Berthold Rittberger
DIE EUROPÄISCHE UNION
Politik, Institutionen, Krisen
C.H.Beck
Die EU ist heute regelmäßig Gegenstand politischer Kontroversen. Der Brexit, die Euro- und Migrationskrise, aber auch die graduelle Erosion der Demokratie in Polen und Ungarn sind zu Chiffren eines zentralen Dilemmas europäischer Politik im 21. Jahrhundert geworden: Kann europäische Kooperation mit der vielerorts lauter werdenden Forderung nach demokratischer Selbstbestimmung und nationaler Eigenständigkeit in Einklang gebracht werden? Berthold Rittberger beschreibt die Funktionsweise der EU – und zeigt die Entwicklungen des europäischen Integrationsprozesses auf, die den Weg in dieses Dilemma geebnet haben.
Berthold Rittberger lehrt Internationale Beziehungen an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist Mitherausgeber des «Journal of European Public Policy» und Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur europäischen Verfassungspolitik, Regulierungspolitik in der EU und zur demokratischen Legitimität der EU.
Vorwort und Danksagung
Das europäische Integrationsparadox
Die Rettung des Nationalstaates
Das unaufhaltsame Fortschreiten der Marktintegration
Die Politisierung der EU
Das europäische Integrationsparadox
I. Die Schwerkraft der Marktintegration: Wofür die EU zuständig ist
Die Zuständigkeiten der EU im Überblick
Die Anziehungskraft des Marktes
Der gemeinsame Markt: das Herzstück der Integration
Wirtschafts- und Währungsunion: vom Einigungssymbol zum Sorgenkind
Den Markt zähmen durch regulative Politik
Sozialpolitik: mehr Markt als Korrektiv
Umweltpolitik: mehr Korrektiv als Markt
Ausgabenpolitik als Preis für Vertiefung und Erweiterung
Die schleichende Europäisierung der Innenpolitik
Die unterschiedlichen Facetten der EU-Außenpolitik
EU-Außenhandelspolitik im Zeichen von Marktmacht
EU-Außen- und Sicherheitspolitik im Schatten der NATO
II. Tagesgeschäft und Meilensteine: Wie die EU entscheidet
Politische Problemformulierung: Die Impulsgeber
Die Europäische Kommission
Der Europäische Rat
Politikentscheidungen treffen: Das EU-Zweikammersystem
Der Ministerrat
Das Europäische Parlament
Politik um- und durchsetzen: Europäischer Verwaltungsraum und EU-Rechtsordnung
Ein europäischer Verwaltungsraum
Der Gerichtshof der Europäischen Union
Das Wesen der EU: ein Zwischenfazit
Zuständigkeitsbereiche
Gestaltungsbefugnisse
Legitimationsressourcen
Staatlichkeit statt Staat
III. Sogkräfte und Fliehkräfte: Die Dynamik europäischer Integration
Sogkräfte: Was die Union zusammenhält
Integration als ein sich selbst verstärkender Prozess
Krisen als Integrationsbeschleuniger
Öffentliche Unterstützung trotz(t) Krisen
Fliehkräfte: Was die Union zu spalten droht
Die Janusköpfigkeit der Politisierung
Das europäische Demokratiedefizit
Die Tabuisierung Europas
Europaskeptizismus und Populismus auf dem Vormarsch
Ein Europa der Identitätskonflikte
Wohin steuert die EU?
Die wichtigsten Organe der Europäischen Union
Zeittafel: Wichtige EU-Integrationsschritte
Weiterführende Literatur zur EU
Für Jessica.
