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Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert

herausgegeben von Ulrich Herbert

Hans Woller

Geschichte
ITALIENS
im 20. Jahrhundert

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Hans Woller liefert in diesem beeindruckenden Buch die erste wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung der Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert und macht dessen Gegenwart in ganz neuer Weise verständlich. Italien, als Nationalstaat wie Deutschland eine Spätgeburt, war um 1900 ein bitter armer Agrarstaat, den die Industrialisierung noch kaum berührt hatte. 100 Jahre später zählt das Land zu den führenden Industriestaaten mit einem Wohlstandsniveau, das in manchen Regionen weit über dem europäischen Mittel liegt. Der Weg in die Industriemoderne war steinig: Er führte über eine totalitäre Diktatur, die das Land an der Seite Hitlers in den Zweiten Weltkrieg verwickelte, über einen blutigen Bürger- und Klassenkrieg schließlich in eine stets prekäre Demokratie. Ihm lag ein spezifisches «Modell Italien» zugrunde, das durch staatliche Förderung von Schlüsselindustrien und große Staatsholdings geprägt war. Beobachter sprachen daher von der «größten realexistierenden Staatswirtschaft der westlichen Welt». Nach dem Fall der Berliner Mauer implodierte das alte System und hinterließ Raum für den Aufstieg von Silvio Berlusconi. Hans Woller zeichnet diese atemberaubende Entwicklung nach und holt Italien, das vielen so exotisch scheinende Land, in die europäische Normalität zurück.

Über den Autor

Hans Woller, geb. 1952, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Zeitgeschichte und Chefredakteur der «Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte».

 

 

 

 

 

Mit 3 Karten von Peter Palm, Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Vorwort

Einleitung

ERSTER TEIL
Das liberale Italien 1900 bis 1922

  1. Italien um 1900: Krise und Aufbruch

  2. Die Ära Giolitti

  3. Propheten und Vorboten des Umsturzes

  4. Flucht in die Expansion? Der Krieg in Libyen 1911/12 und seine verheerenden Folgen

  5. Italien im Ersten Weltkrieg

  6. Das zerrissene Land und der Aufstieg des Faschismus

ZWEITER TEIL
Das faschistische Italien 1922 bis 1945

  7. Durchsetzung und Konsolidierung der Diktatur

  8. Italien um 1929: Stagnation in Wirtschaft und Gesellschaft?

  9. Konsens und Repression

10. Imperiale Ambitionen: Italien als Störfaktor in Europa und Afrika

11. Krieg in Abessinien: Entgrenzte Gewalt und Annäherung an das Deutsche Reich

12. Die Radikalisierung des Regimes und die Rassengesetze von 1938

13. Von der «Achse» zum Krieg

14. Italien im Zweiten Weltkrieg

15. Zwischen Besatzung und Befreiung

16. Italien um 1945: Hypotheken und Chancen

DRITTER TEIL
Das demokratische Italien nach 1945

17. Neubeginn im Zeichen der Besatzungsmächte

18. Außen- und wirtschaftspolitische Weichenstellungen in der Ära De Gasperi

19. Das Wirtschaftswunder: Gewinner und Verlierer

20. Auf dem Weg zur «apertura a sinistra»

21. Katzenjammer und Aufbruchstimmung nach dem Wirtschaftswunder

22. Reform und Revolte im Schatten von Wirtschaftskrise und Terrorismus 1969 bis 1978

23. Italien um 1978: Ein europäisches Land mit seinen Besonderheiten

24. Boom und Konsum – auf Pump? Die Ära Craxi 1980 bis 1987

25. Zerfall und Erneuerung des Parteiensystems 1988 bis 1994

 

Epilog … mit Berlusconi

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abkürzungen

Personenregister

Karten

Vorwort

Europa ist unsere Gegenwart, aber unsere Geschichte bleibt im Nationalen verwurzelt. Das hat seinen guten Grund, denn persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Traditionen, politische Optionen, kulturelle Orientierung und Alltagsvertrautheit beziehen sich in allen europäischen Ländern, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, nach wie vor zuerst auf das Land, aus dem man kommt und in dem man lebt.

Aber offenkundig reicht der nationale Rahmen nicht aus, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, denn wichtige Entwicklungen erweisen sich schon beim zweiten Hinsehen nicht als national spezifische, sondern als gesamteuropäische Phänomene. Wie soll man regionenübergreifende historische Erscheinungen – vom Imperialismus bis zur Europäischen Union, von den großen Diktaturen bis zur Ausbreitung des europäischen Modells der sozialen Demokratie, von den Klassenkonflikten der 1920er bis zur Jugendrebellion der 1960er Jahre und von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bis zum Wirtschaftswunder der 1950er und zum Ölpreisschock der 1970er Jahre – in den Kategorien des Nationalstaats erklären können, wo es sich doch offenkundig eher um gemeinsame Grundprozesse und deren Varianten handelt?

Und doch dominiert in Europa nach wie vor eine Sichtweise, die den Nationalstaat als den vermeintlich natürlichen Aggregatzustand der historischen Entwicklung begreift und sich darum bemüht, nationale Differenzierungen und Sonderwege, Kontingenz und Divergenz als primäre, Konvergenz und Vereinheitlichungen hingegen eher als nachgeordnete Prozesse zu begreifen.

Europa im 20. Jahrhundert hingegen a priori als Einheit zu betrachten und seine Geschichte auch so zu erzählen, ist nicht weniger problematisch. Denn dies transponierte die Vision einer gemeinsamen europäischen Gesellschaft gewissermaßen nach rückwärts, als sei der Nationalstaat lediglich eine Verirrung der vergangenen 150 Jahre gegenüber einer ansonsten im Wesentlichen gemeineuropäischen Erfahrung gewesen. Das vernachlässigte nicht allein die national so extrem unterschiedlichen Entwicklungen, wenn man nur an Jahre wie 1917, 1933 oder 1989 denkt. Es negierte auch die daraus erwachsenen Erfahrungsdifferenzen, die sich nicht nur nach den Kategorien Klasse und Geschlecht, sondern im 20. Jahrhundert in ganz besonderer Weise nach Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit ordnen. Tatsächlich sind das 19. und das 20. Jahrhundert in Europa ohne die nationalstaatliche Perspektive nicht entzifferbar.

