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Hans Maier

DIE ORGEL

Instrument und Musik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

«Manchmal auch, am Sonntag, durfte der kleine Buddenbrook dem Gottesdienst in der Marienkirche droben an der Orgel beiwohnen, und das war etwas anderes, als unten mit den anderen Leuten im Schiff zu sitzen. Hoch über der Gemeinde, hoch noch über Pastor Pringsheim auf seiner Kanzel saßen die beiden inmitten des Brausens der gewaltigen Klangmassen, die sie gemeinsam entfesselten und beherrschten, denn mit glückseligem Eifer und Stolz durfte Hanno seinem Lehrer manchmal beim Handhaben der Register behilflich sein.» (Thomas Mann, Buddenbrooks).

In seiner kleinen Kulturgeschichte der Orgel widmet sich Hans Maier mit großem Sachverstand diesem eindrucksvollen Instrument, das den kleinen Hanno Buddenbrook so glückselig stimmt. Dabei geht der Autor nicht nur auf die technischen und klanglichen Besonderheiten ein, sondern betrachtet die Orgel auch als Baukunstwerk, untersucht ihre Rolle in der Literatur und stellt berühmte Orgelkomponisten und ihre Werke vor.

Über den Autor

Hans Maier, seit 1962 Professor für politische Wissenschaft in München, war 1970–1986 bayerischer Kultusminister und ist seit 1999 Prof. em. für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie. 1976–1988 war er Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Seit rund 75 Jahren ist Hans Maier nebenberuflich Organist. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Gesammelte Schriften in fünf Bänden sowie seine Memoiren Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931ff. (2011).

Inhalt

    I. Mit Händen und Füßen.
Organisten am Werk

   II. Wie klingt eine Orgel?
Die Register

  III. Wie spielt man auf einer Orgel? «Lunge» und «Nervensystem»

  IV. Die Orgel als Baukunstwerk

   V. Orgelmusik und Orgelkomponisten

  VI. «Wie die Orgelpfeifen». Die Orgel im Sprichwort und in der Literatur

 VII. Zur Geschichte der Orgel und des Orgelspiels

VIII. Zusammenfassung

Nachwort

Literaturhinweise

Bildnachweis

Register

I. Mit Händen und Füßen.
Organisten am Werk

Was ist die Orgel? Wie funktioniert sie? Wie spielt man auf ihr? Wie sehen die Werke aus, die für sie geschrieben wurden? Wie groß, wie wichtig ist das Repertorium der Orgelmusik in der Musikgeschichte? Welche Spuren hat die «Königin der Instrumente» als Baukunstwerk, als Ort von Malerei, Bildhauerei, Kunsttischlerei, Fensterglas- und Lichteffekten in der Geschichte der Architektur und der bildenden Künste hinterlassen? Und wie spiegelt sich die Orgel in der erzählenden Literatur, im Musikgedicht?

Ein reiches Themenfeld! Beginnen wir ganz handfest und handgreiflich mit einer Feststellung: Eine Orgel wird mit Händen und Füßen gespielt. Die Hände der Organisten spielen auf den Manualen. Die Füße – Spitze, Absatz und Ballen – betätigen das Pedalwerk. Nicht nur mit den Händen, auch mit den Füßen können Orgelspieler den ganzen Tonraum ausloten; in der Orgelliteratur gibt es zahlreiche vieltaktige, weit ausgreifende Pedal-Soli. Das Pedal muss dabei nicht immer die tiefen Töne, den Bass, spielen. Es kann auch die Mittelstimmen, ja sogar die Oberstimme übernehmen, während die Hände die darunter liegenden Stimmen, die Bässe und Mittelstimmen, spielen – so in vielen Choralvorspielen von Johann Pachelbel bis zu Johannes Brahms.

So müssen Organisten also nicht nur die Tasten, das Clavir, beherrschen – sie müssen sich auch, wie Johann Sebastian Bach in seinem «Orgelbüchlein» verlangt, «im Pedalstudio … habilitiren». Denn das Pedal wird bei genuinen Orgelkompositionen «gantz obligat tractiret». Demgemäß umfassen auch die Orgelnoten herkömmlicherweise meist nicht nur zwei Notensysteme (wie etwa beim Klavier), sondern drei – falls es sich nicht um Stücke handelt, die ausdrücklich (nur) für die Hände geschrieben sind und daher manualiter gespielt werden.

