Markus Janka
VERGILS AENEIS
Dichter, Werk und Wirkung
C.H.Beck
Die Aeneis des Vergil – das meistgelesene und am stärksten literarisch rezipierte Werk der Antike – darf zweifellos beanspruchen, zum Kanon der Weltliteratur zu gehören. In dem vorliegenden Band wird die Beziehung dieses Epos zum trojanischen Sagenkreis erhellt, erfolgt eine Einordnung in die antiken literarischen Traditionen und wird seine Stellung in der Vergilischen Dichtung bestimmt. Dem Gang der dramatischen Handlung, dem mythischen Personal und insbesondere den Abenteuern, Prüfungen und Tugenderweisen des Helden Aeneas sind die weiteren Kapitel gewidmet. Schließlich wird deutlich, weshalb dieses rund 10.000 Verse umfassende Meisterwerk eine Sonderstellung im Zeitalter des Augustus und den Rang eines «römischen Nationalepos» erlangen konnte.
Markus Janka lehrt als Professor für Klassische Philologie/Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit bilden die Themen antikes Drama, Ovid, Mythologie, Rhetorik und Erotik der Antike, Wirkungsgeschichte der antiken Literaturen sowie die Didaktik der Klassischen Sprachen und Literaturen.
1. Arma virumque cano: Die Aeneis als neu-homerischer Gesang
2. Carmen perpetuum et deductum: Die Aeneis als hellenistisches Kunststück
3. Ille ego qui …: Die Aeneis als Hauptwerk Vergils
4. Hic vir … Augustus Caesar: Die Aeneis als Epos des augusteischen Prinzipats
5. Dodekalog: Zwölf Bücher – zwölf Heldengeschichten
5.1 Der Held und seine Mission: Aeneas
5.2 Zwischen Herkunft und Zukunft: Laocoon
5.3 Auf der Suche nach neuer Zivilisation: Achaemenides
5.4 Im Bann von Amor und Fatum: Dido
5.5 Im Schutz des Väterkultes: Anchises
5.6 Prophetie und Seelenwanderung in helle Zukunft: Sibylla
5.7 Dilemma und Bewährung im gelobten Land: Latinus
5.8 Ur-Rom und palatinische Herrlichkeit: Euander
5.9 Kriegsgräuel und Heldentod: Nisus und Euryalus
5.10 Last der Verantwortung: Pallas
5.11 Amazonische Gegenkräfte: Camilla
5.12 Endkampf: Turnus
6. Imperium sine fine? Vergil heute
Literaturhinweise
Kritische Ausgabe
Ausgabe mit deutscher Übersetzung
Einführungsliteratur
Gesamtkommentar zur Aeneis
Forschungsliteratur
Fußnoten
Die Gesamtstruktur der Aeneis (schematische Darstellung)
Die Dido-Tragödie (schematische Darstellung)
Waffen und dem Mann gilt mein Gesang,
der von Trojas Strand erstin Italien als Schicksalsflüchtling erreichte Lavinums
Strände, viel über Länder getrieben und hohe See als
Spielball der Götter, denn wild und nachtragend
war Junos Grollen.Vieles auch hat er im Krieg ertragen, als Gründer der Neustadt
trug er die Götter nach Latium, daher das Volk der Latiner,
Albas Urväter und die Grundmauern römischer Größe.
