Klaus Bergdolt
DIE PEST
Geschichte des Schwarzen Todes
C.H.Beck
Die Pest war über Jahrhunderte eine der schlimmsten Seuchen der Menschheit. Die großen Pandemien dieser Krankheit haben den Lauf der Geschichte beeinflusst. Klaus Bergdolt stellt ihren Siegeszug mit den gravierenden sozialen, politischen und mentalitätsgeschichtlichen Folgen dar. Erst spät wurde der Erreger entdeckt, doch auch heute ist die Krankheit noch nicht ganz besiegt.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Bergdolt ist emeritierter Professor für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln. Bei C.H.Beck erschienen von ihm: «Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens» (1999), «Das Gewissen der Medizin» (2004) und «Der Schwarze Tod. Die große Pest und das Ende des Mittelalters» (insges. 7 Auflagen).
Vorbemerkung zur Neuauflage des Buches 2021
Vorwort
Pest und Pestforschung
Seuchen im Altertum
Ärzte, Regimina und das Problem der Autoritäten
Die Pest des Justinian
Die Katastrophe von 1348
Spätzeitgedanken
Religiöses und existenzielles Erleben
Geißlerzüge und Judenverfolgungen
Verharmlosungen
Venedig als Exempel
Neapel, Mailand, London und andere Städte
Pest und bildende Kunst
Pest und Literatur
Die Lösung des Rätsels
«Ansteckung» – die Verkörperlichung der Angst
Literatur
Namenregister
Maria Bergdolt, geb. Stahl
zur Erinnerung
Das 2006 verfasste Vorwort zum vorliegenden Buch thematisiert mit durchaus warnendem Unterton – schon damals sprachen Virologen und Bakteriologen von einer drohenden Pandemie! – die seit dem Mittelalter zu beobachtende «düstere Wiederkehr» von Seuchen in Europa und im Mittelmeerraum. Die Pest, jene alte «Geißel der Menschheit» galt den damaligen Leserinnen und Lesern zwar als anrührendes, zeitlich aber weit entferntes Ereignis der Vergangenheit. Heute, im April 2021, lesen wir die «Geschichte des Schwarzen Todes» mit anderen Augen. Auf erschreckende Weise wird klar, wie das aktuelle Verhalten der westlichen Gesellschaften angesichts der Gefahr für Leib und Leben, ungeachtet aller «Brüche und Diskontinuitäten», historische Verhaltensmuster widerspiegelt. Wir kennen zwar den Erreger, was ganz andere Bewältigungskonzepte nahelegt als etwa 1348, doch finden die Verharmlosungsstrategien mancher Regierungen, dubiose Verschwörungstheorien, gewisse Tendenzen zu kollektiver Resignation und Depression, Prioritätskonflikte zwischen Wissenschaft und Politik sowie bürokratische Exzesse, vor allem aber die unterschiedlichen Reaktionen innerhalb der Gesellschaft – von strengster Selbstdisziplin bis hin zur demonstrativen Missachtung von Vorsichtsmaßnahmen – ihre Vorbilder in Epidemien der Vergangenheit. Das mag überraschen. Somit lehrt uns nicht zuletzt die Seuchengeschichte, welche sozialen und politischen Folgen infolge der Pandemie drohen. Sie verdient deshalb mehr Aufmerksamkeit.
