Franz Ansprenger
GESCHICHTE
AFRIKAS
Aktualisiert von Salua Nour
C.H.Beck
Afrika ist die Urheimat aller heute lebenden Menschen. Trotzdem gilt Afrika immer noch als ein Erdteil ohne Geschichte – und heute als eine politisch und wirtschaftlich hoffnungslose Weltgegend.
Das Buch zeichnet die Geschichte Afrikas über fünf Jahrtausende: vom alten Ägypten bis in die Gegenwart. Es behandelt ganz Afrika vom Mittelmeer bis zum Kap der Guten Hoffnung. Es zeigt das Wechselspiel zwischen der Eigendynamik der Völker Afrikas, die sich in harten Klimazonen einrichten mussten, und ihrer Herausforderung aus Übersee: durch Christentum und Islam, Sklavenhandel, Kolonialherrschaft und den Kalten Krieg der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nun auch die Globalisierung im 21. Jahrhundert.
Franz Ansprenger (†2020) war emeritierter Professor für Internationale Politik und leitete von 1968 bis 1992 die Arbeitsstelle Politik Afrikas an der Freien Universität Berlin.
Salua Nour ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und war Assistenz-Professorin und Mitarbeiterin von Franz Ansprenger an der Arbeitsstelle Politik Afrikas.
Vorwort zur fünften Auflage
I. Heimat der Menschenarten – oder: Der Große Sprung von Olduvai Gorge nach Gizeh
II. Die Wanderung der Bantu-Völker
III. Einer der ältesten Söhne Christi – der Löwe von Juda in Äthiopien
IV. Der Islam in Afrika bis 1500 n. Chr.
V. Entdeckung oder Völkermord? Der Atlantische Sklavenhandel
VI. Schwarze und weiße Siedler am Kap der Stürme – und künftiger Guter Hoffnung
VII. Staatenbildung und Reform. Das 19. Jahrhundert des selbstständigen Afrikas
VIII. Kattun, die Bibel und das Maschinengewehr. Koloniale und missionarische Eroberung
IX. Fremdherrschaft, Modernisierung und Befreiung – in die Demokratie oder neue Diktatur?
X. Afrika unter den Vereinten Nationen
Ein Blick auf die Literatur
Literaturverzeichnis
Orientierungsdaten seit 1807
Register
Fußnoten
Mit diesem zuerst im Jahr 2002 erschienenen Buch hat der renommierte Erneuerer der Afrika-Forschung, Franz Ansprenger, den Weg zu einer unvergesslichen Begegnung mit Afrika für mehrere Generationen von Afrika-Interessierten erschlossen. Inzwischen sind zahlreiche Bücher über die «Geschichte Afrikas» im deutsch-, englisch- und französischsprachigen Raum erschienen. Die Nachfrage nach diesem Buch blieb dennoch so groß, dass es inzwischen in fünfter Auflage veröffentlicht wird. Eine Erklärung für den bleibenden Wert dieses Buches wäre in seinen drei Alleinstellungsmerkmalen zu suchen:
Es enthält, erstens, die vollständigste Darstellung der Geschichte eines Kontinents auf nur 128 Seiten. Darin sind chronologisches Narrativ und die Analyse synchron verlaufender Prozesse so verknüpft, dass der Leser einen Einblick in die sich gegenseitig beeinflussenden Triebkräfte der facettenreichen afrikanischen Geschichte bekommt. Es werden, zweitens, die Trennungslinien zwischen der konventionellen eurozentristischen und der modernen, postkolonialen und kritischen Afrika-Historiographie transzendiert. Geschichte ist hier nicht das «Narrativ der Sieger», in dem Afrikaner als wehrlose Opfer kolonialer Gewalt stereotypisiert werden, und ist auch nicht die Geschichte in Form dogmatischer Schuldzuweisungen. Vielmehr wird das historische Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven ausgeleuchtet und werden Fragen aufgeworfen, mit denen der Autor das Interesse der Leser an einer vertiefenden Auseinandersetzung mit den Hintergründen und Triebkräften der «Geschichte Afrikas» wecken will, damit sich diese ein eigenes differenziertes Bild von den historischen Abläufen auf diesem Kontinent machen. Das dritte Alleinstellungsmerkmal ist die fesselnde und kurzweilige Sprache, in der das Buch verfasst ist. Darin zeigt sich die unübertroffene Fähigkeit des Verfassers, komplexe Zusammenhänge dem Leser ohne Belastung des Narrativs mit Details und dennoch ohne Verkürzungen zu erschließen.
