Tiefes, dunkles Blau

Gestern. Heute. Morgen.

Immer.

Sie sollen walten über die Fische des Meeres

und die Vögel des Himmels.«

Genesis 1, 26

Zehn Tage zuvor

Es heißt, die schönsten Städte der Schweiz liegen an einem Fluss und an einem See zugleich. Umspült vom Wasser, das von der schneereinen Gebirgskette herkommend durch ein offenes Tal strömt, vorbei an dicht besiedelten Ufern. Bis zuletzt die Stadt selbst aus dem Blau aufsteigt wie ein Traum. Und dort, am nördlichen Rand des Seebeckens, neben der noch jungen Limmat, beginnt die mittelalterliche Altstadt von Zürich.

Im Chez Manon, schräg gegenüber von der Predigerkirche, nahm die Kaffeemaschine zischend ihren Dienst auf. Noch müde Gesichter verschwanden hinter Tageszeitungen, die in Holzklammern steckten, bis Manon dickflüssigen Espresso in vorgewärmten Tassen servierte. Ein verschworener Moment der Einkehr, bevor die Geschäfte öffneten und Touristen die engen Gassen verstopf‌ten. Ganz in der Nähe erhob sich in einem geschlossenen Innenhof eine Esche. Erst auf Höhe der Dächer breitete sie ihre mächtigen Arme aus. Zu ihren Füßen lag ein Häuschen mit schiefergrauen Fensterrahmen. Eine Frau stand davor. Sie hatte ein Handtuch um die nassen Haare geschlungen, dazu trug sie einen Seidenkimono, der ihr jedes Mal über die Schulter rutschte, wenn sie sich bückte. Ihre Füße

Statt wie sonst an ihrem freien Tag eine Runde auf dem Zürichsee zu rudern, musste sich Rosa heute beeilen. Sie ging ins Haus, legte den Eisenkrautzweig auf den Holztisch und stieg die knarrende Treppe hinauf. Die letzte Spritze hatte einen Bluterguss am Bauch hinterlassen. Sie suchte ein locker geschnittenes Sommerkleid aus dem Wandschrank. So wäre sie hinterher schnell wieder angezogen. Ein plötzliches Pfeifen rief sie zu ihrem morgendlichen Ritual. Sie eilte hinunter. Mit der einen Hand nahm sie den Wasserkessel von der Gasflamme, mit der anderen griff sie nach der gusseisernen Kanne für den Sencha. Ein Geschenk ihres Exfreundes. Sie hielt mitten in der Bewegung inne und schob stattdessen einen Tritthocker vor das Regal. Im obersten Fach gab es eine nagelneue Glaskanne. Rosa stellte sie vorsichtig auf die Anrichte und zupf‌te Kräuter ab, bis nur noch lila überhauchte Blüten übrig waren. Nachdem sie kochendes Wasser in die Kanne gegossen hatte, funkelte der Inhalt bald schon wie geschmolzenes Gold. Zuletzt holte sie eine leere Eiswürfelform und verteilte die Blüten darin, füllte mit Wasser auf und stellte sie ins Eisfach. Dann sammelte sie die übrig gebliebenen Stiele ein. Auch sie würden ihren Platz finden: auf dem Kompost.

Die Praxis lag etwas außerhalb. In einer der Gemeinden an der Seeküste, die nach der Farbe des Lichts benannt war, das abends die ausladenden Villen überzog. Als Rosa stadtauswärts radelte, standen beim Fußgängerstreifen am Bahnhof Tiefenbrunnen bereits erste Mütter und Väter auf dem Weg ins nahe Strandbad. Die Schiebegriffe der Kinderwagen waren so schwer beladen, dass die Gefährte wohl augenblicklich nach hinten gekippt wären ohne die als Gegengewicht festgeschnallten Kinder. Kühltüten. Klapp-, Liegestühle. Zusammensteckbare Strandmuscheln. Rosa fragte sich, ob das alles wirklich nötig war. Und sie wusste es nicht. Wie denn auch? Auf der Verkehrsinsel wiegten sich die Pappeln in der Brise. Ebenso wie die Masten der Segelschiffe, die im Hafen neben dem Betonwerk ankerten und Rosa an Essstäbchen denken ließen. Kurz darauf leuchteten die Plastiktische vor dem Klubhaus ihres Fischereivereins durch das Laubwerk. Doch ein Blick auf die Uhr ließ sie kräftiger in die Pedale treten. Jenseits der Stadtgrenze begann sich die Gegend zu verändern. Die blickdichten Zäune und Hecken wurden höher, nur durch schwere Eisentore unterbrochen. Auf geharkten Kiesplätzen standen Limousinen und Geländewagen mit niedrigen Zahlen auf den Nummernschildern, die regelmäßig

