C.H.Beck
Die Philosophie im Mittelalter (500–1450) umfasst etwa tausend Jahre Reflexion in unzähligen Texten und in den unterschiedlichsten Sprachen (Latein, Griechisch, Arabisch, Persisch, Hebräisch und später in den volkssprachlichen Idiomen wie Italienisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Katalanisch). In diesen Jahrhunderten trieb man Philosophie als Trost und Lebenslehre, als rationale Naturforschung, als Liebe zur Wahrheit, als Wissen um Jesus den Gekreuzigten, als orthodoxe Theologie, als mönchische Lebensführung oder als Kunst der okkulten Wissenschaften. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, versucht dieser Band, seinen Gegenstand nicht theoretisch-beurteilend, sondern historisch-deskriptiv zu erfassen.
Dieses Buch nimmt Abstand vom Bild des Mittelalters als einer dogmatischen Zeit, in der unter strenger Aufsicht der Kirche nur einige systematische «Denkkathedralen» in blinder Gläubigkeit an die Autorität des Aristoteles errichtet wurden. Mit Blick auf die philosophischen Entwicklungen in den byzantinischen, islamischen, lateinischen und jüdischen Kulturgebieten des Mittelalters registriert diese Philosophiegeschichte eine explosionsartige Zersplitterung ihres Gegenstandes und zugleich eine fortschreitende Vermehrung der philosophischen Sprachen, die zu einer radikalen Erweiterung des geographischen Raums der Philosophie im Mittelalter führte.
Loris Sturlese ist Professor für Geschichte der mittelalterlichen Philosophie an der Università del Salento (Lecce) und Präsident der Société Internationale pour l’Étude de la Philosophie Médiévale.
Zur Einführung
I. Ravenna oder Alexandria? Philosophie auf Griechisch und Latein im 6.–8. Jahrhundert
1. Von Athen nach Byzanz: Die Schulen im Osten
2. Der lateinische Westen: Ravenna, Sevilla und Jarrow
II. Die Verbreitung des Islams: das Arabische als dritte Sprache der Philosophie. Das 9.–10. Jahrhundert
1. Die arabische Philosophie im Osten: Bagdad und Basra
2. Die Philosophie im Westen: Diskussionen am kaiserlichen Hof
III. Persische Ärzte und lateinische Benediktineräbte. Das 11. Jahrhundert
1. Philosophen zwischen Buchara, Nishapur und Saragossa
2. Philosophie und Antiphilosophie im Okzident
IV. Eine Renaissance in der lateinischen Welt? Das 12. Jahrhundert
1. Blüte und Krise der intellektuellen Eliten in al-Andalus
2. Grenzregionen: Die Übersetzungen
3. Die Schulen Frankreichs
V. Die Lateiner und das heidnische Wissen. Das 13. Jahrhundert
1. Die Philosophie an den Universitäten
2. Philosophische Landschaften: Paris
3. Philosophische Landschaften: England
4. Peripherie des Wissens: Byzanz, Neapel, Mallorca, Köln
VI. Die Lateiner unter sich. Das 14. Jahrhundert
1. Der «Weg der Modernen»
2. Der «philosophische Duft» von Paris
3. «Göttliche Menschen» in Deutschland
4. Griechische, arabische und hebräische Diskussionen
5. Die Städte Italiens und die Anfänge der humanistischen Bewegung
VII. Ausblick. Das 15. Jahrhundert
Nachbemerkung
Weiterführende Literatur
Namenregister
Die Philosophiegeschichte des Mittelalters war in den letzten hundert Jahren ein Feld leidenschaftlicher ideologischer Auseinandersetzungen. Das Mittelalter wurde als der Ort einer «immerwährenden Philosophie» gefeiert, welche die Schäden des neuzeitlichen Subjektivismus hätte beheben können. Andere behaupteten hingegen, in den «dunklen Jahrhunderten» lediglich eine sklavische Abhängigkeit von der religiösen Dogmatik feststellen zu können, und sprachen daher dem ganzen Zeitalter jeden philosophischen Charakter ab. Man fand im Denken des Mittelalters jeweils die idealen Wurzeln eines christlichen Europas, die Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz der Religionen, die Legitimation der Inquisitionsprozesse, die ideologische Stütze des feudalen Systems und man hob die Kontinuitätmomente mit der Renaissance und der Moderne hervor oder bestritt diese, indem man den Akzent auf Brüche und Diskontinuitäten setzte.