Trotz ihrer Künste waren die Organisten lange Zeit für das Publikum schlechterdings unsichtbar – und in ihrer Mehrzahl sind sie es auch heute noch. In den Kirchen der Christenheit (die Weltreligionen außerhalb des Christentums kennen keine Orgeln) saßen sie fast immer im Rücken oder seitlich der Gemeinde – weit oben auf der Orgelempore. Sie stand gewöhnlich im Westen, seltener im Norden oder Süden; der Altar war nach Osten orientiert. Den neugierigen Blicken der Menschen waren die Organisten entzogen. Am Spieltisch, auf «hohem Stuhle», walteten sie in Verborgenheit diskret ihres Amtes. Man sah die Organisten allenfalls von fern – so noch heute, wenn ein Orgelspieler, eine Orgelspielerin nach einem Konzert an die Brüstung der Empore tritt, um den Beifall der Zuhörer entgegen zu nehmen; oft sieht man nur winzige Punkte in der Ferne. Ein wenig anders ist es in den romanischen Ländern, in denen meist keine fest stehenden, schweren Bänke wie in Mitteleuropa und im Norden zur Kirchenausstattung gehören, sondern einzelne Stühle. Das ermöglicht den Zuhörern, bei Orgelkonzerten diese Stühle einfach umzudrehen und sich dem Organisten an der Rückwand der Kirche zuzuwenden.

Will man die Organisten nicht nur hören, sondern ihnen aus der Nähe beim Spielen zusehen, so muss man in Konzerthallen mit Konzertorgeln gehen – deren gibt es inzwischen weltweit viele, auch in Ländern ohne eigene Orgeltradition. Hier können sich Organisten am frei stehenden Spieltisch auf dem Podium als Spieler, als Künstler zeigen, ebenso wie andere Solisten – als Virtuosen mit allen Fertigkeiten: der Arbeit der Hände im raschen Wechsel der Manuale, dem Treten und Gleiten der Füße, den ruhigen oder schnellen Bewegungen des ganzen Körpers, dem Agieren an dem großen, die Spieler halb umschließenden Spieltisch. Sie können etwas aus der Literatur spielen oder das Publikum mit Improvisationen erfreuen oder verblüffen. Sie können sogar am Schluss der Darbietung elegant über das Pedal «absteigen» – und die eigene Körperdrehung zwanglos in eine Verbeugung vor den Hörern übergehen lassen (wie ich es bei Karl Richter mehrmals gesehen habe).

Den meisten Organisten ist eine solch virtuose Selbstdarstellung freilich fremd. Sie sind bis heute in ihrem Auftreten eher scheu und zurückhaltend geblieben – immer noch den Kirchendienern gleichend, zu denen sie ja über viele Jahrhunderte ganz selbstverständlich gehörten (die Mehrzahl von ihnen zählt auch heute noch dazu!). Sie drängen sich nicht vor, auch dann nicht, wenn sie als Konzertvirtuosen auftreten. Sie wollen lieber angehört als angeschaut werden. Daher kennen wir die Organisten auch weniger aus Bildern (wie die meisten anderen Künstler), viel öfter kennen wir sie aus Erzählungen, Sprichwörtern, Anekdoten – und nicht zuletzt auch aus der Karikatur.

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1 – Johann Sebastian Bach: Choralvorspiel «Vater unser im Himmelreich» aus dem «Orgelbüchlein». Orgelnoten werden heute, wenn die Komposition für Manual und Pedal gedacht ist, üblicherweise in drei Liniensystemen notiert: Die Manuale in den oberen beiden Systemen, das Pedal im unteren System.

Jedermann kennt Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel, der sonntags «in der Kirche mit Gefühle saß bei seinem Orgelspiele» – und der gleich darauf ein Opfer der Bubenstreiche von Max und Moritz wird. Und viele kennen auch sein nobles Gegenstück, den Herrn Edmund Pfühl aus Thomas Manns «Buddenbrooks», den Meister des Kontrapunkts, der in St. Marien in Lübeck den Organistendienst versieht. Er ist geradezu ein Idealbild des Künstlers: einsam in unzugänglicher Höhe über der Gemeinde thronend, im Verborgenen seine Kunst ausübend. Ganz zufrieden ist er mit dieser herausgehobenen Lage freilich nicht. Er leidet darunter, dass die Leute drunten im Kirchenschiff kein Gespür für seine Virtuosenkünste haben. Die sind in der Tat ungewöhnlich und finden selbst unter berühmten Kollegen nicht ihresgleichen. Soeben hat er vor dem staunenden kleinen Hanno Buddenbrook eine «rückgängige Imitation» gespielt, was bekanntermaßen zu den schwierigsten Aufgaben beim Orgelspiel gehört. Aber er bleibt damit allein und ohne ein Echo der Gemeinde. «‹Es merkt es niemand›, sagte er mit hoffnungslosem Kopfschütteln.»