»Haben Sie einen Termin?« Die schrille Stimme passte so gar nicht zum Plätschern des Zierbrunnens auf dem Tresen. Die Praxisassistentin schob ihre sorgfältig manikürte Hand über die Muschel des Telefonhörers.

Rosa riss sich vom Anblick des Buddhas los, dessen Hände, locker im Schoß ruhend, zu einer Schale gefaltet waren. »Ich bin etwas knapp dran. Entschuldigung.« Sie räusperte sich. Dann blickte sie wie beiläufig in Richtung Wartezimmer, um sich zu vergewissern, dass auch niemand mithörte.

»Ihr Name?«, schrillte es erneut. Die Tür war geschlossen. Rosa antwortete nun mit fester Stimme: »Ich heiße Zambrano.«

Fingernägel flogen wie Pfeilspitzen über die vollgeschriebenen Seiten des Kalenders. »Da haben wir es: Zambrano. Sie kommen zur Kryokonservierung?«

Rosa zuckte zusammen.

Die Assistentin strich den Eintrag durch. »Doktor Jansen braucht noch einen Moment. Aber das Untersuchungszimmer ist bereits frei.« Sie zeigte auf eine angelehnte Tür am Ende des Flurs, bevor sie den Telefonhörer wieder aufnahm.

Als Rosa sich an den geräumigen Tisch setzte, fasste sie sich an die Ohren. Die glühten und waren bestimmt tiefrot.

»Jetzt hör mal! Du kannst dich doch auch als Singlefrau befruchten lassen. Wenn du niemanden findest, dann gehst du in zwei Jahren einfach in eine Klinik ins Ausland. Dort kannst du alles machen lassen. Alles!« Ihre jüngste Schwester musste es ja wissen. Um schwanger zu werden, hatte sich ihre Partnerin vor einigen Monaten ebenfalls in Behandlung begeben. Erfolgreich, wie der kugelrunde Neunmonatsbauch zeigte, den Katrin vor sich herschob wie eine lebende Trophäe. Rosa wurde regelmäßig ungefragt mit Bildbeweisen überhäuft. Oder Rezepten, um die Plazenta nach der Geburt zu trocknen. Bloß nicht zu viel denken jetzt! Sie schloss die Augen. Versuchte es mit einer Atemübung. Nach zwei Durchgängen gab sie auf. Rosa bezweifelte, dass sie je lernen würde, sich beim absoluten Nichtstun zu entspannen. Lieber konzentrierte sie sich auf die großflächigen Drucke an der Wand. Die Tür öffnete sich, als sie gerade die Struktur einer Sanddüne studierte und

Doktor Jansens Haare waren einen Tick zu lang, um zum Rest seiner Erscheinung im weißen Arztkittel zu passen. Wobei auch die modischen Segeltuchschuhe irritierten, die man barfuß trug. Sie erinnerten Rosa an den Skipper, bei dem sie Stunden für den Hochseeschein nahm. Auch Jansen hatte die Schwelle zum mittleren Alter bereits überschritten, was ihn aber eher noch attraktiver machte. Der Amorbogen seiner Oberlippe war geschwungen, dunkle Bartschatten drückten trotz gründlicher Rasur durch. Er schien zu jener Art Mensch zu gehören, für die es keine Probleme gab, sondern nur Lösungen. Zumindest war das Rosa bei ihrem ersten Termin vor einigen Wochen so vorgekommen, als er sie beruhigte: Dann verschaffen wir Ihnen mal die Zeit, die Sie brauchen. Und ihr zeigte, wie sie die Hautfalte am Bauch am besten dehnte, um sich die Hormone selbst zu spritzen.