Institution |
Zusammensetzung |
Befugnisse |
Arbeitsweise |
---|---|---|---|
Europäischer Rat (ER) |
– Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten – Präsident des ER (für 2.5 Jahre bestimmt) – Beratend: Präsident der Kommission; Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik |
– Legt strategische Leitlinien und Prioritäten der EU-Politik fest – Oberster Krisenmanager – Übt keine gesetzgeberische Tätigkeit aus |
– Präsident des ER bereitet Treffen vor, moderierende Funktion – Beschlüsse werden einstimmig getroffen |
Europäisches Parlament (EP) |
– 705 Abgeordnete, alle fünf Jahre direkt gewählt – Zuteilung der Sitze nach Länderverteilungsschlüssel – Prinzip der degressiven Proportionalität (kleine Länder überrepräsentiert; Mindest- bzw. Höchstabgeordnetenanzahl 6 bzw. 96) |
– Verabschiedet Gesetze (gemeinsam mit dem Rat) – Kontrolliert Tätigkeiten anderer EU-Organe – Wählt Präsidenten der EK auf Vorschlag des ER; erteilt Zustimmung zur Ernennung der gesamten EK – Kann der EK das Misstrauen aussprechen – Stellt den EU-Haushaltsplan auf (gemeinsam mit dem Rat) – Genehmigt die Ausgaben aus dem EU-Haushalt – Stimmt internationalen Abkommen der EU zu |
– Beschließt in der Regel mit Mehrheit der abgegebenen Stimmen – Für Gesetzgebung ist meist absolute Mehrheit notwendig |
Rat der Europäischen Union |
– Regierungen der Mitgliedstaaten, vertreten durch Fachminister – Zusammensetzung variiert je nach Politikbereich (verschiedene Formationen, durch den Rat «Allgemeine Angelegenheiten» koordiniert) – Vorsitz: Ratsvorsitz (wechselt alle 0.5 Jahre zwischen den Mitgliedstaaten) |
– Verabschiedet Gesetze (gemeinsam mit dem EP) – Beschließt mehrjährigen Finanzrahmen und genehmigt den EU-Haushaltsplan (gemeinsam mit dem EP) – Gestaltet Außen- und Sicherheitspolitik auf Grundlage von Leitlinien des ER – Beschließt internationale Übereinkünfte |
– Beschließt einstimmig (z.B. Außenpolitik) oder per «doppelter» (qualifizierter) Mehrheit: 55 % der Mitgliedstaaten; 65 % der EU-Gesamtbevölkerung |
Europäische Kommission (EK) |
– Seit 2014: Anzahl der Kommissare soll 2/3 der Mitgliedstaaten entsprechen (Rotationsverfahren); faktisch: pro Mitgliedstaat ein Kommissar – EK-Präsident vom ER vorgeschlagen und vom EP gewählt; Kommissare vom ER benannt (Einvernehmen durch EK-Präsident erforderlich); gesamte EK bestätigt durch EP und ER – Amtszeit der EK-Mitglieder beträgt 5 Jahre |
– Legt EP und Rat Gesetzesvorschläge zur Beratung und Abstimmung vor (Initiativrecht) – Entwirft EU-Haushaltsplan und verwaltet den EU-Haushalt – Erlässt Durchführungsbestimmungen für die Umsetzung von Rechtsakten (mit dem Rat) – Überwacht die Anwendung von EU-Recht in den Mitgliedstaaten – Vertritt die EU auf internationaler Ebene (bei ausschließlicher Zuständigkeit) |
– Kollegium der Kommissare beschließt mit einfacher Mehrheit; EK tritt nach außen als Kollegialorgan auf |
Gerichtshof der Europäischen Union |
– Zwei Gerichte: Gerichtshof und Gericht – Gerichtshof mit einem Richter pro Mitgliedstaat, unterstützt von 11 Generalanwälten – Gericht mit zwei Richtern aus jedem Mitgliedstaat – Ernennung auf 6 Jahre, im gegenseitigen Einvernehmen der Mitgliedstaaten; Wiederernennung ist möglich |
– Auslegung von EU-Recht (durch Vorabentscheidungsverfahren) – Durchsetzung von EU-Recht (durch Vertragsverletzungsverfahren) – Annullierung von EU-Recht (durch Nichtigkeitsklagen) – Gewährleistung von EU-Eingreifen (durch Untätigkeitsklagen) – Kann Strafmaßnahmen gegen EU-Organe verhängen (durch Schadenersatzklagen) |
