Christiana Figueres und
Tom Rivett-Carnac
DIE ZUKUNFT IN
UNSERER HAND
Wie wir
die Klimakrise
überleben
Aus dem Englischen
von Henning Dedekind
C.H.Beck
In den kommenden Jahrzehnten wird sich der Klimawandel in stärkerer Weise bemerkbar machen und zu mehr Zwangsmigrationen, Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktion und mehr extremen Wetterlagen führen. Zunehmend werden populistische Führer die kurzfristigen Interessen derer, die sie regieren, vorschützen, um ihre Politik durchzusetzen. Wir brauchen deshalb dringend Veränderungen in dem Tempo, das die Wissenschaft verlangt, und in einer Weise, die mit Demokratie vereinbar ist. Klimapolitik muss alltagstauglich werden. Dafür entwerfen Christiana Figueres und Tom Rivett-Carnac einen Zehn-Punkte-Plan und fragen sich, was jede(r) von uns für seine Umsetzung tun kann – jetzt gleich, heute oder morgen, noch diese Woche, in diesem Monat, in diesem Jahr, bis 2030, vor 2050.
«Eines der inspirierendsten Bücher, die ich je gelesen habe.» - Yuval Noah Harari
Die Costa-Ricanerin Christiana Figueres war bis 2016 Generalsekretärin der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und zuvor Chefin des Klimasekretariats der UN in Bonn. Der Brite Tom Rivett-Carnac war während der Verhandlungen des Pariser Klimaabkommens ihr Senior Advisor.
Vorbemerkung
Einleitung: Das entscheidende Jahrzehnt
Teil I: ZWEI WELTEN
Kapitel 1: Wir wählen unsere Zukunft
Kapitel 2: Die Welt, wie wir sie gerade schaffen
Kapitel 3: Die Welt, wie wir sie schaffen müssen
Teil II: DREI DENKWEISEN
Kapitel 4: Wer wollen wir sein?
Kapitel 5: Hartnäckiger Optimismus
Kapitel 6: Unerschöpflicher Reichtum
Kapitel 7: Radikale Regeneration
Teil III: ZEHN MASSNAHMEN
Kapitel 8: Tun, was notwendig ist
1. Lassen Sie die alte Welt los!
2. Stellen Sie sich der Realität, aber halten Sie an einer Vision der Zukunft fest!
3. Verteidigen Sie die Wahrheit!
4. Sehen Sie sich selbst als Bürger – nicht als Konsument!
5. Tragen Sie dazu bei, fossile Brennstoffe zu überwinden …
6. … und die Erde wiederaufzuforsten!
7. Investieren Sie in eine saubere Wirtschaft!
8. Nutzen Sie Technik verantwortungsvoll!
9. Schaffen Sie Geschlechtergleichheit!
10. Engagieren Sie sich politisch!
Fazit: Eine neue Geschichte
Was Sie jetzt tun können – Wie die Vision einer regenerativen Welt Wirklichkeit wird – ein Handlungsplan
Sofort
Heute oder morgen
Diese Woche
Diesen Monat
Dieses Jahr
Bis 2030
Vor 2050
ANHANG
Tipping Points
Temperatur-Szenarien
Danksagung
Anmerkungen
Einleitung
Das entscheidende Jahrzehnt
Kapitel 1
Wir wählen unsere Zukunft
Kapitel 2
Die Welt, wie wir sie gerade schaffen
Kapitel 3
Die Welt, wie wir sie schaffen müssen
Kapitel 4
Wer wollen wir sein?
Kapitel 5
Hartnäckiger Optimismus
Kapitel 6
Unerschöpflicher Reichtum
Kapitel 7
Radikale Regeneration
Kapitel 8
Tun, was notwendig ist
Fazit
Eine neue Geschichte
Bibliografie und Literaturhinweise
Das Problem
Eine neue Zukunft: politischer, gesellschaftlicher,
technologischer und kultureller Wandel
Wirtschaft
Persönliches Handeln und Aufbau von Bewegungen
Natur
Wissenschaftliche Quellen
Wir widmen dieses Buch
Christianas Töchtern NAIMA und YIHANA,
Toms Tochter ZOË und Toms Sohn ARTHUR
sowie den Generationen,
die in der Zukunft leben werden,
über die wir heute entscheiden.
