JAN KEUCHEL & CHRISTINA ZÜHLKE
TATORT POLIZEI
Gewalt, Rassismus und mangelnde Kontrolle – ein Report
C.H.BECK
Die Polizei, dein Freund und Helfer – dieses Bild hat längst Risse bekommen. Immer häufiger werden gewalttätige Übergriffe durch Beamt:innen öffentlich, und die Republik wird durch rassistische und rechtsradikale Chatgruppen im Polizeiumfeld erschüttert. Doch die Verantwortlichen in Sicherheitsbehörden und Politik reden das Problem noch immer klein – und ignorieren, dass hinter diesen Auswüchsen ein Systemversagen steckt. Was läuft schief bei der deutschen Polizei? Und was ist nötig, um die Fehler zu beheben? Wer bei der deutschen Polizei intern aufbegehrt oder gar Kolleg:innen anzeigt, büßt oft mit Schikane und Mobbing. Die Opfer von Polizeigewalt bleiben derweil auf sich allein gestellt, es fehlt an unabhängigen Ermittlungseinheiten zur Aufklärung solcher Taten. Und kaum ein Innenminister ist bereit, das marode System gegen den Willen der Polizei zu reformieren. Jan Keuchel und Christina Zühlke zeigen anhand zahlreicher Fälle und auf der Grundlage investigativer Recherchen, wie gewalttätige Übergriffe und rassistische Ausfälle durch Polizist:innen aussehen, wie sie vertuscht werden – und warum Betroffene kaum Chancen haben, solche Fälle unabhängig aufklären zu lassen. Sie belegen, wie dürftig die Bundesländer mit unabhängigen Kontrollinstanzen ausgestattet sind und werfen auch einen Blick ins Ausland, wo es unabhängige Ermittlungseinheiten für Polizeivergehen teilweise schon länger gibt – mit wichtigen Ergebnissen. Ihr Buch ist ein Plädoyer für eine Systemreform in Deutschland, um die vielen guten Polizist:innen vor jenen Kolleg:innen zu schützen, die den Ruf einer der wichtigsten Institutionen unseres Staates schleichend zerstören.
Jan Keuchel ist Redakteur beim «Handelsblatt».
Christina Zühlke ist Film-Autorin für die ARD und den WDR.
Seit Jahren berichten beide investigativ über Skandale und gesellschaftliche Verwerfungen. Gemeinsam haben sie zahlreiche Artikel geschrieben und Filme produziert, unter anderem mehrere Beiträge zu Missständen bei der Polizei. Ihre Arbeiten wurden mit renommierten Journalistenpreisen ausgezeichnet.
Vorwort
1. Der Blendschlag
2. Das Martyrium auf der Wache
3. Dein Feind und Helfer?
4. Die Suche nach Zeugen
5. Fehlende Fehlerkultur
6. Der erste Prozess
7. Die gute Polizistin
8. Gefährlicher Zusammenhalt
9. Pfefferspray gegen Miriam und Lucas
10. Kein leichter Job
11. Der zweite Prozess
12. Staatsanwälte mit Beißhemmung
13. «Ihr müsst jetzt gut schießen lernen»
14. Ein Pflegehelfer – und kein Drogendealer
15. «Dann kannst Du Deine Zähne aufsammeln»
16. Hakenkreuz-Plätzchen und Flüchtlings-Vergasung
17. Der dritte Prozess
18. Polizei außer Kontrolle
19. Bei Niels und Charlotte
20. Der Tanz um eine Studie – die Politik und die Polizei
21. Mutig sein – der Polizeiapparat braucht Reformen
22. Svens letzter Akt?
Danksagung
Dieses Buch geht zurück auf eine mehrjährige Recherche für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) und das Handelsblatt. Was mit einem Fall von illegaler Polizeigewalt begann, auf den wir 2017 aufmerksam gemacht wurden, weitete sich schnell aus zu einer vertieften Langzeitbeobachtung. Denn recht bald wurde uns klar, dass hinter Polizeigewalt und anderem polizeilichem Fehlverhalten ein Systemversagen steckt. Und dass dieses Systemversagen von den Verantwortlichen in Polizei und Politik weitgehend ignoriert oder bestritten wird.
Im Laufe der Zeit sind wir dabei immer häufiger auf prügelnde Beamt:innen, aber auch Rassist:innen und Rechtsextremist:innen in Uniform gestoßen. Allerdings haben wir bei der Recherche auch gemerkt, dass es nicht darum gehen kann, sich allein auf die jeweiligen Täter:innen zu fokussieren.
So sehr jeder Fall für sich erschreckend ist – in seiner Willkür, der Vertuschung sowie der Offenheit, in der teilweise rassistische und rechte Gesinnung zu Tage tritt: All diese Verhaltensweisen sind meist nur deshalb möglich, weil es dem Polizeiapparat an wirksamen Mechanismen fehlt, um die schwarzen Schafe in seinen Reihen auszusortieren – möglichst schon bei der Einstellung, aber spätestens dann, wenn sie auffällig werden.
Insofern verstehen wir dieses Buch auch als Versuch, den sicherlich vielen guten Polizist:innen im Land zu helfen – indem wir nicht nur die Fehler im System aufzeigen, sondern auch eine Lösung dafür anbieten. Uns geht es nicht darum, die Polizei unter Generalverdacht zu stellen. Wir wollen vielmehr für ein System streiten, das das Wirken der Polizei durch unabhängige Kontrolle gegen Zweifel und Vertrauensverlust schützt.
Denn weder wir Bürger:innen noch der Großteil der Polizist:innen können ein Interesse daran haben, dass unser Verhältnis dauerhaft in Schieflage gerät – weil immer wieder ein neuer «Tatort Polizei» auftaucht.