Um diesem Dilemma zu entkommen, versucht die Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert» einen anderen Weg: Die Geschichten der europäischen Staaten und Gesellschaften werden je für sich erzählt, aber zugleich im Kontext der europäischen Entwicklung und der globalen Verflechtungen. Um das zu verstärken, haben sich Herausgeber und Autoren auf eine gemeinsame Struktur geeinigt, die allen Bänden in stärkerer oder schwächerer Ausprägung zugrunde liegt: Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen werden in klassischer, diachroner Manier erzählt. An einigen, in allen Bänden etwa gleichen Zeitpunkten werden aber Querschnitte eingefügt, die es ermöglichen, Zustand und Zustände in der jeweiligen Gesellschaft synchron darzustellen und dadurch dem Vergleich mit anderen Ländern zu öffnen. Das betrifft die Zeiträume um 1900, Mitte der zwanziger Jahre, im Zweiten Weltkrieg, Mitte der sechziger Jahre und nach 1990. Abweichungen von diesem Raster ergeben sich aus spezifischen Besonderheiten in den einzelnen Ländern.

Auf diese Weise sollen im Konzert der Bände dieser Reihe Differenzen und Ähnlichkeiten, Konvergenzen und Alternativen erkennbar und die Nationalgeschichten aus ihrer Selbstbezogenheit gelöst werden, ohne die Eigendynamik und die spezifischen Traditionen der einzelnen Länder zu vernachlässigen. Bei dem Versuch, nationale Geschichte und europäische Perspektive zu verbinden, wird vielen Lesern das eine oder das andere zu kurz kommen, wie überhaupt das Unterfangen, eine Nationalgeschichte im 20. Jahrhundert in einem Band zu erzählen, einen gewissen Mut erfordert. Aber nur in dieser relativ gedrängten Form ist es möglich, diachrone Entwicklungen zu schildern und Linien durch das Jahrhundert zu zeichnen, die bei erheblich umfangreicheren Bänden angesichts der Vielzahl der Themen und Aspekte nicht erkennbar würden.

Wenn wir vom 20. Jahrhundert sprechen, so in einer spezifischen Weise. Es hat sich vielfach eingebürgert, den Ersten Weltkrieg als Wasserscheide zwischen den Jahrhunderten zu betrachten. Das hat Vorteile, weil dadurch die nachwirkenden Traditionen des «langen» 19. Jahrhunderts besser in Augenschein genommen werden können. Um die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, ist es aber nötig, die tiefgreifende Veränderungsdynamik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914 zu berücksichtigen, die jahrzehntelang nachgewirkt hat und in kürzester Zeit eine solche Wucht entfaltete, dass alle europäischen Gesellschaften davon ergriffen und gezwungen wurden, auf diese Herausforderungen zu reagieren. So wird, wer den Aufstieg der Weltanschauungsdiktaturen und die beiden Weltkriege, den Holocaust und die Dekolonialisierung darzustellen und zu erklären hat, vor den Ersten Weltkrieg zurückgehen und die beiden Jahrzehnte vorher betrachten müssen, um die Durchsetzung des modernen Industriekapitalismus, der immer mächtiger werdenden Staatsapparate und den Aufstieg der großen radikalen politischen Massenbewegungen zu verfolgen, die im Laufe des Jahrhunderts eine so zerstörerische Wirkung entfalteten. Daher wird in diesen Bänden die Geschichte des «langen 20. Jahrhunderts» erzählt, die von den 1890er Jahren bis etwa 2000 reicht – wobei der Ausgangspunkt klarer ist als das Ende.

Schließlich hat Autoren und Herausgeber die Frage bewegt, wie man die so verschiedenen beiden Hälften des Jahrhunderts miteinander auf eine Weise verbinden kann, dass die Zusammenhänge zwischen beiden erkennbar werden, ohne den tiefen Einschnitt von 1945 zu relativieren. Hier sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften unübersehbar. Aber zugleich lässt sich doch angesichts der vielfältigen politischen Entwürfe und radikalen Alternativen über Jahrzehnte hinweg das Bemühen der Zeitgenossen erkennen, gesellschaftliche Ordnungssysteme zu finden, die den Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft angemessen sind. Das hat zu monströsen Gebilden und schrecklichen Opfern geführt.

Aber man kann doch auch erkennen, dass auf viele Herausforderungen, die sich in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg so scharf herausgebildet hatten, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich Antworten gefunden wurden, die sich bewährten und vermehrt auf Zustimmung stießen. Das betraf sowohl die Ausprägung der politischen Ordnung im Innern wie zwischen den europäischen Staaten, das Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und sozialer Gerechtigkeit oder den Umgang mit der modernen Massenkultur. Dabei wurden die westeuropäischen Gesellschaften nach den 1960er Jahren einander immer ähnlicher, und zwar in Bezug auf das politische System, die soziale Ordnung, die kulturellen Wertorientierungen ebenso wie hinsichtlich der Wirtschaftsordnung und des Alltagslebens. Solche Tendenzen gab es in Ansätzen in den ostmitteleuropäischen Ländern auch schon während der kommunistischen Herrschaft, und nach 1990 begannen sie sich rasch durchzusetzen. Mit diesen Tendenzen der Konvergenz und Homogenisierung der gesellschaftlichen Ordnungen in Europa, deren Bedeutung in historischer Perspektive deutlicher zu erkennen ist als zeitgenössisch, wuchs aber vielfach auch das Bedürfnis nach Differenz und nach Orientierung an der nationalen Geschichte.

Zugleich aber wurde nach der «goldenen Ära» der 1950er und 1960er Jahre die Brüchigkeit des industriellen Fundaments dieser Gesellschaften sichtbar, und neue Herausforderungen kündigten sich an, die unsere Gegenwart und vermutlich in noch stärkerem Maße unsere Zukunft bestimmen: das Ende der traditionellen Massenfertigungsindustrien, die ökologischen Krisen, die Ausprägung und Folgen der weltweiten Massenmigration, die neuen weltweiten ideologischen Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges, die zunehmende Bedeutung supranationaler Zusammenschlüsse und die globale Vernetzung wirtschaftlichen Handelns.

Soweit man es von heute erkennen kann, werden die Jahre 2000 oder 2001 keine markanten historischen Zäsuren bilden. Aber es wird doch sichtbar, dass im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts etwas zu Ende ging, was 100 Jahre zuvor begonnen hatte, und etwas Neues einsetzte, das wir bislang weder definieren noch historisieren können.