Die «Aktualisierung» eines solchen Referenzwerks fast 20 Jahre nach seiner Vollendung stellt jedoch in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung dar, da sich einmal die einschlägige Forschung über die Vor- und Frühgeschichte Afrikas sowie die Unterwerfung des Kontinents den europäischen Gewinn- und Herrschaftsansprüchen in den letzten 500 Jahren rasch weiterentwickelt hat, und weil zum anderen das Buch die «Geschichte Afrikas» nur bis zur Jahrtausendwende abdeckt und nicht über den «quantensprungähnlichen» Wandel dieser Geschichte im Zuge der Globalisierung informiert. Der ersten Herausforderung konnte mit Hinweisen auf neue Literatur mühelos begegnet werden, da diese Literatur keine neuen Erkenntnisse enthält, durch welche das mit dem Buch vermittelte Wissen korrigiert oder in Frage gestellt werden müsste. Vielmehr liefert die neue Forschung Erkenntnisse, die der Vertiefung und Differenzierung der seit jeher über Afrika geführten historiografischen Debatten dienen. Die zweite und größere Herausforderung bei der Aktualisierung dieses Buchs bestand in seiner Ergänzung um ein Instrument für die Gewinnung sachlicher Informationen über die gegenwärtige Phase der «Geschichte Afrikas» seit Ausbruch des dritten «Scramble for Africa»[1] (Francisco Nyaxo Kofi Olympio, 2011) im 21. Jahrhundert.
Die Auseinandersetzung mit dieser neuen Geschichtsphase wird durch die Entstehung eines neoliberal geprägten Mainstream- und eines kritischen Gegen-Narrativs in der Geschichtsschreibung erschwert. Die damit vermittelten Erkenntnisse über die Ursachen der chronischen Probleme Afrikas (endogene versus exogene Determinanten des Ausbleibens wirtschaftlicher Entwicklung, der zunehmenden sozialen Ungleichheit und der gewaltsamen Konflikte) und über die Möglichkeit deren Überwindung (Good Governance und War on Terror versus Revision des «Markt-und-Macht»-Ordnungsmodells) werden jeweils anhand einer Vielfalt an theoretischen und methodologischen Instrumentarien erworben, die die Befassung mit dieser Phase der «Geschichte Afrikas» zu einem komplexen Unterfangen machen. Die daran interessierten Leser müssen diese Widersprüche wahrnehmen. Um sich ein möglichst realitätsnahes Bild von den Akteuren, ihren Interessen und Handlungsspielräumen sowie von den systemischen Faktoren zu verschaffen, die die historischen Abläufe in dieser Etappe bestimmen, müssen sie sowohl dem Mainstream- als auch dem Gegen-Narrativ Gehör schenken und sich bei der Annahme oder Ablehnung von Informationen und Interpretationen am Kriterium der Plausibilität orientieren. Das mag als mühseliges Programm zum Erwerb von Kenntnissen über die aktuelle Phase der «Geschichte Afrikas» erscheinen; es bleibt jedoch unerlässlich, wenn sich die Leser einen geordneten Zugang zur heutigen afrikanischen Realität erschließen wollen. Zur Deckung des dadurch entstandenen «Aktualisierungsbedarfs» wurden im Schlusskapitel «Ein Blick auf die Literatur» einige Hinweise auf neue, bezüglich dieser Entwicklungen weiterführende Literatur aufgenommen.