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2 – Wilhelm Busch, «Max und Moritz, vierter Streich». Die Hände und das rechte Ohr von Lehrer Lämpel hat Busch riesengroß gezeichnet!

Oder man denke an die sprichwörtliche Figur des alten Dorfschullehrers, «der Kinder, Weib und Orgel schlug». Man erinnere sich an den lang andauernden Bund von Musik, Religion und Pädagogik in kleinen Orten mit Lehrerdienstwohnung und geistlicher Schulaufsicht. Apropos Orgelschlagen: Das erinnert an frühe Zeiten, als die Orgel breitere Tasten hatte (wie heute noch das Carillon, das Glockenspiel), die nur schwer bewegt werden konnten, geschlagen werden mussten. Das Wort Toccata (von lat. toccare = schlagen), eine der ältesten Bezeichnungen für Instrumentalstücke, kommt daher!

Wie soll man ihn also charakterisieren, den Organisten? Wo liegt seine künstlerische Eigenart? Hans Haselböck (Wien), selbst ein renommierter Organist, beschreibt ihn nicht ohne Selbstironie wie folgt: «Ein im Lauf der Zeiten in unterschiedlicher Weise geschätzter Musicus – was vor allem in monetarischer Form seinen oft betrüblichen Ausdruck gefunden hat und noch immer findet –, der jedoch gleichsam als Ausgleich für manche himmelschreiende pekuniäre Benachteiligung in der Lage ist, mit seinem Instrument Klänge von bemerkenswerter Fülle und beträchtlicher Lautstärke hervorzubringen – ein Umstand, der das Selbstwertgefühl des besagten Organisten nicht selten beträchtlich zu steigern imstande ist. Die Wertschätzung dieses von allen anderen Instrumentisten deutlich unterschiedenen, ja irgendwie geradezu ‹abgehobenen› Musikers (er spielt ja zumeist hoch oben in den Gewölben) hält sich bedauerlicherweise in gewissen Grenzen. Auf der einen Seite finden sich Stimmen der Anerkennung, ja Bewunderung, denen aber nicht wenige abschätzige Bemerkungen gegenüberstehen» (Haselböck 27).

Heute werden Organisten an Kirchenmusikschulen, Konservatorien oder Musikhochschulen ausgebildet. Früher, vor dem 19. Jahrhundert, erlernte man das musikalische Handwerk bei einem Meister. Dazu gehörten sowohl das instrumentale Spiel als auch die Komposition und die für Organisten unentbehrliche Fähigkeit zur Improvisation. «Heute legt der Organist am Ende seiner Ausbildung eine Prüfung ab. Je nach Qualifikations-Ziel (C-, B- oder A-Examen) bewegt sich die Studiendauer zwischen vier und acht Semestern. Der Konzertorganist hat bei entsprechend längerem Studium zwei weitere Prüfungen zu bestehen. Damit ist die höchste Sprosse der Studienleiter erreicht. Das Konzertdiplom im ‹Hauptfach Orgel› besitzt durchaus Seltenheitswert» (Oehms 2, 34).

Auf einen elementaren Unterschied zu anderen Musikern macht Roman Finkenzeller aufmerksam. Der Organist ist an einem «Großgerät» tätig, das sich weder versetzen noch wegräumen lässt. «Nach dem Konzert kommt die Geige in den Geigenkasten, das Blasinstrument verschwindet mit dem Bläser, und selbst das sperrige Klavier ist für Ortsveränderungen nicht grundsätzlich ungeeignet. Unverrückbar an ihrem Platz bleibt nur die Orgel, die keines Organisten Gepäck und Eigentum ist, vielmehr zum Kirchenbau gehört wie Türme oder die Apsis» (Finkenzeller 58).