Im Hintergrund all dieser Stellungnahmen stand die Überzeugung, es sei nicht nur legitim, sondern sogar philosophiehistorisch förderlich, die Philosophie des Mittelalters als das organische und systematische Ergebnis des Ringens einer ganzen Epoche mit wenigen «Grundproblemen» zu verstehen. Dieser historiographische Monismus hatte eine doppelte Reduktion zur Folge: die der mittelalterlichen Philosophie auf die sog. lateinische «Scholastik» und die der sog. «Scholastik» auf die sog. «scholastische Synthese», das heißt auf den Stand der Pariser Philosophie und Theologie in ihrer Blütezeit zwischen 1250 und 1274. Die vorausgehenden Jahrhunderte sah man nur als Vorläufer, die darauf folgenden als Krise und Epigonentum.
Hiermit wurde ein Forschungsgebiet, das fast tausend Jahre (500–1450) umfasst und das unzählige Texte in den verschiedensten Sprachen (Latein, Griechisch, Arabisch, Persisch, Hebräisch und den volkssprachlichen Idiomen des Spätmittelalters) enthält, auf ein Minimum eingegrenzt, nämlich auf wenige lateinische, im 13. Jahrhundert errichtete «Denkkathedralen». Die philosophische Bedeutung der Summen der Hochscholastik ist zwar unbestreitbar. Bedacht werden sollte jedoch, dass die ausschließliche Privilegierung dieser Texte vielleicht eine bequeme Ausrede für faule Philosophiehistoriker sein mag, aber den Tatsachen nicht gerecht wird.
Eine objektive Betrachtung enthüllt nämlich für das ganze Mittelalter Vielfalt und Verschiedenheit, theoretische Debatten, intellektuelle Konflikte, Diskussionen und Auseinandersetzungen. Selbst der Philosophiebegriff blieb nicht unumstritten und war Gegenstand radikaler Kontroversen: Man verstand Philosophie als Trost und Lebenslehre, als rationale Naturforschung, als Liebe zur Wahrheit, als Wissen um Jesus den Gekreuzigten, als orthodoxe Theologie, als mönchische Lebensführung oder als Kunst der okkulten Wissenschaften.
Einer solchen historischen Vielfalt von geistigen Annäherungsversuchen entspricht die Vielfalt der Institutionen, in denen Philosophie betrieben wurde – Kloster, Akademie, Universität, Kathedralschule – und die Mannigfaltigkeit der Regionen und der Stätten, wo Philosophen wirkten und diskutierten – von Sevilla bis Buchara, von York bis Palermo, von Tours und Paris bis Bagdad, Basra, Gundishapur und Konstantinopel.
Dieses Buch nimmt daher Abstand vom totalitären Anspruch des historiographischen Monismus, wie er sich im Begriff der «scholastischen Synthese» widerspiegelt, und versucht andere Wege zu gehen.
Hier werden Denker und Theorien nicht an einem spezifischen Philosophiebegriff gemessen und als philosophisch bestätigt oder als unphilosophisch ausgeschieden, sondern es wird auf die Suche gegangen nach dem, was historisch als «Philosophie» definiert oder betrachtet wurde. Die explosionsartige Zersplitterung ihres Gegenstandes sowie eine radikale Vermehrung der philosophischen Sprachen und eine ebenso radikale Erweiterung des geographischen Raums der philosophischen Werkstätten nimmt diese Philosophiegeschichte in Kauf.