Die Pest stellt einen der großen europäischen Erinnerungsorte dar. Früh entstand eine Art Mythos, der von der Fama des Seuchenalltags, aber auch von dessen Metaphorik geprägt wurde, die Literaten wie Albert Camus oder Andrzej Szczypiorski begeisterte. Dass der Schwarze Tod nach den letzten großen Epidemien in Marseille (1720) und Moskau (1750) nicht als besiegte Seuche belächelt wurde, hing mit der bedrohlich erscheinenden Tatsache zusammen, dass er außerhalb Europas, etwa in China und Indien, noch im 19. Jahrhundert Millionen von Opfern forderte. Selbst auf Korfu (1812), in Konstantinopel (1825, 1837), auf der Peloponnes (1827/28) und in Hamburg (1812/13) erlagen nach 1800 noch Hunderte der Pest, von «nahen» außereuropäischen Städten wie Kairo (1835) oder Alexandria (1834/5) ganz zu schweigen. Deprimierende, meist aus dem 14. Jahrhundert stammende Assoziationen blieben so lebendig. Wie seit Jahrhunderten verband man mit der Pest Leiden, Verzweiflung, ein einsames und qualvolles Sterben (das gleichwohl zum Massenphänomen wurde), die Auflösung gesellschaftlicher Bindungen, den Verlust religiöser oder weltanschaulicher Sicherheit, utilitaristisch begründete Freiheitseinschränkungen sowie einen mentalen Ausnahmezustand. Beunruhigend blieb auch die Tatsache, dass gegen die Pest nach wie vor keine effektive Therapie bekannt war.
Dennoch konnte man gegen 1900 den Eindruck gewinnen, dass die alte «Geißel der Menschheit» zumindest in Mittel- und Südeuropa durch «neue» Seuchen wie die Cholera oder die Tuberkulose abgelöst worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt sie vorübergehend sogar – im Schlepptau des populären Irrtums, die Bakteriologie hätte die Seuche endgültig besiegt – als anrührendes Thema der Medizin- und Sozialgeschichte. Erst in den Neunzigerjahren gewann die Beschäftigung mit dem historischen Seuchenalltag eine neue, unerwartete Aktualität. Fachzeitschriften und Tageszeitungen malen seither die «Rückkehr der Seuchen» (Schadewaldt) an die Wand. Bakteriologen und Virologen äußern sich zunehmend pessimistisch und warnen vor globalen Epidemien. Immer mehr potenzielle Erreger widerstehen – Folge einer unkontrollierten Applikation – bewährten Antibiotika bzw. Virostatika. Zudem wird seit Jahren eine Grippeepidemie erwartet, die jener von 1920 vergleichbar sein soll, als Millionen von Europäern – mehr als im gesamten ersten Weltkrieg! – zu Tode kamen. Berichte über SARS und die «Vogelgrippe», deren Erreger dem Virus der Hongkong-Grippe verwandt ist, die – im Westen verdrängt und fast vergessen – allein seit 1968 wahrscheinlich Millionen von Opfern forderte, mahnen auch in Regionen zur Vorsicht, wo Massenseuchen längst besiegt schienen. Die erstaunlich lebendige, seit Jahrhunderten tradierte Fama der Pest genügt, um Horrorszenarien an die Wand zu malen. In verblüffendem Einklang mit der älteren Seuchengeschichte wird von Fachleuten und Krisenstäben erneut der Prophylaxe Vorrang eingeräumt. Gegen die zu Anpassung und Mutation neigenden Virusstämme, welche verschiedenste Arten der Influenza hervorrufen können, scheint es jedenfalls kaum effektive Mittel zu geben. Dass Seuchen «aus dem Osten» drohen, entspricht in Europa ebenfalls der historischen Erfahrung. Erneut geraten auch, wie schon 1348, der Handel und internationale Verkehr ins Zwielicht. Manche Hiobsbotschaft erinnert an das Spätmittelalter. Nachrichtensendungen und Schlagzeilen berichten so über Vögel, die in Asien «vom Himmel fallen», oder über Umwelt- und Naturkatastrophen, die man damals als «unheilvolle Zeichen» interpretiert hätte. Es zeigt sich, dass die moderne Seuchenkommunikation – allen Brüchen und Diskontinuitäten zum Trotz – eine lange Vorgeschichte hat. Die Ängste mögen übertrieben sein – der Blick zurück mahnt zur Wachsamkeit. Zivilisationsbrüche im Sinn von Norbert Elias begleiteten unberechenbare, tödliche Massenepidemien fast regelmäßig. Ob das dem westlichen Menschen seit dem 19. Jahrhundert anerzogene, auf Vernunft- und Forschungsglauben bauende Sicherheitsgefühl (Lepenies) einer der Pest von 1348 vergleichbaren Katastrophe standhalten würde, ist zu bezweifeln. Seuchen, welche der «Schulmedizin» ihre Grenzen zeigten, riefen fast regelmäßig auch exotische und alternativ-esoterische Maßnahmen auf den Plan, die keinesfalls erfolgreicher waren, doch die Brüchigkeit «rationalerer» Theorien aufzeigten. Dass Vernunft und Logik zu Zeiten existenzieller Bedrohung in Gefühlen und Emotionen gewichtige Konkurrenten bekommen, ist, wie gerade die Pestgeschichte zeigt, ein urmenschliches Phänomen. Nichts spricht dafür, dass sich dies künftig ändern würde.