Salua Nour im März 2021
1 Erster Scramble for Africa (1884–1885) bezeichnet die Phase der Aufteilung des Kontinents unter den europäischen Kolonialmächten; Zweiter Scramble for Africa (1950–1990) bezeichnet den Kampf zwischen den Großmächten um Herrschaft/ideologische Vorherrschaft in Afrika während des Kalten Kriegs.
Der Anfang der Geschichte? Vorgeschichte? Archäologie? Paläoanthropologie? Erdgeschichte? Die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Fächern verschwimmen. Wenn wir nach europäischem Vorverständnis als Geschichte nur anerkennen, was in schriftlichen Quellen überliefert ist, folglich die Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft (zumindest in der Hauptsache) auf solchen Schriftquellen beruhen muss, und wenn wir alle Kenntnisse, die sich vornehmlich aus Bodenfunden ergeben, der Vorgeschichte zuordnen – dann haben die meisten Länder Afrikas in der Tat nur eine kurze Geschichte von wenigen Jahrhunderten, überdies eine im Wesentlichen durch fremde Augen gesehene Geschichte, eine von fremder (arabischer, europäischer) Hand fixierte Geschichtsschreibung.
Dem steht die hohe Wahrscheinlichkeit entgegen, dass alle Menschen, die heute die Erde bevölkern, aus Afrika stammen. Wir haben uns seit längerer Zeit daran gewöhnt, dass Afrikas Boden die ältesten Fossilien der zoologischen Familie preisgibt, die wir im stolzen Bewusstsein, uns von Tieren inklusive der Menschenaffen zu unterscheiden, Hominiden nennen. Jetzt rechnen – besser: schätzen oder spekulieren – wir nicht mehr in Jahrhunderten, sondern in Jahrmillionen. Ob der zuerst 1924 in Südafrika entdeckte Australopithecus africanus vor ungefähr drei Millionen Jahren die Abzweigung markiert oder bereits vor etwa viereinhalb Millionen Jahren der in Äthiopien ausgegrabene Ardipithecus ramidus, wie viele Arten von Hominiden die durch Louis Leakey (1903–72) berühmt gewordene Olduvai Gorge in Tanzania gleichzeitig oder nacheinander bevölkerten, das alles müssen Naturwissenschaftler sortieren und debattieren. Der älteste Hominide, den Leakey als «Mensch» klassifizierte, weil er ihm als erstem die Herstellung wirklicher Steinwerkzeuge zuschrieb – der 1960 aufgefundene Homo habilis –, lebte in Ostafrika vermutlich vor 2,2 bis 1,5 Millionen Jahren.
Wenn Naturwissenschaftler uns dann sagen, dass wir heutigen Menschen – die Spezies Homo sapiens sapiens – etwa 98 Prozent unserer Gene mit den afrikanischen Menschenaffen gemeinsam haben, dass wir folglich mit Schimpansen und Gorillas etwa so eng verwandt sind wie die Pferde mit den Zebras [Stringer & McKie 1996:29], dann mag das unseren primären, den auf die Gesamtmenschheit gerichteten Rassenstolz bereits etwas ins Zwielicht tauchen.
Es war eine ältere Menschenart – der Homo erectus –, die vor einer runden Million Jahren als erste aus der afrikanischen Urheimat aufbrach, um sich im Ablauf von Zeiten, die wir nicht bestimmen können, über weite Gebiete Asiens und Europas auszubreiten. Im Körperbau war der Homo erectus uns heutigen Menschen fast gleich, sein Gehirnvolumen brachte es bereits auf zwei Drittel des unsrigen.