Muse, mir sollst du begründen, durch welche Hoheitsverletzung,
welchen Schmerz die Götterherrin so großes Verhängnis
einem Muster an Bravheit, so große Bewährung in Mühsal
auferlegt hat. Tobt so in Herzen der Götter das Grollen?[1]
Anfang und Titelwörter sind Schlüssel zum Gesamtverständnis eines antiken Epos. Bereits mit den ersten vier Wörtern der Aeneis stellt Vergil sein Opus in die homerische Tradition. Waffen (arma) stehen für Krieg, Streit, Kampf und Heldenepos nach dem Vorbild der Ilias, die mit der Anrufung von Achills «Zorn» (mēnis) anhob. Der unmittelbar angefügte «Mann» (virum) greift auf das erste Wort der Odyssee zurück, deren Dichter seine Muse mit andra um ein Gedicht über den Tausendsassa Odysseus ersucht hatte. Das dritte Wort (cano) profiliert den Dichter als selbstbewussten und modernen Sänger, der den homerischen Musenanruf aus der Eröffnungszeile in den achten Vers verschoben und ihm somit eine sekundäre, dienende Funktion als eine Art Hommage an die Gattungstradition zugewiesen hat. Schon bevor er mit dem im Lateinischen vierten Wort Troiae die thematische Anknüpfung an den epischen Kyklos mit den sich um den trojanischen Krieg rankenden Sagen enthüllt, stellt Vergil klar: Das vorliegende Epos ist keine lateinische Übersetzung oder Adaption der homerischen Grundtexte im Stil der Odusia seines Vorgängers Livius Andronicus (um 240 v. Chr.), sondern vielmehr ein hyper- oder transhomerisches Projekt: Es umgreift Ilias und Odyssee in einem zeitgemäßen Gesang ganz eigener Wertigkeit. Der im Relativsatz prädizierte Held, dessen Name – wie in der Odyssee – zunächst ungenannt bleibt, ist demgemäß sowohl ein Mann, der auf Irrfahrten zur See dem Zorn der höchstrangigen Göttin Juno trotzt (V. 1–4), als auch ein Mann, der in heftigen Kriegen seinem Volk und dessen Göttern mit der Gründung einer Stadt eine neue Heimat in Italien erkämpft (V. 5–7). Diese historische Mission hebt Vergils epischen Helden wesentlich von seinen deutlich aufgerufenen Rollenvorbildern Achill und Odysseus ab, rückt ihn in die Nähe des legendären Stadtgründers Romulus und erhebt ihn zur Chiffre guter römischer Herrscher. Dieser Eindruck verstärkt sich, sobald Vergil nach seiner Anfrage an die Muse nach dem Grund für das katastrophal gestörte Einvernehmen mit der Göttermutter antithetisch die Haupteigenschaft seines Helden benennt: Achills Gewaltheftigkeit und Odysseus’ Wendigkeit, die ihre Träger als ambivalente Charaktere kennzeichnen, stellt er die mustergültige pietas seines Helden entgegen, dem er dadurch eine eher eindimensionale oder «flache» Prägung zuzuschreiben scheint. Doch davon sollte sich ein Leser oder Übersetzer nicht täuschen lassen. Dieser für die römische Kultur grundlegende Wertbegriff schillert in Vieldeutigkeit: Jede Festlegung in einer vereindeutigenden deutschen Übersetzung bleibt unbefriedigend. Meinen – nur auf den ersten Blick verniedlichend erscheinenden – Versuch, mit der Arbeitsübersetzung «Bravheit» eine Wiedergabe zu finden, die auf jeden Beleg von pietas/pius in der Aeneis anwendbar ist, mag man daher ruhig kritisieren. Er deckt immerhin die wesentlichen Konnotationen der verantwortungsbewussten Einstellung und des pflichtgetreuen Verhaltens gegenüber gemeinschaftsbezogenen Autoritäten aus den Bereichen Religion, Familie und Staat ab. «Frömmigkeit» oder «fromm» oder auch «treu» und «redlich» greifen demgegenüber viel zu kurz, während «pflichtbewusst» o.ä. hinter pius an poetischer Kraft und Flexibilität zurückbleibt. Das in seiner Idealität herausfordernde Charakterbild eines in dieser Hinsicht tadellosen Helden der Verantwortlichkeit lässt sich als vergilisches Manifest der Überwindung archaischer Selbstherrlichkeit lesen. Diese überträgt er bezeichnenderweise aus der Sphäre der Heroen in diejenige der anthropomorphen Götterpersonen. Achills Zorn und Streit aus dem Prooemium der Ilias wird gesteigert zum wilden, verhängnisvollen und nachtragenden Groll der Juno (V. 4 und V. 9–11). Die hyperhomerische Volte liegt nun darin, dass Vergils Juno in ihrer antagonistischen Funktion Achills Zorn auf Agamemnon aus der Ilias mit Poseidons unheilvollem Hass auf Odysseus aus der Odyssee verbindet. So erscheint das Motiv des göttlichen Gegenspielers des Haupthelden in der Aeneis potenziert. Zugleich steht mehr auf dem Spiel: Odysseus verliert auf seinem Nostos (Heimfahrt) sämtliche Kameraden und kehrt als Einzelkämpfer in die ersehnte Heimat zurück, wo er seine soziale Führungsposition in harten und quasi-epischen Kämpfen neu erringen muss. Vergils vir bleibt dagegen als Held der Gemeinschaft auf seiner Neugründungsmission an sein genus gebunden, aus dem ja teleologisch das erst zu einigende Volk der Latiner hervorgehen soll (V. 6).