»Bleiben Sie nur«, sagte er jetzt. Routiniert rieb er seine Hände mit Desinfektionsmittel ein, dessen Duft sich über sein Aftershave legte. Er grüßte im Vorbeigehen, ohne ihr die Hand zu schütteln. Setzte sich und klapperte mit der Tastatur seines Rechners. Da sie es selbst gar nicht mochte, wenn ihr jemand beim Schreiben auf die Finger schaute, wandte sich Rosa ab. Sie bemerkte, dass der Fotorahmen mit dezentem Goldrand verschwunden war. Er hatte sie bei den Vorbereitungsterminen irritiert, weil er nicht auf den Sitzplatz des Arztes ausgerichtet war, sondern leicht schräg stand. Als sollte jeder sehen können, wie er seine langen

»Ich habe noch zwei, drei Fragen. Dann kann es losgehen«, wandte sich Jansen ihr abrupt zu. »Wir können die Kinderfrage etwas hinauszögern …« Sein Adamsapfel hüpf‌te auf und ab. »Aber eine hundertprozentige Garantie gibt es natürlich nicht.«

Jetzt wollte er sich also doch noch absichern. Insgeheim war Rosa froh. Das relativierte den leicht überheblichen Eindruck, den er auf sie gemacht hatte. Auch wenn das nichts an den Tatsachen änderte: Ihre Fruchtbarkeit nahm mit jedem Tag, jeder Stunde, jeder Sekunde ab, mit der sie auf ihren 38. Geburtstag zuraste. Und nicht nur ihre Fruchtbarkeit: Bereits mit Ende zwanzig hatte der Großteil ihrer Körperfunktionen den Höhepunkt überschritten. Seit ihrem dreißigsten Lebensjahr verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit, demnächst zu sterben, alle acht Jahre. Bald schon würden ihre Zellen die Fähigkeit verlieren, Mutationen rückgängig zu machen. Kurz gesagt: Sie hätte eigentlich den nächstbesten Mann anspringen müssen! Stattdessen saß sie hier und ließ ihre eigenen Eizellen für viel Geld einfrieren. Rosa schielte auf die Uhr. Doch der Arzt schien keine Eile zu haben.

»Sie sind seit mindestens sechs Stunden nüchtern?«

»Hatten Sie schon einmal eine Vollnarkose?«

Wieder nickte sie. Und strich über die Stelle oberhalb des Knies. Vor einigen Jahren war dort abgestorbenes Gewebe durch ein dünnes Hauttransplantat vom Rücken ersetzt worden. Rosa spürte die Narbe kaum noch. Nur manchmal, wenn das Wetter wechselte, juckte der blasse, wulstige Hautfleck. Plötzlich fühlte sie sich, als wäre alle Kraft aus ihr herausgesaugt worden.

»Prima. Dann wollen wir mal sehen, ob der trigger shot erfolgreich war.« Jansen rollte auf seinem Lederhocker zum Untersuchungsstuhl. »Schon im Mutterleib enthalten weibliche Eierstöcke über 400000 Eizellen. Faszinierend, nicht?« Er drückte einen Knopf, und der Raum verdunkelte sich summend. »Bis zur Pubertät sterben aber die meisten ab. Nur etwa 500 erreichen im Laufe eines Lebens den Eisprung.«

Wie die anderen Male zuvor verschwand Rosa hinter dem Paravent und zog ihren Slip aus. Anschließend setzte sie sich in den Stuhl, der ihre Beine weit auseinanderspreizte. Der Arzt führte den Schallkopf in ihr Inneres ein. Auf dem Bildschirm leuchtete eine Struktur auf. Sie sah aus wie eine quer halbierte Knoblauchknolle.

»Da sind sie ja schon.« Er drückte noch etwas fester und zeigte nicht ohne Stolz auf die zehenförmigen Kammern. »Sieben prächtige Exemplare auf einmal.«

Bald darauf lag Rosa im Operationszimmer auf einer sterilen Liege, während ihr die Assistentin eine Papierserviette unter das Kinn schob.

 

»Ich kann Sie unmöglich in diesem Zustand fahren lassen.« Die Assistentin blickte vorwurfsvoll auf den Fahrradhelm, den Rosa gerade aufsetzen wollte.

