der Mitgliedstaaten.

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