Aus der Vielzahl möglicher homerkomparatistischer Makroskopien sei hier die prominenteste als Leitfaden für die Lektüre erprobt: Die epische Narration der Heldenhandlung setzt im Umfeld der vorletzten Station des Irrfahrers vor seiner Ankunft in der ihm vorherbestimmten Heimat an. Nach der Abfahrt aus Sizilien Richtung Italien werden die Aeneaden durch den von der hasserfüllten Juno erregten Seesturm nach Karthago in Nordafrika verschlagen (Aen. 1,34–222). Über diese Unbill beklagt sich Aeneas’ schützende Mutter und Fürsprecherin Venus bitterlich beim Göttervater Zeus, der die künftige Größe von Aeneas’ Nachkommenschaft als unabänderliches Weltgeschick prophezeit (Aen. 1,223–304). Vergil schichtet damit die Handlungsabfolge zu Beginn der Odyssee um: Dort ist die Götterszene mit der subjektiv gefärbten Klage der Athene über das jammervolle Geschick ihres auf Kalypsos «Gefängnisinsel» festsitzenden Schützlings Odysseus noch vor die Exposition der Heldennot durch den epischen Erzähler gerückt. Diese gestaltet er zweisträngig, indem die Telemachie oder Ithaka-Handlung die mehr und mehr akute Gefährdung seines durch Athene zum aktiven Jungherrscher erweckten Sohnes Telemachos durch die skrupellosen Brautwerber um seine Mutter Penelope vorführt (Hom. Od., Buch 1–4). Erst im fünften Gesang richtet sich der Erzählerblick auf den bei Kalypso an Heimweh und Entrückungsüberdruss leidenden Odysseus. Dieses Changieren zwischen realistischem (Ithaka) und phantastischem Raum (Ogygia) meidet Vergils moderneres Narrativ. Dieses mythisiert Roms historische Gegenspielerin Karthago in Gestalt von Didos neugegründeter Stadt zwar als Stätte der vorrömischen Zeit und überblendet diese mit Ogygia ebenso wie mit Kirkes Insel Aia als Ort der zeitweiligen Entrückung des Helden, belässt die Stadt aber im realistischen Raum. Als Ort der Rettung des Helden aus Seenot, als Schauplatz seiner umfangreichen Abenteuererzählungen und als Schwellengebiet mit Scharnierfunktion zum anvisierten Reiseziel dient im sechsten bis zwölften/dreizehnten Gesang der Odyssee das Phäakenland mit König Alkinoos und seiner Tochter Nausikaa. In der Aeneis übernimmt Didos Karthago als Ort der Gastfreundschaft, Aufgeschlossenheit und als sympathetischer Rahmen für Aeneas’ Erlebniserzählungen vom Untergang Trojas (Aen. 2) und seinen bisherigen Irrfahrten (Aen. 3) eben diese Funktion von Scheria. Didos unbändige und selbstzerstörerische Liebe zum kongenialen Aeneas, die göttliches Eingreifen zu einem gnadenlosen Ende mit desaströsen Folgen für die Königin bringt, lässt sich als tragische Übersteigerung der im fünften Gesang der Odyssee göttlich-leichtlebigen Liebes-, Zerrüttungs- und Trennungsaffäre um Kalypso und Odysseus lesen. Vergils Schwellenzone Sizilien steuert Aeneas ebenso zweimal an wie Odysseus Kirkes Insel Aia, ebenfalls sowohl Übergangsort als auch Ausgangspunkt für die Unterweltsreise. In der Aeneis gewinnt Sizilien als Schauplatz zunächst heiterer, dann durch den Brand der Schiffe überschatteter Spiele zudem eine phäakische Qualität. Diese erweitert Vergil, indem er im Sinn der imperialien Teleologie seines Epos (S. 41–58) Aeneas auf Sizilien für die Alten und Reiseunwilligen die Stadt Acesta gründen lässt, der er somit trojanische Abkunft und dauerhafte Verbundenheit mit Rom zuschreibt. Kurz vor der Werkmitte wagen sowohl Odysseus als auch Aeneas ihr letztes Abenteuer, indem sie auf Geheiß der Kirke resp. des Anchises im Totenreich einen Kundschafter (Teiresias resp. wiederum Anchises) aufsuchen. Im Fall der Unterweltserzählung (Katabasis) von Od. 11 und Aen. 6 fallen makrostrukturelle und motivisch-szenische Analogie