Beten wir nicht darum,
vor Gefahren geschützt zu sein,
sondern darum,
dass wir ihnen furchtlos
entgegentreten.
RABINDRANATH TAGORE
Wir sind sehr gute Freunde und Reisegefährten auf diesem Planeten, doch unterscheiden wir uns in vielerlei Hinsicht. Wir wurden in zwei verschiedenen geologischen Zeitaltern geboren. Christiana kam im Jahre 1956 zur Welt, am Ende des 12.000 Jahre währenden Holozäns, dessen stabiles Klima der Menschheit ermöglichte, sich zu verbreiten und zu gedeihen, und Tom im Jahre 1977, zu Beginn des Anthropozäns – welches dadurch geprägt ist, dass der Mensch eben jene Bedingungen zerstört, die ihm seine erfolgreiche Entwicklung gestattet haben.
Wir kommen aus zwei grundverschiedenen Gebieten der geopolitischen Landkarte: Christiana stammt aus Costa Rica, einem kleinen Entwicklungsland, das lange ein Musterbeispiel für Wirtschaftswachstum im Einklang mit der Natur war, und Tom aus Großbritannien, der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt und dem Geburtsort der durch Kohle ermöglichten industriellen Revolution.
Christiana stammt aus einer zutiefst politischen Familie, beide Seiten ihrer Familie sind nach Costa Rica eingewandert. Ihr Vater war dreimal Präsident des Landes und gilt heute als Vater des modernen Costa Rica. Er führte nicht nur eine im globalen Vergleich sehr weitreichende Umweltschutzpolitik ein, sondern ist bis heute der einzige Staatschef, der jemals eine Nationalarmee abgeschafft hat. Tom hingegen stammt aus einer alten, britischen Unternehmerfamilie. Er ist ein direkter Nachfahre des Gründungsvorsitzenden der East India Company, der ersten Gesellschaft in der Geschichte mit einer Privatarmee. Zu Toms frühesten Kindheitserinnerungen zählen Erkundungsgänge mit seinem Vater, einem Erdölgeologen.
Christiana ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, Tom Vater einer Tochter und eines Sohnes, die beide noch keine zehn Jahre alt sind.
Wir haben also eigentlich nicht viel gemeinsam, doch teilen wir das Wichtigste: die Sorge um die Zukunft unserer Kinder und um die Zukunft der Menschheit. Im Jahr 2013 beschlossen wir, zusammenzuarbeiten, um eine bessere Welt für alle Kinder zu schaffen.
Von 2010 bis 2016 war Christiana Generalsekretärin des Sekretariats der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC), einer Organisation, die mit der Aufgabe befasst war, die Reaktionen aller Staaten auf den Klimawandel zu koordinieren. Direkt nach dem dramatischen Debakel auf der Weltklimakonferenz 2009 in Kopenhagen übernahm sie damit höchste Verantwortung auf Verhandlungsebene. Sie weigerte sich zu akzeptieren, dass eine globale Übereinkunft unmöglich sein sollte.
Im Jahre 2013 hörte sie von Tom, damals Präsident und Geschäftsführer des Carbon Disclosure Project U. S. A. und ein ehemaliger buddhistischer Mönch. Da sie diese so ungewöhnliche Kombination von Erfahrungen interessant fand, bat Christiana ihn um ein Treffen in New York. Sie wollte herausbekommen, ob er ihr leitender politischer Berater werden könnte. Am Ende eines Spaziergangs durch Manhattan, der den größten Teil des Tages in Anspruch nahm, wandte sich Christiana an Tom und sagte: «Ich stelle fest, dass Sie über die für diesen Job notwendige Berufserfahrung nicht verfügen. Aber Sie besitzen etwas viel Wichtigeres: die Bescheidenheit, kollektives Wissen zu fördern, und den Mut, innerhalb komplexer Zusammenhänge zu arbeiten, die sich nicht ohne Weiteres darstellen lassen.»