Die historische Seuchenforschung ermöglicht vor allem ein ungeschminktes Bild vom menschlichen Umgang mit Krisen. Hier liegt, fern jeder Verherrlichung der Geschichte als magistra vitae, eine ihrer Bedeutungen für die Gegenwart. Sie impliziert die Frage, ob unsere Gesellschaft in vergleichbaren Situationen weniger ängstlich und grausam reagieren würde als jene des Spätmittelalters oder der Frühen Neuzeit. Zudem macht sie deutlich, dass das Zusammenleben von Mensch und Tier, ungeachtet einer uralten Tradition, beachtliche Gefahren birgt. Sie stellt ferner das Konzept der durch den Sozialstaat «organisierten Sicherheit» infrage und zeigt, wie – einer ökonomisch profitablen Globalisierung und moralisch gebotenen Multikulturalität zum Trotz – profunde Existenzängste und vielschichtige Verunsicherungen zum Fremdenhass und der Verdächtigung alles Andersartigen führen können, das sich, so die angstbesetzte Unterstellung, den üblichen Kontrollen entzieht. Sie ruft ins Gedächtnis zurück, wie Menschen zu Wölfen wurden, um das Unbekannte und Bedrohliche abzuwehren. Erst aus der Seuchengeschichte wird auch die Tragweite der biologischen Wortwahl gewisser Sozialtheoretiker und Politiker des 19. Jahrhunderts deutlich, vom Dritten Reich und seinen ideologischen Vorläufern ganz zu schweigen (vgl. S. 117).
Gerade die Pesterfahrung war jahrhundertelang alles andere als tröstlich. Das Wissen um den Alltag früherer Seuchen, von dem Chroniken oder auch die Großeltern erzählten, führte im konkreten Fall eher zur Resignation. Die Urangst vor einer schicksalhaften Bedrohung, die Todesgefahr bedeutete, war naturgemäß zunächst einmal 1348 vorhanden, als alles Vergleichbare in Vergessenheit geraten war, doch brach sie auch später immer wieder durch. Diese Verunsicherung – es handelte sich in der Regel um wirklich existenzielle Ängste und keinesfalls nur um eine Furcht vor der Pest! – war angesichts des häufigen Versagens von Legislative, Exekutive und karitativen Institutionen mehr als verständlich. Die bemerkenswerte Ineffektivität der galenisch geprägten Schulmedizin verstärkte den Negativeffekt. Wenn, wie sich das seit dem 16. Jahrhundert demonstrieren lässt, eher behördliche als ärztliche Maßnahmen Erfolge zeigten, mag dies im 18. Jahrhundert zur Entwicklung des von der Aufklärung favorisierten starken Staates beigetragen haben, der die marode erscheinende Seuchenmedizin für sich zu vereinnahmen versuchte.