Es gibt eine Schule der Paläoanthropologie, die annimmt, dass sich der Homo sapiens sapiens aus dem Homo erectus an verschiedenen Orten entwickelt habe. Diese Schule der «Multiregionalisten» ist geeignet, unserem sekundären, dem spezifischen Rassenstolz des weißen Europäers zu schmeicheln, denn wenn die Multiregionalisten recht haben, brauchen wir in den schwarzen Afrikanern nur so etwas wie Vettern zu sehen, nicht unbedingt unsere Schwestern/Brüder oder gar unsere Eltern (was sie natürlich nicht sein können, denn einige zehntausend Jahre haben wir bestimmt getrennt voneinander gelebt).
Die andere Schule, die einen einheitlichen Ursprung der gesamten heutigen Menschheit vertritt, vor ungefähr 200.000 Jahren, und zwar wiederum in Afrika in einem begrenzten Raum und in einer Größenordnung von zeitweilig nur noch etwa 10.000 Erwachsenen [Stringer & McKie 1996:229], beruft sich auf eindrucksvolle Argumente insbesondere aus der Genforschung. Von Afrika aus sind demnach rund 100.000 Jahre später – also zur Halbzeit der bisherigen Geschichte des Homo sapiens sapiens – moderne Menschen wiederum zuerst nach Asien, später (vor vielleicht «erst» 40.000 Jahren) von dort nach Europa aufgebrochen, haben auf der Landbrücke des Vorderen Orients mit älteren Europäern – den Neandertalern – zusammengelebt und diese dann in (geologisch betrachtet) rasantem Tempo von kaum mehr als zehntausend Jahren aus Europa verdrängt. Welche Farbe die Haut dieser Menschen aus Afrika hatte, die dann ihre Kunstwerke an die Höhlenwände im heutigen Spanien und Frankreich malten (wir benennen sie nach dem Fundort Cro Magnon) – darüber lässt sich nur spekulieren, und es ist im Ergebnis nicht von Belang. In der Zwischenzeit dehnten die in Afrika verbliebenen modernen Menschen ebenfalls ihre Siedlungsräume aus – bis zum Kap im Süden und durch die Sahara, die während der Eiszeiten periodisch von Savanne bedeckt war, bis an die Südufer des Mittelmeers. Speziell der Sahara kommt für die Frühgeschichte Afrikas eine Schlüsselrolle zu: Im Zeitraum von vor etwa 30.000 bis 14.000 Jahren war sie mindestens so trocken wie heute und vermutlich von Menschen unbewohnt; darauf folgte – während in Europa ab etwa 10.000 v. Chr. die Gletscher der letzten Eiszeit abschmolzen – bis ca. 5500 v. Chr. eine Feuchtperiode, die dann wieder von allmählicher Austrocknung abgelöst wurde. Solange zwischen Niger und Nil genug Regen fiel, existierten dort Menschen, die über steinzeitliche Technik verfügten, von der Jagd, von Fischfang und gesammelten Pflanzen lebten. Archäologische Funde deuten darauf hin, dass sie gegen Ende der Feuchtperiode anfingen, Tiere zu zähmen und Getreide anzubauen.
Wir stehen jetzt schon – in geologischen Dimensionen – dicht vor der Schwelle zur Geschichte Afrikas im striktesten Sinne, das heißt zur schriftlichen Überlieferung. Um das Jahr 3000 v. Chr. begannen die Ägypter, ihre «heiligen Zeichen» (griechisch: Hieroglyphen) zu entwickeln. Bis kurz vor dem Jahr 400 n. Chr. blieben sie im Gebrauch. Aber wer waren diese Ägypter? Das ist eine gerade in jüngster Zeit heiß umstrittene Frage unter Historikern, Archäologen, Bio- und Sprachwissenschaftlern. Die Sahara stellt auch in dieser Debatte einen Dreh- und Angelpunkt dar. Schon deshalb ist es übrigens kaum angezeigt, die Geschichte Afrikas in eine Geschichte «Afrikas südlich der Sahara» und eine davon abgewandte des mediterranen Afrikas zu zerlegen.
