Niccolò Machiavelli,
dargestellt von einem unbekannten Künstler
oder Die Kunst der Macht
Eine Biographie
Verlag C.H.Beck
Volker Reinhardt legt mit diesem Buch die erste Biographie über Machiavelli seit Jahrzehnten vor. Er beschreibt dessen Kindheit und Jugend im Florenz der Renaissance, den Aufstieg zum Politiker und Diplomaten sowie sein Leben als Literat und von den Mächtigen verfolgter Provokateur. Das Ergebnis ist ein neues Bild von Machiavelli als einem Theoretiker der Macht, der in seinem eigenen Leben und Werk auf Macht und Täuschung verzichtete.
Machiavellis Lehre, wie man Macht erlangt, ist bis heute eine kalte Dusche: Moral, Recht und Religion soll der Fürst als Fassade einsetzen, um seine Gegner in falscher Sicherheit zu wiegen. Keinesfalls darf er selbst daran glauben. Viele haben sich voller Abscheu von Machiavelli abgewandt, aber es gibt auch eine Reihe von Bewunderern, die von Friedrich Nietzsche über Hannah Arendt bis zu heutigen Nutzanwendungen für den Alltag reicht. Wie lebt jemand, der die Techniken der Macht durchschaut, aber selbst keine Macht hat? Volker Reinhardt zeigt, dass sich hinter dem illusionslosen Zyniker Machiavelli ein Idealist verbirgt, der an die perfekte Republik und das gute Leben glaubt. Gerade dieser Machiavelli hat uns bis heute etwas zu sagen.
Volker Reinhardt, geb. 1954, ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. „Der Göttliche. Das Leben des Michelangelo“ (2010), „Alexander VI. Borgia“ (2011) sowie „Die Geschichte der Schweiz“ (2011).
PROLOG: «EIN DURCH UND DURCH SCHÄDLICHER MENSCH»
Der Provokateur
Der Tabubrecher
I. DIE KUNST, SICH EINEN NAMEN ZU MACHEN, 1469–1498
Der unbekannte Kanzler
Eine Kindheit im Florenz der Medici
Die falsche Republik
Der unbewaffnete Prophet
II. DIE KUNST DER DIPLOMATIE, 1498–1510
Florenz im Jahre 1498
Erste Missionen
Arbeit in der Kanzlei
Die Hölle auf Erden
Über Pisa nach Frankreich
Häusliches Intermezzo
Cesare Borgia 1: Präludium
Cesare Borgia 2: Psychokrieg
Cesare Borgia 3: Lektionen für Florenz
Cesare Borgia 4: Abgesang
Die Schwäche von Florenz
Der Diplomat als Dichter
Auf der Suche nach guten condottieri
Machiavellis Heer
Beim schrecklichen Papst
Bei Kaiser Maximilian
Von fremden Ländern und Menschen
Triumph in Pisa
Abenteuer in Verona
III. DIE KUNST DES ÜBERLEBENS, 1510–1513
Zwischen Frankreich und dem Papst
Der Weg in den Abgrund
Diplomatische Poesie
Das fatale Konzil
Auf Messers Schneide
Die Kapitulation
Rechenschaft im Zeichen des Scheiterns
Macht und Ohnmacht der Fortuna
Folter und Isolation
Ein Freund in der Not
IV. DIE KUNST DES SCHREIBENS, 1513–1520
Amouröse Eroberungen und sonstige Phantasien
Innere Emigration
Vom Fürsten
Von der Republik
Der nutzlose Republikaner
Im Menschenzoo
«Andria» und die Theorie der Komödie
«La Mandragola» und die Praxis der Komödie
«Clizia» und der Kampf der Generationen
Die vorbildlichen Angelegenheiten von Lucca
Letzte politische Träumereien
Das Leben des Castruccio Castracani
Die Kunst des Krieges
V. DIE KUNST DER PROVOKATION, 1521–1527
Auf verlorenem Posten
Der Fluch über der Geschichte von Florenz
Die Ruhe vor dem Sturm
Das Elend des Krieges
Himmel oder Hölle
EPILOG: VERFEMUNG ODER RUHM?
ANHANG
Karte
Zeittafel
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Ich sage Euch, dass Ihr ein durch und durch schädlicher Mensch seid und dass ich Euch nicht in meinem Haus haben möchte … Von Grund auf destruktiv seid Ihr, im Wesen schwärzer als Kohle.[1]
So urteilte Filippo de’ Nerli, der päpstliche Gouverneur von Modena, über seinen florentinischen Mitbürger Niccolò Machiavelli in einem an diesen gerichteten Brief vom 1. November 1526. Woher rührte dieser Zorn? Vier Tage später berichtete der so Beschimpfte an einen anderen hohen Würdenträger, Francesco Guicciardini, den Statthalter Papst Clemens’ VII. in der Romagna:
Kaum kam ich nach Modena, da traf ich schon Filippo de’ Nerli, der mich zur Rede stellte: Ist es wirklich möglich, dass ich nichts Sinnvolles getan haben soll? Ich entgegnete ihm daraufhin lachend: Herr Gouverneur, so ist es, doch wundern Sie sich nicht darüber – es ist auch nicht Ihre Schuld. Die Verhältnisse dieses Jahres sind nun einmal so, dass niemand auch nur ansatzweise etwas richtig gemacht hat – im Gegenteil.[2]
Die Zeiten waren äußerst angespannt. Ein kaiserliches Heer aus zerlumpten, halb verhungerten spanischen und deutschen Söldnern war in Norditalien eingefallen und drohte demnächst gegen Florenz und Rom zu ziehen. Kein Wunder, dass bei den Mächtigen die Nerven blank lagen. Dann kam zu allem Überfluss Niccolò Machiavelli als Abgesandter einer florentinischen Behörde, die keinerlei Macht und noch weniger Geld hatte, und sagte den hohen Herren ins Gesicht, dass sie von den Problemen der Zeit kaum etwas verstanden und noch weniger richtig gemacht hatten. Damit es ordentlich weht tat, kleidete dieser zweitklassige Diplomat seine vernichtende Kritik auch noch in ätzende Ironie ein. Für diese Art von beißendem Humor auf Kosten der anderen war Machiavelli bekannt und berüchtigt.
In ruhigeren Zeiten hatte man ihn als Verfasser ebenso witziger wie unmoralischer und zudem latent politischer Komödien durchaus schätzen gelernt. Eines seiner Lustspiele war sogar im Oktober 1525 zur Unterhaltung der gestressten Herrschaften in Modena aufgeführt worden. Es handelte von einem Ehebruch, der am Ende alle glücklich machte, nicht zuletzt den gehörnten Ehemann selbst. Um diese Operation zum Erfolg zu führen, hatte sich ein regelrechtes Komplott gebildet, doch hatten alle Verschwörer durchgehend ein reines Gewissen. Darüber konnten die Politiker und Generäle herzlich lachen, das war beste Truppenbetreuung im Stil der Renaissance. Dass der Autor dieses Loblieds auf den Betrug sie selbst jetzt als politische Irrläufer verspottete, fanden sie hingegen nicht mehr komisch. Hier wurde keine Komödie gespielt, hier ging es um Leben und Tod. Hier waren die Meinungen gesetzter, staatskluger Männer gefragt, nicht die von Exzentrikern wie Machiavelli, die sich die Deutungshoheit über die Geschichte und die Gegenwart anmaßten.