Jan Keuchel und Christina Zühlke
Das Schnellrestaurant im Schatten des mächtigen Kölner Doms ist sein Ziel. Während auf der Straße die Musik wummert und Menschen in schrillen Outfits vorübergehen, braucht Sven eine Pause. Er ist seit sechs Stunden unterwegs, hat gefeiert, auf einem der Paradewagen beim Christopher Street Day. Um 16 Uhr steigt er vom Wagen und muss dringend auf die Toilette.
Was Sven nicht ahnt: In wenigen Minuten, in diesem McDonald’s-Restaurant, wird sein Leben aus den Fugen gehoben. Vier Jahre lang wird er durch das deutsche Justizsystem geschleift werden, als vermeintlicher Täter auf der Anklagebank sitzen und sich verteidigen müssen. Unschuldig. Weil er an diesem Tag, im McDonald’s-Restaurant am Kölner Dom, auf die deutsche Polizei trifft.
Es ist der 3. Juli 2016, der Christopher Street Day, die Parade für die Rechte von Schwulen und Lesben, zieht durch Köln. Die Sonne scheint, die Straßen der Innenstadt sind voll mit feiernden Menschen.
Unter dem Motto «Anders Leben» feiert die CSD-Parade in Köln ihr 25-jähriges Jubiläum. Mehrere hunderttausend Besucher:innen haben sich auf den Weg nach Köln gemacht. Die Stadt lebt den Christopher Street Day, lebt für Toleranz. «Jeder Jeck ist anders», heißt es hier nicht nur im Karneval. Selbst in der U-Bahn-Station wünscht die US-Videoplattform Netflix zur Feier des Tages «viel Spaß beim CSD».
Schon manches Mal wurde den Demonstrant:innen in den knallbunten Kostümen, in Strapsen, High Heels und Federboas vorgeworfen, sich selbst eher als Karnevalszug zu verstehen und die politische Dimension, den Kampf gegen Homophobie, zu vergessen. Doch das ist diesmal anders. Es ist erst wenige Wochen her, dass ein Attentäter bei einem Konzert in einem Club in Florida 49 Menschen tötete. Das Motiv: Schwulenhass. Den Zug führt deshalb gleich eine Gruppe an, die die Fotos der Opfer trägt. In Stille – ohne die sonst oft überlaute Technomusik.
Auch Sven ist zum CSD gekommen, weil er ein Zeichen setzen will. Für Toleranz, gegen Ausgrenzung. Ihm ist klar, dass es für ihn nicht leicht sein wird, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Und es tut ihm gut zu sehen, dass hier auch andere Menschen sind, die die Grenzen zwischen Mann und Frau nicht für unumstößlich halten. Die dazwischen wandern und – an diesem Tag zumindest – trotzdem einfach dazugehören. Sven sagt von sich selbst, er sei nicht-binär. Das heißt, er fühlt sich weder als Mann noch als Frau. Er identifiziert sich nicht mit dem, was die Gesellschaft von Männern erwartet. Eine Frau möchte er aber auch nicht sein. Und weil es Menschen nicht immer leichtfällt, ihn einfach sein zu lassen, wie er ist, ist es für ihn besonders wichtig, dass es einen Christopher Street Day gibt.
Und so steht Sven an diesem 3. Juli in einem orangefarbenen T-Shirt auf einem Wagen der Gruppe «Positiv handeln». Sie wollen auf das Thema Aids aufmerksam machen. Auf die Ausgrenzung, die die Infizierten immer noch erleben, und auf die Probleme, die der Alltag mit dem Virus mit sich bringt. Die Stimmung ist gut, Sven winkt in die Menge. Es wird Sekt getrunken, und auch Haschisch-Plätzchen machen die Runde. Sven isst davon, ohne zu wissen, was da eingebacken wurde.
Als er Stunden später auf der Suche nach einer Toilette das Schnellrestaurant betritt, stehen die Menschen vor den Toiletten bereits Schlange. Zwei Frauen versuchen, das weniger besuchte Herren-WC aufzusuchen, aber ein Mann will das verhindern. Als es zum Streit kommt, mischt Sven sich ein, er will schlichten. Er denkt sich: Schließlich ist Christopher Street Day, da soll man doch erst recht tolerant und friedlich sein. Aber die Schlichtung misslingt. Der Streit eskaliert zur Rangelei, es wird laut, und ein neunjähriges Mädchen, das in der Nähe steht, fällt im Gedränge zu Boden, bleibt aber unverletzt.
Der Mann, der die Frauen bedrängt hat, ist schnell verschwunden, Sven bleibt zurück. Die Angelegenheit könnte erledigt sein. Aber die Mitarbeiter:innen des Schnellrestaurants haben den Streit offenbar mitbekommen, die Filialleiterin schaut vorbei. Sie bittet Sven mehrfach zu gehen, die Polizei sei bereits informiert. Er aber ist aufgewühlt, beschimpft die Frau und setzt sich stattdessen auf einen Hocker im Toilettenbereich, um zu warten. Tränen laufen ihm übers Gesicht. Die Polizei werde schon feststellen, dass er nichts gemacht habe, davon ist er überzeugt.
Doch es kommt anders.
Andreas Meyer ist an diesem Tag zum Polizeidienst in der Innenstadt eingeteilt. Eigentlich heißt er anders, die Namen aller Polizist:innen in Svens Geschichte sind Pseudonyme: zum einen, um sie zu schützen, und zum anderen – wie etwa im Fall von Andreas Meyer –, weil es uns vor allem um die Taten und nicht um die Täter geht.
Normalerweise arbeitet Meyer in einem Kölner Außenbezirk. Aber wegen des Christopher Street Days sind er und seine Kollegin, Beate Schirmer, zur Unterstützung in der Nähe der McDonald’s-Filiale. Energisch betritt Meyer das Restaurant. Mit den Mitarbeiter:innen oder der Filialleiterin spricht er nicht. Die Mutter des Mädchens kann ihm noch sagen, dass sie wegen der Rangelei keine Anzeige erstattet. Dann eilt er zu den Toiletten im hinteren Bereich, wo Sven immer noch auf seinem Hocker kauert.