weitgehend zusammen. Die Ankunft des Helden am – erst mit göttlicher Hilfe als solches erkannten – Reiseziel setzt Od. 13 und Aen. 7 in enge Beziehungen. In der zweiten Werkhälfte der Aeneis kann man strukturell eine transformierende Verschmelzung der Heimkehr-Handlung der Odyssee (Gesänge 13–24) mit der Gesamthandlung der Ilias erkennen: Aus der Geschichtenfülle des zehnjährigen Krieges und der – im Fall des Odysseus – ebenfalls zehnjährigen Kriegsheimkehrerschicksale greift der Erzähler der Ilias nur eine eher episodische Ereigniskette aus der Schlussphase des bronzezeitlichen ‹Weltkrieges› heraus: den folgenschweren Rangstreit zwischen dem Oberkommandierenden Agamemnon und seinem besten Kämpfer Achill, der die Elitetruppe der Myrmidonen (2500 Mann) anführt, in der Endphase des Krieges. Der sich am Ringen um die im Besitz eines Beutemädchens liegende Kriegerehre (géras) entzündende Männerstreit bringt als Motor eine epische Handlung in Gang, die vom Chryses/Apollo-Vorspiel im ersten Gesang bis zu Hektors Bestattung im 24. Gesang ganze 51 Tage aus der erzählten Zeit umspannt. Von diesem Ausschnitt aus dem Großgemälde sind allerdings dann nur vier «Kampftage» in voller epischer Breite ausgestaltet. Der Dichter vermag es, in dieser bedeutungsvollen Verknappung das große Ganze des wahrlich sagenhaften Krieges um Troja zu spiegeln und in dieses Tableau einzubeschreiben. Diese Erzählstruktur überträgt Vergil nun in flexibler, aber gleichwohl stets greifbarer Rückbezüglichkeit vom trojanischen auf den latinischen Krieg. Dessen deutlich kürzere Dauer mit nur drei Hauptkampftagen in Anwesenheit des Aeneas passt bestens mit der Erzählökonomie der Ilias zusammen. Die zu gefährlichster Bedrohung der eigenen Truppen führende Entfernung des besten Kämpfers aus den Reihen der Achaier resp. Aeneaden wird im Fall des Aeneas mit der Gewinnung von italischen Bündnispartnern und dem Empfang von Wunderwaffen aus göttlicher Werkstatt gerechtfertigt (Aen. 8 und 9): Diese gemeinwohlorientierte Uminterpretation des archaischen, für das Gemeinwohl unempfänglichen Heldengrolls des Achill gibt die Tonlage für Vergils anfängliche und beispielhafte Gestaltung der Kriegsheldenfigur seines Aeneas vor. Dieser erscheint zudem aus der Perspektive seiner böswilligen latinischen Widersacher im Zerrbild eines neuen «phrygischen Weichlings» (vgl. Turnus in Aeneis 12,99–100) und Frauenräubers Paris. Die Rolle des für den Haupthelden in die Bresche springenden prominentesten Ersatzkämpfers Patroklos aus der Ilias, dessen Tötung durch den gegnerischen Vorkämpfer Hektor dann zum Katalysator des Rachezorns des Haupthelden wird, hat Vergil mit Pallas, dem jugendlichen Sohn des in Pallanteum, also auf dem Palatin, herrschenden Arkaders Euander, besetzt. Dessen Tötung durch Turnus löst beim pflichtbewussten Aeneas zweimal jeweils punktuellen, aber umso heftigeren Rachezorn aus. Diesen setzt Vergil als Rückfall in archaische Exorbitanz und befremdliche Neuauflage von Achills erbarmungslosem Wüten gegen Hektor im Schlussteil der Ilias in Szene.
Mit vielfältigen, kunstreich ausgemalten Gleichnissen verleiht Vergil als epischer Erzähler insbesondere den Kampfhandlungen iliadisches Kolorit. Sein Neuarrangement der Gleichnisse soll sich anhand der Erschließung der Einzelbücher in Kap. 5 nachvollziehen lassen. Daher sind in die Analysen möglichst viele Gleichnisse einbezogen. Denn mit Blick auf den inneren Zusammenhalt von Vergils Gesamtwerk (vgl. Kap. 3) blenden die Gleichnisse die natürliche und kulturelle Welt der früheren Werke ein. Sie lassen diese mithin in homerischer Stilisierung in den Rahmen der größeren Gattungsform aufrücken.