Ulrich Herbert

Einleitung

«Unsere gesamte politische Geschichte weist einen Hang zum Parodistischen auf. Mussolini war eine Parodie des wahren totalitären Faschismus. Die Nachkriegsdemokratie mit ihrer Parteienherrschaft war eine Parodie der Demokratie, und jetzt erleben wir die Parodie einer Revolution. Die Opera buffa ist unsere Lieblingsgattung.»1 So wie der Starjournalist Indro Montanelli im April 1994 in einer Art Lebensresümee äußern sich viele Italiener über die neueste Geschichte ihres Landes, das in der Gunst des eigenen Volkes immer tiefer zu sinken scheint. Selbst zahlreiche Soziologen, Philosophen und Politologen, die von Berufs wegen eigentlich zur Nüchternheit verpflichtet wären, stoßen in dasselbe Horn und verlängern die Litanei der bissig-überzogenen Selbstkritik, die freilich nie ganz ernst genommen werden darf. Ihr haftet nämlich fast immer etwas Artifizielles, beinahe Spielerisches an, weshalb sie auch leicht ins Gegenteil umschlagen kann, wenn Unbefugte − zumal von außen – Kritikwürdiges an Italien entdecken.

Natürlich hat diese mitunter neurotische Selbstdarstellung auch in der italienischen Geschichtswissenschaft Anhänger gefunden. Viele Historiker neigen ebenfalls zu abfälligen Pauschalurteilen über die eigene, längst nicht hinreichend erforschte Geschichte, wobei diese Unsitte noch dadurch verschärft wird, dass bei der Urteilsbildung nicht selten parteipolitische Präferenzen den Ausschlag geben – selbst heute noch, wo der Rechts-Links-Gegensatz doch viel von seiner alten Virulenz verloren hat. Sie verfehlen damit die Realität ebenso krass wie manche ihrer ausländischen Kollegen, die Italien zu einem unschuldigen Arkadien verklären oder aber wie ein exotisches Schattenreich behandeln, das mit seinen Agenten, Geheimlogen und Mafiabossen nur den Ausnahmezustand kennt.

In diesem Buch hingegen wird der Versuch unternommen, die Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert sine ira et studio zu betrachten und ihr damit auch jene Komplexität und Ambivalenz zurückzugeben, die schon die Zeitgenossen in Atem hielt. Der Blick von außen mag dabei nicht unproblematisch sein. Italienische Gelehrte kennen im Umgang mit ihrer Sprache natürlich keine Rätsel und sie sind auch mit den Besonderheiten ihres Landes besser vertraut als Forscher anderer Nationalität, die freilich auch einen Standortvorteil haben, der nicht zu unterschätzen ist: Sie sind vor parteipolitischen Einseitigkeiten gefeit, können die gerade in Italien verbindlichen ungeschriebenen Gesetze akademischer Rücksichtnahmen ignorieren und sind – angesichts ihrer eigenen Erfahrungen – vielleicht auch eher in der Lage, eine europäische Vergleichsperspektive zu eröffnen, die es erlaubt, Anhaltspunkte für Normal- und Sonderwege Italiens im 20. Jahrhundert zu gewinnen und das ewige Lamento über italienische Anomalien und Devianzen zu beenden.

Der Anspruch ist also hoch gesteckt und nur dann wenigstens annähernd einzulösen, wenn es gelingt, ein Deutungsangebot zu unterbreiten, das den Leser in die Lage versetzt, die wesentlichen Triebkräfte historischer Prozesse zu erkennen und die roten Fäden zu identifizieren, die Italiens neuere Geschichte durchziehen. Der Autor kann hier auf Anregungen zurückgreifen, die Ulrich Herbert2 als Orientierungshilfe für die von ihm inspirierte Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert» angeboten hat. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Entfaltung der Industriegesellschaft, die nach 1890 überall in Europa zu beobachten war, überall tief greifende Umwälzungsprozesse auslöste und überall zu einer fast panischen Suche nach den richtigen Antworten auf den Modernisierungsstress in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft führte – mit häufig fatalen Ergebnissen, weil mit dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus zwei Regime die Bühne betraten, die als die radikalsten «Alternativen zum liberalkapitalistischen Weg in die Moderne» gelten können und nichts als Leid und Tod hinterließen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich in West-, Nord- und Südeuropa die zuvor fast generell verworfene «liberale Option» zu behaupten, während sie jenseits des Eisernen Vorhangs ihre große Stunde 1989/90 erlebte. Die drängendsten Probleme der Jahrhundertwende schienen damit gemeistert, West und Ost hatten eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen der Industriegesellschaft gefunden, die freilich zu diesem Zeitpunkt schon so viel von ihrer ursprünglichen Veränderungsdynamik verloren hatte, dass Herbert vom «Ende der Hochmoderne» und dem Beginn einer neuen Epoche spricht, die schon in statu nascendi eine Art soziologische Nottaufe als «Postmoderne» oder «Zweite Moderne» erhalten habe.

Italien folgte diesem beschwerlichen Weg in die Moderne und aus ihr heraus, musste dabei aber einige Hindernisse überwinden, die anderswo nicht bestanden, und wich deshalb mitunter so weit von der Hauptroute ab, dass man von einem Sonderfall oder «Modell Italien»3 sprechen kann: Italien war um 1900 noch ganz agrarisch geprägt, unternahm aber bereits damals vielerlei Anstrengungen, um den Makel der Rückständigkeit abzustreifen, der dem Land seit langem anhaftete. Den Schlüssel zum Erfolg erblickte man – hier wie anderswo – in einer vom Staat forcierten Industrialisierung, die auch rasch an Fahrt gewann, zugleich aber ein solches Maß an zentrifugalen Kräften entfesselte, dass der junge, noch ganz ungefestigte Staat schon vor dem Ersten Weltkrieg am Rande eines Bürgerkriegs zu stehen schien. Heftige innere Konflikte waren der Preis für eine im Kern erfolgreiche Industrie- und Infrastrukturpolitik, die im Krieg und in den ersten Nachkriegsjahren fortgesetzt wurde und die bestehenden Spannungen immer mehr verschärfte. In den bitteren Auseinandersetzungen der Jahre 1919 bis 1922 setzte sich schließlich der von konservativ-reaktionären Kräften unterstützte Faschismus durch, der zu totalitärer Radikalisierung tendierte und auch vor kriegerischer Expansion nicht zurückschreckte. Das Regime Mussolinis stürzte das Land in eine militärische und moralische Katastrophe, hinterließ ihm aber auch ein Wirtschaftsmodell, das sich in seinen Grundzügen bereits nach der Jahrhundertwende herausgebildet hatte und dann im Zuge der faschistischen Aufrüstung durch die Kontrolle und partielle Übernahme ganzer Branchen durch den Staat komplettiert worden war.