Meyer fordert Sven auf, das Restaurant zu verlassen. Doch der reagiert nicht. Der Polizist greift ihn an der Schulter, sagt ihm, er solle mitkommen, er wolle die Sache «vor der Tür regeln». Sven aber will nicht nach draußen. Als Meyer nach ihm greift, macht Sven eine schwache Abwehrbewegung mit den Armen, er will die Hand des Polizisten abschütteln, berührt ihn aber nicht. Dann knallt es. Sven sinkt bewusstlos zu Boden.
Eine Zeugin wird später vor Gericht erzählen, dass sie den Knall hören konnte, der entstand, als Svens Kopf gegen die Wand schlug. Meyer hat Sven einen sogenannten «Blendschlag» verpasst, wie es in der Fachsprache der Polizei heißt. Einen Schlag mit der flachen Hand, seitlich gegen den Kopf. Er soll das Gegenüber überraschen, ihm Schmerzen zufügen, um eine Situation unter Kontrolle zu bringen.
«Das ging plötzlich alles sehr schnell», erzählt Sven später. Der erste Kontakt zu ihm kam 2017 ursprünglich über den Journalisten Günter Wallraff zustande – am Ende werden wir Sven fast vier Jahre begleiten. Das Entsetzen, aber auch die Verwunderung über den weiteren Verlauf seiner Geschichte sind ihm auch Jahre nach dem Vorfall noch anzumerken. «Ich weiß nur, dass ein Polizeibeamter direkt auf mich zukam, sehr aggressiv, so sind meine Erinnerungen. Und dann kam es wahrscheinlich schon zu dem Schlag.»
Während Sven ohnmächtig am Boden liegt, betreten weitere Polizist:innen die McDonald’s-Filiale. Einer von ihnen, Polizeihauptkommissar Jörg Telle, ist ein bulliger Typ, breites Kreuz, Glatze, stechender Blick. An seiner Seite zwei junge Kolleginnen: Sabrina Alber, Polizeioberkommissarin, und Sophia Marino, eine Polizeischülerin. Telle ist Marinos Ausbilder – das Verhältnis der beiden ist, vorsichtig ausgedrückt, angespannt.
Jörg Telle übernimmt als zuständiger Polizist vom Revier Köln-Mitte die Leitung des Einsatzes, seine Kolleginnen schirmen die Szenerie ab. Telle kümmert sich um den am Boden liegenden Sven. Allerdings nicht, indem er Erste Hilfe leistet und einen Krankenwagen ruft. Telle kneift Sven vielmehr erst einmal in den Arm, will einen sogenannten Schmerzreiz setzen. Dabei werden gezielt Schmerzen an besonders empfindlichen Stellen des Körpers verursacht. Rettungssanitäter:innen nutzen Schmerzreize, um Menschen aus einer Ohnmacht zu holen. Als Jörg Telles erstes Kneifen nicht erfolgreich ist, reibt er fest mit den Fingerknöcheln über eine besonders sensible Stelle am Brustbein des am Boden liegenden Sven. Der kommt zu sich und schreit auf.
Zeit, sich zu sammeln, sich vom Schmerz zu erholen, bleibt Sven allerdings nicht. Jörg Telle fesselt seine Hände mit Handschellen hinter dem Rücken. Weitere inzwischen eingetroffene Polizisten packen Sven an Armen und Beinen, um ihn nach draußen zu tragen. Er habe sich gewehrt, werden die Polizisten später vor Gericht aussagen. Doch mehrere Zeug:innen berichten, dass Sven wehrlos und schlapp, mit dem Gesicht nach unten, von den Beamten getragen wird. Sven wiegt nur 57 Kilogramm, ist 1,85 m groß. Seine Arme und seine Beine sind lang und dürr. Während die Polizisten ihn daran festhalten und nach draußen tragen, biegt sich sein Rücken auf unnatürliche Weise nach unten durch.
Das Ziel der Polizeibeamten ist ein etwa 200 Meter entfernt parkender Streifenwagen. Er steht mittig auf der Insel eines Kreisverkehrs, der Kölner Hauptbahnhof ist gleich um die Ecke. Rundherum geht noch immer das Treiben des Christopher Street Day weiter. Mehrere Zeug:innen beobachten deshalb, wie die Polizisten Sven, mit dem Gesicht nach unten und den gefesselten Händen auf dem Rücken, aus etwa 40 Zentimeter Höhe einfach fallen lassen.
…
Es ist Frühjahr 2019, als Sven erneut vom Schnellrestaurant zu diesem Kreisverkehr geht. Den Kragen der dunkelblauen Jacke hat er hochgeschlagen, einen dicken Schal um den Hals gewickelt. Er spricht mit rheinischem Singsang – seine Herkunft vom Niederrhein kann er nicht verleugnen. In der Hand hält er zwei Din-A4-Ausdrucke von Fotos. Auf dem ersten sieht man jemanden am Boden liegen. Der nackte Rücken zeigt zur Kamera, Boxershorts, die aus der Hose schauen, rote Turnschuhe an den dünnen, angewinkelten Beinen. Der Anblick lässt erschaudern.
Was man auf dem Bild außerdem sieht: neun Polizist:innen. Sie alle stehen um den am Boden liegenden Sven herum. Keiner verhindert, was nun geschieht. Jörg Telle, Polizeihauptkommissar und Leiter dieses Einsatzes, schlägt und tritt den am Boden liegenden Sven.
Nur eine Polizistin wird ihm zur Seite stehen. Allerdings erst Monate später.