Für die durchweg kreativen Verfahren, mit denen Vergil also die griechischen Urepen durchklingen lässt und intensive Dialoge mit Figuren, Strukturen und Darstellungsweisen aufnimmt, greifen die herkömmlichen philologischen Kategorien imitatio (Nachahmung) und aemulatio (Wettstreit) zwar Wichtiges auf. Sie reichen indes nicht weit genug, wenn man den alles beherrschenden Zug der innovatio (Erneuerung) der griechisch-epischen Tradition unterschätzt. Dieser wird in den Interpretationen des Kap. 5 anhand der in zahlreichen Einzelfällen zu erhellenden Techniken der Überblendung, Umgruppierung, Hybridisierung, Präfiguration, Retrospektive und Umperspektivierung zutage treten.
Mit dir beginnend, Phoibos, will Urzeitenruhm von Helden
ich in Erinnerung rufen… (Apoll. Rhod. Arg. 1,1–2a)
Mit den hier in Übersetzung zitierten Worten beginnt die berühmteste epische Dichtung der hellenistischen Zeit, ja das einzige griechische Epos, das zwischen dem archaischen Homer und dem spätantiken Quintus aus Smyrna (4. Jahrhundert n. Chr.) vollständig erhalten ist. Es stammt von dem hochgelehrten Dichter, Erzieher eines ptolemäischen Prinzen und alexandrinischen Bibliotheksleiter Apollonios von Rhodos (um 300 bis 240 v. Chr.). Er lässt sein Argonautenepos mit einer Markierung des Anfangs und einer Berufung auf den Dichter- und Orakelgott Phoibos Apollon anheben. Die Musen kommen erst nach einem Einschub über das an Jasons Onkel Pelias ergangene Orakel ins Spiel (Apoll. Rhod. Arg. 1,21–23):
Nun aber möchte ich Abkunft und Namen erzählen
heldischer Männer, die weiten Wege zur See, ihre Taten
auf der Irrfahrt. Die Musen mögen begleiten mein Singen.
Die strukturelle Parallele zum Prooemium (Vorspruch) der Aeneis mit ihrem bis zum achten Vers aufgeschobenen Musenanruf führt uns auf die Spur zu den alexandrinischen Charakterzügen des Epikers Vergil: Als Dichter voller Gelehrsamkeit (poeta doctissimus) modernisiert dieser die homerische Tradition unter den Vorzeichen der herrscherhofbezogenen Intellektuellendichtung des Hellenismus. Vergil verknappt die weit ausholende Anfangsfloskel des Apollonios (archomenos … mnēsomai, V. 1–2) zwar zu einem lapidaren cano (ich singe), behält aber die selbstreflexive Dimension bei. Apollonios’ Futur mnēsomai wandelt er dann unter Wechsel der Perspektive in einen an die Muse gerichteten Imperativ um: mihi causas memora (Aen. 1,8 rufe mir die Gründe in Erinnerung). Hierin liegt eine Zuspitzung der von Apollonios in V. 23 vorsichtiger geäußerten Beistandsbitte an die Musen, die er mit einem gesuchten Nominalkompositum als hypophētores (eigentlich «Berater, Erklärer») herbeizitiert. Durch das Einweben des hellenistischen Vorbildes in das homerisch geprägte Prooemium unterstreicht Vergil sein Programm einer Umprägung der gesamten Tradition. Diese Poetologie, die man als geistreiches Spiel (lusus) im Sinn von Ovid deuten kann, bekräftigt Vergil auch strukturell: Wie Apollonios leitet er die zweite Hälfte der Aeneis mit einem Binnenprooemium ein, in dem er wie sein Vorläufer die Muse Erato um Beistand bittet (Apoll. Rhod. Arg. 3,1–5):
Auf jetzt, Erato, leiste mir Beistand, erzähle mir weiter
von da ab, als nach Jolkos verbrachte das Vlies der Iason
dank Medeias Verliebtheit, du hast ja an Kypris’ Treiben
Anteil, auf Ungebundene nimmst du betörend Einfluss,
auf junge Frauen, daher klingt auch nach Eros dein Name.