Die Schicksalhaftigkeit der Pest bewirkte eine das Individuum wie die Gesellschaft quälende Unruhe, die durch vielfältige mentale Begleiterscheinungen geprägt war. Wie immer soziale Netzwerke im Spätmittelalter oder in der Renaissance beschaffen waren, zu Seuchenzeiten konnten sie irreversibel zerstört werden. Jedermann wusste aus Erfahrung, dass nicht nur Krankheit und Tod, sondern ebenso gesellschaftliche Ausgrenzung und Vereinsamung drohten, dass Freundschaften, Familienbande und gesellschaftliche Institutionen zerbrechen konnten. Die Pestwellen, die Europas Großstädte, aber auch den muslimisch geprägten Vorderen Orient seit dem 14. Jahrhundert heimsuchten, hatten etwas von einer düsteren Wiederkehr. Sie ließen Zweifel an Gottes Gerechtigkeit aufkommen und machten es schwer, auch nur halbwegs optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Die Geschichte der Pest ist in den letzten Jahren in die Mühlen der Wissenschaftsideologie geraten. Die Zuwendung nicht weniger Historiker zu sozialgeschichtlichen Fragen lenkte das Interesse auf ein Forschungsgebiet, vor dem man, da es enge Bezüge zur naturwissenschaftlichen Medizin aufwies, lange zurückgeschreckt war. Das erwähnte Schlagwort der Brüche und Diskontinuitäten und der Einfluss des Dekonstruktivismus ließen dabei die Vorstellung einer sich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in ähnlicher Weise wiederholenden, von quasi identischen individuellen wie kollektiven Vorstellungen, Ängsten und Reaktionen begleiteten Epidemie obsolet erscheinen.
Während seit langem Konsens darüber besteht, dass es sich bei den antiken Seuchenbeschreibungen, darunter der berühmten Pest des Thukydides, nicht um durch den Erreger Yersinia pestis hervorgerufene Epidemien handelte, stellen einige Autoren inzwischen auch die Pestseuchen der Spätantike, des frühen Mittelalters, ja selbst des 16. Jahrhunderts infrage (Cohn). Dafür wird die in der Bibel erwähnte Pest der Philister (1 Samuel 5–6) von einigen wieder als Pest im klassischen Sinn verstanden – eine kühne These, wenn man sich die Intention des alttestamentarischen Autors und die Rolle traditioneller Topoi der Seuchenbeschreibung vergegenwärtigt. Beulen (hebr. Apholim) mögen viele Epidemien begleitet haben, Ratten und Mäuse galten jahrhundertelang als Symbole des Bösen schlechthin. Die Frage, ob hinter Begriffen wie pestis (griech. loimós, hebr. deber) oder magna mortalitas, die seit der Frühen Neuzeit im Deutschen mit Pest, im Englischen mit plague, im Französischen und Italienischen mit peste übersetzt wurden, nicht andere gefährliche Seuchen subsumiert wurden, erhitzt allerdings wohl auch deshalb die Gemüter, weil sichere Antworten unmöglich sind.
Wie es kein guter Arzt wagen würde, allein aufgrund telefonischer Auskünfte eine definitive Diagnose zu stellen, wird auch kein Historiker oder Bakteriologe mit letzter Sicherheit behaupten können, dass es sich bei der Justinianischen Pest des 6. Jahrhunderts oder dem Schwarzen Tod, der Europa zwischen 1347 und 1352 heimsuchte, um eine wirkliche Pest handelte. Vor allem in den USA (Cohn) sowie in Deutschland (Vasold) kam es hier jüngst zu phantasiereichen Debatten. Zuweilen wurde dabei ein sonst unter Geisteswissenschaftlern eher verpönter Objektivismus des «nachträglichen naturwissenschaftlichen Wissens» beschworen. Umstrittene Ergebnisse von Biologen oder Bakteriologen, die sich nebenher mit historischen Fragen beschäftigten, wurden als naturwissenschaftliche Fakten gewertet und dazu benützt, traditionelle, aber mindestens ebenso plausible Erklärungen zu «widerlegen». Jüngst wurde auch die These vertreten, in der Antike, möglicherweise in Mesopotamien, seien einige Seuchen durch inzwischen ausgestorbene Viren verursacht worden, die eine Mutierung eines bestimmten Gen-Eiweißes (CCR5) bewirkt hätten, das zur Immunisierung gegen die «Pest» führte und – durch genetische Weitergabe – heute vor einer Aidsinfektion schützen soll (Duncan).