Damit bot sie ihm an, als ihr leitender Politikstratege die Bemühungen der Vereinten Nationen bei der Vorbereitung der Pariser Klimakonferenz zu unterstützen. Er entwarf und leitete die großteils im Verborgenen operierende Groundswell Initiative, die bei einer breiten Palette von Akteuren außerhalb der nationalen Staatsführungen Unterstützung für das ambitionierte Abkommen mobilisierte. Ein paar Jahre später wurde das bislang umfassendste internationale Übereinkommen zum Klimaschutz schließlich verabschiedet.
Als es am 12. Dezember 2015 um 19.25 Uhr so weit war, sprangen 5000 Delegierte, die stundenlang den Atem angehalten hatten, begeistert von ihren Sitzen auf und feierten den historischen Durchbruch. Gerade eben hatten 195 Staaten einstimmig ein Übereinkommen verabschiedet, das ihre Volkswirtschaften über die nächsten vier Jahrzehnte leiten sollte. Ein neuer globaler Pfad war damit vorgezeichnet.
Pfade sind jedoch nur dann von Wert, wenn man ihnen folgt. Die Menschheit hat die Klimafrage viel zu lange aufgeschoben. Wir müssen diesen Pfad jetzt beschreiten – und wir müssen uns beeilen. Dieses Buch weist den Weg bei einem Wettlauf gegen die Zeit, und wir hoffen, dass Sie uns auf diesem Weg begleiten werden.
Einleitung
Als wir dieses Buch schrieben, hatte die Corona-Pandemie die Welt noch nicht erfasst. Tatsächlich konnten wir gerade die ersten drei Termine einer geplanten einjährigen Lesereise absolvieren, dann traten wir eilig die Heimreise nach Costa Rica und Großbritannien an. Es folgte ein globaler Lockdown. Seitdem waren wir regelmäßig schockiert, wie viele Aspekte sowohl der dystopischen als auch der wünschenswerten Zukunft, die wir in diesem Buch beschreiben, plötzlich klar hervortraten und sich scharf voneinander abgrenzten. Mehr als je zuvor sind wir entschlossen, unseren Teil dazu beizutragen, dass unsere Zukunft eine von uns bewusst gewählte Zukunft wird und keine, der wir blind entgegentorkeln.
Der Beginn dieses Jahrzehnts hat uns allen eine Menge abverlangt. Ganz gleich, ob wir nun Einsamkeit, Angst, Trauer, Begeisterung, Hoffnung oder Dankbarkeit erlebten – wir mussten uns an einen Zustand erhöhter Empfindsamkeit gewöhnen, in dem zwei widerstreitende Realitäten um unsere Aufmerksamkeit rangen.
Die eine ist die unablässige Ausbeutung und Verschmutzung unserer globalen Gemeingüter – unserer Wälder, Meere, Flüsse, Böden und der Luft –, obwohl wir wissen, dass unsere Gesundheit und unser Wohlergehen davon abhängen. Nach wie vor beobachten wir ein Wirtschaftswachstum, welches auf der ungezügelten Förderung und Verbrennung fossiler Energieträger gründet, obwohl wir genau wissen, dass dies die Zusammensetzung unserer Atmosphäre verändert, unseren Planeten aufheizt und die uns erhaltenden natürlichen Systeme an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt. Das Jahrzehnt begann ungünstig, da uns die tödliche Corona-Pandemie, die Lockdowns, Schulschließungen, Kurzarbeit und die Gefährdung von Arbeitsplätzen zeitweise von den längerfristigen Herausforderungen ablenkten. An diese Probleme erinnert uns nachdrücklich die Tatsache, dass die TreibhausgasEmissionen 2020 zwar deutlich zurückgingen, aber gleichzeitig ein neuer Rekord für das heißeste Jahr auf dem Planeten verzeichnet wurde.
Wenngleich vielen Menschen die fortdauernde und intensive Zerstörung immer noch nicht bewusst ist und manche sie sogar lieber ignorieren, spüren doch langsam alle die Konsequenzen. Artensterben, Superstürme, Hitzewellen, Dürren, Brände sowie das durch sie verursachte menschliche Elend und der wirtschaftliche Schaden – in Verbindung mit jahrhundertelangen Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen als Wurzeln politischer und gesellschaftlicher Unruhen – werden immer häufiger. Wir können diese Angelegenheiten gesondert betrachten, aber sie sind alle auf komplexe Weise miteinander verbunden.