Italiens Entwicklungspfad stand bis dahin ganz im Zeichen von Protektion, Lenkung und so massiver staatlicher Beteiligung an der Wirtschaft, dass später nicht wenige Beobachter Ähnlichkeiten mit dem Ostblock entdeckten. Italien, meinte der Economist noch Anfang der neunziger Jahre, sei «in der Gegend vom Ural bis zum Atlantik das einzig übrig gebliebene ‹sozialistische› Land»,4 während andere Presseorgane von der «größten realexistierenden Staatswirtschaft der westlichen Welt» sprachen.5 Italiens eigentliche Sonderentwicklung begann allerdings erst nach 1945, als das Land zur Demokratie zurückkehrte, gleichzeitig aber an den Hauptmerkmalen seines Wirtschaftsmodells festhielt, nachdem erste Versuche, die großen, im Faschismus entstandenen Staatsholdings zu privatisieren und die Unternehmen in die raue Welt des freien Marktes auszuwildern, fehlgeschlagen waren. Oberste Priorität hatte auch jetzt wieder die Förderung der modernen Schlüsselindustrien, wobei der Staat erneut für die nötigen Ressourcen sorgte, die Löhne niedrig hielt und seine expandierenden Konzerne einspannte, um in strategisch wichtigen Branchen zum Erfolg zu kommen. Der Staat war in der Wirtschaft omnipräsent und mit seinem «Modell» schließlich so erfolgreich, dass Italien in den siebziger Jahren tatsächlich das schier Unmögliche – den Aufstieg in den Kreis der führenden Industrienationen – schaffte.

Höhepunkt, Krise und Verfall lagen freilich nahe beieinander. Der Niedergang des «Modells Italien» begann Anfang der siebziger Jahre. Die kommunistischen Gewerkschaften verspürten damals angesichts einer fast erreichten Vollbeschäftigung Aufwind und nutzten diese komfortable Situation, um sich und den Partito Comunista Italiano in der Konkurrenz mit dem bürgerlichen Lager besser zu positionieren und zweistellige Lohnerhöhungen durchzusetzen, die von der Wirtschaft nicht zu verkraften waren. Die Zeche zahlte einmal mehr der Staat, der auch jetzt wieder einspringen musste, wenn die eigenen oder größere private Unternehmen vor der Pleite standen. Die Folge war eine Eskalation der Verschuldung, was wiederum dazu führte, dass der Staat kaum noch Mittel hatte, um in Forschung und Entwicklung zu investieren, wie das andere Länder massiv taten. Der neuen Verhandlungsmacht der Gewerkschaften war es auch zu verdanken, dass der Staat die sozialen Sicherungssysteme ausbaute und sich zunehmend intensiver um die Verlierer von Modernisierung und Industrialisierung kümmerte, die zuvor ganz ignoriert oder mit Macht ruhig gestellt worden waren. Die Verlierer und vor allem die sozialen Notstandsgebiete des Südens durften deshalb jetzt mit beträchtlichen Transferleistungen rechnen, die allerdings den Haushalt ruinierten und die finanziellen Spielräume des Staates weiter reduzierten.

Hinzu kam, dass die einst florierenden Staatsbetriebe nun auch von innen her zerstört wurden. Vor allem die großen Holdings degenerierten zu Instrumenten egoistischer Interessenwahrung der Regierungsparteien, wobei sich hier vor allem die Democrazia Cristiana profilierte, die – Kompetenz hin oder her – noch den letzten Posten mit ihren Leuten besetzte. Was für die Christdemokraten schon lange galt, galt schließlich auch für die Sozialisten, für die Sozialdemokraten und die Republikaner: Sie alle hingen am Tropf der Staatsbetriebe, die sie gleichzeitig kontrollierten, und entzogen ihnen immer mehr Lebenssaft, den der Staat nicht mehr nachpumpen konnte, weil er selbst ja auch nur noch dahinsiechte.

Massive Lohnerhöhungen und eine bemerkenswerte Ausweitung des Wohlfahrtsstaates schädigten das «Modell Italien» ebenso wie die notorische Misswirtschaft und der permanente finanzielle Aderlass des öffentlichen Sektors zugunsten der schier unersättlichen Parteien. Das «Modell Italien» war deshalb schon in den achtziger Jahren ein Auslaufmodell, dessen Praxistauglichkeit danach weiter verfiel, weil weder die Regierung noch die Führung der Staatskonzerne erkannten, dass auch in Italien das Ende der klassischen Industriemoderne gekommen war und man zu neuen Ufern aufbrechen musste, wenn das Land seine Spitzenposition behaupten wollte. Sie verschliefen diese historische Zäsur, fanden nie die Kraft für eine Renovierung des Wohlfahrtsstaates und investierten viel zu lange in traditionelle Branchen wie Eisen und Stahl, die keine Zukunft mehr hatten. Der Erfolg, den Italien auf seinem besonderen Weg in die Moderne erzielte, hatte anscheinend blind dafür gemacht, dass sich in den achtziger Jahren neue Herausforderungen stellten, die mit den alten, längst stumpf gewordenen Instrumenten forcierter Industrialisierung nicht mehr zu bewältigen waren. Vor allem der öffentliche Sektor rutschte deshalb immer weiter in die roten Zahlen.

Um die private Wirtschaft stand es ebenfalls nicht allzu gut. Die wenigen, europa- und weltweit operierenden Großkonzerne hatten sich zwar den Gesetzen der neuen Märkte angepasst, vielfach allerdings nur halbherzig und mit geringem finanziellem Engagement, so dass sie Mühe hatten, in der Konkurrenz der Weltwirtschaft zu bestehen. Die alten, vom Staat verwöhnten Patriarchen waren träge geworden, sie schreckten vor mutigen Entscheidungen zurück und blieben bei ihren vertrauten Leisten, ohne zu erkennen, dass die Zukunft längst woanders lag – in der Hochtechnologie und im modernen Dienstleistungsgewerbe. Die vielen kleinen und mittleren, äußerst leistungsfähigen und lange auch im Exportgeschäft sehr aktiven Betriebe hatten andere, aber deshalb nicht geringere Sorgen. Der italienische Bonsai-Kapitalismus sah sich vor allem scharfer fernöstlicher Konkurrenz ausgesetzt, die italienische Produkte skrupellos imitierte und zu billigen Preisen auf die Märkte warf. Er geriet darüber ebenso in die Krise wie die staatlichen und privaten Großbetriebe, die in der globalisierten Welt ebenfalls vor schwer lösbaren Aufgaben standen.