«Ich lag da am Boden und hatte Todesangst», sagt Sven. «Wirklich Todesangst! Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber innerlich habe ich mich einfach nur noch selbst umarmt.» Die Folgen dieses Zusammentreffens mit der Kölner Polizei sieht man auf dem zweiten Din-A4-Blatt, das Sven bei sich trägt. Gleich mehrere Fotos sind darauf abgedruckt. Svens Gesicht, aufgenommen von verschiedenen Seiten, übersät mit blauen Flecken.
Sven, mittlerweile manchmal eher Fachmann als Betroffener, doziert: «Hier am Ohr sieht man dieses Verletzungsmuster, das ist schon direkt schwarz, dunkelblau-schwarz, auch hinterm Ohr. Das ist auch die Seite, wo ich hier auf den Boden runtergedrückt worden bin. Und hier – das wurde auch am darauffolgenden Tag dann von meinem Hausarzt attestiert –, das ist ein Monokel-Hämatom, das ist immer ein Indiz für einen Schlag aufs Gesicht.»
Nach der Malträtierung vor dem Streifenwagen zwängen die Polizist:innen Sven ins Auto. Nicht leicht bei seiner Größe. Außerdem sind seine Hände nicht mehr nur im Rücken gefesselt. Polizist Jörg Telle hat die Handschellen außerdem noch mit einem Kabelbinder an Svens Gürtel befestigt. «Daran kann ich mich noch genau erinnern», sagt Sven zu dem Moment, als er ins Auto sollte. «Das war auch sehr schmerzhaft, ich wurde runtergedrückt. Von der anderen Seite stieg dann ein beteiligter Polizist ins Auto, der hat mich dann ins Gesicht geschlagen und hat gesagt: ‹Das brauchst du doch, du Schwuchtel!›»
Sven sagt, er habe mehrfach gefragt, wo sie ihn hinbringen, aber keine Antwort bekommen. Sein Kopf wird von Polizist Jörg Telle fixiert. Nach draußen blicken kann er nicht. Nicht zu wissen, was als Nächstes passiert, ist schrecklich für ihn. Er fühlt sich ausgeliefert, hat panische Angst.
Er beschimpft die Polizisten im Auto. Nennt sie «Nazis» und «Wichser». Er sagt, er sei HIV-positiv und wünschte, sie würden sich anstecken. Er spuckt in Richtung der Polizisten und bekommt daraufhin einen sogenannten «Spuckschutz» aufgesetzt. Ähnlich einer OP-Maske werden damit Mund und Nase bedeckt, Sven hat das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen.
Es ist nicht das erste Mal, dass er Gewalt erlebt. Wenige Jahre zuvor hatte sein Vater ihn verprügelt. Einmal im Sommer 2013, dann an Heiligabend, im gleichen Jahr.
Das zweite Mal erlebt er Gewalt im Juli 2014. Da ist er in der Nähe der sogenannten «Kölner Ringe» unterwegs, einer Party-Meile, vor allem für Jugendliche. Er ist am frühen Morgen auf dem Heimweg, als er feststellt, dass er seinen Schlüssel in der Tasche einer Freundin vergessen hat, die bereits in ein Taxi gestiegen ist.
Vor einer Bäckerei stehen einige Tische und Stühle. Während er versucht, die Freundin zu erreichen, setzt er sich. Drei junge Männer kommen auf ihn zu, verprügeln ihn, ohne dass er sagen kann, warum. Sven, der schon damals zwar groß, aber auch sehr dünn ist, hat ihnen wenig entgegenzusetzen. Er sei nicht mal aufgestanden, sagt er, habe nur versucht, die Schläge abzuwehren.
Eine Erfahrung, die ihm noch lange in den Knochen steckt. Und die nach den Schlägen durch die Polizisten, im Sommer 2016 beim Christopher Street Day, sofort wieder auflebt. Dass es diesmal allerdings Polizisten sind, die zuschlagen, Menschen, von denen er eigentlich immer gehofft hatte, dass sie ihn schützen würden, das machte alles noch viel schlimmer.
Das Polizeiauto hält schließlich, nach nur zehn Minuten Fahrt. Sven weiß immer noch nicht, wo er ist. Auf der Polizeiwache in Köln-Kalk wird er an die Kolleg:innen des sogenannten Gewahrsams übergeben. Ob sie erkennen, dass ihm Unrecht widerfährt?
Es ist 17.04 Uhr am 3. Juli 2016, als Svens Einlieferung in den Polizeigewahrsamsdienst dokumentiert wird. Der Kölner Gewahrsam ist einer der größten im Land. Über 50 Zellen säumen hier drei Gänge, die sich aus der Vogelperspektive betrachtet wie ein H zusammensetzen. Die Wände sind weiß gefliest, alles ist klinisch rein, steril und «sehr hochwertig verarbeitet», sagt ein Polizist, der dort arbeitet. Keine Fliese darf hervorstehen, keine der vielen grauen Türen auch nur die kleinste Unebenheit aufweisen. Denn sonst ist die Gefahr zu groß, dass sich Insass:innen daran verletzen könnte. Unabsichtlich oder gar absichtlich. Das Gefühl, in einer Zelle zu sein, löst bei Menschen immer wieder Panik aus.
Dass viele derjenigen, die hier in Gewahrsam genommen werden, kein leichtes Leben führen, das könne man riechen, sagt der, der dort arbeitet. Und er meint es nicht abschätzig, sondern schildert es relativ nüchtern. Zwar sehe das Auge die sauberen weißen Wände, die grauen Türen, ganz ordentlich in Reih und Glied. Aber die Nase lasse sich nicht täuschen. In der Luft liege meist eine Mischung aus Urin, Kot, Erbrochenem und Schweiß.