Die typisch alexandrische, gelehrte Anspielung auf die etymologische Verbindung zwischen dem Musennamen Erato (V. 1) und Eros (V. 5) gewinnt mit Blick auf Medeias leidenschaftliche Liebe zu Jason als Zentralthema des dritten Buches der Argonautika tieferen Sinn. Dagegen scheint die Anrufung eben dieser Muse zum Auftakt der durch «grausige Kriege» (horrida bella, Aen. 7,41) geprägten zweiten Werkhälfte der Aeneis eher als Hommage an Apollonios am Platz denn aus inhaltlichen Gesichtspunkten (Aen. 7,37–41):
Los nun, wer da herrschte, Erato, die Zeiten prägte,
wie es in Latium vor alters aussah, als diese Fremdlings-
streitmacht mit ihrer Flotte Ausoniens Küste erreichte,
das werde ich erzählen, den Urgrund enthüllen des Kampfes.
Du hilf dem Dichter, du Göttin. Ich künde
von grausigen Kriegen …
Eine Parallellektüre beider Binnenprooemien und ein Vergleich mit den jeweiligen Anfangsprooemien fördert jedoch noch weitere Botschaften des Dichters an seine Leser zutage: Die Ankunft des auf Beute ausziehenden Fremdlings Jason im unwirtlichen Kolchis ist mit der Ankunft des auf Niederlassung sinnenden Aeneas im widerstrebenden und kriegerischen Latium parallelisiert. Durch die Erato/Eros-Assonanz lässt Vergil bereits den Kampf um eine Braut (Lavinia) anklingen, den Aeneas («Paris») gegen Turnus («Menelaos») ausfechten wird. Die landeskundliche und ursprungsanalytische, also aitiologische Dimension, die Vergils Binnenprooemium prägt, greift auf das Anfangsprooemium der Argonautika zurück. Die Verbindung von Ursprungs- und Zielorten resp. -objekten durch die jeweils verdichtete Linienführung der epischen Narration verbindet alle vier hier verglichenen Texte. Apollonios’ Binnenprooem und Vergils Anfangsprooem gleichen sich darin, dass die handlungslenkende Gewalt beide Male in einem übermächtigen göttlichen oder von einem Gott ausgelösten Affekt erkannt wird. Junos für den Helden zerstörerischer Groll kehrt so betrachtet den für den Helden rettenden Eros der Medeia um. Mit der Anspielung auf dieses letztgenannte Motiv des Apollonios rekapituliert Vergil wiederum die Konstellation seines vierten Aeneisbuches. In diesem hatte er die von Eros/Amor in Venus’ Auftrag getroffene Königin Dido als eine karthagische Rächerin nach dem Vorbild der Medeia in Szene gesetzt. Schon diese wenigen Beispiele für die über Kreuz angeordnete oder über Banden spielende Intertextualität mögen den hohen Grad der allusiven Kompetenz des Dichters verdeutlichen, der eine solche auch bei seiner Leserschaft vorauszusetzen scheint. Die Großstruktur der Aeneis erweist sich in ihrer symmetrischen, doch vielfach intern verschränkten Anlage als eine komplexe Erweiterung von Apollonios’ schlichtem Grundmodell: Dieser hatte in der ersten Werkhälfte die Fahrt der Argo von Jolkos nach Kolchis und in der zweiten Hälfte die abenteuerliche Rückfahrt auf teils phantastischen Routen beschrieben.
Die Argonautika boten Vergil also das Muster für seine durch die Heldenreise verknüpften epischen Einzelerzählungen, die doch ganz den Prinzipien der alexandrinischen Dichtung verpflichtet bleiben. Kallimachos hatte deren Streben nach kleinen, aber umso feineren, ausgefeilten, raffinierten, kunstreichen und bildungsgesättigten Büchern mit dem Feindbild des «Riesenbuches, Riesenübels» (mega biblion, mega kakon) auf den Punkt gebracht. Apollonios hatte dementsprechend den 48 Büchern Ilias und Odyssee mit seinen vier Büchern Argonautika nur ein Zwölftel entgegengesetzt und damit ein auch in der römischen Poesie greifbares Ringen nach dem Motto «Je knapper, desto besser» in Gang gebracht. Vergil schafft dabei das Virtuosenstück, mit einem Viertel der Buchzahl von Ilias und Odyssee doch beide Epen nebst weiteren Bestandteilen aus dem epischen Kyklos zu einem transhomerischen Gebilde zu verdichten. So bleibt er auch als Verfasser eines vergleichsweise großen Epos mit einer durch die Heldenreise des Flüchtlings Aeneas aus dem zerstörten Troja nach Latium zusammengehaltenen, fortlaufenden Gesamthandlung der alexandrinische poeta doctissimus reinsten Wassers, als der er seine Laufbahn begonnen hatte.