In diesem Buch wird ein Experiment durchgeführt. Es wird versucht, den Einfluss theoretischer und ideologischer Voreingenommenheit auf die historiographische Arbeit dadurch zu minimieren, dass man den Gegenstand dieser Darstellung historisch-deskriptiv und nicht theoretisch-beurteilend erfasst. Daher wird sich die Aufmerksamkeit vor allem auf regionale Diskussionen und auf die Synchronie ihrer Entfaltung konzentrieren. Um diese Synchronie abzubilden, ist die neutralste Maßeinheit – das Jahrhundert – gewählt worden. Unsere Darstellung wird Jahrhundert für Jahrhundert den Stand der Philosophie in den verschiedenen Regionen der Erde zu erkunden versuchen. Mehr als einen Abriss wird sie nicht anbieten können. Aber es genügt – so glaube ich –, um die Durchführbarkeit und vielleicht auch das historiographische Interesse an einer Perspektive aufzuzeigen, die in den letzten Jahrzehnten in der Forschung einen wachsenden Konsens findet.
Fast jede mittelalterliche Philosophiegeschichte beginnt mit dem Namen des Boethius, «des letzten Römers und des ersten Scholastikers». Hierfür gibt es Gründe. Boethius ist gewiss im Jahrhundert nach dem Kollaps des Weströmischen Reiches der erste Autor auf dem lateinischsprachigen Gebiet, der den Anspruch auf den Titel eines Philosophen erheben kann. Er ist der erste und auch der einzige. Seine Gestalt, die uns isoliert aus den Trümmern der Tempel, der Schulen und der Bibliotheken der Antike entgegentritt, kann wohl durch ihre würdevolle Tragik den Beginn der neuen, um das Jahr 500 ansetzenden Epoche symbolisieren. Im Werk dieses gelehrten Sprösslings der alten römischen Aristokratie, der mit dem Gotenkönig Theoderich politisch kollaborierte, mit ihm später in Konflikt geriet und schließlich wegen Hochverrats angeklagt und grausam exekutiert wurde, geht es um Motive und Probleme, die für die spätere Scholastik wichtig waren. Sein unausgeführt gebliebenes Projekt, das Gesamtwerk von Platon und von Aristoteles ins Lateinische zu übersetzen, war für das ganze folgende Jahrtausend richtungsweisend. Sein Trost der Philosophie blieb weit über die Renaissance hinaus eine beliebte philosophische Lektüre. Aber trotzdem stellt sich die Frage: Ist wirklich Boethius der erste und einzige Philosoph seines Jahrhunderts? Läuft man nicht Gefahr, das Bild der Philosophie am Anfang des Mittelalters zu verzerren, wenn man in den Mittelpunkt des Beobachtungshorizonts das lateinische Abendland – Ravenna, Rom, Pavia – stellt?
Die Faszination, die diese tragische Gestalt ausstrahlt, hat tatsächlich die Historiographie zu einer ziemlich trügerischen Vorstellung der Dinge geführt. Boethius war nicht der einzige Gelehrte seiner Zeit. Es gab eine respektable Gruppe von Zeitgenossen, die Philosophen waren. Vor allem aber gab es sogar mehrere Stätten, wo man im 6. Jahrhundert Philosophie studierte und wo man philosophische Texte produzierte. Nur: Um sie sehen zu können, muss man den Fokus der Aufmerksamkeit sehr, sehr weit vom Ravenna und Pavia des Boethius weg verschieben, und zwar nach Osten – nach Konstantinopel, nach Ägypten, nach Syrien und in das persische Morgenland. Denn während im Westen die sukzessiven Wellen der Völkerwanderungen nur eine kulturelle Wüste hinter sich gelassen hatten, funktionierten im Osten die alten höheren Bildungsanstalten und Akademien noch recht gut.