Für Sven ist an diesem Ort jetzt ein anderer Polizist verantwortlich – der Wachdienstführer des Spätdienstes, Polizeioberkommissar Markus Möller. Möller scheint ein bedächtiger Typ zu sein, doch auch Jörg Telle kommt nach dem Einsatz mit ins Gebäude. Er muss noch Unterlagen ausfüllen. Und er kann offenbar seinen Kollegen Möller davon überzeugen, dass Sven eine Gefahr für sich und andere darstellt. Möller hätte intervenieren und Telle sagen können, dass Sven eher ins Krankenhaus gehört. Aber offenbar geschieht nichts dergleichen. Sven landet schließlich in Zelle 14. Auch hier sind die Wände sorgsam weiß gekachelt. Es gibt eine Pritsche, eine Toilette – und in der Tür das Guckloch für die Polizist:innen und eine Klappe, durch die Essen gereicht werden kann.
Hier soll Sven die nächsten Stunden verbringen. «Mit Zwang zur Zelle gebracht und durchsucht», schreibt Markus Möller in die Einlieferungsdokumentation. Eigentlich muss ein:e Richter:in bestätigen, dass einem Menschen in Deutschland die Freiheit entzogen wird, dass er eingesperrt werden darf – und wenn es auch nur für kurze Zeit ist. Doch Jörg Telle schreibt, dass er keine:n Richter:in habe fragen können, weil keine vor Ort gewesen seien und er telefonisch auch keine habe erreichen können.
Wie oft er es telefonisch versucht hat, steht nicht in der Dokumentation. Was dort aber steht: dass Sven in seiner Zelle an einem Fuß gefesselt wurde.
Fixiert an einer speziellen Vorrichtung in der Zelle. Sven kann sich kaum bewegen. Vorne wurde er durchsucht und musste sein Jeans, seine Turnschuhe, selbst seine Socken ausziehen. Nun trägt er nur noch Unterhose und T-Shirt und fühlt sich nackt. Niemand habe ihm erklärt, wie es weitergehen wird, sagt Sven später aus. Die Panik, ausgeliefert zu sein, sie sei immer wieder hochgekommen. Die Fassungslosigkeit darüber, dass es Polizist:innen sind, die ihn so behandeln, die ihm keine Chance geben, seine Version der Geschichte zu erzählen. Das alles sei beklemmend gewesen.
In der Zelle gibt es eine Klingel. Immer wieder, erinnert sich Sven, habe er über diese Klingel versucht, Kontakt mit den Beamt:innen aufzunehmen. Doch wenn niemand reagiert, dann ertönt das Klingelgeräusch dauerhaft auch in der Zelle. Sven kommt es vor wie Folter.
Er möchte mit seiner Anwältin sprechen. Und er hat schrecklichen Durst. Außerdem muss er unbedingt seine Medizin nehmen. Die Medikamente, die er wegen seiner HIV-Erkrankung braucht. Sie sind für ihn lebenswichtig. Doch stattdessen verlangen die Polizisten, er solle einen Alkoholtest machen und einen Drogenschnelltest. Polizeihauptkommissar Jörg Telle, der Mann, der im McDonald’s den Schmerzreiz setzte und ihn am Kreisverkehr trat, ordnet an, dass ein Test auf Drogen- oder Alkoholkonsum durch eine Blutentnahme erfolgen soll. Blut abnehmen, mit einer Nadel in den Körper eines Menschen eindringen, der dem nicht zugestimmt hat, darf in Deutschland aber nur, wer eine Staatsanwält:in einschaltet und die Genehmigung einer Richter:in vorlegen kann.
Jörg Telle ruft den Staatsanwalt an, der Bereitschaftsdienst hat. Der geht nicht ans Telefon – so sagt es Telle später vor Gericht aus. Er versucht es allerdings kein zweites Mal. Und Telle entscheidet außerdem, dass er für einen richterlichen Beschluss ja den Bericht des Staatsanwalts bräuchte. Es lohne sich also gar nicht, die eingeteilte Richterin anzurufen. Sein Argument: Schließlich sei Gefahr im Verzug. Der Alkohol und die Drogen seien ja mit fortschreitender Zeit immer weniger in Svens Blut nachzuweisen. Und so bleibt Sven eingesperrt, ohne dass, wie gesetzlich vorgeschrieben, eine Richter:in dem zustimmt.
Um 18.10 Uhr betritt schließlich ein Arzt Svens Zelle. Er will Sven Blut abnehmen, hat die Nadel schon in der Hand. Sven sagt, er möchte nicht, dass der Arzt ihm Blut abnimmt. Aber es hilft nichts. Die Blutprobe, die es nicht hätte geben dürfen, trägt die Venülnummer 075469. Dann füllt der Arzt eine «Bescheinigung über Gewahrsamsfähigkeit» und den Vordruck «Ärztliches Untersuchungsprotokoll zur Feststellung der Gewahrsamsfähigkeit» aus. Eine zusätzliche Untersuchung dafür gibt es nicht. Dem Arzt reicht, wie er Sven während der Blutabnahme erlebt hat.
Im Untersuchungsprotokoll steht: Svens Sprache sei klar, die Pupillen normal, sein Kreislauf stabil, die Atmung unauffällig. Er habe Kratzer am Unterarm und im Gesicht. Dann prüft der Arzt Svens Bewusstsein nach der sogenannten «Glasgow Coma Scale». Hinter dem Begriff verbirgt sich eine übliche medizinische Methode, um zu prüfen, ob ein:e Patient:in nach einer Kopfverletzung Schwierigkeiten hat zu reden, zu sehen oder sich zu bewegen. Der Arzt stellt fest: Svens Augen öffnen spontan, er sei orientiert, könne motorisch Anweisungen befolgen und verbal angemessen reagieren. Die Werte sind ideal, Höchstzahl von 15 Punkten.
In einem psychopathologischen Befund schreibt der Arzt, dass Sven sich auch zeitlich und örtlich orientieren könne und wisse, wer er ist. Sein Antrieb sei normal, seine Stimmung situationsangemessen, sogar ausgeglichen. Selbst Svens Denkfähigkeit wird vom Arzt beurteilt. Sie sei «formal geordnet und inhaltlich normal». Warum jemand mit diesen Untersuchungsergebnissen zur Ausnüchterung in einer Zelle bleiben soll, fragt der Arzt nicht.