Tatsächlich fühlte sie sich unsicher auf den Beinen. Dann würde sie das Rad halt schieben. Doch die Frau wollte partout nicht nachgeben. Eine halbe Stunde später rumpelte der Transporter auf den Vorplatz, mit dem Stella auf die Märkte im Umland fuhr, wenn sie ihre Keramik feilbot. Rosa nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Stella das Fahrrad in den Kofferraum lud. Am Rückspiegel baumelte ein Duftbäumchen neben einem Mini-Traumfänger. Rosa wurde übel.

»Fahren wir, ich kann Suki nicht zu lange alleine lassen«, sagte Stella, während sie den leeren Hundekorb neben das Fahrrad schob. »Du bist ganz schön bleich.« Sie ging um

»Alba hat nicht abgenommen«, nuschelte Rosa, während sie eines der Bonbons in den Mund schob. Das Papier knisterte, als sie es zwischen den schweißnassen Handflächen zerknüllte und zu einer Kugel formte. Ihre Freundin war zwar nur ein knappes Jahr älter, doch sie hatte schon immer gewusst, dass sie keine Kinder wollte. Denn diese schafften für sie in erster Linie eines: Abhängigkeiten. Auf dem Weg zurück in die Stadt erzählte Rosa, was sich nun nicht mehr geheim halten ließ. Und hoffte, dass es nicht zu viel Unruhe mit sich bringen würde. Danach wollte sie nur noch eines: sich ins Bett legen und sehr, sehr lange schlafen. Ein Glück, dass sie die nächsten Tage vorsorglich freigenommen hatte.

Eine Woche später

Er hätte sich ein anderes Ende gewünscht. Eine finale Fassung mit einer Liebe, leuchtend wie Perseidenströme am Augusthimmel. Eine Liebe wie eine Sommernacht, in der das Leben explodiert – und alles stärker, schwerer und wärmer ist. Doch er schaffte es nicht. Obwohl er noch am Sterbebett daran arbeitete, hinterließ Giacomo Puccini, Schöpfer der berühmtesten Opern seiner Zeit, bei seinem Tod nichts als einen Stapel Notizen, die kein Ganzes ergaben: Turandot sollte Fragment bleiben.

Jetzt donnerte eine der Arien aus den mannshohen Boxen, die links und rechts der riesigen Leinwand unter Stoffbahnen versteckt waren. Nessun dorma! Nacht der Entscheidung. »Niemand schlafe«, befahl die mordlüsterne Prinzessin Turandot. Die jeden ihrer Verehrer auf eine Probe stellte. Und hinrichten ließ, wer nicht bestand. Moritz Jansen atmete mit der anschwellenden Stimme des Tenors ein, als sei es ihm so möglich, all dies für immer in sich aufzusaugen. Die Sonne, die im steinernen Parkett aus uraltem Quarzit gespeichert war. Und das Glück, das ihm, in Form von Alinas karmesinrot lackierten Zehen, über die Beine kitzelte. Sie saßen mitten auf dem weitläufigen Platz, der sich am Rande der Altstadt zwischen

»Schmeckt bestimmt eklig.« Sie prostete ihm zu. »Macht dafür lustig.« Dann schwenkte sie ihr Glas, langsam und mit Bedacht, bis sich auch die Flüssigkeit im Kreis drehte. Und nippte daran. Jansen kippte den bitteren Satz auf dem

Er stellte die hochhackigen Schuhe ordentlich vor Alina hin. Sie hatten etwas entfernt gelegen, wo sie von ihrer Trägerin zwei Stunden zuvor dankbar abgestreift worden waren. Dann schüttelte er die Brotkrumen aus der Decke und legte sie Alina um die nackten Schultern. Hand in Hand überquerten sie bei der Ampel die stark befahrene Seestraße und spazierten auf der Promenade in Richtung Utoquai, stadtauswärts. An den Absperrgittern entlang, die bereits für den Halbtriathlon am nächsten Tag aufgestellt waren. Es fühlte sich gut an, mit seiner heimlichen Freundin, die nun nicht mehr heimlich sein würde, durch die Nacht zu gehen. Und am kommenden Montag schon würden sie einige Tage zusammen in die Berge fahren.