Wir können unsere Augen und Ohren vor all dem Elend nicht verschließen. Auch nicht vor der Tatsache, dass wir das Aussterben unserer eigenen Spezies einläuten, sollten wir einfach weitermachen wie bisher. Wir haben die fortdauernde Vernichtung unserer natürlichen Lebensräume bislang immer noch nicht mit der Frage in Verbindung gebracht, wie es uns künftig gelingen soll, für unsere Gesundheit und Sicherheit und die unserer Kinder zu sorgen, uns zu ernähren, Küstenstriche zu besiedeln und die Bewohnbarkeit unserer Häuser zu gewährleisten.
Das ist eine schwierige Realität, aber wir müssen uns mit ihr abfinden. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir nicht in der Lage sein, die Verzweiflung zu begreifen, über die viele Menschen verständlicherweise nicht hinwegkommen.
Im selben Maße müssen wir an unserer Überzeugung festhalten, dass wir trotz und vielleicht sogar aufgrund dieser Realität das Potenzial besitzen, aktiv in die Gegenrichtung zu steuern, und genau das beginnt bereits. Gemeinden, Unternehmen, Städte und sogar Regierungen suchen und finden zunehmend Antworten auf die planetare und klimatische Krise, getrieben von der immer beunruhigenderen wissenschaftlichen Datenlage und den Forderungen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten nach dringend notwendiger Veränderung.
Wir erinnern uns an ein zwölfjähriges Mädchen, das an einem Freitagmorgen um 10 Uhr gemeinsam mit seinen Freunden durch Washington, D. C. marschierte; sie trugen ein selbstgemaltes Bild der Erde, eingeschlossen von roten Flammen. In London bildeten schwarz gekleidete erwachsene Demonstranten, die Helme der Bereitschaftspolizei trugen, eine Menschenkette und blockierten den Verkehr am Piccadilly Circus, während sich andere auf dem Bürgersteig vor der BP-Konzernzentrale buchstäblich festklebten. Im südkoreanischen Seoul wimmelten die Straßen von Grundschülern mit bunten Rucksäcken und Spruchbändern, auf denen «Climate Strike» zu lesen war – wegen der erhofften Medienaufmerksamkeit auf Englisch. In Bangkok gingen Hunderte Schüler auf die Straße. Fest entschlossen und tief besorgt folgten sie ihrer trotzigen Anführerin, einem elfjährigen Mädchen mit einem Schild: The oceans are rising and so are we – der Meeresspiegel steigt, und auch wir erheben uns.
Von den Unabhängigkeitsbestrebungen in Indien bis zur Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten kam es zum Ausbruch zivilen Ungehorsams stets dann, wenn eine herrschende Ungerechtigkeit unerträglich wurde – wie wir es nun hinsichtlich des Klimawandels erleben. Der Schmerz und die Qualen dieses Augenblicks, die inakzeptable Ungerechtigkeit einer Generation gegenüber einer anderen und ein erbärmlicher Mangel an Solidarität gegenüber den Schwächsten haben die Schleusentore des Protests geöffnet. Dieser Protest kommt von jungen Menschen, die im Internet oder auf der Straße ihre Stimme erheben; er bildet sich in einem veränderten Kunden- oder Aktionärsverhalten ab, in Gerichtsverfahren, Boykotten und nicht zuletzt an der Wahlurne. Klimabewusstsein und klimaverantwortliches Handeln erreichen dadurch eine neue Stufe. Mit einher geht ein rasanter wirtschaftlicher Wandel, der Lösungen für die Klimakrise immer attraktiver macht. Politische Entscheidungsträger sind somit gefordert, die dringend benötigten politischen und systemischen Veränderungen zu reflektieren und umzusetzen.