Und auch seine HIV-Medikamente erhält Sven nicht. Stattdessen kümmert sich der Arzt erst einmal um Polizeihauptkommissar Jörg Telle und bescheinigt ihm Kratzer am Unterarm – noch bevor er sich um Sven kümmert, dessen Blutabnahme ja laut Telle schnellstmöglich erfolgen solle. Mit der Bescheinigung des Arztes wird Jörg Telle später gegen Sven klagen.
Sven aber bleibt nach dem Arztbesuch allein in der Zelle. Sein Fuß bleibt gefesselt, auch wenn der Arzt seinen Zustand für stabil und unauffällig hält. Sein Verstand sagt Sven, dass er nun vor allem zwei Dinge braucht: Informationen und seine Medizin. Immer wieder versucht er deshalb, über den Klingelknopf Kontakt aufzunehmen. Erst um 21 Uhr, also vier Stunden, nachdem er in die Zelle gesperrt wurde, kommt ein Beamter und bringt ihm seine Medikamente. Außerdem einen kleinen Becher mit Wasser.
Ein Hoffnungsschimmer? Endlich ein Polizist, der ihm helfen wird? Im Gegenteil: Statt ihm zuzuhören, tritt ihm der Polizist mit Wucht gegen das Bein und sagt kühl: «Du Wichser! Das wirst du morgen noch spüren!» Dann verlässt der Polizist die Zelle, schließt ab und notiert in der Akte: «21.05 Uhr – Medikation erhalten».
Was Sven nicht weiß: Während er in der Zelle sitzt, versuchen die Polizist:innen auf dem Polizeirevier, nun doch eine Bestätigung dafür zu bekommen, dass sie Sven festhalten dürfen. Gleich über dem Eintrag, dass Sven seine Medikamente erhalten habe, findet sich in der Akte ein roter Stempelabdruck mit dem Schriftzug «Richter benachrichtigt».
Daneben schreibt der Schichtleiter handschriftlich, dass er am Telefon mit einer Richterin gesprochen habe. Diese Richterin wird später bei einer Gerichtsverhandlung als Zeugin gehört. Ihre Reaktion auf die Aktennotiz wird dem Prozess eine weitere besondere Note verleihen.
Und Sven? Um Mitternacht soll er einen zweiten Alkoholtest machen. Diesmal wird ihm kein Blut abgenommen, diesmal stimmt er zu, in ein Röhrchen zu pusten. Das Ergebnis: Nur noch etwa 0,16 Promille im Blut. Beim ersten Test waren 1,12 Promille.
Daraufhin sagen ihm die Polizeibeamt:innen, er könne nun gehen. Er bittet darum, dass sie ihm einen Krankenwagen rufen. Die Verletzungen verursachen starke Schmerzen, er fühlt sich schlapp, nicht in der Lage, allein nach Hause zu gehen.
Zumal er immer noch nicht weiß, wo er sich eigentlich befindet. Dass die Polizisten ihn zu einer völlig unscheinbaren, grau-metallischen Hintertür des Polizeipräsidiums hinausführen, trägt nicht zu seiner Orientierung bei. Der Vordereingang des Gebäudes mag Menschen in Köln vielleicht bekannt sein. Dort weist auch ein Schild darauf hin, dass hier das Polizeipräsidium seinen Sitz hat und wie die Adresse lautet. Sven dagegen sackt neben der grauen Stahltür auf den Boden. Er blickt durch die Dunkelheit der Nacht nur auf ein paar Sträucher und die grauen Betonpfeiler eines Parkhauses.
Neben ihm liegt ein Stapel nasser Kleidung. Eine Jeans, Socken, rote Turnschuhe. Warum sie nass sind, kann er sich nicht erklären. Als er sie ausziehen musste, waren sie trocken. Als die Beamten ihn bei der Entlassung zwingen wollen, die tropfende Kleidung anzuziehen, weigert er sich. Und so schieben sie ihn in Unterhose vor die Tür.
«Das war ein Bild voller Scham», sagt Sven, als er zwei Jahre später wieder auf die Stahltür in der hellgrauen Betonwand schaut: «Ein Bild voller Schmerz, Leid, und ja, auch Gewalt.» Sven erinnert sich, wie er sofort versuchte, Hilfe zu bekommen. Er wählt auf seinem Handy die 112 und bittet um Hilfe. Vergebens. Dann hält ein Streifenwagen auf dem Bürgersteig nahe der Stahltür. Und für einen kurzen Moment denkt Sven, dass diese Polizist:innen ihm vielleicht helfen werden. Es wäre doch ihr Job. Doch sie drohen ihm. Er solle verschwinden. Sie sprechen einen Platzverweis aus. Wenn er nicht geht, würden sie ihn wieder einsperren.
Sven ist verzweifelt, er hat Schmerzen und friert. Als letzten Ausweg ruft er seine Eltern an. Die liegen im 60 Kilometer entfernten Mönchengladbach bereits im Bett. Sven spricht davon, dass er misshandelt worden sei. Seine Eltern springen aus dem Bett und fahren Richtung Köln.
Noch im Wagen versucht Svens Mutter telefonisch mit ihm zu klären, wo genau sie ihn abholen müssen. Doch Sven ist immer noch zu aufgewühlt, um herauszufinden, wo ihn die Polizei festgehalten hat. Dann steht plötzlich wieder ein Polizist vor Sven. Wieder kommt es zu einem Konflikt. Svens Mutter kann am Handy mithören. Sie ist eine patente, zurückhaltende Frau mit kurzen welligen Haaren und Brille. Sie schaltet schnell und bittet ihren Sohn, dem Polizisten das Telefon zu reichen. Sie ist überzeugt: Wenn sie als erwachsene Frau mit einem Polizeibeamten spricht, dann werden sich die Dinge schnell zum Guten wenden.
