Marc Augé
Lob des Fahrrads
Aus dem Französischen
von Michael Bischoff
Mit zwölf Zeichnungen
von Philip Waechter
C.H.Beck
Nicht nur in Kopenhagen und Amsterdam, auch in Frankfurt und Paris prägt das Fahrrad wieder das Straßenbild. Fasziniert beobachtet der Ethnologe Marc Augé die Auswirkungen dieser veritablen Fahrradrevolution. Er beschwört das freiheitstrunkene Glück des Kindes, das in die Pedale tretend die Kraft seines Körpers spürt. Wehmütig denkt er zurück an die heroischen Tage der Tour de France, als Radrennen Volkskult war. Und er blickt voller Enthusiasmus auf die Chancen der weltweiten Fahrradbewegung. Feinsinnig preist Augé eine ganz reale Utopie: den Humanismus des Radfahrens.
Marc Augé, der Begründer einer Ethnologie des Nahen, war viele Jahre Präsident der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales. Im Verlag C.H.Beck sind bisher erschienen: Nicht-Orte, 42014 und Tagebuch eines Obdachlosen, 2012.
Das Fahrrad – vom Mythos zur Utopie
Gelebter Mythos
Mythos und Geschichte
Entdeckung des Selbst
Entdeckung der anderen
Krise
Der zerstörte Mythos
Urbanisierung der Welt: auf der Suche nach der verlorenen Stadt
Ein Ende der Krise?
Utopie
Vélo liberté – Fahrradfreiheit
Die Jugend der Welt
Der»Pedaleffekt«
Zurück zur Erde
Fußnoten
Man kann das Fahrrad nicht loben, ohne von sich zu sprechen. Das Fahrrad gehört zur Geschichte eines jeden von uns. Radfahren lernen, das verweist auf besondere Augenblicke in der Kindheit und Jugend. Durch das Rad entdeckt jeder ein wenig von seinem Körper, seinen körperlichen Fähigkeiten, und erlebt die damit verbundene Freiheit. Über das Fahrrad sprechen heißt daher für jemanden meiner Generation unvermeidlich auch, Erinnerungen heraufzubeschwören. Diese Erinnerungen sind jedoch keineswegs nur persönlicher Natur; sie wurzeln in einer Zeit, einem Milieu, einer Geschichte, die wir mit Millionen anderen Menschen teilen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann der äußerst populäre Radrennsport mit der Wiederaufnahme der Tour de France eine epische Dimension. Diese Dimension ist bis heute lebendig, trotz der Krise, in die das Profigeschäft und die Dopingaffären den Radsport gebracht haben. Es ist eine schwere Krise, vor allem weil sie an das intime Gedächtnis und die persönliche Mythologie des Einzelnen rührt. Vielleicht kann sie aber gerade deshalb gelöst werden, denn Mythen haben ein zähes Leben. Außerdem kommt dem Fahrrad der Städtebau zu Hilfe. In dem Augenblick, da die Urbanisierung der Welt die Träume vom Landleben dazu verdammt, sich in Klischees geordneter Natur (Stadtparks) oder in Abbilder phantasierter Natur (Freizeitparks) zu flüchten, verwandelt das Wunder des Radfahrens die Stadt erneut in ein Land der Abenteuer oder zumindest des Reisens. Dieses Wunder macht seit Langem schon den Reiz von Städten wie Amsterdam oder Kopenhagen aus, aber plötzlich glauben nun auch französische Stadtplaner wieder an Wunder und versuchen, wenn auch mühsam und ungeschickt, solche Wunder in den beiden vom Autoverkehr am stärksten verstopften Städten Frankreichs zu verwirklichen. Wenn man den Einwohnern und Besuchern in Paris und Lyon kostenlos Fahrräder zur Verfügung stellt, zwingt man sie, einander zu sehen und zu begegnen, die Straßen in soziale Räume zu verwandeln, den städtischen Lebensraum neu zu gestalten und die Stadt zu träumen. 1968 ist lange vorbei. Das Leben zu ändern, das bedeutet heute zuallererst, die Stadt zu verändern. Es gibt viel zu tun, und nicht alles, was getan wird, ist gut. Aber dass eine Utopie ihren Ort gefunden hat, das ist schon etwas.