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Albert Schweitzer

Aus meiner Kindheit
und Jugendzeit

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Albert Schweitzers Rückblick auf seine Kindheit und Jugendzeit gehörte für Hermann Hesse zu den «schönsten Kindheitserinnerungen deutscher Sprache». Das schmale Buch wurde gleich nach seinem Erscheinen 1924 zum Bestseller. Der große Arzt und Theologe erweist sich hier als begnadeter Schriftsteller, der mit wenigen Worten wesentliche Erfahrungen und Ereignisse wiedergibt und seine Leser zu fesseln vermag.

Albert Schweitzer erinnert sich an sein Aufwachsen im Pfarrhaus zu Günsbach im Elsaß und seine Schulzeit bis zum Beginn des Studiums in Straßburg. Er beschreibt seine Abneigung gegen Studierstuben sowie seine frühe Liebe zu Natur und Musik und erzählt, wie er lernte, Ehrfurcht vor Mensch und Tier zu üben. Am Ende seiner jugendlichen Entwicklung steht die Erkenntnis, dass der Mensch Ideale braucht, um in seinem Leben zu bestehen, das «uns den Glauben an das Gute und Wahre und die Begeisterung dafür nehmen will», und daß diese Ideale Taten werden müssen.

Über den Autor

Albert Schweitzer, 1875–1965, ist als Theologe, Philosoph, Tropenarzt und Organist weltweit bekannt. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben gilt bis heute als Maßstab. Viele seiner bei C.H.Beck erschienenen autobiographischen und ethischen Schriften sind zu Bestsellern geworden.

 

 

 

 

Ich wurde am 14. Januar 1875 in dem Städtchen Kaysersberg im Oberelsaß geboren, in dem Häuschen mit dem Türmchen links am oberen Ausgang des Ortes. Mein Vater bewohnte es als Pfarrverweser und als Lehrer der kleinen evangelischen Gemeinde des zum größten Teil katholischen Ortes. Seitdem das Elsaß französisch geworden ist, ist die kleine Pfarrei eingegangen. In dem Häuschen mit dem Türmchen ist nun die Gendarmerie untergebracht. Ich folgte als das zweite Kind auf eine um ein Jahr ältere Schwester.

Nach diesem Kaysersberg ist der berühmte mittelalterliche Prediger Geiler von Kaysersberg (1445–1510), der am Straßburger Münster predigte, benannt. In Schaffhausen in der Schweiz geboren, wuchs er nach dem Tode seines Vaters in Kaysersberg bei seinem Großvater auf. Das Jahr 1875 war ein ausgezeichnetes Weinjahr. Als Knabe habe ich mir sehr viel darauf eingebildet, in der Stadt Geilers von Kaysersberg und in einem berühmten Weinjahr geboren zu sein.

Ein halbes Jahr nach meiner Geburt siedelte mein Vater als Pfarrer nach Günsbach im Münstertal über. Meine Mutter war eine Münstertälerin. Sie war die Tochter des Pfarrers Schillinger zu Mühlbach, hinten im Tal.

Als wir nach Günsbach kamen, war ich ein sehr schwächliches Kind. Bei der Installation meines Vaters hatte mich meine Mutter, so schön sie es nur konnte, in einem weißen Kleidchen mit farbigen Bändern herausgeputzt. Aber keine der zur Feier gekommenen Pfarrfrauen der Umgebung wagte ihr ein Kompliment über das magere Kindchen mit dem gelben Gesichtchen zu machen. Alle ergingen sie sich in verlegenen Redensarten. Da konnte sich meine Mutter – sie hat es mir oft erzählt – nicht mehr beherrschen. Sie flüchtete mit mir in das Schlafzimmer und weinte heiße Tränen über mir.

Einmal hielt man mich gar für tot.

Aber die Milch der Kuh des Nachbars Leopold und die gute Luft Günsbachs taten Wunder an mir. Vom zweiten Jahre an gesundete ich und wurde ein kräftiger Knabe.

Im Pfarrhause von Günsbach verlebte ich mit drei Schwestern und einem Bruder eine schöne Kindheit. Ein sechstes Kind, ein Mädchen, Emma genannt, wurde meinen Eltern durch einen frühen Tod entrissen.