In Wirklichkeit erscheint die retrospektive Pestdiagnostik, die von den ärztlichen Positivisten des 19. Jahrhunderts favorisiert und von einigen Seuchenhistorikern wieder aufgenommen wurde, reichlich akademisch und weit weniger sensationell, als sie anmutet. Faszinierend an der Geschichte der Pest waren in Wirklichkeit stets – bereits die Quellenforschungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts belegen dies – deren soziale, politische und psychologische Implikationen sowie, ungeachtet einiger seit Thukydides tradierter Topoi, die dramatischen Alltagsbeschreibungen. Dass von der Antike bis zur Frühen Neuzeit möglicherweise auch Pocken, Typhus, Malaria, Dengue-Fieber und andere Seuchen als «Pest» umschrieben wurden, ist schon deshalb wahrscheinlich, weil sich die finalen Krankheitsbilder, z.B. Bluthusten, rasche Gewichtsreduktion, Benommenheit, Durchfälle, Geschwüre und Augenentzündungen, häufig glichen. Der Zusammenbruch der körpereigenen Immunabwehr rief jedenfalls eine mehr oder weniger einheitliche Symptomatik hervor, die rasch zum Tode führte. Auch schwächte die Pest die Menschen derart, dass sich, während sie grassierte, leicht andere Krankheiten ausbreiten konnten. Lymphknotenschwellungen mögen ferner als «Pestbeulen» missgedeutet worden sein, ebenso «dunkle Flecken» und Unterblutungen der Haut. Freilich sollte die Empirie der alten Ärzte nicht unterschätzt werden. Ihre therapeutische Effektivität war, wie schon Petrarca, einer der wichtigsten literarischen Zeugen der spätmittelalterlichen Pest, kritisierte, minimal, ihr diagnostischer Blick allerdings beachtlich. Ihnen zu unterstellen, sie hätten Seuchen nicht einmal grob unterscheiden können, erscheint kühn. Dies schließt nicht aus, dass zuweilen, nicht weniger als heute, fundamentale Fehldiagnosen gestellt wurden (Rodenwaldt).
Der Verführbarkeit durch die retrospektive Diagnostik steht allerdings die nicht minder problematische diagnostische Relativierung gegenüber. Die Lektüre vieler Seuchenchroniken vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit lässt nämlich nach wie vor vermuten, dass hier doch jene «Geißel Gottes» thematisiert wird, deren Erreger Alexandre Yersin 1894 in Hongkong entdeckte und die sich im praktischen Epidemiealltag durch die Symptome der Lungen– wie der Beulenpest auszeichnete. In Deutschland kommt vor allem Dinges und Schlich das Verdienst zu, die Debatte um historische Seuchen neu eröffnet zu haben, nachdem sie bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren durch Bulst und andere vorbereitet worden war. Zahlreiche in den letzten Jahren erschienene Sammel- und Tagungsbände (Dinges/Schlich 1995, French 1998, Ulbricht 2004, Meier 2005) sowie einige Monographien (Bergdolt 1994, Naphy/Spider 2002, Cohn 2002, Vasold 2003, Benedictow 2004) belegen das zunehmende Interesse am Thema. Unter dem Einfluss sozialhistorischer Diskurse wurden die Defizite bisheriger Forschungen herausgestellt, etwa im Hinblick auf die inzwischen stark aufgearbeitete Patientensicht bzw. das subjektive Erleben von Krankheiten (Stolberg) oder die faszinierende Interaktion von «Seuchen und Gesellschaft» (Ulbricht). Nicht alle Ergebnisse der sozialhistorisch akzentuierten Pestforschung waren, vergleicht man sie mit älteren Arbeiten, wirklich sensationell. Häufig wurden nur (was allerdings gutes Recht des Historikers ist!) altbekannte Dokumente neu interpretiert und gewichtet. Einige Autoren zogen