Die abgezirkelte, ja oftmals klassisch-symmetrische Ausgestaltung der Einzelbücher ist zu Recht ein Markenzeichen der vergilischen Formvollendung. Dies bezeugt bereits sein offizielles Opus I, das Buch der Bucolica/Eclogen/Hirtengedichte, die als Schulbeispiel eines absolut strukturbewussten augusteischen Gedichtbuches gelten. Es liegt also nahe, die feinkünstlerische Austarierung der Einzelbücher unter großepisch veränderten Rahmenbedingungen auch in der Aeneis als Leitfaden der Interpretation zugrundezulegen. Ausgehen kann man von der Beobachtung, dass Vergil mit dem vierten Buch der Aeneis eine in sich geschlossene Binnenkomposition der unglücklichen Liebe der Herrscherfiguren Dido und Aeneas geschaffen hat, die strukturell und inhaltlich Gestaltungsformen aus Tragödie, Elegie und Epyllion vereint. Doch stellt das Einzelbuch bei der Gesamtbetrachtung der Aeneis weit mehr als eine besonders eindrucksvolle und beziehungsreiche Episode dar, sondern ist leitmotivisch in vielfacher Hinsicht stark mit dem Ganzen der epischen Handlungseinheit verzahnt. Ähnliches lässt sich nun – so meine in diesem Band zu entwickelnde These – in mehr oder minder deutlicher Abstufung für sämtliche Einzelbücher der Aeneis zeigen. Diese wird somit als ein hellenistisches Kunststück oder Gesamtkunstwerk aus zwölf jeweils in Form von abwechslungsreichen und oft tragisch endenden Aristien gestalteten Heldengeschichten lesbar. Somit vereint bereits die Aeneis die von Ovid für sein Universalepos übernommenen Leitideen des «Großgedichts» (carmen perpetuum) und des «Kleingedichts» (carmen deductum).
Ich, der ich einst auf zierlich kleiner Rohrflöte spielend
dichtete, ging heraus aus dem Wald zu verwandtem Thema,
dass auch bei größter Gier gehorchen die Felder dem Bauern,
nützliches Werk für den Landwirt, jetzt aber
schrecklichen Kriegsgotts- …
Im 42. Kapitel der Lebensbeschreibung Vergils, die unter dem Namen des spätantiken Philologen und Rhetoriklehrers Aelius Donatus (4. Jahrhundert n. Chr.) überliefert ist, sind diese Verse als von Vergil verfasster Beginn der Aeneis zitiert. Bei der postumen Redaktion des Epos habe Vergils Freund und Nachlassverwalter Varius eben diese vier Zeilen getilgt, sodass die Aeneis seither mit arma virumque cano … anfängt. Gleichgültig, wie es um die Historizität dieser Anekdote bestellt ist, so belegt der in der Forschung als «Vorprooem» der Aeneis bezeichnete Text eindeutig das Bestreben, die drei unbestritten echten Werke Vergils in eine chronologische und inhaltsorientierte Reihenfolge zu bringen. Die Linie führt dabei vom «einst» des Opus I der idyllischen, klein-feinen Hirtendichtung im vermeintlich einfachen, «niedrigen» Stil (genus tenue) über die Zwischenstation des Lehrgedichts vom Landbau (Georgica), das den Bauern praktische Lebenshilfe gibt, Land und Landwirtschaft Italiens verherrlicht und der mittleren Stilhöhe (genus medium) zugeordnet wird, zum Gipfel eines Kriegs- und Heldenepos im hohen Stil (genus grande). Dieser Aufstieg als Ordnungsprinzip eines gewissermaßen von vornherein auf ein höchstes Ziel hinstrebenden Lebenswerks wird durch einen zweiten, noch berühmteren Text kanonisiert: Donatus zufolge wurde Vergil nach seinem Tod am 21. September 19 v. Chr. in einem Grabmal an der nach Puteoli (heute Pozzuoli) führenden Straße am Rande Neapels beigesetzt, in dessen Nähe sich noch heute die Gedenkstätte des Vergilparks am Posilipp befindet. Als Grabinschrift habe Vergil persönlich folgendes Distichon verfasst (Vita Donati 36):