Der positive Effekt des historischen Pariser Abkommens, das alle Regierungen der Erde im Dezember 2015 einstimmig verabschiedeten und meist in Rekordzeit ratifizierten, ist darüber hinaus unstrittig. Das Abkommen skizziert eine gemeinsame Strategie für den Kampf gegen den Klimawandel. Inzwischen plant jede große Macht der Welt die Umstellung ihrer Energiesysteme auf zu 100 Prozent erneuerbare Energien. Präsident Biden beschloss an seinem ersten Tag im Amt den Wiedereintritt in das Pariser Abkommen und hat den Klimaschutz ganz oben auf seine politische Agenda gesetzt. Große Volkswirtschaften wie China und die USA sowie über eintausend große Unternehmen haben sich dem Ziel verpflichtet, bis etwa Mitte des Jahrhunderts Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Einige Unternehmen und Regierungen haben sich dafür eine Frist bis lange vor 2050 gesetzt, und manche haben es bereits geschafft. Öl- und Gaskonzerne sind nun gezwungen, sich in bislang für völlig unrealistisch gehaltenen Zeiträumen neu aufzustellen, zum einen wegen der pandemiebedingten Nachfrageeinbrüche, zum anderen aber auch, weil die alternativen Energien rasch weniger riskant und wettbewerbsfähiger werden. Für die meisten Großfinanziers ist Kohle als Anlage längst hinfällig, da Solar- und Windenergie in den meisten Ländern der Erde heute die billigsten Stromquellen sind. Auf breiter Front wird Geld von CO2-intensiven Anlagen abgezogen und in CO2-arme Anlagen investiert. Wir sind auf dem richtigen Weg, wenngleich erst an dessen Anfang, unsere Energieproduktion und unseren Energieverbrauch komplett umzustellen. Das wiederum führt bereits jetzt zu grundlegenden Veränderungen in Industrie, Transportwesen und Landwirtschaft.
Vielen Menschen geht dieser Wandel nicht schnell genug. Angesichts des Ausmaßes unserer Krise betrachten sie ein Vorgehen Schritt für Schritt als unangemessen. Schließlich wissen wir spätestens seit den 1930er Jahren um die Möglichkeit eines Klimawandels. Im Jahr 1960 wurde dies bestätigt, als der Geochemiker Charles Keeling einen jährlichen Anstieg des von ihm in der Erdatmosphäre gemessenen CO2 feststellte.[1] Während die meisten Regierungen unentschlossen blieben, arbeiteten Umweltschützer und Klimaaktivisten hinter den Kulissen mit Hochdruck daran, die Grundlagen für den notwendigen Wandel zu schaffen. Endlich ist der Boden fruchtbar und solide genug für einen exponentiellen Aktivitätsanstieg, der im erforderlichen Tempo zu Lösungen führt. Jeder Wandel vollzieht sich erst schrittweise, dann plötzlich, und dieser «plötzliche» Teil der Klimarettung beginnt nun endlich zu greifen, wie sich in den ersten Stadien der spannendsten wirtschaftlichen Umstrukturierung zeigt, die wir je erlebt haben.
Die beiden gegensätzlichen Realitäten – die eine dystopisch und die andere regenerativ – weisen inzwischen dieselbe Dynamik auf, wenngleich die meisten Menschen die erste immer noch für wahrscheinlicher halten. Wollte man diese beiden Realitäten in einem Diagramm gegeneinander auftragen, dann, so glauben wir, markiert der Beginn dieses entscheidenden Jahrzehnts den Punkt, an dem die beiden Kurven sich schneiden. Jetzt endlich überholt die wachsende Dynamik zum Schutz und zur Erhaltung unserer globalen Gemeingüter die Realität, die durch deren Vernichtung gekennzeichnet ist. Es ist die schiere Intensität dieser beiden möglichen Entwicklungsverläufe, die diesen einmaligen Moment in der Geschichte zu einer aufregenden und privilegierten Zeit machen, am Leben zu sein – verstörend und spannend zugleich.
Unsere Verantwortung ist es nun, die Weichen für die erwünschte Zukunft zu stellen; noch nie hatten wir so viel Rückenwind. Wir haben bereits eine ganze Reihe gesellschaftlicher und politischer Erfolge erzielt; wir verfügen über die meisten, wenn nicht sämtliche dafür notwendigen Technologien; wir haben das notwendige Kapital, und wir wissen, welche Strategien am wirksamsten sind. Die notwendigen Veränderungen sind beträchtlich, aber wir können es schaffen.