Den Ruf der intellektuellen und moralischen Extravaganz hatte sich Niccolò Machiavelli selbst bei seinen Freunden gründlich erworben, wie ein Brief Francesco Guicciardinis vom 18. Mai 1521 bezeugt:
Doch billige ich Eure Wahl nicht, denn sie scheint mir Eurer Urteilsfähigkeit und jener der anderen nicht angemessen, und zwar umso mehr, als Ihr stets in höchstem Maße von der vorherrschenden Meinung abgewichen und als Erfinder neuer und ungewöhnlicher Dinge bekannt seid …[3]
Das hieß im Klartext: Ihr treibt es zu weit, ihr tretet die Werte der Gesellschaft mit Füßen. Wo hörte für Guicciardini, der so manchen Scherz vertragen konnte, der Spaß auf? Machiavelli war mit einer ganz besonderen Mission in das unweit Modena gelegene Städtchen Carpi gereist. Er sollte unter den Franziskaner-Mönchen, deren Kapitel dort tagte, einen vorbildlichen Prediger für die Fastenzeit in Florenz auswählen. Diese Kür sollte er nach den Kriterien der Frömmigkeit, der Gelehrsamkeit, der Beredsamkeit und des sittlichen Lebenswandels vornehmen – wie es sich für einen guten Christen gehörte. So lauteten die Instruktionen, die Machiavelli vom florentinischen «Innenministerium» der Otto di Pratica mit auf den Weg gegeben worden waren.
Dieser legte die Anweisungen auf seine Weise aus, wie er Guicciardini schildert:
Ich dachte gerade über die Seltsamkeiten dieser Welt nach, als Euer Bote eintraf, und war gerade dabei, mir einen Prediger für Florenz vorzustellen, und zwar einen, der mir gefiel, denn darin bin ich eigensinnig, wie bei meinen anderen Ansichten auch. Und da ich dieser Republik dort, wo ich ihr nützen konnte, nie meine Dienste versagt habe, sondern im Gegenteil immer treu ergeben war, mit Taten, wo möglich, sonst mit Worten und, wo auch das nicht ging, mit Andeutungen, so will ich sie auch diesmal nicht im Stich lassen. Ich bin mir wohl bewusst, dass ich auch in dieser Hinsicht wie bei so vielen anderen Dingen anderer Meinung bin. Die braven Florentiner wollen einen Prediger, der ihnen den Weg ins Paradies aufzeigt, ich aber möchte einen finden, der sie den Weg ins Haus des Teufels lehrt. Sie möchten einen gesetzten, vorsichtigen, aufrichtigen, vernünftigen Mann, ich aber will einen, der verrückter als Ponzo, schlauer als Girolamo Savonarola und heuchlerischer als Fra Alberto ist. Denn das schiene mir eine schöne Sache und der Güte der gegenwärtigen Zeiten angemessen: alles, was wir mit so vielen Mönchen erlebt haben, jetzt nochmals in einem einzigen zu erfahren. Denn das wäre, wie ich glaube, die wahre Art, ins Paradies zu gelangen: den Weg zur Hölle vor Augen zu haben und dennoch nicht zu beschreiten.[4]
Das ging selbst dem notorischen Kirchenkritiker Guicciardini zu weit: Glaubte dieser Mensch überhaupt an Paradies und Hölle? Auch wenn sich die Schlusswendung moralisch einwandfrei auslegen ließ: Die Schmerzgrenze war mit solchen Äußerungen selbst für tolerante Zeitgenossen überschritten.
Das wusste Machiavelli, der Querdenker, sehr genau. Er war sich bewusst, dass er sich mit seinen «exzentrischen» Meinungen unbeliebt machte und ins politische Abseits manövrierte. Doch hielt er an seinen unbequemen Urteilen fest, weil er davon überzeugt war, eine Mission zu erfüllen. So viele in ihre eitle Geschwätzigkeit verliebte humanistische Gelehrte hatten Rhetorik, Grammatik, Dichtkunst, Moralphilosophie und Geschichtsschreibung des Altertums wiederbelebt; Architekten, Bildhauer und Maler hatten sich an griechischen und römischen Kunstwerken berauscht. Doch über all diese Nebendinge hatte die Nachwelt den wahren Schatz der Antike übersehen: die ewig gültigen Gesetze der Geschichte und der Politik. Diese ehernen Regeln seiner abgesunkenen Gegenwart vor Augen zu halten und Italien dadurch aus der Talsohle der Geschichte zu neuen Höhen empor zu führen: Darin sah Machiavelli seine Aufgabe. Doch die Unbelehrbarkeit des Menschen im Allgemeinen und der Politiker im Besonderen machte ihn, den Überbringer der politisch-historischen Heilslehre, zum Sonderling; die Uneinsichtigkeit der Zeit verwandelte den politischen Missionar in den intellektuellen Hofnarren der Mächtigen. So lässt sich Machiavellis Selbsteinschätzung am Ende eines an Enttäuschungen reichen Lebens umreißen.
Nicht er, der Denker, sondern der Lauf der Welt war «extravagant». Dieser Überzeugung gemäß musste der Mahner und Warner notwendigerweise zum Spötter werden. Ätzender Hohn und heiliger Ernst, Pathos und Ironie vermischen sich überall in seinen Texten. Davon zeugte schon sein Brief über die Anstellung des Bußpredigers für Florenz. Dass er dem Staat, solange man ihn ließ, treu bis zur Selbstaufopferung gedient habe, war Machiavellis aufrichtigstes Glaubensbekenntnis. Doch in einer verkehrten Welt ließ sich ein solches Credo nur mit nacktem Sarkasmus garnieren.
Welche Wahrheiten hatte der Missionar im Spöttergewand seiner Zeit zu verkünden? Im Folgenden eine kleine Auswahl aus seinen Schriften, die zumindest den Eingeweihten unter seinen Zeitgenossen zugänglich waren:
Erfolg ist das Maß aller Dinge. Erfolg rechtfertigt alles, auch die moralisch fragwürdigsten Methoden, schon deshalb, weil nach dem Triumph niemand mehr fragt, wie er zustande kam. Am erfolgreichsten aber ist, wer die Techniken der Gewalt und der Hinterlist am virtuosesten beherrscht, jeweils zur rechten Zeit und in der passenden Situation. So sollen die Vertreter der führenden Familien in einer wohlgeordneten Republik in dauernder Furcht vor dem Gesetz leben; auch wenn sie diese Regeln nicht übertreten, müssen sie durch politische Prozesse im Zaum gehalten werden. Der Staat hat also nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, individuelle Existenzen zu vernichten, wenn es seiner Größe und Stärke dient.