Noch Jahre später, im Gerichtssaal, ist Svens Mutter die Fassungslosigkeit darüber anzumerken, wie unhöflich, rüpelhaft und respektlos der Polizist am Telefon mit ihr und über ihren Sohn redete. Auch er wiederholt den Platzverweis für Sven.
Seine Eltern finden ihn schließlich, zusammengekauert am Straßenrand. Die Mutter will seine Kleidung nehmen und zuckt zurück, als sie merkt, dass sie nass ist. Dann riecht sie daran. Die Möglichkeit, dass Polizist:innen am Christopher Street Day auf die Anziehsachen ihres Sohnes uriniert haben, scheint ihr mittlerweile zumindest nicht mehr komplett abwegig zu sein. Sie riecht nichts Auffälliges, aber der Anblick ihres Sohnes wird ihr trotzdem noch lange in Erinnerung bleiben.
Als Sven endlich bei seinen Eltern im Auto sitzt, zögern sie nicht und machen sich auf den Weg in die Städtischen Kliniken Mönchengladbach-Rheydt. Es ist mittlerweile drei Uhr in der Nacht. Ein Arzt in der Ambulanz untersucht Svens Verletzungen und dokumentiert sie.
Er macht Fotos, vor allem von Svens Kopf und seinem Gesicht. Darunter stehen die medizinischen Fachbegriffe: ein «flächiges Hämatom des linken Oberlids, sowie beider Ohrmuscheln. Prellmarken am gesamten Körperbereich verteilt, mit Striemen und Schürfungen». Die Diagnosen lauten: «Schädelprellung. Prellung der linken Hand und des Handgelenks, multiple Schürfungen».
Vor allem die Flecken an Svens ausgeprägten Wangenknochen sehen erschreckend aus. Schon jetzt, keine 12 Stunden später, sind sie blau bis lila. Auch die bläuliche Färbung am Ohr lässt Svens Schmerzen erahnen.
Der Arzt ist besorgt und empfiehlt, dass Sven über Nacht im Krankenhaus bleiben solle. Vor allem wegen der Kopfverletzung sei es besser, wenn er noch eine Weile beobachtet werde. Aber Sven möchte bei seinen Eltern bleiben. Er will nicht allein in einem Krankenzimmer sein, allein wach liegen und grübeln, was ihm widerfahren ist. Auf eigenes Risiko entscheidet er sich, bei seinen Eltern zu übernachten. Dort fühlt er sich zum ersten Mal in Sicherheit.
Wie konnte das alles passieren? Neben die Scham, dass man ihn halbnackt mit nasser Kleidung vor die Tür der Wache gesetzt hat, und die körperlichen Schmerzen tritt bei Sven am nächsten Morgen Fassungslosigkeit. Er fühlt sich wie ein «Häufchen Elend», wie er sagt, traumatisiert. Und immer wieder stellt er sich die Frage: Wie kann es sein, dass Menschen, die eigentlich zu seinem Schutz da sind, plötzlich zu seinen Peinigern werden? Einfach zuschlagen, ohne erkennbaren Grund?
Ist die Polizei manchmal nicht Freund und Helfer, sondern Feind?
Dietmar Schilff sind solche Gedanken völlig fremd. Er ist bei der Polizei das, was man wohl einen alten Hasen nennen würde. Seit über 40 Jahren im Dienst. Einer, der viel erlebt hat im Beruf. Jahrelang hat Dietmar Schilff die sogenannten Castor-Transporte vor Demonstrant:innen schützen müssen, Züge mit Atommüll, die durch Niedersachsen ins Zwischenlager Gorleben rollten. Auseinandersetzungen waren vorprogrammiert. Lange ist er Streife gefahren. Schilff ist ein untersetzter Typ Ende 50, mit Glatze, er trägt Ohrring, seine Stimme klingt manchmal gepresst. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie er auftreten kann, wenn es einer Ansage bedarf.
Heute ist Dietmar Schilff Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Niedersachsen und ihr Vizechef auf Bundesebene.
Er sagt, die Polizei mache gute Arbeit, doch Dank und Respekt dafür blieben zunehmend aus. Gerade Politiker:innen hielten viele Sonntagsreden, «Weihnachtsansprachen», wie Dietmar Schilff es nennt, in denen die Polizei gelobt würde. «Aber wenn es dann konkret wird, gibt es genug Leute, die sagen, die Polizei muss doch überprüft werden oder macht keine gute Arbeit. Und das ist verletzend und trifft uns sehr.»
Über 330.000 Polizeibeschäftigte gibt es laut Statistischem Bundesamt in Deutschland. Die Zahl umfasst sowohl die klassischen Polizist:innen als auch Verwaltungsbeamt:innen und Auszubildende. Schilffs Gewerkschaft ist die größte von drei Polizeivertretungen. Nach seinen Angaben hat die GdP rund 200.000 Mitglieder. Damit sind etwa zwei Drittel aller Polizist:innen dort organisiert.
Wenn Dietmar Schilff über deren Arbeit spricht, ist seine Stimme schnell am oberen Level, dort wo der Druck raus muss. Er sagt, die Zeiten seien härter geworden und Außenstehende hätten keine Ahnung vom Job-Alltag: «Wir haben Schichtdienste, die manchmal länger dauern als normal, weil wir zum Beispiel einen Unfall aufnehmen mit Toten und Verletzten. Wir haben Mordfälle, wo die Kolleginnen und Kollegen massiv Überstunden machen. Kinderpornografie, wo man in widerlichste Bereiche reinschaut. Wir haben Sondereinsätze der Bereitschaftspolizei, wo wir morgens nicht wissen, wo wir abends sind, ob wir gesund nach Hause kommen.»