Ein so festgefügter Spiel-Platz, eine so dauerhafte Prägung durch die Liturgie, die sonn- und werktäglichen Gottesdienste, die Feste des Kirchenjahrs, die Pflichttermine der Kasualien (Taufen, Hochzeiten, Trauergottesdienste): Das ist für einen Künstler – und der Organist ist einer – eine Herausforderung. Es hat daher im Lauf der neueren Kirchen- und Musikgeschichte nicht an diversen Ausbruchsversuchen aus der strengen Kirchen-Pflicht gefehlt. Schon der junge Bach hat in Arnstadt und Weimar mit der Obrigkeit um Freiräume und Freizeiten gekämpft – einmal nahm er dafür sogar Gefängnishaft in Kauf. Und der alte Bach hat in Leipzig die langen Predigten, während derer die Orgel pausieren durfte, gelegentlich zu Ausflügen in die umliegenden Wirtschaften genutzt. Auch Mozart hat als junger Kirchenmusiker und Domorganist in Salzburg – wie bekannt – heftigen Streit mit seinem bischöflichen Oberherrn in Sachen Freiheit und Freizeit bekommen.

Gewichtiger waren die Ausbruchsversuche aus den liturgisch-musikalischen Orgel-Konventionen. Als Amsterdam 1577 calvinistisch wurde und die Orgel nicht mehr im Gottesdienst mitwirken durfte, wechselte Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621), Organist der Oude Kerk und berühmter «Organistenmacher», zur Stadt: Er veranstaltete in der Kirche Orgelkonzerte außerhalb des Gottesdienstes (sie gehörten zu den ersten weltlichen Konzerten im neuzeitlichen Europa überhaupt!). Das war der Not geschuldet und geschah keineswegs freiwillig. Dagegen wandte sich zwei Jahrhunderte später Abbé Georg Joseph Vogler (1749–1814) aus eigenem Antrieb vom überlieferten Orgelbau und von der gewohnten liturgischen Dienstbarkeit der Organisten ab. Mit seinem Orchestrion, einer tragbaren Orgel mit «kantablen» Zungenpfeifen, ahmte er Windessäuseln, Donnerschläge und Schlachtenlärm nach – zum Staunen der Zeitgenossen, freilich ohne lang anhaltende Wirkung.

Wiederum zwei Jahrhunderte später proklamierte Jean Guillou (*1930) den «Aufstand der Orgeln» – so sein 2005 komponiertes Werk «La Révolte des Orgues» für große Orgel, acht Orgelpositive und Schlagzeug. Guillou, seit langem Kirchenorganist in Saint-Eustache (Paris), entwarf in Gedanken eine «variable Orgel», die einen expressiven Anschlag erlaubt – eine Orgel, die überall, nicht nur in Konzertsälen, aufgestellt und gespielt werden kann, sogar im Freien, ja selbst im Wald. Er will die Orgeln aus ihrer Isolation herausreißen, er denkt an Orgelwettkämpfe (wie sie mit Wasserorgeln der Antike tatsächlich stattfanden!), in Theatern oder in der freien Natur. Und nicht nur die Orgel soll sich von ihrer alten kirchlichen Umwelt emanzipieren – auch der Organist soll aus seiner Anonymität heraustreten: Er soll anschaubar, gegenwärtig, greifbar werden – ein Akteur und Spieler, sichtbar in seiner ganzen Körperhaftigkeit.

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3 – Organist beim Spiel. Herbert Collum (1914–1982) an der Orgel der Dresdner Kreuzkirche. Oben «spanische Trompeten», die waagrecht in den Kirchenraum hineinragen (Chamaden).

Manche Organisten sind Guillou auf diesem Pfad gefolgt – ohne freilich über seine künstlerische Erfahrung und seine kompositorischen Qualitäten zu verfügen. Dabei schlägt die neue Sinnlichkeit nicht selten in eine Absage an die klassische Tradition um. Auch die schiere Provokation ist nicht fern. So wirbt der in Berlin lebende amerikanische Organist Cameron Carpenter (*1981) für eine «Revolution des Orgelspiels» mit der Bemerkung, man habe zu lange «die Gewalttätigkeit der Orgel» ignoriert, ihre Sexualität, ihr «alles verschlingendes Feuer». Konzerte von Cameron werden emphatisch als Neuheit angekündigt: «Bei ihm wird die Orgel, dieses gewaltige Instrument, das in seinen Augen schon viel zu lange in den Kirchen verstaubt, zu einem dampfenden Riesen» (Europäische Wochen Passau 2015).