dabei die Forschungsqualität der bisher praktizierten Seuchengeschichte überhaupt in Zweifel. Sie war – und hier setzte die Kritik an – bis in die Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts mehrheitlich von der fast mystischen Vorstellung eines progredienten Fortschritts der medizinischen Erkenntnisse getragen, der sich gerade in der Seuchenbekämpfung manifestiert habe. Dass in der Pestgeschichte andererseits gerade auch Ärzte – man denke an Rodenwaldts großartige Venedig-Studie! – hervorragende Quellenforschungen präsentiert hatten, wurde übersehen. Die Skepsis gegenüber medizinisch ausgebildeten Seuchenhistorikern, die man als in der Geschichtswissenschaft dilettierende Laien betrachtete, verband sich nicht selten mit der Kritik an professionellen Heilern und Ärzten, die sich seit der Aufklärung einen erstaunlichen gesellschaftlichen und politischen Einfluss gesichert hatten. Dinges entwarf in diesem Zusammenhang ein interessantes «sozialhistorisches» Modell der Seucheninterpretation, das sich auf vier Säulen stützte: den Kranken, die inhomogene (wenn auch von Ärzten dominierte) Gruppe der Heiler, die Obrigkeit und schließlich bestimmte gesellschaftliche Fraktionen wie «Industrie» oder «Vereine», die sich im Katastrophenalltag durch eine bestimmte Interessenlage auszeichneten. Diese Gruppen schufen mit ihren jeweiligen Diskursen und Praktiken eine Vielfalt von Beziehungen und Gewichtungen, die den individuellen wie gesellschaftlichen Umgang mit den Seuchen prägten. Letztere wurden damit erneut als soziale Konstruktionen aufgefasst.
Eine allzu kritiklose Einschätzung eigener Methodiken und Paradigmen legte bei einigen Autoren allerdings die Frage nahe, ob die bei anderen kritisierte Sichtweise historischer Seuchenkatastrophen, etwa aufgrund heute obsoleter Diskurspräferenzen, nicht durch neue, nicht weniger rigide Paradigmen ersetzt wurde, die das Geschehen der Vergangenheit dem sozial- bzw. «kulturhistorischen» Paradigma – und hier besonders dem Geschichtsbild Foucaults – unterwerfen sollten (hierzu kritisch z.B. Wehler). Andererseits erhielt die Seuchenforschung, wie erwähnt, durch die neuen Ansätze wichtige Impulse, die bisher übersehene Aspekte in den Mittelpunkt rückten. Fragen nach der Effizienz der Behörden, die Praxis der Exekutivgewalt, die Abhängigkeit der Gefährdung von Rang und Stand, die Rolle der Stadtärzte und Chronisten, die bereits 1348 zu beobachtende überlegene Empirie der Behörden gegenüber der an der galenischen Miasmentheorie festhaltenden Ärzteschaft, die Reaktionen der gesellschaftlichen Gruppen (z.B. Gilden, Orden, Kirchen) auf die Gefahr, aber auch das Phänomen individueller wie kollektiver Angst sowie die religiösen, psychologischen und vor allem sozialen Begleiterscheinungen wurden neu akzentuiert. Erstmals gab es in größerer Zahl systematische Untersuchungen, wie sie zuvor nur vereinzelt, etwa durch Biraben (1975), durchgeführt wurden. Vor allem aber wurden zahlreiche regionale Analysen in Angriff genommen, deren Ergebnisse das breite Bild des Pestalltags um interessante Facetten bereicherten (Jankrift, Schluchtmann, Höhl, Guerrini, Schlenkrich, Boyens u.a.). Pesthospize, Lazarette und Quarantänestationen, bisher vor allem in Italien erforscht, wurden nun auch am Beispiel deutscher Kommunen untersucht (Ulbricht). Bemerkenswert erscheinen auch Studien, welche das unterschiedliche Schicksal von Männern und Frauen herausstellen (Härtel).