Ziel des Staates ist nicht der Friede, sondern der Krieg. Krieg allein macht eine gute Ordnung im Inneren möglich. Sie besteht darin, dass Volk und einflussreiche Persönlichkeiten in dauernder Konkurrenz leben; durch diese Reibungsfläche wird eine Energie erzeugt, die sich in erfolgreiche Expansion umwandeln lässt. Jeder Bürger muss daher zugleich Soldat sein. Wird diese Einheit aufgebrochen und der Krieg zum exklusiven Metier professioneller Söldner, ist daher auch politisch alles verloren.
Der höchste Ruhm der Republik besteht darin, andere Staaten zu erobern. Dabei sind alle die Methoden der Gewalt und der Unterdrückung geboten, die sämtliche Theologen und Philosophen bislang als unmoralisch angeprangert haben. So muss eine Republik, die eine andere Republik erobert hat, die unterworfene Führungsschicht auslöschen; reicht das nicht aus, um das besiegte Gebiet zu befrieden, werden ganze Völkerschaften zwangsdeportiert. Bei der Eroberung selbst kommen alle Arten der Grausamkeit zum Einsatz. Der Zweck heiligt die Mittel. Doch die zielgerichtet eingesetzte Gewalt ist nur die eine Seite der Medaille.
Der vollendete Politiker muss nicht nur skrupellos vorgehen, sondern auch betrügen und Verträge brechen können. Ja, er muss geradezu Löwe und Fuchs in einer Person sein. Das heißt, er muss täuschen, was das Zeug hält: Der Eroberer in spe muss denjenigen, die er unterwerfen will, Freundschaft und Solidarität vorgaukeln und sie durch diese Beteuerungen guter Gesinnung zu Bundesgenossen machen, um danach die Schlinge der Unterjochung allmählich zuzuziehen. Umgekehrt ist der Mächtige, der sich an sein einmal gegebenes Wort hält, verloren, denn er hat die Freiheit zu täuschen verloren. Das ist deshalb fatal, weil die Menschen betrogen werden wollen. Sie wollen betrogen werden, weil sie sich selbst und ihre Mitmenschen permanent betrügen: Sie schreiben sich edle Motive wie Mitmenschlichkeit und Frömmigkeit zu und frönen doch nur ihrem krassen Egoismus.
Moral und Politik sind absolute Gegensätze. Ein Fürst, der milde sein möchte, wie es die Kirche (die es selber nicht ist) vorschreibt, und daher in seinem Herrschaftsgebiet den Reichen und Mächtigen die Zügel schießen lässt, ist in Wirklichkeit grausam, weil die kleinen Leute die Zeche für seine Schwäche zahlen müssen. Unter dem Strich steht also eine Umwertung aller Werte.
In der Politik erweisen sich die Regeln der verbürgten Moral nicht nur als untauglich, sondern geradezu als kontraproduktiv. Aus Gut wird gesetzmäßig Böse. Und das war laut Machiavelli schon immer so. Bereits am Beginn der Geschichte haben die Dreistesten und Rücksichtslosesten nach Besitz und Macht gegriffen und die so entstandenen Herrschaftsverhältnisse danach durch wohltönende Phrasen von Gott, Verdienst und Gemeinwohl gerechtfertigt. Alle soziale und politische Ordnung beruht daher ursprünglich auf Willkür, Ausbeutung und systematischer Irreführung. Doch der Betrug lässt sich auch gegen die Herrschenden wenden.
Wer verstanden hat, wie die Macht gewonnen und ausgeübt wird, kann dieses Wissen zu Zwecken des Umsturzes verwenden. Die Verdammten dieser Erde müssen nur die Mächtigen aus ihren prunkvollen Palästen vertreiben, die Mönche von den Kanzeln für sich predigen lassen, und schon ist das Unterste nach oben gekehrt. Diese Lehre der sozialen Revolution entwickelte Machiavelli in einem Geschichtswerk für die Medici, die herrschende Familie von Florenz. Deren Oberhaupt, Papst Clemens VII., konnte darin ausführlich nachlesen, mit welch verwerflichen Methoden seine Vorfahren an die Macht gelangt waren: als Häupter einer Interessengruppe, Strippenzieher hinter den Kulissen, als Paten von Florenz.
Die Herrschaft der Medici an der Spitze einer meistbegünstigten Clique ist ein Zerrbild der wahren Republik. Im Florenz der Medici kommen die Speichellecker, die Gesinnungstüchtigen, die Höflinge und Opportunisten nach oben; zum Lohn ihrer Servilität dürfen sie von den Genüssen der Macht kosten und alle Gesetze straflos übertreten.
Betrug ist für Machiavelli auch die Religion. Das Christentum betrügt zum Nutzen und Frommen der Mächtigen, da es Leiden statt Widerstand lehrt. Auf der christlichen Religion lässt sich so, wie sie heute gelehrt wird, kein dynamischer Staat aufbauen. Im Gegenteil: Die christliche Religion hat zumindest in Italien die Grundlagen der Politik irreparabel zerstört. Die Päpste lehren Sanftmut, Verzicht und Nächstenliebe und erobern für ihre verdienstlosen Neffen mit allen Mitteln des Betrugs und der Gewalt eigene Staaten. Wer das Gegenteil von dem lehrt, was er vorlebt, wird unglaubwürdig – und mit ihm die Institution, der er vorsteht. Mit der Kirche geht auch der Staat zugrunde. Denn die Menschen müssen an Gott glauben, um den Gesetzen bis zur Selbstaufopferung zu gehorchen. Nur wenn sie davon überzeugt sind, beim Verstoß gegen die Gesetze des Staates von Gott selbst bestraft zu werden, werden sie gute Bürger. So kann laut Machiavelli auch die Religion zum heilsamen Betrug werden. Den größten Ruhm unter allen Menschen gewinnt daher der kluge Staatsmann, der eine Staatsreligion begründet, an die alle Bürger außer ihm selbst und einigen Eingeweihten rückhaltlos glauben. Diese Wenigen dürfen nicht daran glauben, damit sie notfalls mit der Religion betrügen können, zum Beispiel dadurch, dass sie «Gottesurteile» so manipulieren, dass der Kampfgeist der Soldaten dadurch gestärkt wird. Die christliche Religion aber, so wie sie das Papsttum der Gegenwart repräsentiert, ruiniert die Politik. Unglaubwürdig, wie sie durch den Lebenswandel der Päpste geworden ist, verführt sie die Menschen dazu, sich ins Privatleben zurückzuziehen, und schwächt dadurch den Staat, der allein den Menschen zum Menschen macht.