Wenn wir von der Zukunft aus auf dieses Jahrzehnt zurückblicken könnten, wie Historiker beispielsweise die Renaissance, die Aufklärung oder die Digitale Revolution betrachtet haben, würden wir erkennen, dass wir heute an einem echten Wendepunkt stehen: an dem Punkt, an dem wir (auf den Fundamenten von Vernunft, Wissenschaft, Technologie und Humanismus) die Möglichkeit haben, unsere Wechselwirkung mit der gesamten Natur und auch miteinander in vollem Umfang zu erkennen und bewusst und absichtsvoll den Kurs zu ändern.
Dies ist der Augenblick, in dem die durch menschliche Aktivität frei werdenden Treibhausgas-Emissionen sinken. Mit diesem Rückgang einher gehen die Schaffung neuer Arbeitsplätze und gesundheitliche Fortschritte: Wir werden eine bessere Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln haben, sauberere Luft, eine florierende Biodiversität und wirtschaftlichen Wohlstand. Dies ist der Augenblick, in dem wir endlich erkennen, dass wir das Leben, uns selbst und einander genügend lieben, um uns selbst zu retten.
Wir beide sind gleichermaßen empört und optimistisch; uns schwirrt der Kopf angesichts dessen, was noch erreicht werden kann. Wir laden Sie ein, sich auf unsere Seite zu stellen – die beiden Realitäten zu akzeptieren, die vor uns liegen – und Ihren Teil dazu beizutragen, durch hartnäckigen Optimismus den notwendigen Wandel möglich zu machen (der Frage, wie man hartnäckig optimistisch sein kann, haben wir ein ganzes Kapitel gewidmet).
Wie wir es erreichen, dass auf einem blühenden Planeten alle Menschen überall gut leben können, wird das spannendste Kapitel in der Menschheitsgeschichte werden. Dieses Buch will ein Leitfaden sein, wie wir dieses Kapitel gemeinsam schreiben können.
Teil I
Kapitel 1
Die geologische Zeit ist lang und langsam. Zumindest war sie das einmal. Eiszeiten, während derer riesige Gletscher einen großen Teil der nördlichen Kontinente bedeckten, gab es in der Geschichte unseres Planeten immer wieder. Die letzte Eiszeit dauerte etwa 2,6 Millionen Jahre. Mit einer graduellen Erwärmung, ausgelöst durch natürliche Einflüsse auf das Erdklima, ließen wir diese Eiszeit langsam hinter uns und gingen ins Holozän über, das sich über 12.000 Jahre erstreckte – bis zum 20. Jahrhundert. Die Temperaturen in dieser erdgeschichtlichen Epoche waren relativ stabil und lagen abweichend jeweils nur ein Grad Celsius ober- oder unterhalb des Durchschnitts.[1]
In diesem geologischen Zeitalter schufen Temperaturen, Niederschlagsmuster sowie terrestrische und ozeanische Ökosysteme ideale natürliche Bedingungen für die Ausbreitung und Entwicklung des Menschen. Dank der stabilen Umweltbedingungen konnte die menschliche Spezies – etwa zehntausend Individuen in kleinen Stammesgemeinschaften – sesshaft werden, sich zu Bauern und Siedlern entwickeln und schließlich Städte hervorbringen, Industrien und maschinelle Produktion. Die Menschheit blühte auf und wuchs auf eine Gesamtbevölkerung von derzeit 7,7 Milliarden an.[2]
Während des Holozäns «schuf das Leben dem Leben zuträgliche Bedingungen».[3] Wir hätten weiterhin in diesem geologischen Zeitalter leben können. Aber das taten wir nicht.[4]
Während der letzten 50 Jahre haben wir die natürliche Stabilität des blauen Planeten massiv aus dem Gleichgewicht gebracht und dadurch unser eigenes Überleben auf der Erde gefährdet. Unser Lebensstil seit der industriellen Revolution hat allen natürlichen Systemen schwere Schäden zugefügt. Hauptsächlich verursacht durch die ungezügelte Nutzung fossiler Brennstoffe und weltweite Kahlschläge im großen Stil, übersteigt die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre heute sämtliche Werte seit Beginn der letzten Eiszeit.