In Konstantinopel bestand eine kaiserliche Akademie, deren Gründungsurkunde auf Konstantin zurückging (330) und in der auch offiziell ein Professor für Philosophie lehrte. In Gaza blühte eine Rhetorikschule. In Nisibis lehrten die Professoren der berühmten Schule von Edessa. Sie waren dorthin umgesiedelt worden, nachdem diese 489 auf Befehl von Kaiser Zeno geschlossen worden war. Im Westsyrien, in Qennesre, studierte man Aristotelische Texte. Um 553 in Gundishapur in Mesopotamien wurde von dem Kaiser und Philosophen Kosroes I. eine Akademie gegründet. Bis zum Jahr 529 bestand ferner die Platonische Akademie in Athen, und Boethius selbst hatte wahrscheinlich in den Schulen von Alexandria studiert.
Am Anfang des Jahrhunderts war das philosophische Panorama noch von den beiden großen traditionsreichen Schulen von Athen und Alexandria geprägt, in denen man den alten Studiengang pflegte: Trivium und Quadruvium, anfangs Logik und Aristotelische Philosophie und Wissenschaft, sodann Mathematik und schließlich – die Geheimnisse der Philosophie Platons. Beide Schulen stimmten in einem gemeinsamen Verständnis vom Philosophieren und von Philosophieunterricht überein. Die Professoren übten Philosophie als hohe Kunst subtiler Deutung und Vertiefung von Schriften der Großen der Antike. Die Devise in Alexandria und Athen, die tongebend auch für das ganze Unterrichtssystem des Ostens war, lautete: Philosophie heißt – Kommentieren. Die meisten Werke aus beiden Akademien, die uns erhalten geblieben sind, betreffen tatsächlich Kommentare zu Aristoteles und Platon. Aus Alexandria kommen zahlreiche, vorwiegend der Logik des Aristoteles gewidmete Kommentare von den berühmten Professoren Ammonios Hermeiou, Olympiodoros, Helias, David dem Armenier, Stephan von Alexandria. Kommentare zum Organon schrieben auch die Vertreter der neuen, in Syrien und Persien entstehenden Schulen (Edessa, Nisibis und Qennesre), Proba, Sylvan von Qardu, Henanisho, Sergios von Resh‘ayna, Severos Sebokt, Georgios und der am Hof Kosroes’ I. tätige Paulus Persa.
Auch in der Platonischen Akademie zu Athen untersuchte und kommentierte man die Texte der Antike, und zwar nicht nur diejenigen Platons, sondern auch die des Aristoteles. Man relativierte die Aristotelische Weltdeutung auf die physikalische Welt der sinnlichen Erfahrung und suchte bei dem späteren Platon nach den Gesetzen einer Ontologie der intelligiblen Welt. Dies war der Ansatz des prestigeträchtigen Philosophen und Akademieleiters Proklos gewesen. Nach seinem Tod (485) ging die Leitung der Akademie an Marinos, dann an Isidor von Alexandria und schließlich (um 515) an Damaskios über. Des letzteren Vorlesungen zu den Platonischen Dialogen und zu Aristoteles stehen in der Nachfolge Proklos’. Dies tun auch die Zweifel und Lösungen über die ersten Prinzipien, in denen Damaskios die erste Hypothese des Parmenides weiterentwickelte, indem er die Grundlagen des Hervorfließens des Weltalls als das «Unsagbare», das «Eine», die «reine Vielfalt» und das «Vereinigte» bestimmte und das Hervorfließen selbst als das Resultat Proklischer triadischer Bewegungen («moné»: «Verharren», «próodos»: «Hervorgehen», «epistrophé»: «Rückkehr») deutete. In diesen durch die Unterordnung des Aristoteles unter Platon realisierten Eintracht spiegelt sich eine spätantike Tradition wider, die das ganze Mittelalter hindurch bis in die Renaissance lebendig blieb.