Der Verfall des um 1900 entstandenen Wirtschaftsmodells ist der tiefere Grund für die Dauerkrise, die Italien seit dem Zusammenbruch des Parteiensystems Anfang der neunziger Jahre lähmt. Ein Nachfolgemodell ist nicht in Sicht – und auch nicht leicht zu finden: Dafür ist der Schuldenberg zu hoch, der technologische Rückstand zu markant, die Zahl der Global Players zu gering und – nicht zu vergessen – das politische System zu verklemmt und schwerfällig, als dass es zu einer ähnlichen Kraftanstrengung wie im liberalen Italien vor 1922 fähig wäre, als das Land seine Aufholjagd gestartet hat. Es versteht sich von selbst, dass die Konzentration auf die Erfolgs- und Verfallsgeschichte des «Modells Italien» Anlage und Machart des Buches nicht weniger bestimmt als die Umfangvision von Herausgeber und Verlag, die bei aller sonstigen bemerkenswerten Großzügigkeit gerade hier kein Pardon kannten und den Mut zum Verzicht zum System erhoben. Das Buch ist deshalb auch nicht als Gesamtdarstellung, sondern als problemorientierte Analyse mit essayistischen Elementen angelegt, die der Chronologie folgt, den Bereich der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte privilegiert und sich auf das entsprechende methodische Instrumentarium stützt. Niemand weiß besser als der Autor selbst, wie groß die Defizite und Lücken sind, die aus dem Konzentrations- und Sparzwang, mitunter aber auch aus dem Stand der Forschung resultieren, der teilweise sehr zu wünschen übrig lässt. Viele wichtige Themen konnten nur gestreift, andere mussten ganz übergangen werden. Das gilt nicht nur für Kunst und Kultur, sondern auch für Wissenschaft und Technik, Recht und Verwaltung, Alltag und Mentalität, ganz zu schweigen von den regionalen und lokalen Sonderentwicklungen, die gerade in Italien nicht hoch genug zu veranschlagen sind. Im Grunde besteht überall Ergänzungs-, Vertiefungs- und Differenzierungsbedarf; problemorientierte Langzeitstudien haben diesen Makel, der freilich durch einen entscheidenden Vorzug aufgewogen werden kann: durch ein originelles Deutungsangebot, das aufs Ganze zielt, hoffentlich mehr Zustimmung als Ablehnung findet, zumindest aber zur Diskussion anregt, auch wenn es dann verworfen wird.

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Weniges ist schöner, als nach Jahren intensiver Arbeit den Schlusspunkt zu setzen und die Dankesschulden abzutragen, die sich angehäuft haben. Mein erster Dank gilt dem Institut für Zeitgeschichte, dem ich seit mehr als dreißig Jahren angehöre; ohne die Freiräume, die mir gewährt wurden, und ohne die selbstlose kollegiale Hilfsbereitschaft, die sich auch diesmal wieder bewährt hat, hätte ich das Buch nicht schreiben können. Danken möchte ich vor allem meinem Freund Thomas Schlemmer, der als permanenter intellektueller Sparringspartner und beharrlich bohrender Lektor größeren Anteil an diesem Buch hat, als ihm bewusst sein dürfte. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem Hermann Graml, Klaus-Dietmar Henke, Aram Mattioli, Lenya Meislahn, Gian Enrico Rusconi und Dietmar Süss, die Teile des Manuskripts studiert und zentrale Thesen geprüft haben, sowie zwei erlesenen Nicht-Experten, die mich vor allzu großer Betriebsblindheit bewahren sollten und dies durch zahlreiche kritische Nachfragen vermutlich auch geschafft haben: dem Verleger Konrad Maria Färber und dem Wissenschaftstheoretiker Rainer Ostermann, der sich auch als Computerfachmann große Verdienste erworben hat. Mit Vergnügen danke ich schließlich Renate Bihl, Barbara Grimm, Saskia Hofmann, Carolin Laqua und Friederike Oursin, die bei Recherchen geholfen, das Manuskript auf Vordermann gebracht, Bücher besorgt und vor allem eine so heitere Atmosphäre der Alltagskooperation herbeigezaubert haben, dass eigentlich nicht ganz viel schief gehen konnte. Dass dazu auch der Beck Verlag beigetragen hat, muss angesichts der Tradition des Hauses nicht extra betont, darf am Rande aber doch erwähnt werden; vor allem Claudia Althaus, Sebastian Ullrich und Detlef Felken danke ich für die charmant-unmerkliche fürsorgliche Belagerung, die mir immer Ansporn gewesen ist.

München, am 20. September 2009

ERSTER TEIL

Das liberale Italien 1900 bis 1922

1. Italien um 1900: Krise und Aufbruch

«Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche, jeder, der Augen hat, kann es sehen.»1 Woher nahm Giovanni Giolitti, der von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg die politische Bühne des Königreichs beherrschte, diesen Optimismus? Begann in Italien tatsächlich ein neues Zeitalter, als er am 4. Februar 1901 vor das Parlament trat und den Blick in die Vergangenheit schweifen ließ, um daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen? Was meinte Giolitti, wenn er von Neuem sprach, und worin bestand das Alte, das zurückzusinken begann und bald als überwunden gelten konnte?

Das Königreich Italien war um die Jahrhundertwende ein von tiefen Gegensätzen durchzogenes und von schweren Verwerfungen gezeichnetes Land. In seiner damaligen Form bestand es erst seit 1870, als mit der Eroberung Roms die letzten Reste des Kirchenstaates von der Landkarte verschwanden und überall auf der Apenninen-Halbinsel die italienische Fahne aufgezogen wurde; lediglich das zur Habsburger-Monarchie gehörende Trentino wartete noch auf seine «Erlösung». Zwanzig Jahre zuvor war Italien – einem berühmten Diktum Metternichs zufolge – nur ein geografischer Begriff gewesen, den aber eine Idee beseelte, die sich aus einer «glanzvollen literarischen Tradition» und den «Reminiszenzen der Antike» speiste. Ein eigener Nationalstaat lag allenfalls im Denk- und Sehnsuchtshorizont «einer schmalen bürgerlich-aristokratischen Elite»,2 die in sich auch noch gespalten war – in Nationalliberale, die in puncto Reformen nichts überstürzen und im Übrigen an der Monarchie festhalten wollten, in Nationaldemokraten, die modern und republikanisch dachten, und in die revolutionären Demokraten um Giuseppe Mazzini, der zu allem Überfluss auch noch einen unheilvollen Ton in die Bewegung brachte, als er der Nation noch im pränatalen Zustand eine Weltmission aufgab, der sie nicht gewachsen war.