[5] Das führt weltweit zu immer extremeren Wetterereignissen: Überschwemmungen, Hitzewellen, Dürren, Waldbrände und Hurrikans. Die Hälfte aller tropischen Wälder der Erde sind bereits abgeholzt, und jedes Jahr gehen weitere zwölf Millionen Hektar verloren. Wenn das gegenwärtige Tempo anhält, könnten in etwa 40 Jahren eine Milliarde Hektar Wald fehlen – eine Fläche von der Größe Europas.[6] In den letzten 50 Jahren sind die Populationen von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Reptilien und Amphibien im Durchschnitt um 60 Prozent zurückgegangen. Manche Experten vermuten, dass das sechste Massenaussterben bereits begonnen hat.[7] Jüngsten Forschungen zufolge sind derzeit zwölf Prozent aller lebenden Spezies bedroht, was durch den Klimawandel signifikant verstärkt wird.[8] Die Meere haben mehr als 90 Prozent der überschüssigen Wärme absorbiert, die wir während der letzten 50 Jahre produziert haben.[9] Als Folge davon ist die Hälfte aller Korallenriffe der Welt bereits abgestorben,[10] und das arktische Sommereis, dessen Reflexionsfähigkeit für die Temperaturregulierung auf der ganzen Welt von hoher Bedeutung ist, geht rapide zurück.[11] Das Abschmelzen von Landgletschern hat den Meeresspiegel bereits um mehr als 20 Zentimeter erhöht, was zu zunehmender Salzeintragung in vielen Grundwasserschichten führt, Sturmfluten verschlimmert und für tiefliegende Inseln eine existenzielle Bedrohung darstellt.[12] Kurz, in den letzten 50 Jahren haben wir die Menschheit und den Planeten vom vorangegangenen, angenehmen Holozän ins Anthropozän katapultiert, ein neues geologisches Zeitalter, in dem die biochemischen Bedingungen nicht von natürlichen Prozessen, sondern von den spürbaren Auswirkungen menschlicher Aktivität bestimmt werden. Zum ersten Mal ist der Mensch der wichtigste Treiber eines umfassenden Klimawandels auf dem Planeten.[13]
Alle Studien, die Sie möglicherweise über das Anthropozän lesen, verweisen auf Zerstörungen nie dagewesenen Ausmaßes, die wir in den vergangenen fünf Jahrzehnten verursacht haben.[14] Die solchen Analysen zugrunde liegende Annahme ist, dass die Würfel gefallen sind und das gesamte geologische Zeitalter von einer zunehmenden Verwüstung geprägt ist.
Unser Standpunkt ist radikal anders.
Wir argumentieren, dass eine solche Verwüstung zwar immer wahrscheinlicher wird, aber keinesfalls unser unausweichliches Schicksal darstellt. Noch nicht. Der Anfang dieses Abschnitts der Menschheitsgeschichte ist zwar unwiderruflich niedergelegt und hat bereits schmerzhafte Spuren hinterlassen, aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Wir halten den Stift noch in der Hand. Tatsächlich halten wir ihn fester denn je zuvor. Wir können beschließen, eine Geschichte der Regeneration sowohl der Natur als auch des menschlichen Geistes zu schreiben. Aber wir müssen uns entscheiden. Bei der Entscheidung, in welcher Welt wir und künftige Generationen leben sollen, gibt es keine große Auswahl; eigentlich gibt es nur zwei Optionen, die beide im Pariser Abkommen abgebildet sind und die wir hier für Sie darstellen, damit Sie sich selbst ein Bild machen können. Vergessen wir nicht, dass wir den Planeten bereits um 0,9 Grad Celsius im Vergleich zur mittleren Temperatur vor der industriellen Revolution erwärmt haben. Mit dem Pariser Abkommen verpflichteten sich alle Staaten, die Erwärmung auf «höchstens zwei Grad Celsius» (und idealerweise darunter) zu begrenzen. Erreicht werden soll dies durch nationale Maßnahmen zur Emissionsreduzierung, die alle fünf Jahre substanziell verstärkt werden.
Um den Prozess in Gang zu setzen, legten 184 Länder im Jahre 2015 detailliert fest, was sie in den ersten fünf Jahren danach unternehmen wollten, und vereinbarten, sich alle fünf Jahre zu treffen, um weiterreichende Verpflichtungen einzugehen, da die erste Runde von Verpflichtungen nur der erste Schritt in Richtung des langfristigen Ziels der Netto-Null-Emissionen war.