Meine erste Erinnerung ist der Teufel. Mit drei oder vier Jahren durfte ich schon alle Sonntage mit in die Kirche. Ich freute mich schon die ganze Woche darauf. Noch fühle ich auf meinen Lippen die Zwirnhandschuhe unserer Magd, die mir die Hand auf den Mund legte, wenn ich gähnte oder zu laut mitsang. Jeden Sonntag erlebte ich es, daß aus blitzendem Rahmen oben seitwärts von der Orgel herunter ein zottiges Antlitz sich hin- und herwendend in die Kirche herunterschaute. Es war sichtbar, solange die Orgel spielte und der Gesang dauerte, verschwand, sobald mein Vater am Altar betete, kam wieder, sowie wieder gespielt und gesungen wurde, verschwand wieder, sobald mein Vater predigte, um nachher zu Gesang und Orgelspiel noch einmal zu erscheinen. «Dies ist der Teufel, der in die Kirche hereinschaut», sagte ich mir. «Wenn dein Vater mit dem Worte Gottes anfängt, muß er sich davon machen.» Diese allsonntäglich erlebte Theologie gab den bestimmenden Ton in meiner kindlichen Frömmigkeit an. Erst viel später, als ich schon längere Zeit in die Schule ging, wurde mir klar, daß das zottige Antlitz, das so merkwürdig kam und verschwand, dem Vater Iltis, dem Organisten, angehörte und in dem Spiegel erschien, der an der Orgel befestigt war, um den Organisten schauen zu lassen, wann mein Vater an den Altar oder auf die Kanzel trat.

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Das Geburtshaus in Kaysersberg

Weiter erinnere ich mich aus meiner frühesten Kindheit noch, wie ich mich zum erstenmal mit Bewußtsein und vor mir geschämt habe. Ich hatte noch ein Röckchen an und saß auf einem Schemelchen im Hof, während mein Vater am Immenstock im Garten hantierte. Nun ließ sich ein schönes Tierchen auf meiner Hand nieder und ich freute mich, wie es darauf herumlief. Aber plötzlich fing ich an zu schreien. Das Tierchen war eine Biene, die mit Recht darüber erbost sein mochte, daß der Herr Pfarrer die gefüllten Waben aus dem Bienenstock nahm, und die dafür das Pfarrerssöhnchen stach. Auf mein Geschrei eilte das ganze Haus zusammen, jedermann bedauerte mich. Die Magd nahm mich in ihre Arme und suchte mich durch Küsse zu trösten. Die Mutter machte dem Vater Vorwürfe, daß er am Immenstock gearbeitet habe, ohne mich zuerst in Sicherheit zu bringen. Da ich durch mein Unglück so interessant geworden war, weinte ich mit Genugtuung, bis ich plötzlich bemerkte, daß ich Tränen vergoß, ohne mehr Schmerz zu verspüren. Mein Gewissen sagte mir, jetzt aufzuhören. Aber um weiter interessant zu sein, fuhr ich mit Jammern fort und nahm weiter Tröstungen entgegen, die ich nicht mehr brauchte. Dabei kam ich mir aber so schlecht vor, daß ich tagelang darüber unglücklich war. Wie oft hat mich dieses Erlebnis gewarnt, wenn ich als Erwachsener in Versuchung kam, mit dem, was mir widerfuhr, wichtig zu tun.

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Der Vater Ludwig Schweitzer

Der Schrecken meiner ersten Kindheit war der Sakristan und Totengräber Jägle. Wenn er am Sonntagmorgen nach dem Zeichenläuten ins Pfarrhaus kam, um die Nummern der zu singenden Lieder und das Taufgeschirr zu holen, griff er an meine Stirn und sagte: «Die Hörner wachsen.» Die Hörner waren meine Sorge. Ich hatte nämlich ziemlich starke Höcker an der Stirn, die mir arg zu denken gaben, seitdem ich in der Bibel Moses mit den Hörnern abgebildet gesehen hatte. Wie der Sakristan von meinen Sorgen erfahren hat, weiß ich nicht. Aber er kannte sie und schürte sie. Wenn er sich am Sonntag vor der Haustüre die Füße abputzte, ehe er schellte, wäre ich am liebsten davongelaufen. Aber er hatte mich in der Gewalt, wie die Schlange das Kaninchen. Ich konnte nicht anders, als ihm entgegentreten, seine Hand auf der Stirn fühlen und den fatalen Ausspruch entgegennehmen. Nachdem ich die Angst etwa ein Jahr mit mir herumgetragen hatte, brachte ich vor meinem Vater die Rede auf die Hörner des Moses und erfuhr von ihm, daß Moses der einzige Mensch mit Hörnern gewesen sei. Also hatte ich nichts mehr zu fürchten.