Die große Mehrheit des Volkes hingegen schien sich – zähneknirschend oder resigniert – mit der zerklüfteten Realität abzufinden: Oberitalien unterstand den Habsburgern, die ihre Herrschaft teils direkt – so in der Lombardei und in Venetien –, teils indirekt ausübten wie in der Toskana, in Parma und Modena, wo sie fürstliche Satellitenregime errichtet hatten. In Mittelitalien von Ferrara bis südlich von Rom lag der von den Franzosen stabilisierte konservative Kirchenstaat des Papstes, und in Süditalien und auf Sizilien herrschten die Bourbonen, die einen italienischen Nationalstaat ebenso ablehnten wie die Habsburger und anfangs auch die Franzosen. Als letzte Hoffnung auf ein Risorgimento, auf eine Auferstehung Italiens, blieb den Nationaldemokraten, den Nationalliberalen und der langsam wachsenden Nationalbewegung so nur das Königreich Piemont-Sardinien mit seiner Hauptstadt Turin, das sich dem Einfluss fremder Mächte zu entziehen vermocht hatte und auch nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 sein liberales Gepräge behielt, aber militärisch nie stark genug war, um das Heft in Italien an sich reißen zu können.

Das Haus Savoyen, das sich als Vorkämpfer der Einheit verstand, brauchte also Bündnispartner, und es fand sie mit Glück und diplomatischem Geschick in den europäischen Neuordnungskriegen zunächst in Frankreich, das 1859 bei der partiellen Vertreibung der Habsburger half, und dann in Preußen, das mit seinen Kriegen gegen Österreich (1866) und Frankreich (1870) den beiden fremden Schutz- und Besatzungsmächten in Italien weitgehend den Boden entzog, während nationalrevolutionäre Kräfte um Giuseppe Garibaldi schon 1860 das morsche Regime der Bourbonen überrannt hatten. 1861 entstand so durch Krieg und Revolution das Königreich Italien als eine «Art Großpiemont»,3 das später um Rom und den restlichen Kirchenstaat erweitert wurde – zur Freude der einen, die seit langem von einem Nationalstaat geträumt hatten, zum Leidwesen der anderen, die es nicht über sich brachten, ihre alten Loyalitäten gleichsam über Nacht zu vergessen und neue politische Bindungen zum nun regierenden Herrscherhaus der Savoyer zu entwickeln,4 und im Zeichen verdrossener Gleichgültigkeit der großen proletarischen und ländlich-agrarischen Schichten, die aus Erfahrung klug geworden waren und auch von diesem Staat nichts Gutes erwarteten.

Die Legitimationsbasis des Staates war deshalb schwach, ja bis zur Jahrhundertwende geradezu prekär. Die aristokratisch-bürgerliche Führungsschicht aus dem Norden hielt zwar an dem alten, noch aus Turin stammenden parlamentarischen System mit seinen rechtsstaatlichen Grundsicherungen fest, unternahm darüber hinaus aber – aus Angst, das zarte staatliche Geschöpf nur ja nicht in falsche Hände geraten zu lassen – kaum größere Anstrengungen, um insbesondere die Menschen jenseits von Piemont und Sardinien für das neue Königreich zu interessieren. Garibaldis rasch anschwellende Bewegung, die immerhin den ganzen Süden für den Nationalstaat gewonnen hatte, wurde von den furchtsamen Etatisten aus Piemont ebenso marginalisiert wie die traditionsreichen Städte, die entstehende Arbeiterbewegung und die als «Briganten» bekannt gewordenen Sozialrebellen im Süden, die im Grunde die kriminelle Spitze eines Millionenheeres verzweifelter Hungerleider ohne Perspektive bildeten. Raschen Anschluss an die neuen Verhältnisse fanden eigentlich nur die Latifundienbesitzer des Mezzogiorno, die den Eliten aus dem Norden ihre Unterstützung anboten und dafür im Gegenzug das Versprechen erhielten, den Status quo im archaischen Süden nicht anzutasten. Das nach 1861 geltende Wahlrecht, das wie überall in Europa nur betuchteren Männern eine Stimme gab, spiegelte diesen Herrschaftskompromiss auf Kosten der Basis ziemlich genau wider. Anfangs waren nur zwei Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt, die überwältigende Mehrheit hingegen sah sich von jeder Form der politischen Partizipation ausgeschlossen. In den folgenden Jahren kam es zwar zu einer Ausweitung des Wahlrechts, aber noch um 1900 durften nicht einmal zehn Prozent der rund 32 Millionen Italiener wählen; etwa zwei Drittel machten von diesem Recht Gebrauch.5

Die Katholiken mussten vom Staat gar nicht erst ausgeschlossen werden; das besorgten sie schon selbst. Der Nationalstaat war ja gegen den jetzt nur noch im Vatikan herrschenden Papst und die katholische Kirche durchgesetzt worden, worauf der Heilige Stuhl mit einem für alle Katholiken geltenden Verbot (Non expedit) jeglicher politischer Mitwirkung am italienischen Staat reagierte. Oscar Wilde fing diese Konflikte auf seine ironisch-dramatisierende Weise ein, als er am 21. April 1900 einem Freund von seinen Erlebnissen in Rom berichtete: «Gestern passierte etwas sehr Peinliches. […] ich saß vor dem Cafe Nazionale […] als der König vorüberfuhr. Ich erhob mich sofort, verbeugte mich tief mit gezogenem Hut – zur Verwunderung einiger italienischer Offiziere am Nebentisch. Erst als der König vorbei war, fiel mir ein, dass ich ja Papista und Nerissimo bin! Ich war tief bestürzt: hoffentlich sickerte nichts davon zum Vatikan durch.»6

Die dezidierte Frontstellung zwischen dem großen katholischen und dem viel kleineren, in Staat und Gesellschaft aber dominanten antiklerikalen Lager behinderte nicht nur den gesellschaftlichen Brückenschlag, sondern begünstigte hier wie dort die radikalen Kräfte, was in einem Punkt überaus folgenreich war: Der Katholizismus versöhnte sich nur mühsam mit dem laizistischen Staat und tat sich schon deshalb schwerer als anderswo, die Prinzipien von Demokratie und Liberalismus anzuerkennen, weil das Königreich Italien sich ihnen verschrieben hatte. Es blieb ihm so auch versagt, die zentrale Rolle bei der gesellschaftlichen Integration des jungen Nationalstaates zu übernehmen, die ihm von seiner Stärke her eigentlich zugekommen wäre.

Der ungefestigte Staat war schließlich auch noch durch eine unsichtbare wirtschaftliche Demarkationslinie geteilt, die südlich von Rom das Land durchschnitt. Nördlich davon waren schon in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erste Ansätze einer Industrialisierung zu bemerken. Entscheidendes Gewicht und beschleunigende Wirkung hatte in diesem Prozess das Eingreifen des Staates,7 der nicht nur einzelne Branchen wie die Schwerindustrie, den Schiffbau und die Elektroindustrie kräftig subventionierte, sondern zugleich Schutzzölle zur Abschirmung der einheimischen Industrie erhob, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Zwischen 1881 und 1888 verzeichnete die Industrie jährliche Wachstumsraten von vier bis fünf Prozent.8 Berühmte Industriemagnaten wie Giovanni Pirelli, Vincenzo Stefano Breda oder Erasmo Piaggio legten damals die Fundamente ihrer Imperien, die aus der Wirtschaftsgeschichte Italiens nicht wegzudenken sind.