Nachfolgend zeigen wir zwei verschiedene Szenarien auf. Eines davon wird unsere Realität werden.
IN DER WELT, DIE WIR MOMENTAN ERSCHAFFEN, IST ES MEHR ALS DREI GRAD WÄRMER.[15] Das erste Szenario, mit dem wir uns hier befassen, zeigt, wie gefährlich der Weg ist, auf dem wir uns gerade befinden. Wenn Staaten, Unternehmen und jeder Einzelne von uns keine weiteren Anstrengungen unternehmen, als die im Jahre 2015 eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen, werden wir bis 2100 eine Erderwärmung von mindestens 3,7 Grad Celsius erreichen. Schlimmer noch käme es, wenn nicht einmal die bisherigen Verpflichtungen eingehalten würden. Dann müsste man mit einer Erwärmung von vier oder fünf Grad rechnen (siehe Anhang, Seite 189). Seien Sie gewarnt, dieses Zukunftsszenario ist finster. Obwohl sich viele Worst-Case-Szenarien bis zur zweiten Hälfte des Jahrhunderts wahrscheinlich kaum bemerkbar machen würden, ist unstrittig, dass in der Jahrhundertmitte das menschliche Elend groß und die Biodiversität stark verringert wäre. Wir und unsere Kinder würden in einer Welt leben, deren Lebensbedingungen sich laufend verschlechtern, ohne dass sich dies noch in irgendeiner Weise aufhalten ließe.
DIE WELT, DIE WIR SCHAFFEN MÜSSEN, BEGRENZT DIE ERWÄRMUNG AUF MAXIMAL 1,5 GRAD CELSIUS.[16] Was die bereits ausgestoßenen Emissionen betrifft, lässt sich die Uhr nicht zurückdrehen. Dennoch können wir selbst in diesem späten Stadium eine bessere Welt anstreben und dieses Ziel auch erreichen – eine Welt, in der Natur und Mensch nicht nur überleben, sondern gemeinsam gedeihen. Die Wissenschaft sagt klar und deutlich, dass das 1,5 Grad wärmere Szenario immer noch im Bereich des Möglichen liegt, der zeitliche Spielraum dafür aber rapide abnimmt. Um eine wenigstens fünfzigprozentige Erfolgschance zu haben (was an sich schon ein inakzeptabel hohes Risiko darstellt), müssen wir die weltweiten Emissionen bis zum Jahre 2030 auf die Hälfte des derzeitigen Niveaus reduzieren und spätesten 2050 bei Netto-Null-Emissionen anlangen.[17] Eine Einsparung dieser Größenordnung erfordert in so gut wie allen Lebens- und Arbeitsbereichen gewaltige Veränderungen – von der massiven Wiederaufforstung zu neuen Methoden in der Landwirtschaft, vom Ende der Kohlegewinnung bis zum Jahre 2020 und der bald darauf folgenden Einstellung der Öl- und Gasförderung bis zur vollständigen Abkehr von fossilen Brennstoffen und vom Verbrennungsmotor.
Was wir im Einzelnen tun müssen, wird später in diesem Buch aufgeführt. Für den Augenblick genügt es, sich klarzumachen, dass wir unsere Zukunft selbst in der Hand haben und sie kollektiv gestalten können. Es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, dass eine bessere Zukunft nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich wird, und dann nicht nur wahrscheinlich, sondern vorhersehbar.
Der große Baseball-Spieler Yogi Berra sagte einmal, dass Vorhersagen schwer zu treffen seien, insbesondere über die Zukunft. Bei der Konstruktion dieser Szenarien ist uns bewusst, dass eine Vorhersage über die Welt in 30 Jahren bis zu einem gewissen Grad ein imaginäres Unterfangen ist. Dennoch wird alles, was wir in diesen Szenarien vor Ihnen ausbreiten, von führenden Wissenschaftlern vorhergesagt oder erwartet.[18] Tatsächlich sind viele wissenschaftliche Vorhersagen bereits eingetreten. Lesen Sie die beiden Szenarien also nicht als Zukunftsvorhersage, sondern als Warnung, was auf uns zukommen könnte, wenn wir unsere letzte Chance jetzt nicht nutzen.