Solche Sätze stehen in Machiavellis ersten Hauptwerken: De principatibus, von den Fürstentümern, bekannter unter dem Titel Il principe, der Fürst, und Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, Abhandlungen über die erste Dekade des (römischen Historikers) Titus Livius. Sein Buch vom Fürsten schickt Machiavelli Ende 1513 an den florentinischen Botschafter in Rom, der es Giuliano de’ Medici, dem Bruder Papst Leos X., und möglichst auch diesem selbst als Lektüre empfehlen sollte. Davon erhoffte sich Machiavelli, der kurz zuvor sein Amt in der Kanzlei der Republik Florenz verloren hatte, eine Wiederaufnahme in den öffentlichen Dienst. Doch daraus wurde nichts. Ob die beiden Medici das Buch vom Fürsten überhaupt gelesen haben, ist unbekannt. Was sie zur These gesagt hätten, dass der vollendete Fürst Fuchs und Löwe sein, heucheln und sein Wort brechen muss, lässt sich nur vermuten. Leo X. beherrschte alle diese Techniken ausgezeichnet. Doch deswegen wollte er sie noch lange nicht als anerkannte Ratschläge vor Augen haben. Dadurch, dass er das zur politischen und moralischen Norm erhob, was die Mächtigen heimlich, von Propaganda und Ideologie verhüllt, taten, brach Machiavelli das letzte Tabu.
In ihrem Urteil, dass ein Tabubrecher wie Machiavelli für ihre Dienste nicht in Frage kam, sahen sich die Medici auch in der Folgezeit bestätigt. Sieben Jahre nach seinem Buch von den Fürstentümern zeigte ihnen Machiavelli in einer Denkschrift, wie sie ihre Herrschaft in Florenz neu ordnen sollten. Diese war in seinen Augen die schlechtest mögliche, nämlich weder Republik noch Monarchie, sondern eine fatale Mischung aus beidem: Die Medici herrschten hinter einer republikanischen Fassade als verkappte Fürsten. Als solche begünstigten sie einseitig ihre Gefolgsleute und machten sich dadurch bei der großen Mehrheit der Florentiner verhasst. Allein schon diese Feststellung war kühn genug. Doch die Rezepte, zu denen der selbst ernannte Meisterdenker riet, waren noch viel provozierender. Die Medici sollten die politischen Verhältnisse von Florenz nach antiken Vorbildern so umgestalten, dass die drei guten Verfassungen Monarchie, Aristokratie und Demokratie mit ihren Kernelementen vermischt würden. Zugleich erhielten sie das Recht, alle Schlüsselpositionen mit ihren Anhängern zu besetzen – Macht und Sicherheit der führenden Familie wurden so zum obersten Staatszweck. Doch das galt nur auf Zeit, genauer: so lange die letzten Medici lebten. Und das würde aller Voraussicht nach nicht mehr lange dauern. Der ganze Text war somit ein einziger Nachruf: Ihr müsst sterben, damit Florenz blühen kann. Dass die Medici auf die Dienste dieses Ratgebers dankend verzichteten, verwundert wahrlich nicht.
Das alles waren gewagte, nicht selten krasse Thesen. Für sie war Machiavelli schon als Diplomat der Republik zwischen 1498 und 1512 berüchtigt. Er solle die Gespräche, die er mit den Herrschern fremder Mächte führte, getreulich protokollieren und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen gefälligst seinen Auftraggebern überlassen – so lautete die stereotype Kritik der zuständigen florentinischen Stellen an den Berichten des Gesandten Machiavelli. Man erwartete von ihm Fakten, Fakten und noch mehr Fakten: Zahlen zu Truppenstärken und Finanzaufkommen, doch bitte keine Diskurse darüber, wie sich Florenz auf internationalem Parkett zu verhalten habe, und erst recht keine politische oder gar historische Theorie! Die Großhändler und Bankiers, die die Politik der Republik Florenz nach ihrem Geschäftsinteresse, also so risikoarm wie möglich zu lenken versuchten, wären entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätten, wie der Diplomat Machiavelli sein Metier verstand. Im Oktober 1522, als er nach menschlichem Ermessen keinerlei Aussicht mehr hatte, wieder in den aktiven außenpolitischen Dienst zurückzukehren, entlarvte er diesen und damit seine eigene berufliche Vergangenheit in einem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Schriftstück. Sein Titel: «Anleitungen für einen, der als Botschafter auszieht».
Am Anfang liest sich dieser subversive Text staatstragend: Diplomatische Missionen sind die Bewährungsprobe für den Politiker schlechthin, hier kann er Vaterlandsliebe, Klugheit und Beobachtungsgabe unter Beweis stellen; eine erbauliche Phrase reiht sich an die andere. Der Leser wird eingelullt, gelangweilt, möchte den Text zur Seite legen – und traut seinen Augen nicht: Erfolgreiche Diplomaten müssen nicht aufrichtig sein, sondern dafür gehalten werden; zu diesem Zweck müssen sie ihre wahren Motive und Gedanken verheimlichen können, und zwar nicht nur ihrem Gegenüber in der Fremde, was ja noch anginge, sondern auch ihren Auftraggebern in der Heimat. Mehr noch: Sie müssen diese täuschen, zum Beispiel dadurch, dass sie «gut informierten Kreisen bei Hofe» in den Mund legen, was sie selber denken, aber niemand hören will. Mit bloßen Resümees von Unterredungen kann es also für Machiavelli nicht sein Bewenden haben. Der kluge Diplomat muss wie der gute Historiker mehr leisten: Er muss Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Gesamtschau vereinen, also Analysen liefern, die zum erfolgreichen Handeln im Hier und Jetzt befähigen. Wenn die beschränkten Patrizier in Florenz davon nichts wissen wollen, muss man ihnen diese Prognosen eben als kluge Aussprüche fremder Mächtiger unterschieben. Dann glauben sie wenigstens daran. Machiavellis Leitfaden für hoffnungsvolle Nachwuchs-Botschafter wird so zum Dechiffrierungsschlüssel für seine eigenen Berichte von seinen Missionen im Dienste der Republik Florenz.