Von immer weiter weg hörten sie den Schlussapplaus der Oper für alle, die Sopranistinnen, Tenöre und der Chor verneigten sich nun auf der strahlenden Balustrade über der Menge. Auf Jansens Oberlippe hatte sich ein salziger Schweißfilm gebildet. Alles war weich und flauschig,

»Puccini hätte das Ende gar nie finden können«, sagte er. Es knackste, als er die sich ankündigende Kiefersperre mit einem gezielten Ruck löste. »Es wäre nicht möglich gewesen, die Oper zu beenden. Nicht, solange er selbst – wie der Prinz in seiner Geschichte – die falsche Frau wollte«, fügte er hinzu. Er fasste an die Stelle, wo noch bis vor Kurzem der Ehering an seinem Finger gewesen war.

Alina blickte auf den See hinaus. »Hast du noch mal mit deinem Anwalt gesprochen?«

Weiter draußen schaukelten Schiffe mit brennenden Laternen, wie Glühwürmchen. Jansen glaubte für einen Moment, ein ihm nur zu gut bekanntes Motorboot entdeckt zu haben. Am Nachmittag hatte er dort zwei Stunden Lebenszeit verschwendet. Er ärgerte sich, aber nur kurz. Darauf war er gar nicht mehr angewiesen. Auf ihre Machtspiele. Und auf sie schon gar nicht. Dann schob sich die Panta Rhei vor den Schatten. Und die mit kaltblauen Lichtlinien umschlossene Reling des größten Ausflugsschiffs auf dem

»Moritz? Hörst du mich?«

»Der Anwalt … Sicher, ich ruf ihn an«, antwortete er. Woraufhin sich der Druck im Kiefer sogleich wieder aufbaute. »Aber erst, wenn wir wieder aus den Bergen zurück sind.«

Am Rand der Quaimauer saßen Menschen, unter Bäumen und auf Bänken. In Gruppen versammelt um portable Lautsprecher, aus denen Musik schallte. Viele verschiedene Stile und dennoch: alle gleich gemacht und kommerziell. Doch das störte Jansen nicht, heute nicht. Jemand sprang mit einem tiefen Schrei vom Steg, es platschte. Sie lagen auf dem Rücken im Gras. Neben ihnen standen vor Kälte beschlagene Plastikbecher mit Eistee. Wenn sich ihre Münder zu trocken anfühlten, rollten sie über den feuchten Tau zur Seite. Tranken in langen Zügen und genossen die Gänsehaut, die sich über den ganzen Körper ausbreitete: cutis anserina, eines der aufregendsten Beispiele für die schon in der embryonalen Entwicklung angelegte Verbindung des zentralen Nervensystems mit der Haut. Er hörte, wie Alina die schmelzenden Eiswürfel zwischen den Zähnen knackte. Der Bildschirm seines Telefons war noch immer schwarz.

Alles drehte sich, als Jansen kurz darauf aufstand. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, die er nicht mehr hatte schneiden lassen, seit sie zusammen waren. Dann klopf‌te er sein Jackett aus, wobei er als Allererstes nach der Speicherkarte tastete, die tief in der Innentasche verborgen war. Bereit für die Öffentlichkeit. Bereit für den Journalisten, den er kontaktieren würde, sobald sie aus den Bergen zurück wären. Bis dahin konnte er die Karte in Alinas Zimmer verstecken, da wäre sie sicher. Kurz darauf lösten sich die Umrisse einer Villa aus dem Schatten hoher Buchen. Mehrere Erker, eine Fassade aus behauenen Sandsteinquadern und turmartig aufragende Kamine verliehen dem Gebäude etwas Mysteriöses. Bei den aufziehenden Wolken erst recht. Baumwipfel strichen unruhig über die Szenerie. Fensterläden schlugen zu. Irgendwo klirrte Glas. Weiter hinten zuckte es, dort, wo sich über dem See die Alpen auf‌falteten und an schönen Abenden das Vrenelisgärtli glühte.