Der senegalesische Gelehrte Cheikh Anta Diop (1923–86), nach dem jetzt die von der französischen Kolonialmacht gegründete Universität Dakar benannt ist, vertrat zeitlebens mit Leidenschaft die These [zuletzt im zweiten Band der von der UNESCO getragenen General History of Africa], die Ägypter der Antike seien aus dem Süden gekommen, aus dem «schwarzen Afrika», sie hätten folglich eine schwarze Haut gehabt, seien «Nègres» gewesen – alle. Als Cheikh Anta Diop 1954 sein erstes großes Buch veröffentlichte [Diop 1979], war dieses ominöse Wort zumindest auf Französisch keineswegs ein Schimpfwort, frankophone Afrikaner und Afro-Amerikaner schrieben stolz über ihre Négritude. Diops umstrittene These (er selbst begründete sie hauptsächlich mit der Nähe der altägyptischen Sprache zu seiner eigenen Muttersprache, dem westafrikanischen Wolof) leuchtet ein – zumindest für einen erheblichen Teil der Bevölkerung Ägyptens –, wenn wir voraussetzen, dass auf dem Weg, den vor rund 25.000 Jahren der Nil sich bahnen sollte, schon viel früher moderne Menschen aus Ostafrika nach Asien und Europa vordrangen. Andere Wissenschaftler vermuten, dass eine erhebliche Anzahl von Bewohnern der Sahara in das Niltal drängte, als die Lebensbedingungen dort sich zu verschlechtern begannen. John Iliffe [1997:22f.] meint jedoch, dass die Sahara-Bewohner «hauptsächlich Negriden [waren], und sie verbreiteten wahrscheinlich die Nilosaharanischen Sprachen in der Region, wo sie noch heute gesprochen werden».
Libyer – wie man in der Antike alle Einwohner der Sahara nannte – dürften also durchaus über einen langen Zeitraum hinweg aus ihrer allmählich austrocknenden Urheimat in das Tal des stets Wasser führenden Nil gedrängt sein und dadurch einen Beitrag zur Konzentration von Menschen auf diesem engen Raum geleistet haben. Freilich wäre es kühn, sich generell auf die Hautfarbe dieser Libyer festlegen zu wollen. Die Bezeichnung schließt sicher auch Vorfahren der europiden Berber ein, die heute in den Bergen Marokkos und Algeriens sowie in der Wüste selbst (Touareg) leben.
Zwar erhielt die Sahara noch bis etwa 2400 v. Chr. Regenwasser genug, um in weiten Zonen westlich und östlich des Nils ein Steppenklima zu erhalten, in dem Großwild und Rinderherden existieren konnten; das zeigen Grabdekorationen aus dem Alten Reich bis zur 6. Dynastie. Selbst die letzte «kleine Eiszeit», die in Europa im 16.–18. Jahrhundert n. Chr. registriert wurde, wirkte sich in der Sahara mit merklich erhöhten Regenmengen aus. Aber die pharaonische Staatsgewalt, einmal etabliert, dürfte kaum erhebliche Wellen neuer Einwanderung zugelassen haben. Als König Cheops (er regierte ca. 2549–2526 v. Chr.) bei Gizeh die erste Große Pyramide bauen ließ, können wir annehmen, dass eine weitgehende Stabilisierung der Bevölkerungsstruktur Ägyptens erreicht war.