Diplomaten und Historiker müssen lügen können, um die Wahrheit zu vermitteln. So schreibt der Historiker Niccolò Machiavelli an den Diplomaten Francesco Guicciardini:
Was die Lügen der Leute aus Carpi betrifft, so fühle ich mich ihnen allen wohl gewachsen, denn seit langem bin ich in dieser Disziplin selbst doktoriert … Seit langem sage ich niemals mehr, was ich glaube, noch glaube ich das, was ich sage. Und wenn ich aus Versehen die Wahrheit sage, so verberge ich sie unter so vielen Lügen, dass sie schwer zu finden ist.[5]
War dieses Bekenntnis Machiavellis zur Lüge ein Scherz, also selbst Lüge, so dass aus einer zweifachen Lüge Wahrheit wurde? Dagegen spricht, dass der Ton dieses Briefes vom 17. Mai 1521 nicht komisch, sondern bitter und sarkastisch ist. Gilt dieses Lob der Lüge nur für die mündliche Rede oder auch für geschriebene Texte? Für Letzteres spricht, dass sich in den Texten Machiavellis Unwahrheiten in großer Zahl entdecken lassen, und zwar nicht einmal kunstvoll versteckt; dabei handelt es sich nicht um Irrtümer, wie sie jedem Diplomaten und Historiker unterlaufen, sondern um gezielt und wohlberechnet formulierte Lügen, wie sie jeder Leser mit etwas Sachverstand sofort als solche erkennen konnte.
So behauptet der Historiker Machiavelli, dass in der Schlacht von Anghiari, die Florenz 1440 gegen Mailand gewann, nach stundenlangem Gefecht nur ein einziger Kämpfer zu Tode gekommen sei, und zwar ohne Feindeinwirkung; der Unglücksrabe sei aufgrund fehlender Reitkünste vom Pferde gestürzt und habe sich dabei den Hals gebrochen. Und in seiner Lebensbeschreibung des Castruccio Castracani lässt er den Helden – einen durch zahlreiche Quellen verbürgten, zudem im kollektiven Gedächtnis der Toskaner lebendigen Luccheser Stadtherren des frühen 14. Jahrhunderts – wie Moses als Findelkind auftauchen. Dabei wussten auch die Florentiner, denen Castracani so manche schmerzhafte Niederlage zugefügt hatte, dass dieser der altangesehenen Luccheser Patrizierfamilie der Antelminelli entstammte. Außerdem konnten die Florentiner jederzeit einen Blick in die lange Liste ihrer bei Anghiari gefallenen Helden werfen. Doch warum behauptete Machiavelli dann das Gegenteil?
Eine erste Antwort findet bis heute jeder Leser sofort: wegen der Komik! Zuerst nämlich schildert Machiavelli die Schlacht von Anghiari mit aller Erhabenheit, wie sie humanistische Geschichtstexte zum Ruhme der Mächtigen verlangten: Tapfere Recken prallen und schlagen aufeinander, der Kampf wogt hin und her, der Leser stellt sich ein Blutbad mit Leichenfeldern vor – und am Ende kam durch das ganze Handgemenge niemand zu Schaden. Der Lacheffekt ist damit garantiert – oder auch die Empörung derjenigen, die es besser wussten und deren patriotische Empfindungen durch diese Lüge gekränkt wurden.
Später signierte Machiavelli einen Brief mit der Selbstbezeichnung «Historiker, Komiker und Tragiker». Darin lag ein tiefer Sinn. Der Historiker ist zugleich Komiker, weil sich die abgrundtiefe Tragödie der Gegenwart, die Italien auf den Tiefpunkt seiner Geschichte absinken ließ, nur mit Sarkasmus beschreiben lässt. Darüber hinaus liegt in dieser Berufsbezeichnung ein melancholischer Doppelsinn. Im Italienischen bedeutet Machiavellis Formel historico, comico et tragico nämlich auch: historisch, komisch und tragisch. Mit anderen Worten: Knapp zwei Jahre vor seinem Tod betrachtete sich Machiavelli als abgetan, lächerlich und auf groteske Weise unzeitgemäß. Solche Abgesänge auf das eigene Dasein bei Lebzeiten durchzogen seine Korrespondenz seit langem. Kaltgestellt, beschäftigungslos und zur Muße gezwungen, könne er weder sich selbst noch anderen etwas Gutes tun – so beantwortete er die Briefe der wenigen Verzweifelten, die von ihm, dem kaltgestellten Ex-Kanzler, Fürsprache bei den Mächtigen erwarteten.
Doch warum stieß er die Mächtigen vor den Kopf, wenn er doch in ihre Gunst aufgenommen werden wollte? Machiavelli wollte seine Meinung sagen dürfen, ohne sich zu verbiegen. Hinter dem Zyniker und Komiker verbirgt sich ein Idealist: Machiavelli war davon überzeugt, dass man im Staat nur durch Verdienst um das Gemeinwohl aufsteigen sollte. Und obwohl er wusste, dass in Florenz wie in Rom die Chefs von nützlichen Netzwerken regierten, denen man devot dienen musste, versuchte er es stets aufs Neue mit seiner Methode, ihnen harte Wahrheiten zu sagen: komisch und tragisch, tragisch und komisch. Wer als einziger in einer korrupten Gesellschaft nicht bestechlich ist, ist beides zugleich und bleibt arm in einer Zeit, in der sich alle bereichern wollen. Auch Machiavellis lebenslange Armut, sein elendes Leben auf dem Lande unter Holzfällern und Wilderern, wurde ihm daher zum Motiv der Selbstbehauptung. Als unbestechlicher Armer unter so vielen Opportunisten fühlte er sich komisch, tragisch und letztlich heroisch, denn seine Mittellosigkeit zeugte davon, nicht käuflich zu sein.
Alle anderen aber waren es, und zwar politisch wie privat. Politisch war diese Käuflichkeit das Übel schlechthin, doch privat war die Käuflichkeit der anderen für Machiavelli die Quelle des höchsten literarischen Genusses. «Private Politik», das war die Kunst der Verführung. Dass Machiavelli, der geistreiche Plauderer, bei Frauen Erfolg hatte und seiner treusorgenden Gattin alles andere als treu war, bildete das Tagesgespräch seiner Freunde, auf der Straße und in Briefen. Wie viel davon Aufschneiderei oder Wirklichkeit war, muss offen bleiben. Machiavelli, der Lobredner des sexuellen Freibeutertums, tritt uns in seinen Komödien entgegen. Darin treten die Parallelen zwischen erotischem Abenteuer und Krieg unübersehbar hervor. Auf dem Schlachtfeld wie in der Liebe geht es um Leben oder Tod, und daher ist alles erlaubt, was zum Erfolg führt: Betrug in höchster Potenz und Verfeinerung, gepaart mit dem Selbstbetrug, der das alles rechtfertigt. Auch das geht nicht ohne Widersprüche ab. In der wohlgeordneten Republik Machiavellis, wie sie in seinen Discorsi geschildert wird, lebt es sich sittenstreng und züchtig; monogame Bürgersoldaten zeugen reichlich Nachwuchs für Staat und Militär. Und der kluge Fürst lässt – Grundregel Nummer eins! – die Finger von den Frauen und Töchtern seiner Untertanen. Doch gelten diese strengen Regeln offensichtlich nicht für alle. So wie der kluge Politiker an die Religion seiner Untertanen nicht glauben darf, sondern diesen Glauben nur vorheucheln muss, um seine Untertanen nach Belieben lenken zu können, so ist der politische Meisterdenker nicht an die sittlichen Verhaltensregeln der großen Masse gebunden.