Als der Sakristan merkte, daß ich ihm entschlüpfte, erfand er etwas Neues. Er redete mir vom Soldatsein. «Jetzt sind wir preußisch», sagte er, «und bei den Preußen muß jeder Soldat sein. Und die Soldaten tragen Kleider aus Eisen. In ein paar Jahren mußt du dir dann die Kleider beim Schmied drüben an der Straße anmessen lassen.»

Daraufhin suchte ich jede Gelegenheit, vor der Werkstätte des Schmieds stehenzubleiben, um zu sehen, ob ein Soldat käme, sich ein Kleid anmessen zu lassen. Es trafen aber immer nur Pferde und Esel zum Beschlagen ein. Später, vor dem Bilde eines Kürassiers, erforschte ich von meiner Mutter, was es mit den eisernen Kleidern der Soldaten für eine Bewandtnis habe. Zu meiner Beruhigung erfuhr ich, daß die gewöhnlichen Soldaten Kleider aus Tuch trügen und daß ich ein gewöhnlicher Soldat werden würde.

Der Sakristan, ein alter Soldat, der den Krimkrieg mitgemacht hatte, gehörte zu den trockenen Spaßmachern, an denen es in Günsbach von jeher nie gefehlt hat. Er wollte mich erziehen, Spaß zu verstehen. Nur nahm er mich in eine etwas zu harte Schule.

Als Sakristan und Totengräber war er äußerst würdevoll. Mit majestätischem Anstand schritt er durch die Kirche. Im übrigen aber hat er sich als Original einen Namen gemacht. Als er eines Morgens im Heumachet mit dem Rechen gerade auf die Wiesen wollte, und ein Mann kam, den Tod seines Vaters anzuzeigen und das Grab zu bestellen, empfing er ihn mit den Worten: «Da könnte jetzt jeder kommen und sagen, sein Vater sei gestorben.» Einmal, als wir an einem Sonntagabend, im Hochsommer, an seinem Hause vorübergingen, kam er fast mit Tränen auf meinen Vater zu und vertraute ihm die Geschichte von seinem Kalb an. Er hatte ein schönes Kalb aufgezogen, das ihm nachlief wie ein Hund. Am Anfang des Sommers hatte er es auf die Bergweide getan, und an jenem Sonntag war er gegangen, es zu besuchen. Aber das Kalb erkannte ihn nicht wieder. Er war für es nur noch ein Mensch wie andere Menschen. Diese Undankbarkeit hatte ihn tief verletzt. Das Kalb durfte ihm nicht wieder in den Stall zurück. Er verkaufte es alsbald.

Auf die Schulzeit habe ich mich nicht gefreut. Als mein Vater mir an einem schönen Oktobertage zum ersten Male die Schiefertafel unter den Arm gab und mich zur Lehrerin führte, weinte ich den ganzen Weg lang. Ich ahnte, daß es mit dem Träumen und der herrlichen Freiheit zu Ende sei.

Auch später hat sich mein Ahnen nie von dem schönen Schein, in dem sich das Neue darbot, blenden lassen. Immer bin ich ohne Illusionen in das Unbekannte hineingestiegen.

Einen großen Eindruck machte mir die erste Visitation des Schulinspektors, und zwar nicht nur deswegen, weil die Lehrerin vor Aufregung mit den Händen zitterte, als sie ihm das Klassenbuch reichte, und der Vater Iltis, der sonst so streng aussah, in einem fort lächelte und sich verbeugte. Nein, was mich so bewegte, war, daß ich zum ersten Male einen Mann von Angesicht sah, der ein Buch geschrieben hatte. Sein Name – er hieß Steinert – war es, der auf dem grünen Lesebuch der Mittelstufe und auf dem gelben Lesebuch der Oberstufe stand. Und nun hatte ich den Schreiber dieser zwei Bücher, die für mich gleich nach der Bibel kamen, leibhaftig vor mir. Sein Aussehen war nicht imposant. Er war klein, hatte einen Kahlkopf, eine rote Nase, ein dickes Bäuchlein und stak in einem grauen Anzug. Für mich aber war er von einem Glorienschein umflossen, denn es war eben der Mann, der ein Buch geschrieben hatte. Es schien mir unfaßlich, daß die Lehrerin und der Lehrer mit ihm wie mit einem gewöhnlichen Menschen redeten.

Auf das erste Zusammentreffen mit einem Bücherschreiber folgte bald ein zweites, noch größeres Erlebnis. Ein Jude aus einem Nachbardorfe, Mausche genannt, der