Staatsgewalt: der moderne Begriff, auf das antike Ägypten angewandt, ist keineswegs anachronistisch. Im Gegenteil, die Menschen erdulden heute noch – jetzt weltweit – die Gewalt von Staaten, weil sie ihrer aus ziemlich genau demselben Grund bedürfen wie die Ägypter um 3000 v. Chr. Das Zusammenleben auf engem Raum erfordert eine über Raum, Zeit und Anzahl der beteiligten Personen weit gespannte, organisierte Nutzung der begrenzten natürlichen Ressourcen. In Ägypten waren diese das Wasser und der Schlamm des Nils in dem Maße, wie Regenwasser ausfiel. So viel Land wie möglich musste bewässert und beackert werden (Weizenanbau ist im Vorderen Orient seit dem 8. Jahrtausend v. Chr. durch Carbon-14-Messungen nachgewiesen); für die Erwartung der jährlichen Flut war ein Kalender einzuführen (und aufzuschreiben); Werkzeuge aus Kupfer (seit ca. 4000 v. Chr.) oder später aus Bronze erwiesen sich als brauchbarer als polierter Stein; und für alle anfallenden Arbeiten zu jeder Zeit ist bekanntlich ein Aufseher wichtiger als zehn Arbeiter. Kurz: Herrschaft, Königtum, Staatsgewalt drängten sich auf. Die Pyramiden waren das Nebenprodukt.
Die heute noch übliche Periodisierung der altägyptischen Geschichte geht auf den Priester Manetho zurück, der etwa 280 v. Chr. im Auftrag der damals am Nil herrschenden Ptolemäer – der Erben Alexanders d. Gr. – die Geschichte des Reiches niederschrieb und dabei 30 Dynastien unterschied.
Alle Jahreszahlen zur alten Geschichte Ägyptens sind mit Vorsicht aufzunehmen. Sie gehen zurück auf Angaben, wie lange die einzelnen Pharaonen regiert haben. Dabei gab es Überschneidungen: Rivalen erhoben gleichzeitig Ansprüche auf den Thron oder ein Herrscher berief einen Mitregenten. Die Anpassung der Daten an den Gregorianischen Kalender wird hauptsächlich mit Hilfe der Sothis-Zyklen des altägyptischen Sonnenjahres vorgenommen: Es war mit 365 Tagen um einen Vierteltag kürzer als das natürliche Sonnenjahr, sodass der ursprünglich durch die erste Beobachtung des Aufgangs des Fixsterns Sothis (= Sirius) markierte Jahresanfang erst nach 1460 Jahren tatsächlich wieder auf den ersten Tag des Kalenderjahres fiel. Das allen Juden, Christen und Muslimen vertrauteste Ereignis altägyptischer Geschichte, der Exodus der Israeliten, lässt sich übrigens nicht einmal annähernd datieren, denn die Bibel nennt den Pharao, dem Moses gegenüberstand, nicht mit Namen.
Die großen Perioden sind einigermaßen gesichert. Im Alten Reich (ca. 2575–2130 v. Chr.) [so die Britannica CD 2000; danach alle Jahreszahlen dieses Kapitels] war Ägypten ein straff zentral regiertes Land mit Memphis als Hauptstadt – südlich des Delta dicht an der Grenze zwischen den alten Teilstaaten Unter- und Ober-Ägypten errichtet. Es folgten runde hundert Jahre innerer Konflikte und kulturellen Niedergangs. Dann fasste ein Herrscher von Theben in Ober-Ägypten – beim heutigen Luxor – die beiden Landesteile zusammen und begründete das Mittlere Reich. Es bestand bis ca. 1600 v. Chr., griff militärisch nach Palästina und Syrien im Nordosten aus, im Süden nach Nubien. Seit etwa 1630 v. Chr. jedoch bereitete eine Welle massiver Einwanderung semitischer Nomaden aus Vorderasien nach Unter-Ägypten der Staatsgewalt zunehmend Probleme. Sie brachten das gezähmte Pferd erstmals nach Ägypten – und diese Pferde waren vor Streitwagen gespannt. Von den Ägyptern Hka-Hasut (bei dem griechisch schreibenden jüdischen Historiker aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., Josephus Flavius, der Manetho zitiert: Hyksos) genannt – das heißt Fremdherrscher –, schwangen sich ihre Führer als 15. Dynastie selbst auf den Thron der Pharaonen. Aber die Macht der Hyksos reichte nie weit nach Süden, in Theben hielten sich einheimische Herrscher, und von dort aus unterwarf oder vertrieb Pharao Ahmose I. (ca. 1539–1514 v. Chr.) die Eindringlinge. Er gilt als Gründer des Neuen Reiches, das bis 1075 Bestand hatte. Alsbald stieg Ägypten wieder zur regionalen Großmacht auf.