Und er ist nicht der Einzige, der von diesen Regeln ausgenommen ist. In einem seiner so gut wie unbekannten Texte entwirft Machiavelli «Kapitel für eine Vergnügungs-Gesellschaft». Die Spielregeln für diese Genussmenschen beiderlei Geschlechts lesen sich auf den ersten Blick wie eine heitere Anleitung zum Karneval. Doch bleibt dem Leser das Lachen schon bald im Halse stecken:
Die Frauen dieser Gesellschaft dürfen keine Schwiegermütter haben; wer trotzdem eine hat, muss sich dieser binnen sechs Monaten durch Gift oder ähnliche Mittel entledigen.[6]
Jeder muss die anderen um das beneiden, was sie haben, und sich dementsprechend so schädlich wie möglich ihnen gegenüber verhalten; wer dies versäumt, wird nach Gutdünken des Präsidenten bestraft.[7]
Niemand darf jemals zeigen, was er wirklich denkt, sondern jeder muss das Gegenteil vortäuschen; wer am besten täuschen und lügen kann, gewinnt die höchste Anerkennung.[8]
Wer während der Messe nicht dauernd um sich blickt oder sich so platziert, dass er nicht von allen gesehen werden kann, wird wegen Majestätsverbrechen bestraft.[9]
Der Endzweck dieser Normen ist die ungehemmte Ausschweifung. Sie erlauben dem Menschen so zu leben, wie es seinem Wesen im natürlichen Zustand entspricht: egoistisch, ungehemmt, ohne moralische Skrupel. In einer pervertierten Gesellschafts- und Staatsordnung, wie sie nach Machiavellis Meinung überall in Italien herrscht, bleibt dem Einzelnen nur der ungehemmte Hedonismus.
Anarchist, Revolutionstheoretiker, Fürstenratgeber, Gesinnungsrepublikaner, Agnostiker, Zyniker, Idealist, Mythenbildner, Analytiker: Machiavelli hat viele Gesichter und trägt mancherlei Masken. In vieler Hinsicht erscheint er dem 21. Jahrhundert modern: mit seiner scheinbar so fröhlichen sexuellen Hemmungslosigkeit fernab von jedem Sündenbewusstsein, mit seiner Diesseitsbezogenheit, seiner Kunst der psychologischen Menschenerkundung. Anderes ist unserer Gegenwart nicht geheuer: seine Staatsgläubigkeit und Staatsverherrlichung, seine Überzeugung, dass man den Menschen von Staats wegen erziehen muss und dass der Staat sein eigenes Recht beugen darf, um sich dadurch zu stärken. Vieles ist uns schlichtweg fremd: sein negatives Bild vom Menschen, seine Verehrung des Altertums, sein Bild der Geschichte als ewige Kreisbewegung. Vieles in Machiavellis Denken scheint weit in die Zukunft, vieles weit zurück in die Vergangenheit zu weisen. Auf jeden Fall ist Machiavelli ein politischer Denker, der bis heute jeden angeht: Muss Politik moralisch sein, oder will der Wähler betrogen werden? Solche Fragen werden nach jeder Parlamentswahl diskutiert. Mit seinem Mut zu trennen, was seiner Ansicht nach nicht zusammen gehörte, und den Menschen verhasste Wahrheiten zu sagen, ist Machiavelli der einzige politische Denker Alteuropas, der bis heute Ärgernis erregt und erhitzte Debatten auslöst.
Diese Aktualität schlägt sich in den Diskussionen nieder, die das Werk Machiavellis seit dem 19. Jahrhundert auslöste und bis in die Gegenwart entfacht. So ist Jacob Burckhardts Erfindung der Renaissance in Italien als erster stürmischer Durchbruchs-Epoche der Moderne eng mit seiner Gestalt verknüpft. In Machiavelli sah der Basler Historiker die vorherrschenden Merkmale der Zeit ganz rein ausgeprägt: die verächtliche Abkehr vom Christentum, der Religion der unwissenden Masse, die Hinwendung zum Studium des Menschen, wie er wirklich war, und damit ein ganz neues Interesse an Erfahrung und Beobachtung, ja geradezu die Geburt einer neuen, wissenschaftlichen Grundeinstellung gegenüber der Welt insgesamt. In Burckhardts Augen war dieser «moderne» Blick auf den Menschen jedoch nicht nur von Empirie, sondern auch von moralischer Indifferenz geprägt. Machiavelli wurde so zum Prototyp eines neuen Menschen, wie ihn der «Machtstaat» der Renaissance herangezüchtet hatte: fasziniert von den Gesetzen der Politik, gleichgültig gegenüber den verbrieften Werten der Tradition wie Solidarität und Gemeinsinn.
Mit seiner «Cultur der Renaissance in Italien» von 1860, in der diese Mythenbildungen vorgenommen werden, traf Burckhardt den Nerv der Zeit, die nach Gegenbildern zu einer bürokratisierten und prüden Gegenwart lechzte. Speziell für seinen jüngeren Basler Professoren-Kollegen Friedrich Nietzsche war dieser Entwurf der italienischen Renaissance ein Schlüsselereignis und die Lektüre von Machiavellis Schriften ein Befreiungserlebnis. Nietzsche machte sich Kernelemente von Machiavellis Geschichtsdenken wie necessità und occasione, das historisch Notwendige und die vom Geschichtsverlauf ein einziges Mal gebotene Gelegenheit, und darüber hinaus die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr der Vergangenheit zu eigen. Darüber hinaus wurde ihm Machiavelli zum Kronzeugen für eine neue Moral, die die Zwänge des Christentums überwunden hat. Nach der Abschüttelung dieses Jochs kann der Einzelne sich in seiner ganzen skrupel- und ruchlosen Herrlichkeit entfalten wie Machiavellis idealer Fürst. Cesare Borgia an der Spitze der Christenheit: Das war für Nietzsche das Zeichen einer neuen Zeit, in der die Kräfte des Lebens triumphieren würden. Doch deren Anbruch blieb aus, der schlechte Mönch Luther erneuerte das Christentum, die italienische Renaissance mit ihrem Prototypen Machiavelli erwies sich als vergeblich.