Das alles könne niemand bewerten, der nicht wisse, wie es ist, morgens früh um fünf Uhr nach dem dritten 12-Stunden-Dienst nach Hause zu kommen. Kann man dem widersprechen? Dietmar Schilff hat sicher Recht, wenn er sagt, dass der Polizeiberuf ein besonderer Beruf ist – und manchmal auch besonders hart. Und dass die Mehrheit der deutschen Polizist:innen gute und rechtschaffene Arbeit macht. Immer wieder betont er, dass laut Umfragen 80 Prozent der Bevölkerung der Polizei vertrauten. Das Verhältnis von Bürger:innen zur Polizei ist sicher weder grundsätzlich schlecht noch zerrüttet.
Ehrlich empört wirkt Schilff, wenn er schildert, wie etwa Fußball-Hooligans der Polizei zusetzen und sie mit Bechern, in die sie zuvor hineingepinkelt haben, bewerfen. Oder in welch respektlosem Ton schon Jugendliche mit den Beamt:innen reden. Wie gefährlich es geworden ist in Brennpunktgebieten – manchmal würden Polizist:innen wie «Fußabtreter» behandelt.
Viele Kolleg:innen, die enthusiastisch in den Beruf starteten, entwickelten im Laufe der Jahre eine innere Abwehrhaltung, beklagt der Gewerkschafter. Wenn man dauerhaft angegriffen oder angemacht werde, lege man sich ein Schutzschild zu, «also nicht das, was man bei einer Demonstrationen trägt, sondern ein persönliches Schutzschild.» Und dann schlage Empathie nicht selten in Abstumpfung um.
Auf der anderen Seite: Werden Polizist:innen nicht gerade dafür ausgebildet und bezahlt, solche Situationen auszuhalten? Nicht zuzuschlagen, wo anderen die Hand ausrutscht? Cool zu bleiben, wo anderen die Sicherung durchbrennt? Und muss man nicht die Frage stellen dürfen, ob das Bild der Polizist:innen vom Freund und Helfer nicht längst Risse bekommen hat?
Man merkt Schilff an, dass er seinen Job ungerecht bewertet sieht. Er hat ihn oft genug verteidigt. Man merkt aber auch, dass seine Argumente reflexartig kommen, zu einer Vorwärtsverteidigung geworden sind, um eine Diskussion über das System Polizei abzuschneiden. Nach dem Motto: Wir haben einen harten Job, ihr habt keine Ahnung davon, also lasst uns mit Kritik in Ruhe.
Immer wieder geht er in Ja-Aber-Stellung. Ja, es gebe schwarze Schafe bei der Polizei, sagt Dietmar Schilff dann, natürlich. «Und jeder Einzelfall ist einer zu viel.» Aber: man dürfe nicht die gesamte Polizei unter Generalverdacht stellen. Seit Jahren führe die Polizei in der Bevölkerung die Vertrauensskala bei den Berufen an – «und das ist unser Indiz dafür, dass wir als Polizei eine sehr, sehr gute Arbeit machen.»
Würde aber eine strenge externe Kontrolle nicht helfen, auch noch diejenigen loszuwerden, die keine gute Arbeit machen? Ja, sagt Schilff: «Wenn jemand ein Gewaltmonopol hat, dann muss man sich kontrollieren lassen.» Aber: von einer externen Ermittlungsstelle, die Polizeiverfehlungen unabhängig aufklärt, hält er nichts. Das regele man innerhalb des Polizeiapparats, oder gegebenenfalls seien solche Fälle Sache der Justiz. «Wir haben interne Möglichkeiten, das aufzuarbeiten, und wir sehen nicht unbedingt die Notwendigkeit, dass wir eine Instanz schaffen neben einer justiziellen Instanz, die wir haben. Wir brauchen keine Schattengerichtsbarkeit.»
Schattengerichtsbarkeit? Ein hartes Wort. Es suggeriert illegale Aburteilungen, außerhalb des Rechtsstaatssystems. Die Wortwahl zeigt: Externe Kontrolle ist ein Reizthema für die Polizei. Von außen soll besser niemand beurteilen, ob polizeiliches Verhalten legal war oder illegal. Dabei ist das, was Polizist:innen erlaubt ist, über die Jahre immer mehr geworden. Polizeirechte wurden zu Lasten der Bürger:innen-Rechte immer weiter ausgedehnt.
Aufgabe der Polizei ist es, Gefahren zu verhindern und bei rechtswidrigen Handlungen einzuschreiten. Sie soll Täter:innen verfolgen und dingfest machen. Grob gesagt: Polizist:innen sollen für den inneren Frieden in Deutschland sorgen. Dabei dürfen und müssen sie auch Gewalt anwenden, manchmal sogar von der Schusswaffe Gebrauch machen. Sie dürfen zudem Personen kontrollieren oder sie auffordern, einen bestimmten Ort zu verlassen.
Auch wenn manche Bürger:innen in solchen Situationen gerne eine Diskussion über Grundrechte mit der Polizei beginnen: Zunächst müssen solche Anweisungen von jedermann befolgt werden. Erst später, in einem Gerichtsverfahren, können Bürger:innen eine Polizeimaßnahme rechtlich überprüfen lassen. Unmittelbar vor Ort heißt es: Diskutieren mag, je nach Situation, erlaubt sein, sich widersetzen nicht. Und das macht durchaus Sinn. Gerade wenn Gefahr droht und es schnell gehen muss, kann Polizist:innen nicht abverlangt werden, über ihre Anweisungen zu debattieren.
Wie die Rechte und Pflichten von Polizist:innen konkret aussehen, ist in den Gesetzen der einzelnen Bundesländer nachzulesen. Denn: Polizei ist Ländersache. Das heißt, dass die Länderparlamente – und nicht der Bund – bestimmen, wie Polizei funktioniert, was Polizei darf und was nicht.