Proklos war der Bezugspunkt für die meisten philosophischen Diskussionen, die sich am Anfang des 6. Jahrhunderts abspielten. Im schroffen Gegensatz zu ihm entstand das philosophische Projekt des Philoponos; als eine Weiterführung von Proklos lässt sich das Unternehmen des Dionysios pseudo-Areopagites interpretieren. Johannes Philoponos arbeitete in Alexandria als Professor für Philologie (daher der Beiname «Grammaticus»). Er schrieb jahrelang Aristoteles-Kommentare im Sinne des mit dem Stagiriten harmonisierenden Christentums seines Lehrers Ammonios Hermeiou, dann um 529 schlug er einen ganz radikalen antiklassischen Weg ein. Das Manifest seiner neuen kompromisslosen Haltung dem griechischen Denken gegenüber ist der Traktat Über die Ewigkeit der Welt gegen Proklos, dem er sofort ein Gegen Aristoteles folgen ließ. In diesen und weiteren Werken bestritt Philoponos die Legitimität einer Identifizierung des christlichen Gottes mit dem Ersten Beweger und mit dem Unsagbaren Einen. Indem er die Lehre von der Ewigkeit der Welt argumentativ angriff, wiederholte er eine Polemik, die andere christliche Denker führten, wie Aeneas von Gaza im Theophrastus, Zacharias im Ammonius und Prokopius von Gaza in seinem Genesiskommentar. Aber viel mehr als seine Mitstreiter lenkte Philoponos mit einem scharfem Blick die Aufmerksamkeit auf die vielen Schwierigkeiten der Aristotelischen Physik und stellte allgemein anerkannte Lehren in Frage wie die Erklärung der Bewegung der Geschosse, die Verneinung der Leere und die Existenz einer besonderen Materie des Himmels. In Die Fabrik der Welt verwarf er die Lehre von der Beseeltheit der Himmelskörper und schrieb ihnen eine Art Inertialbewegung zu. Tausend Jahre danach kamen seine Schriften erneut ins Zentrum der wissenschaftlichen Debatte und spielten eine nicht unerhebliche Rolle bei der Entstehung der neuzeitlichen Physik.
Im Schatten des Proklos stand der bisher unbekannt gebliebene syrische Monophysit, der als «Dionysios Presbyteros» ein geschlossenes Corpus theologisch-philosophischer Schriften signierte, das im Jahr 533 bereits dokumentiert ist. Dieses Corpus besteht aus vier Traktaten und zehn Briefen. In den Briefen erwähnt der Verfasser Fakten aus der Apostolischen Zeit, eine Selbstidentifizierung mit dem Philosophen Dionysios suggerierend, der nach Paulus’ Rede auf dem Aeropag in Athen zum Christentum übertrat. Die Identifizierung wurde in der Renaissance in Frage gestellt, seine Schriften genossen jedoch im Mittelalter noch eine unbestrittene Autorität. Dass es sich um einen Dionysios pseudo-Areopagites handelte, zeigen die vielen eindeutigen Zitate aus Proklos im 5. Kapitel des Traktats Über die göttlichen Namen. Wohlgemerkt, Dionysios war ein Christ und vertrat Trinität und Kreationismus, aber besonders in der genannten Schrift artikulierte er eine Theologie, die an Platons Parmenides erinnert. Die Schrift, so Dionysios, nennt Gott mit Namen, die eindeutig nur eine symbolische Bedeutung haben («Stein», «Löwe»), und auch mit solchen, die dem Bereich des Intelligiblen angehören, wie etwa «Güte», «Licht», «Schönheit», «Liebe», «Sein», «Leben», «Weisheit» (Proklische Triade!), «Eines». Letztere weisen auf die verschiedenen Ausdrucksweisen der Vorsehung eines an und für sich unbenennbaren Gottes hin. Die affirmative («kataphatische») Theologie vermag nicht das Wesen Gottes zu erfassen und muss daher in die negative («apophatische») Theologie umschlagen. Der Behandlung der negativen Form der Theologie ist der Traktat Mystische Theologie gewidmet. Die These des Dionysios lautet: Es gibt eine Form vereinigender Erkenntnis, die uns ermöglicht, in die göttliche Dunkelheit einzudringen, die über Verstand und Vernunft steht, um endlich die transrationale Einung mit Gott zu erfahren. Diese Erkenntnis ist ein esoterisches Wissen, das wenigen «göttlichen Menschen» vorbehalten ist. Dionysios nannte dieses Wissen eine «göttliche Philosophie», und «wahre Philosophen» nannte er diejenigen, die diese «Philosophie» ausüben. Hingabe und asketische Übung sind gefordert, um auf diesem Weg zu Gott fortzuschreiten. Dabei helfen kooperierend die irdischen und himmlischen Hierarchien, denen Dionysios zwei besondere Schriften widmete, Über die kirchliche Hierarchie und Über die himmlische Hierarchie.