Auch im 20. Jahrhundert schieden sich an Machiavelli die Geister. Für Vordenker des totalitären Staats wie Carl Schmitt, der Staatsräson als natürliche Humanität und von der modernen Staatenwelt längst eingelöst betrachtete, und Benito Mussolini, den Führer des italienischen Faschismus, wurde er zum Propheten der wahren Politik. Im Principe wie in den Discorsi fand diese intellektuelle Vorhut einer rechts-autoritären Wende ihre Kernprinzipien vorgeprägt: dass der erfolgreiche Volksführer über dem Recht steht, das er nach Belieben für seine Zwecke einsetzt und bei Bedarf beugt, dass sich der wahre Herrscher im Krieg profiliert und qualifiziert, dass die Masse geformt werden will und der dynamische Staat die Gewalt und ihre Mythen pflegen muss. Gegen diese Vereinnahmung als Vorläufer von Faschismus und Nationalsozialismus nahm der unorthodoxe Marxist Antonio Gramsci Machiavelli ausdrücklich in Schutz. Statt als Vordenker vermeintlich ewiger Staats- und Geschichtsprinzipien sieht Gramsci Machiavelli als Kind seiner Zeit, für deren Probleme er nach Lösungen sucht. Mit seinem Ruf nach dem vollendeten Fürsten und seinem Entwurf der idealen Republik habe Machiavelli ebenso originell wie produktiv auf die Krisensymptome der italienischen Renaissance reagiert. Diese bestanden laut Gramsci in den unaufhebbaren Widersprüchen zwischen den aristokratischen Feudalgewalten und frühkapitalistischen städtischen Führungsschichten, die zusammen mit günstigeren Produktionsformen nach neuen, post-feudalen Gesellschafts- und Staatsverhältnissen strebten, doch im 16. Jahrhundert zunehmend von den reaktionären Gegenmächten Spanien und dem gegenreformatorischen Papsttum bedroht waren. In dieser Auseinandersetzung stellte sich Machiavelli laut Gramsci mit seinem Plädoyer für einen starken und vor allem egalitären Staat an die Seite der zukunftsfähigen Mächte, das heißt der Bürger, Bauern und Arbeiter. So fand der im Kerker Mussolinis schreibende Marxist Gramsci in Machiavelli den Vertreter eines «progressiven» Bürgertums, dessen Fehlen die italienische Geschichte der Folgezeit mit gravierenden Folgen für die Gegenwart überschattete.
Doch auch ein tiefes Unbehagen an den verstörenden Thesen des beunruhigenden Denkers Machiavelli artikulierte sich im 20. Jahrhundert, bezeichnenderweise nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. So hielt der Philosoph und Politiktheoretiker Leo Strauss, der als Jude vor dem nationalsozialistischen Terror aus Deutschland in die USA geflohen war, in seinen 1958 erschienenen Thoughts on Machiavelli dem Autor des Principe und der Discorsi die Zerstörung einer abendländischen Tradition vor, die den Menschen in der Geschichte ganzheitlich, eingebettet in die Natur und die höheren Mächte der Religion, betrachtet hatte. Machiavelli, der destruktive Entzauberer der Welt und des Menschen, stand so am Anfang einer Entwicklung, die jegliches Geheimnis, die Verehrung des Göttlichen und das Gewissen aus der Politik vertrieb und stattdessen einzig und allein dem Fetisch des Erfolgs und damit der Gewalt huldigte. Zum Lehrer des Bösen in der Politik wurde der Florentiner für Strauss vor allem dadurch, dass er Religion, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, zum reinen Herrschaftsinstrument degradierte und die Politik von jeder Anbindung an höhere moralische Werte ablöste. Damit habe Machiavelli einem kalten, inhumanen Rationalismus Bahn gebrochen, wie er in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts kulminierte, doch auch in den Demokratien Europas, von Hobbes und Rousseau weitergedacht, gefährliche Werteverluste befördert habe. Ausgenommen von diesem Siegeszug sah Strauss allein die USA, wo sich das machiavellische Staatsdenken nie habe durchsetzen können. Trotzdem billigte Strauss in seiner vielschichtigen und gedankenreichen Analyse Machiavelli die Attribute einsamer Größe zu – auch die Teufel waren schließlich gefallene Engel.
Wie kam Machiavelli zu seinen Ideen, die noch im 21. Jahrhundert Protest oder Zustimmung provozieren, doch nie kaltlassen? Welche Erfahrungen hat Machiavelli gemacht, um so zu denken? Wo und wie hat er die Beobachtungen getroffen, auf denen sein Bild vom Menschen und der Geschichte beruht? Die nachfolgende Lebensgeschichte soll auf diese Fragen Antworten geben.
Am 28. Mai 1498 wählte der Rat der Achtzig Niccolò Machiavelli, Sohn des Bernardo, zum Sekretär der Florentiner Regierung und Chef der Zweiten Kanzlei, und zwar mit einem Gehalt von 128 Golddukaten pro Jahr; das entsprach in etwa dem Dreifachen eines Handwerkereinkommens. Zu diesem Zeitpunkt war der Gewählte 29 Jahre und 25 Tage alt; wie es der Zufall wollte, war das auf den Tag genau die Hälfte seines Lebens.
Im Rückblick eines halben Jahrtausends erscheint diese Wahl überraschend. Der Gewählte hatte bislang keinerlei Spuren in öffentlichen Dokumenten hinterlassen, und das in einer Republik, die einem Viertel ihrer männlichen Bevölkerung politische Rechte verliehen hatte. So finden sich in den Protokollen von Räten und Behörden aller Art Tausende von Namen, nicht nur von Patriziern, sondern sogar von Angehörigen der unteren Mittelschicht. Doch was Niccolò di Bernardo Machiavelli betrifft: Fehlanzeige. Auch die privaten Zeugnisse sind dünn gesät. Gerade einmal zwei Briefe, die seine Existenz belegen, haben sich vor dem plötzlichen Austritt aus der Anonymität erhalten; der älteste stammt vom 2. Dezember 1497, führt also auch nicht viel weiter ins Halbdunkel dieses Lebens zurück. Wer Machiavellis Geschichte schreiben will, muss deshalb immer wieder spätere Quellen wie etwa Briefe heranziehen, in denen er sich über seine Familie und seinen Werdegang äußert. Doch auch solche Dokumente sind rar. In Florenz, einer Stadt mit weniger als 50.000 Einwohnern, kannte man sich; einen geschriebenen Lebenslauf musste niemand bei der Bewerbung um ein Amt vorlegen.
Florenz liebte Machiavelli mehr als seine Seele:
Vasaris Fresko zeigt die Stadt am Arno in einem ihrer dramatischsten Momente,
bei der Belagerung durch ein spanisches Heer im Sommer 1530.