Der agrarische Süden dagegen hatte Mühe, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Manche Gegenden verwelkten sogar in ratloser, von fürstlicher Prachtentfaltung kaum mehr verhüllter Stagnation, die Luigi Pirandello in seinem Meisterwerk «Die Alten und die Jungen» und Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem Welterfolg «Der Leopard» eindringlich beschrieben haben. Schuld an diesem Niedergang hatten die Agrarkrise in Europa, wo das eigene Getreide der billigen Konkurrenz aus Übersee nicht gewachsen war, die protektionistische Zollpolitik der italienischen Regierung, die eindeutig die Industrie und die modernere Landwirtschaft im Norden begünstigte, und schließlich die Trägheit der Großgrundbesitzer, die sich auf ihren Latifundien und Lorbeeren ausruhten und zu wenig in ihre Betriebe investierten, so dass die anachronistische «extensive Getreideproduktion des Südens»9 schließlich zusammenbrach – und sich nie mehr erholte.

Angesichts dieser Ausgangslage war es kein Wunder, dass Italiens Außenpolitik zunächst ganz im Zeichen lauernder Zurückhaltung stand. Man wollte niemanden reizen und vor allem die katholischen Großmächte nicht gegen sich aufbringen, die Papst Leo XIII. immer wieder zu einem Kreuzzug gegen Italien aufstachelte, der ihn aus der «Gefangenschaft» im Vatikan befreien und in seine alten weltlichen Rechte einsetzen sollte. Der Dreibund, den Italien 1882 mit Österreich und dem Deutschen Reich schloss, enthob Italien dieser Sorgen. Zugleich schuf er die Voraussetzungen für eine aktivere Außenpolitik, die sich – weil die «Erlösung» der zur Habsburger-Monarchie gehörenden italienischen Gebiete seit dem Bündnis mit Wien und Berlin ebenso illusorisch war wie ein kolonialer Raubzug an der östlichen Adriaküste – auf das Horn von Afrika bezog, das die europäischen Kolonialmächte noch nicht ganz unter sich aufgeteilt hatten. Erste Erfolge des italienischen Imperialismus wie die Landnahme in Ostafrika und die Errichtung der Kolonie Eritrea 1890 wurden aber von der vernichtenden Niederlage überschattet, die der äthiopische Kaiser Menelik den italienischen Streitkräften 1896 beibrachte.10

Das Trauma von Adua brannte sich tief in das Gedächtnis der Nation ein, vermochte aber die nationalen Leidenschaften und die damit verbundenen territorialen Ambitionen nicht zu bremsen: Die ruhmreiche Vergangenheit des römischen Weltreiches und das missionarische Erbe Giuseppe Mazzinis forderten zum Griff nach mehr heraus. Außerdem spielten sozioökonomische Erwägungen keine geringe Rolle; man wollte in Afrika ja ein Auffangbecken für landhungrige Siedler aus Süditalien schaffen, die in ihrer Heimat keine Perspektive hatten. Und schließlich reizte auch das Vorbild Frankreichs und Großbritanniens zur Nachahmung. Italien fühlte sich, trotz seiner inneren Schwäche, zu Höherem berufen und wollte auf Dauer keinesfalls hinter den anderen europäischen Kolonialmächten zurückstehen, die ihren Platz an der Sonne scheinbar längst gefunden hatten.

Wenn Giolitti am 4. Februar 1901 trotz dieser Hypotheken und tiefen Risse in der Gesellschaft vom Anbruch einer neuen Epoche sprechen konnte, so lag das vor allem an der Industrialisierung, die in Italien erst kurz zuvor richtig in Fahrt gekommen war und nun immer größere Dynamik entfaltete,11 obwohl das Land kaum über Bodenschätze verfügte und deshalb vor allem Kohle und Eisenerz für teures Geld auf dem Weltmarkt kaufen musste.12 Das Herz der «industriellen Revolution» schlug im Nordosten, in der Lombardei, in Ligurien und im Piemont, wo sich die Industrie schon in den Jahrzehnten zuvor einen prominenten Platz im Wirtschaftsleben erobert hatte. Möglich wurde diese positive Entwicklung kurz vor der Jahrhundertwende durch einen beachtlichen Aufschwung der Weltwirtschaft, die endlich wieder angesprungen war. Darüber hinaus spielten aber auch endogene Faktoren wie die gezielte staatliche Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle. Der Regierung in Rom stand klar vor Augen, dass Italien wirtschaftlich nur dann auf die Beine kam und den Abstand zu den leistungsstärkeren Nachbarn im Norden und Westen verkürzen konnte, wenn sie mehr tat, als günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, wenn sie – mit anderen Worten – die Dinge selbst in die Hand nahm, wie das im alten Piemont schon ansatzweise praktiziert worden war, jetzt aber auf breiter Front geschehen sollte. Solche Absichten standen letztlich Pate für den spezifisch italienischen Weg in die Industriemoderne, für das «Modell Italien», das in seinen Grundlinien fast ein Jahrhundert unverändert blieb und sich durch dreierlei auszeichnete: durch eine dezidierte, vom Staat gelenkte Ressourcenallokation, die insbesondere den modernen Branchen zugute kam, durch eine vom Staat garantierte Politik niedriger Löhne, die den Export ankurbeln sollte und im Ernstfall auch mit brachialen Mitteln durchgesetzt wurde, und durch den Auf- und systematischen Ausbau staatlicher Großbetriebe, die – in Kooperation mit den wichtigsten staatlichen Banken – schließlich ganze Branchen dominierten.

Zwischen 1896 und 1908 wuchs die Industrieproduktion um durchschnittlich 6,7 Prozent, wobei die chemische Industrie mit 13,7 Prozent die größten Zuwachsraten erzielte, dicht gefolgt von der Metall- und Maschinenbauindustrie mit über 12 Prozent.13 Als Folge davon erhöhten sich die Zahl der Industriebeschäftigten von 1,3 Millionen (1903) auf 2,3 Millionen (1911)14 und der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt von 15 (1898) auf 21 Prozent (1909).15 Italien rangierte damit immer noch weit hinter Großbritannien, Frankreich und Deutschland, wo die entsprechenden Werte zum Teil deutlich über 35 Prozent lagen.16 Ein Anfang war aber gemacht, ein vielversprechender sogar.