Die Annahme eines christlichen Schöpfergottes erlaubte Dionysios, die beiden ersten Hypothesen des Parmenides («Das Eine ist Eine», «Das Eine ist») als zwei Betrachtungsweisen ein und derselben Gottheit zu verstehen, nämlich als transzendentes und immanentes Prinzip in Bezug auf die von ihr erschaffene Welt. Die Grundprinzipien der Wirklichkeit («Güte», «Licht», «Schönheit», «Eines» etc., welche den Henaden oder Hypostasen des Proklos entsprechen) sind Offenbarungen der schöpferischen Kraft des Einen. Die Gottheit bleibt in sich unbekannt und unfassbar (nach Proklos: «Verharren»), sie zeigt sich in der geschaffenen Wirklichkeit durch ihre intelligiblen Attribute («Hervorgehen»). Die Welt ist Theophanie, und von der Welt vermag die Bewegung auszugehen, die durch eine progressive Verfeinerung der intellektuellen Kräfte bis zur Einung in die göttliche Dunkelheit zurückführt («Rückkehr»). Die Schriften des Dionysios wurden im 8. Jahrhundert ins Lateinische übertragen und später mehrmals erneut übersetzt. Für das ganze Mittelalter stellten sie das unerreichte Beispiel einer «göttlichen Philosophie» dar, deren Autorität von der vermuteten Nähe zum Hl. Paulus zehrte.
Im Jahre 529 feierten viele «wahren Philosophen» einen wichtigen Sieg über ihre Gegner, die dem alten heidnischen Glauben treu geblieben waren. Kaiser Justinian befahl die definitive Schließung der Akademie von Athen und konfiszierte ihr Vermögen. Der letzte Diadoche Damaskios nahm zusammen mit sechs anderen Kollegen – Simplikios, Eulamios, Priskian von Lydien, Hermias, Diogenes und Isidor von Gaza – den Weg ins Exil. Die gesamte Gruppe ging nach Persien und stellte sich unter den Schutz von Kosroes I. Einige Jahre danach ließen sich die Platonischen Philosophen im nordirakischen Harrân in der Nähe von Edessa nieder. Simplikios verfasste dort gelehrte Aristoteles-Kommentare, die heute noch eine unschätzbare Quelle für unsere Kenntnis der Ideen der Vorsokratiker bilden. Aus der Feder des Priskian von Lydien stammen die Lösungen der Zweifel von Chosroes, der Perser König, eine Miszelle von naturwissenschaftlichen Fragen (Seele, Träume, Jahreszeiten, Gezeiten, Elemente, Schlangengift und Winde), die in der Karolingischen Zeit ins Lateinische übersetzt und gelesen wurde. Die Tradition, die die geflüchteten Philosophen in Harrân begründeten, lebte bis ins 10. Jahrhundert im Islam weiter.