Die militärische Entfaltung ägyptischer Kraft richtete sich (verständlich nach der soeben gemachten Erfahrung!) vornehmlich nach Nordosten. Das Neue Reich sicherte sich ein Glacis in Israel/Palästina, Libanon und Syrien. Einige der heute gebräuchlichen Namen stammen direkt aus den Ereignissen von damals: Die Bezeichnung Palästina für die Landbrücke zwischen Ägypten und Syrien prägten die Römer im 2. Jahrhundert n. Chr. in Erinnerung an das Volk der Philister, das wir auch aus der Bibel kennen und das die Küstenebene bewohnte. Es gehörte zu den «Seevölkern», die zur Regierungszeit der Pharaonen Merneptah (1213–1204) und Ramses III. (1187–1156) auch die Mittelmeerküste Ägyptens heimsuchten. Mernepthahs Vorgänger war der berühmte Ramses II., der 1279 als dritter Pharao der 19. Dynastie den Thron bestiegen hatte und 66 Jahre lang herrschte.
Das Neue Reich war stark genug gewesen, um neben der kostspieligen Machtpolitik im Norden auch militärische Expansion nach Süden zu betreiben. Nubien war jetzt nicht nur – wie zuvor – Ziel ägyptischer Feldzüge, sondern wurde in Gestalt zweier Provinzen fest in den Staat einbezogen; die Südprovinz mit der Hauptstadt Napata erhielt den Namen Kusch, der in späteren Jahrhunderten zu höheren Ehren kam. Vorerst errichteten die Pharaonen Thutmose I. (Regierungszeit 1493–ca. 1482) und Thutmose III. (1479–1426) ihre Grenzstelen bei Kurgus an der Nilschleife zwischen dem vierten und dem fünften Katarakt. Ramses II. baute die Mahnmale seines Königtums in Gestalt von mindestens zehn Tempeln, darunter der berühmte, dank der UNESCO aus den Wassern des Nil-Stausees gerettete von Abu-Simbel.
Was suchte Ägypten bei diesem «Rückweg» entlang der uralten Wanderungsroute, auf der vielleicht die Vorfahren seiner Bevölkerung einst von Süden nach Norden gezogen waren? Hier in Richtung Zentralafrika gab es neben den rein militärischen auch wirtschaftliche Interessen. Schon das Alte Reich bezog Baumaterial für Königsgräber und Statuen sowie vor allem Sklaven aus Nubien; die zahlreichen Darstellungen gefesselter Gefangener an Ägyptens Denkmälern legen davon Zeugnis ab. Auch eine Kupferschmelze aus der Zeit des Alten Reiches ist nahe dem zweiten Katarakt gefunden worden. In späteren Jahrhunderten waren nubische Bogenschützen als Soldaten in Ägyptens Armeen geschätzt. Gold und Edelsteine wurden geschürft, nach denen die in grandiosen Dimensionen bauenden und prunkenden Pharaonen des Neuen Reiches dürsteten. Vor allem aber war Nubien die Landbrücke in weiter südlich gelegene Länder, zu denen das Neue Reich Handelskontakte auch über See pflegte. Königin Hatshepsut, die über Ägypten von 1479 bis zu ihrem Tode ca. 1458 herrschte (während offiziell der junge Thutmose III. schon Pharao war), hat in ihrem berühmten Tempel bei Luxor dokumentiert, dass sie eine Flotte von fünf Schiffen in das Land Punt schickte, um Weihrauch erzeugende Bäume anzuliefern. Später kamen Fürsten aus Punt mit Geschenken an den Hof der Pharaonen. Um 1150, als das Neue Reich verfiel, scheint der Handelsverkehr zwischen Ägypten und Punt abgebrochen zu sein. Wo aber lag Punt? Es gilt als wahrscheinlich, dass die nördliche Somali-Küste bis Kap Guardafui damals diesen Namen trug.