»Ich glaube, die schlafen schon alle.« Alina war, in die Picknickdecke gewickelt, dabei, das eiserne Eingangstor aufzuschließen – was ihr allerdings nicht auf Anhieb gelang. Sie presste einen Zeigefinger auf die Lippen. Kichernd betraten sie die imposante Halle, die sich zum Garten öffnete, von Zedern und Eiben verdunkelt. Drinnen schwebte noch die Hitze des Tages. Es roch nach Schnittblumen, die in hohen Vasen auf einem Tischchen am Eingang standen. Dahlien. Hortensien. Astern. Der Ballettsaal mit den

»Scotch?« Alina zündete einige Kerzen an. Jansen schlang von hinten seine Arme um ihre Taille. Biss in ihr Ohrläppchen, fühlte, wie erneut Begehren in ihm aufstieg. Sie löste sich sanft und ging zum Barwagen, der vor einer Wand voller Bilder stand. Petersburger Hängung, hatte sie ihm erklärt, als er zum ersten Mal hier war. Verschiedenste Rahmen dicht an dicht, rund und eckig, von winzig bis spiegelgroß. Es gab naturwissenschaftliche Skizzen von Tieren, ein Riesenalk war da, Schmetterlinge, der Schädel eines Nashorns. Dazwischen Schnappschüsse: Mutter, Vater, Tochter und Sohn – in wechselnder Konstellation und Chronologie. Denkmäler der Erinnerung, wie sie in allen Familienalben vorkommen, mit denen man sich der eigenen Existenz vergewissert. Doch am wichtigsten schien Alina ein Bild zu sein, das in der Mitte platziert war. Es

Eiswürfel klackerten, als Alina die Gläser mit dem dicken Boden auf den Überseekoffer stellte, der als Couchtisch diente. »Earthrise«, sagte sie, seinem Blick folgend. »Das mag pathetisch klingen. Aber das Bild soll mich jeden Morgen beim Aufstehen und jeden Abend beim Einschlafen daran erinnern, dass wir nur Gast auf einer verschwindend kleinen kosmischen Oase sind. Mitten in der Unendlichkeit.«

»Ich frage mich eher«, sagte Jansen und zog sie wieder zu sich, »warum wir uns nicht schon viel früher begegnet sind.«

Alina legte ihren nackten Schenkel auf seinen Schoß und erwiderte: »Weil ich dann noch ein halbes Baby gewesen wäre?«

Er stöhnte gespielt auf. Dann ließ er seine Hand über die Innenseite ihres Beines hinaufgleiten.

»Im Ernst …«, sagte Alina. »Nur hundert Jahre, bevor das Bild entstand, schrieb Jules Verne über drei Abenteurer, die sich mit Kanonen auf den Mond schießen ließen – und mit Fallschirmen zurück auf die Erde kamen. Pure Science-Fiction, damals.«

Jansen lehnte sich tiefer in das Sofa hinein, er genoss den Geschmack nach rauchigem Torf, der ihm die Kehle hinunterbrannte.

»Das ist etwa so«, fuhr Alina fort, »wie wenn wir uns

Er ahnte, worauf sie hinauswollte: »Oder dass unsere Spezies damit beginnt, sich nach eigenen Regeln weiterzuentwickeln. In seiner heutigen Fassung wäre der Homo sapiens nicht mehr als ein Zwischenstopp auf einer unaufhörlichen Reise zu einem vollendeten Dasein.«

»Sex hätte dann nur noch eine entspannende Funktion …«, sagte Alina. Sie stellte sein Glas weg und zog dann sein Hemd aus. In ihren weit geöffneten Augen sah er sich selbst. Seine Lippen streif‌ten die ihren zuerst nur, saugten sich aber bald fest. Wanderten über Achselhöhle und Bauchnabel, hinab zu den Fußsohlen. Jansen wurde unvermittelt klar, dass er, so wie er früher gewesen war, diese Art von Sexualität gar nie hätte praktizieren können. Doch nun passte alles auf eine geradezu vollkommene Weise zusammen. Alina spreizte die Beine, als er sie auf die Kissen bettete. Ohne ihren Blick zu verlieren, sank er auf den Teppich. Als er mit seiner Zunge ihre Klitoris suchte, begann sie, langsam ihr Becken zu bewegen. Er führte zwei Finger in sie ein, so wie sie es mochte, wobei sie seinen Rhythmus übernahm …

Als sie zum Orgasmus kam, durchflutete ihn eine Liebe und Lebendigkeit, die Körper und Seele auf‌lösten, ja vielleicht sogar die Zeit.