Philosophie zu betreiben war am Anfang des Mittelalters, wie man sieht, gefährlich. Die politische Macht suchte nach ideologischer Legitimation, aber zugleich vertrieb, verfolgte und tötete sie die Philosophen, die sich nicht gefügig verhielten. Es war dies der Fall bei Maximos dem Bekenner aus Konstantinopel, einem gelehrten Mönch, der sich im letzten Teil seines langen Lebens als strenger Gegner der vom Kaiser und Patriarchen von Byzanz favorisierten Lehre von der Identität des Willens bei Christus, Gott und Mensch (sog. «Monotelismus») profilierte, deswegen angeklagt und verurteilt wurde und im Jahre 662 infolge der grausamen Verstümmelung von Zunge und rechter Hand starb. In seinen zahlreichen theologischen und spirituellen Schriften (darunter die spekulativ wichtigen Fragen an Thalassios, die Briefe, eine Mystagogie und Kommentare zu Gregor von Nazianz und Dionysios Areopagita) vertritt Maximos eine Interpretation der kosmischen Geschichte nach dem neuplatonischen Deutungsmuster von «Hervorgang» (Schöpfung und Sündenfall) und «Rückkehr» (Versöhnung und Erlösung), in deren Mittelpunkt das einmalige Ereignis der Inkarnation des göttlichen Wortes steht. Die Lehre der Vergöttlichung («théosis») des Menschen, die durch die Ausübung einer «aus Vernunft und Betrachtung bestehenden Philosophie» ermöglicht wird, faszinierte Johannes Eriugena, der Maximos als «göttlichen Philosophen» feierte und manche seiner Werke ins Lateinische übertrug.
Kommt man nun nach diesem tour d’horizont im Osten zu Boethius und zum lateinischen Westen zurück, so zeigt sich ein eher ernüchterndes Bild – das Bild einer peripheren Landschaft. Das um 515 von Boethius formulierte Projekt einer kommentierten lateinischen Übersetzung der Werke Platons und Aristoteles’ und seine erklärte Absicht, die Thesen beider Autoren in Einklang zu bringen, lassen sich in die gängige neuplatonische Tradition einordnen. Seine drei frühen wissenschaftlichen Schriften (Arithmetik, Musik, Geometrie) sind Kompilationen aus Nikomachos von Gerasa und Euklid, und auch die Kommentare zu einigen logischen Schriften des Aristoteles (Kategorien, Über die Deutung in zwei Fassungen) übertreffen keineswegs ihre aus Alexandria kommenden Vorlagen.
Neben seiner Übersetzungstätigkeit, die auf das Aristotelische Organon beschränkt blieb, arbeitete Boethius auf dem Feld der militanten Theologie. In einigen kurzen Traktaten (sog. Opuscula sacra) verteidigte er die lateinische Orthodoxie gegen die Christologie von Nestorianern und Monophysiten (Gegen Eutyches und Nestorius), erörterte die Trinität (Quomodo Trinitas, Utrum Pater et Filius) und untersuchte den Begriff des Guten in Bezug auf die geschaffene Welt (Wie die Substanzen insofern, als sie sind, gut sind). Es handelte sich um theologische Fragen, die insofern auch ein Politikum waren, als die verschiedenen dogmatischen Positionen zugleich einen wichtigen Identifikationsfaktor für politische Aggregationen bildeten. Boethius hatte die Würde eines Konsuls und eines Senators inne, und 522 wurde er zum obersten Beamten («magister officiorum») am Hof Theoderichs ernannt. Seine philosophischen und theologischen Stellungnahmen luden sich unvermeidlich mit höchster politischer Brisanz auf. Vielleicht wurden die Opuscula des Boethius als der Versuch einer Versöhnung von West- und Ostkirche gelesen, was politisch eine Einkreisung der Goten, die dem Arianischen Glauben folgten, bedeutet hätte. Boethius wurde wegen Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt (524).
Während seiner dreijährigen Gefangenschaft in Pavia verfasste er sein Meisterwerk, Der Trost der Philosophie.