Nach dem Jahr 1075 v. Chr. war Ägypten wieder in rivalisierende Staaten aufgespalten. Im Norden drängten Libyer in das Niltal, im Süden gewöhnten sich die Vizekönige von Kusch daran, als unabhängige Herrscher im pharaonischen Stil zu regieren. Man kann sich den Kopf zerbrechen, ob wir in ihnen und ihrer Aristokratie eher ägyptische Kolonisten oder aber ägyptisierte Nubier sehen wollen. Das führt kaum weiter als heutzutage die Frage, ob die tonangebenden Leute im einstigen Nubien – im Sudan – Araber oder Afrikaner sind. Jedenfalls kehrten sie für ein knappes Jahrhundert den Spieß des Imperialismus um: König Piankhi von Kusch (Regierungszeit 750–ca. 719) stieß bis Memphis vor und setzte sich die Kronen beider Ägypten aufs Haupt. Der letzte König der so begründeten 25. Dynastie war Taharqa (690–664), der sich vergebens dem Angriff der neuen vorderasiatischen Großmacht Assyrien auf Unter-Ägypten entgegenstellte, aber bis zu seinem Tod wenigstens Theben halten konnte. Erst 656 trieb der berühmte Assyrerkönig Ashurbanipal, der 668–627 regierte, die Kuschiten nach Nubien zurück.
Ein ägyptischer Vasall Assyriens in der Stadt Sais (im Delta des Nil), Psamtik I., konnte im gleichen Jahr so etwas wie ein einheimisches Königtum über ganz Ägypten wiederherstellen, da die Assyrer am Aufbau direkter Herrschaft nicht interessiert waren. Die von ihm begründete Dynastie erlosch 525, als der zweite Großkönig des neuen Reiches der Perser, Kambyses, Ägypten bis zum ersten Katarakt seinen Ländern hinzufügte. Von diesem Datum an – wir stehen jetzt dank griechischer Historiker auf gesichertem chronologischem Boden – löste eine Fremdherrschaft über Ägypten die andere ab – bis 1952 n. Chr. Die Kultur des pharaonischen Ägypten, seine Schrift und Religion jedoch lebten nördlich und südlich des ersten Katarakts weiter. Die Könige von Kusch verlegten nach 590 v. Chr. ihre Hauptstadt von Napata nach Meroë (zwischen dem fünften und sechsten Katarakt, etwa 150 Kilometer nördlich des heutigen Khartoum). Bergbau – Gold und Eisen – sowie die Kontrolle des Fernhandels über Land in den ferneren Süden erlaubten ihnen, einen Lebensstil (und den Bau von Pyramiden als königliche Grabstätten) nach pharaonischem Vorbild aufrechtzuerhalten. In ihren Tempeln wurden nicht nur Amun und andere ägyptische Götter, sondern auch der einheimische Löwengott Apedemak verehrt. Meroë wurde erst ca. 350 n. Chr. durch einen Angriff der Äthiopier von Aksum zerstört. In Ägypten, wo der makedonische Eroberer Alexander d.Gr. sich 331 v. Chr. in der Oase Siwa als Sohn des alten Reichsgottes Amun inthronisieren ließ, versank die kulturelle Kontinuität mit den Pharaonen erst, als der oströmische Kaiser Justinian (Regierungszeit 527–565 n. Chr.) nicht nur die «heidnische» Akademie in Athen, sondern auch den Isistempel in Philae an der Südgrenze Ägyptens schloss.