– Urteile bedürfen Mehrheit der Richter, abweichende Meinungen werden nicht publiziert (kollektive Verantwortung für Urteile) – Gericht entscheidet im Plenum oder in Kammern mit 3, 5 oder 15 Richtern |
Europäische Zentralbank (EZB) |
– Direktorium: Präsident plus fünf weitere Mitglieder (von Mitgliedstaaten der Eurozone für 8 Jahre ernannt); zuständig für Tagesgeschäft, setzt Beschlüsse des EZB-Rats um und bereitet dies vor – EZB-Rat: besteht aus Direktorium sowie Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten; legt Leitlinien der Währungs- und Geldpolitik fest |
– Verwaltet den Euro – Gewährleistet Preiswertstabilität – Setzt die Wirtschafts- und Währungspolitik der EU durch – Legt die Leitzinsen für Geschäftsbanken im Euroraum fest – Verwaltet Währungsreserven des Euroraums – Kontrolliert nationale Behörden auf deren Beaufsichtigung ihrer Finanzmärkte und -institute |
– Direktorium und EZB-Rat entscheiden in der Regel per einfacher Mehrheit (max. 15 stimmberechtigte Zentralbank-präsidenten; festgelegt nach Rotationsprinzip) |
Die Entwicklung der EU ist eine Geschichte von Grenzauflösungen und Grenzziehungen. Wirtschaftliche Grenzen zwischen Staaten haben sich aufgelöst, so dass ein gemeinsamer Markt und sogar eine gemeinsame Währung entstehen konnten. Politische Grenzen wurden neu gezogen: Wer kommen, gehen, bleiben darf, bestimmt nicht mehr ausschließlich der Nationalstaat. Und in einer von Krisen geschüttelten Gemeinschaft werden soziale Grenzen und der damit verbundene Anspruch auf Solidarität neu ausgehandelt. Noch nie schienen europäische Grenzziehungen so umstritten und umkämpft wie in der gegenwärtigen Krisen-Epoche. Umso wichtiger ist es also, sich mit ihnen zu befassen. Europäische Grenzverschiebungen haben mir den Weg in eine berufliche Laufbahn ermöglicht, die ohne die EU anders ausgesehen hätte. Bei der Konkurrenz um Studien-, Praktikums-, Arbeitsplätze oder Stipendien im europäischen «Ausland» war ich den «Inländern» stets gleichgestellt. Ich bin der britischen Regierung bis heute dafür dankbar, dass sie mir ein Promotionsstudium großzügig mitfinanziert hat, welches ich dann dazu genutzt habe, über die Demokratisierung der EU zu forschen. Geholfen hat es einerseits wenig, andererseits wiederum viel, denn ohne diese Episode hätte ich wohl nie eine gewisse Leidenschaft (und Leidensfähigkeit) entwickelt, die ich mit der EU verbinde.
Für die zahlreichen Anregungen und Kommentare zum Manuskript möchte ich mich herzlich bei meinen Münchner Kolleginnen und Kollegen Felix Biermann, Lara Dose, Tim Heinkelmann-Wild, Lisa Kriegmair, Johannes Müller Gómez, Kiran Klaus Patel, Sebastian Schindler, Moritz Weiss, Simon Zemp und Eva Ziegler bedanken. Matthias Hansl vom Verlag C.H.Beck danke ich für das entgegengebrachte Vertrauen und die reibungslose Zusammenarbeit.
Am 9. Mai 1950 verlas der französische Außenminister Robert Schuman im Uhrensaal des Quai d’Orsay den Plan zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Seine Erklärung begann mit den folgenden Worten: «Der Weltfriede kann nur erhalten bleiben, wenn man den Gefahren, die ihn bedrohen, mit schöpferischen Leistungen begegnet.» Die EGKS war der Auftakt zu einem historisch beispiellosen Projekt zwischenstaatlicher Kooperation, dessen schöpferische Leistung darin bestand, den Frieden unter den Mitgliedstaaten zu sichern und Krieg unmöglich zu machen. Dazu war es zuerst nötig, den «Jahrhunderte alten Gegensatz […] zwischen Frankreich und Deutschland» zu beseitigen und der zerstörerischen Kraft des ungebremsten Nationalismus, der zwei Weltkriege mitzuverantworten hatte, die Stirn zu bieten.