Die Florentiner, die für Machiavelli stimmten, wussten also, wem sie ihr Vertrauen schenkten. Immerhin gab es starke Konkurrenz. Um den relativ einträglichen Posten bewarben sich Florentiner mit wohlklingenden Titeln: ein Professor für Beredsamkeit, ein Notar, ein weiterer studierter Jurist. Trotzdem machte der diplomlose und relativ junge Machiavelli das Rennen: Am 19. Juni bestätigte der Große Rat, die Vertretung aller politikfähigen Bürger, seine Ernennung. Der neue «Zweite Kanzler» muss gewichtige Fürsprecher gehabt haben. In der Republik Florenz bestimmten die Netzwerke der führenden Familien die Politik. Wer nicht selbst so viel zählte, dass er andere protegieren konnte, war auf Empfehlungen aus den Kreisen der primi, der mächtigen Clanchefs, angewiesen. Machiavellis Wahl fiel mit einem Wendepunkt der florentinischen Geschichte zusammen. Fünf Tage bevor die Achtzig für seine Ernennung stimmten, hatte die Stadtregierung (Signoria) Girolamo Savonarola, den Prior des Dominikanerklosters von San Marco, als Ketzer verbrennen lassen. Von November 1494 an hatte der wortgewaltige Bußprediger starken Einfluss auf die neu ausgearbeitete Verfassung und danach auch auf die Tagespolitik von Florenz ausgeübt. Nach seiner Hinrichtung verloren viele seiner Parteigänger ihre Posten, nicht nur in der politischen Führungsspitze, sondern auch in der Verwaltung. Durch diese Säuberung wurde die Stelle des Sekretärs und Zweiten Kanzlers überhaupt erst frei – des einen Leid, des anderen Freud. Schließlich muss die Mehrheit der stimmfähigen Florentiner dem erfolgreichen Kandidaten Machiavelli zugetraut haben, seinen Aufgaben als Chef der Zweiten Kanzlei auch ohne Studium, Titel und Urkunden gewachsen zu sein. Diese waren ebenso anspruchsvoll wie vielfältig, denn der Zweite Kanzler war je nach Bedarf für Probleme der inneren wie der äußeren Politik zuständig, von Fragen der Militärorganisation bis zu den heikelsten diplomatischen Missionen.
Girolamo Savonarola, ein Prophet, der Florenz im Auftrag Gottes reformiert: So jedenfalls malte Bartolommeo della Porta den Bußprediger. Für Machiavelli war der wortmächtige Dominikaner dagegen ein Betrüger, der daran zugrunde ging, dass er das Volk nicht mit Waffengewalt zum Glauben an seine Mission zwingen konnte.
Machiavelli selbst hat sich später zur Frage seiner Qualifikationen mit seiner üblichen Mischung aus Sarkasmus und Ernst geäußert. In einem Brief an Francesco Vettori vom 9. April 1513 heißt es zu seiner «Berufswahl»:
Wenn Euch unsere politischen Sandkastenspiele langweilen, weil viele Dinge anders kommen, als wir sie vorher durchdacht und entworfen haben, so habt Ihr natürlich Recht – mir geht es ja ähnlich. Und doch, wenn ich mit Euch sprechen könnte, so könnte ich gar nicht anders, als erneut politische Luftschlösser bauen. Denn das launische Schicksal hat es so gewollt, dass ich weder von den Geschäften der Seidenzunft noch von denen der Wollzunft noch von Gewinnen oder Verlusten, sondern eben nur vom Staat etwas verstehe …[1]
In den beiden genannten Zünften waren die Großhändler und Bankiers eingeschrieben, die die Politik von Florenz dominierten. Wenn Machiavelli behauptete, für diese merkantilen Berufe nicht zu taugen, so wollte er diesen Schluss natürlich auch umgekehrt verstanden wissen: Die Chefs der großen Firmen bestimmten die Geschicke der Republik, obwohl sie von den Erfolgsregeln der Politik keine Ahnung hatten.
Dass Machiavelli etwas vom Staat verstand und diesem nützlich sein konnte, muss die Mehrheit der Florentiner im Mai und Juni 1498 also ähnlich gesehen haben. Doch wie kamen sie zu diesem positiven Urteil? Seit mehr als vierhundert Jahre nach Machiavellis Geburt das Hausbuch seines Vaters Bernardo entdeckt wurde, fällt zumindest auf die familiären Verhältnisse und den Bildungsweg des Knaben Niccolò etwas Licht. Dabei sind die Einblicke, die Bernardo Machiavellis Libro di ricordi («Erinnerungsbuch») erlaubt, überwiegend trübe. Der Verfasser der Hauschronik war ein Advokat von seltener Erfolglosigkeit; selbst das Amt eines Provinzkassierers, das ihm durch einflussreiche Empfehlung übertragen worden war, konnte er nicht zum wirtschaftlichen Vorteil seines Hauses oder gar zum politischen Aufstieg nutzen. Diese kümmerlichen Lebensverhältnisse standen in krassem Gegensatz zur Vergangenheit des Machiavelli-Clans insgesamt. Dieser durfte sich rühmen, Sechsundsechzig Mal einen Angehörigen in die jeweils zwei Monate amtierende Stadtregierung entsandt zu haben, darunter ein Dutzend Mal den gonfaloniere, der als Primus inter pares das Oberhaupt der Republik bildete. Die Erfolgsgeschichte der Machiavelli-Sippe schrieben verschiedene Zweige der Sippe im 15. und 16. Jahrhundert fort.
Umso peinlicher war den erfolgreichen Verwandten der krasse Abstieg der Linie Bernardos, mit dem der Tiefpunkt erreicht wurde. Ein Machiavelli feindlich gesonnener Chronist behauptet sogar, dass sein Vater ein «Bastard», also unehelicher Geburt, gewesen sei. Selbst dem Zweiten Kanzler der Republik versuchten seine Gegner aus der notorischen Misere seines Vaters noch einen Strick zu drehen: Als Sohn eines Steuerschuldners habe er dieses Amt gar nicht antreten dürfen. Es bedurfte energischer Gegenwehr und guter Beziehungen Machiavellis, um diese Bedrohung abzuwenden. Solche Attacken spiegeln Häme, aber auch eine gewisse Ratlosigkeit wider: Wie konnte der Zweig einer angesehenen Familie so tief sinken? Für den späteren Chef der Zweiten Kanzlei ergab sich daraus eine merkwürdige Schieflage. Er war mit Persönlichkeiten verwandt und verschwägert, die wirtschaftlich, sozial und politisch weit über ihm standen; sogar einen Kardinal Machiavelli gab es zu seinen Lebzeiten. Mit dem Ausdruck der Verachtung, so sehr sie sich auch als Kameradschaftlichkeit, Sympathie und kumpelhafte Solidarität tarnte, hat Niccolò Machiavelli von Kindesbeinen an Erfahrung gemacht. Mit welcher Kühnheit er darauf reagierte, zeigt sein Brief an Francesco Vettori vom 18. März 1513:
Und wenn es unseren geneigten Herren gefallen sollte, mich aus der Verbannung auf dem Lande zurückzurufen, so ist es mir lieb, denn ich glaube, mich so verhalten zu können, dass sie Grund haben werden, sich darüber zu freuen. Und wenn sie dazu nicht bereit sind, dann werde ich eben so wie bisher weiter leben. Denn ich bin arm geboren und habe zuerst Mühen auf mich zu nehmen und danach zu genießen gelernt.[2]
Das waren Sätze voller Geringschätzung für «die da oben», denen durch ihre Geburt die Lizenz zum süßen Leben zufiel.