Schließlich wurde in der jüngeren Pestforschung sogar das «Ende eines Mythos» beschworen. Erst die Katastrophe des Dreißigjährigen Kriegs habe in Europa, so die kühne These, einen Pestmythos geschaffen, d.h. dem Schwarzen Tod das Image einer besonders grausamen Seuche verliehen. Vor allem die Deutschen hätten die traumatische Kriegserfahrung mit zeitgleichen Pestseuchen assoziiert und auf frühere Epidemien übertragen. Nachträglich sei hierdurch die mittelalterliche Pest «zur tödlichsten aller Seuchen» geworden (Vasold). Tatsächlich suchte der Schwarze Tod allein zwischen 1625 und 1635 zahllose deutsche Städte, z.B. Nördlingen, Augsburg, Nürnberg, Bamberg, Rothenburg, Kulmbach oder Straßburg, heim, doch dürften allein die aus Italien überlieferten Quellen des 14. Jahrhunderts ausreichen, die damalige Ausnahmesituation ausreichend zu belegen (Bergdolt 1989).
Unter Hinweis auf die im 19. Jahrhundert beobachtete relative Ansteckungsgefahr und langsame Ausbreitung einiger asiatischer Pestseuchen wurden auch jene Epidemien vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit infrage gestellt, deren hohe Infektiosität und rasche Ausbreitung von den Zeitgenossen bezeugt ist. Die naheliegende Vermutung, dass der Pesterreger inzwischen mutiert haben könnte (niemand wird ernsthaft behaupten können, dass die Aggressivität so gefährlicher Erreger über viele Jahrhunderte identisch geblieben sein kann!), spielte in dieser Diskussion kaum eine Rolle. Die naturwissenschaftliche Erfahrung, dass sich auch Bakterien, um zu überleben, ihren wechselnden Umweltbedingungen anpassen, wurde ausgeblendet. Gerade die Mutierung des Pestbazillus (Yersinia pestis) wäre ein plausibler Grund dafür, dass die Infektiosität der Pest in Europa seit dem frühen 18. Jahrhundert zurückging und die wenigen seit dem Zweiten Weltkrieg hier und da nachweisbaren Fälle ohne Schwierigkeiten antibiotisch behandelt werden konnten. 1993 fielen ihr in der indischen Millionenstadt Surat, wo Tausende erkrankten, bekanntlich nur wenige hundert (!) Menschen zum Opfer. Der Erreger konnte eindeutig identifiziert werden. Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit wäre ein solch milder Verlauf undenkbar gewesen.
Dennoch ist zuzugeben, dass in der Seuchengeschichte viele Fragen offenbleiben. Manchem Forscher wurde dabei, von fragwürdigen, teilweise schon im 19. Jahrhundert erstellten Statistiken abgesehen, der selektive Vergleich zur Falle. So wird in italienischen Chroniken des 14. Jahrhunderts nicht nur über rasche, sondern auch über sehr langsame Ausbreitungen der Pest (sie scheint demnach eher über die Alpen gekrochen zu sein!) berichtet. Die in einigen Quellen erwähnte «blitzschnelle» Verbreitung entlang den levantinischen Seefahrtslinien, die durch den spezifischen Übertragungsmodus der Lungenpest ohne Weiteres erklärbar erscheint (vgl. S. 17), kann somit keinesfalls verallgemeinert werden. Andererseits kam es am Ende des 19. Jahrhunderts in China und Indien auch zu dramatisch verlaufenden Seuchen mit extrem rascher Ausbreitung, die Millionen (!) von Opfern forderten und – bis hin zur Ausbreitung der Pest durch Schiffe – verblüffende Parallelen zum europäischen Spätmittelalter aufwiesen.
Häufig wurde auch übersehen, dass die Beulenpest wie die besonders infektiöse, durch Tröpfcheninfektion übertragene Lungenpest Manifestationsformen derselben Krankheit darstellen. Im praktischen Alltag konnte es de facto