Mit dem überlieferten Klang der Orgel haben Carpenters eigens für ihn gefertigte International Touring Orgel und seine Synthesizer-Samples freilich nicht mehr viel zu tun. Liegt hier die Zukunft der Orgel: in Orchestrion-Effekten, in der Auflösung fester Klangstrukturen, im Knallen, Explodieren, Stampfen, Heulen, Fauchen des Tons – oder gar in seinem allmählichen Absterben wie in alten Zeiten, als der Kalkant, der Balgtreter/Windmacher mit seinem mannsgroßen Hebel, den Orgelton, wenn er ermüdete oder keine Lust mehr hatte, schwanken und zittern ließ?

Wird die Orgel, wie Euphoriker meinen, auf diese Weise noch einmal zu einem Jugend-Instrument? Werden Pop und Rock ihre Zukunft bestimmen? Oder wird der vertraute Klang des alten Instruments, wie andere erwarten, auch künftig forttönen wie gewohnt, unbekümmert um die Veränderungen in der Zeit, der Umgebung?

Anders formuliert: Hat die Orgel eine Zukunft unabhängig von Religion, Kirche, Liturgie? Reicht der Konzertsaal, die freie Natur für sie aus? Ich meine nicht. Aber das letzte Wort ist darüber noch keineswegs gesprochen. Jahrhundertelang standen Orgel und Kirche in einer engen, einer symbiotischen Beziehung. Das wirkt im Orgelbau, in der Orgelmusik bis heute nach.

Fällt die Kirche, so scheint es, fällt auch die Orgel mit. Das gilt zumindest für die westliche Welt, für Katholiken und für Protestanten (hier insbesondere für die Lutheraner), bei denen die Orgel stets ihren Platz in der Kirche und ihre Funktion im Gottesdienst besaß. Nicht dagegen gilt es für die östliche Welt. Unter den christlichen Kirchen hat die Orthodoxie bis heute strikt am altchristlichen Instrument-Verbot festgehalten; sie kennt die Orgel nicht und lehnt sie im Gottesdienst entschieden ab. Auch die östlichen Religionen – Hinduismus, Buddhismus, Shintoismus – kennen die Orgel als Kultinstrument nicht, tasten sich erst in der Gegenwart vereinzelt und vorsichtig zu ihr vor (Bambusorgeln in Indonesien und Thailand).

Lassen wir ruhig die Kirche im Dorf. Natürlich ist die Kirchenorgel heute nicht mehr der einzige Typus der Orgel. Längst sind Konzertorgeln, aber auch Orgelharmonien, Theaterorgeln, Kinoorgeln, Multiplexorgeln, vielfältige Orgeln in Privatwohnungen, Rathäusern, Schulen, und Universitäten an ihre Seite getreten – nicht zu reden von der in jüngster Zeit stark gewachsenen Schar elektronischer Klangerzeuger. Sie alle haben ihr eigenes Leben. Sie stehen selbstbewusst neben den alten und neuen Orgeln in den Kirchen und Kapellen. Aber sie lösen diese nicht ab, treten nicht an ihre Stelle. Im Gegenteil: Die Pfeifenorgel in der Kirche, in Jahrhunderten zu einem technisch-künstlerischen Meisterwerk ausgestaltet, Zielpunkt einer umfangreichen, bis heute nicht zur Gänze erschlossenen Literatur, bleibt auch für ihre zahlreichen musikalischen Abkömmlinge das unsichtbare Muster und Vorbild. Sie ist kein Museumsstück. Kein anderes Instrument fordert den Spieler so intensiv und unabweisbar zu eigenem Tun heraus. Organisten sind geborene Improvisatoren; sie spielen nicht nur alte, sie erfinden auch neue Musik. Solange Kirchenorganisten nicht nur die klassische Literatur pflegen, sondern täglich Neues hervorbringen, solange sie nicht nur Interpreten, sondern auch Improvisatoren sind – in Europa und Amerika gibt es inzwischen Hunderte von Improvisationswettbewerben! – solange muss uns um die Zukunft der Orgel nicht bange sein.

II. Wie klingt eine Orgel?
Die Register

Eine Orgel besteht aus Pfeifen vielfältiger Art und Größe. Genau besehen ist sie eine Summe vieler Blasinstrumente. Ihr Klang setzt sich aus einer Vielzahl von Registern zusammen. Im vollen Werk, dem Plenum, sind es ganze Registerfamilien, die zusammen erklingen.