Der Veränderungsdruck, der von der Industrialisierung ausging, erfasste alle Facetten der Gesellschaft und war im ehemaligen Kirchenstaat und im alten Reich der Bourbonen besonders spürbar, weil die Zeit dort ja künstlich angehalten worden war und jetzt mit Siebenmeilenstiefeln dahinzueilen schien. Nichts blieb dort und anderswo so, wie es seit einer Ewigkeit gewesen war. Die Industrialisierung schlug binnen kurzem alles in ihren Bann und erzwang vor allem in einem bestimmten Segment der Gesellschaft enorme Anpassungsleistungen: bei den bürgerlichen Mittelschichten, die sich immer weiter auffächerten und aufgrund ihrer Dynamik, ihrer finanziellen Möglichkeiten und ihrer Ausbildung besonders gute Aufstiegschancen hatten, im Taumel des ständigen Wandels aber auch leicht den Kürzeren ziehen konnten und deshalb immer um Sozialprestige und materielle Sicherheit fürchteten. Kein Wunder also, dass man hier unentwegt Risiken kalkulierte und nach Antworten auf die Zumutungen und Herausforderungen der neuen Zeit suchte. Dabei gab es nicht wenige, die vom Abbruch der alten Welt profitierten und sich am Tempo der permanenten Umwälzung berauschten – oder es zumindest beherzt nutzten, um selbst voranzukommen und die Zukunft zu gewinnen, die ihnen durchaus rosig erschien. Genauso viele verloren aber in der Zeitmaschine der Beschleunigung jegliche Orientierung und sehnten sich zur Nestwärme der verklärten Vergangenheit zurück. Es war eine verrückte Zeit, die Jahrhundertwende, eine Zeit des Aufbruchs und der Resignation, in der es überall brodelte und gärte – und niemand konnte sagen, was sich in den Laboratorien der Moderne zusammenbraute.

Ungewisse Klärungsversuche dieser Art gab es auch in den Künsten, in der Architektur ebenso wie in der Malerei und in der Literatur, wo viele traditionelle Ausdrucksformen auf den Prüfstand gestellt, verworfen und durch neue wie den Futurismus ersetzt wurden, deren Verfallszeit oft sehr begrenzt war. Leichter fassbar als solche Metamorphosen sind die Neuerungen im Bildungswesen, das nach der Staatsgründung stark vernachlässigt geblieben war, nun aber den neuen Bedürfnissen von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft angepasst wurde. Zwischen 1881 und 1915 erhöhte sich die Zahl der Volksschüler von etwa 2 auf 3,7 Millionen, im gleichen Zeitraum stieg die Zahl derjenigen, die eine weiterführende Schule besuchten, von 35.000 auf 305.000.17 An den Universitäten blieb quantitativ fast alles beim Alten, dafür änderte sich aber das kulturelle Profil der Studenten grundlegend. Hauptkennzeichen und Indiz für «die sozio-ökonomischen Transformationsprozesse, denen das Land unterworfen war», war die Zunahme der Studenten in den Fakultäten für Ingenieurswesen; deren Zahl hatte um die Jahrhundertwende noch bei 2600 gelegen, zehn Jahre später belief sie sich auf fast 5000,18 so dass mit Recht von der allmählichen Durchsetzung einer «wissenschaftlich-technischen Kultur» gegen das bis dahin vorherrschende Ideal klassisch-humanistischer Bildung gesprochen worden ist.19

Diese Bildungsoffensive führte auch zu einer drastischen Reduzierung der Zahl der Analphabeten. 1901 lag die Quote der über Sechsjährigen, die weder lesen noch schreiben konnten, bei 48,7 Prozent, 1911 nur noch bei 37,9 Prozent. Selbst in den strukturschwächsten Regionen waren beträchtliche Fortschritte zu verzeichnen – in Kalabrien ein Rückgang der Analphabeten von 78,7 auf 69,6 Prozent, in der Basilicata von 75,4 auf 65,3 Prozent und auf Sizilien von 70,9 auf 58 Prozent. Nie zuvor in der Geschichte Italiens war binnen so kurzer Zeit so viel erreicht worden, nie zuvor waren aber auch so große Erwartungen geweckt worden, dass Wissen und Bildung Macht bedeuteten und die Aussicht auf ein besseres Leben eröffneten, das dann aber oft und oft lange auf sich warten ließ.20

In den großen Städten des Nordens waren die Veränderungen, die aus der nachholenden Industrialisierung und partiellen Modernisierung des Landes resultierten, mit Händen zu greifen. Mailand etwa verzeichnete zwischen 1881 und 1911 ein Bevölkerungswachstum von 87,7 Prozent, allein zwischen 1900 und 1914 stieg die Zahl der Einwohner von 400.000 auf 650.000. In Turin lebten 1914 415.000 Menschen, über 100.000 mehr als um die Jahrhundertwende.21 Nur Rom, seit 1870 die Hauptstadt des Königreichs, war noch schneller gewachsen, zwischen 1881 und 1911 um fast 90 Prozent, so dass sich dort jetzt über 550.000 Menschen drängten, die vor allem in der öffentlichen Verwaltung Lohn und Brot fanden. «Urbanisierung ohne Industrialisierung» hat man diesen Prozess denn auch genannt.22

Viele Neubürger Mailands und Turins stammten aus der ländlichen Umgebung und dem Süden, wo die Verhältnisse immer trostloser wurden. Was sie in den nördlichen Metropolen antrafen, entsprach zwar nicht annähernd dem, was sie sich erträumt hatten. Sie hatten aber ein besseres Dach über dem Kopf, und sie konnten, anders als früher, mit einem regelmäßigen Einkommen rechnen, das für die Knochenarbeit in den neuen Industrie- und alten Handwerksbetrieben wenigstens partiell entschädigte. Große Sprünge waren damit nicht zu machen, zumal nicht wenige Arbeiter aus dem Süden einen Teil des Lohnes ihren daheimgebliebenen Familien schickten. Man brachte sich aber durch und partizipierte sogar ein bisschen am Glanz der expandierenden Großstädte, in denen rasch ein neuer Lebensstil Einzug zu halten begann – mit Straßenbahnen und Autos, Kinos und großen Zeitungen und mit neuen Formen der Freizeitgestaltung, von denen bald der Sport besondere Bedeutung erlangte. Selbst die Verhältnisse zwischen Mann und Frau und in den Familien, die auf ewig zementiert schienen, gewannen hier eine neue Qualität.23

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