Die Rettung des Nationalstaates. Die Montanunion, wie die EGKS auch genannt wurde, sollte durch die wechselseitige Kontrolle der kriegsrelevanten Industriezweige Kohle und Stahl den brüchigen Frieden im Nachkriegseuropa sichern und wirtschaftliche Zusammenarbeit fördern, um die vom Krieg gebeutelten Staaten auf Modernisierungs- und Wachstumskurs zu bringen. Um dies zu erreichen, sollten die sechs westeuropäischen Gründungsmitglieder – neben Frankreich und Deutschland zählten Italien und die Benelux-Staaten dazu – Entscheidungsbefugnisse auf die neue europäische Organisation übertragen. Die EGKS war somit auch ein Versprechen des Nachkriegseuropas der Sechs, Gemeinschaftsinteressen den Vorzug vor nationalen Egoismen zu geben. Ein neuerlicher Krieg sollte ein Ding der Unmöglichkeit werden.
Die Gründung der überstaatlichen EGKS bedeutete jedoch nicht, dass die Staats- und Regierungsoberhäupter der Sechs aufgrund der Weltkriegserfahrung im Sinn gehabt hätten, den Nationalstaat zu überwinden und einen europäischen Bundesstaat zu errichten. Vielmehr wollten sie nationalistische Exzesse zähmen und den Nationalstaat mit Hilfe europäischer Zusammenarbeit zum Garanten von Sicherheit und Wohlfahrt erneuern. Wirtschaftliche Modernisierung, die schrittweise Liberalisierung von Märkten und der Ausbau von Handelsbeziehungen galten als notwendig, damit die Ansprüche, die die Nachkriegsgesellschaften an ihre ausbaubedürftigen Wohlfahrtsstaaten stellten, erfüllt werden konnten. Der europäische Integrationsprozess sollte, in den Worten des Wirtschaftshistorikers Alan Milward, zum Retter des Nationalstaats in Europa werden.
Obwohl sich die EU seit dem Ausbruch der Eurokrise in einem permanenten Krisenmodus wiederzufinden scheint, ist der wirtschaftliche Einigungsprozess Europas zweifelsohne eine Erfolgsgeschichte. Wie sonst ist zu verstehen, dass sich die Gemeinschaft der Sechs zu einer Union der 28 beziehungsweise 27 (infolge des «Brexit») stetig erweitert hat? Die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) übte eine derart starke wirtschaftliche Anziehungskraft aus, dass das Vereinigte Königreich – in den fünfziger Jahren skeptischer Beobachter des kontinentalen Integrationsprozesses – bereits in den sechziger Jahren an die Türe nach Europa klopfte und 1973 beitrat. Die Verheißungen des gemeinsamen Marktes waren letztendlich größer als die Realität präferenzieller Handelsbeziehungen mit dem Commonwealth. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass selbst nach dem Brexit der Zugang zum gemeinsamen Markt eine ökonomische und politische Überlebensfrage für britische Regierungen bleiben wird.
Die Anziehungskraft des gemeinsamen Marktes ist ungebrochen und damals wie heute ein wichtiger Grund dafür, warum Nichtmitglieder dem Klub beitreten möchten. Die Osterweiterungsrunden 2004 und 2007, die die «Rückkehr» mittel- und osteuropäischer Staaten nach Europa infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks besiegelten, waren nicht zuletzt handfesten ökonomischen Motiven geschuldet. Um von den Vorzügen des Binnenmarktes profitieren zu können, mussten staatlich gelenkte Wirtschaftssysteme in funktionierende Marktwirtschaften transformiert werden – ein Kraftakt, der ohne die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft nicht in dieser Form stattgefunden hätte. Die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft verlangte von den Beitrittskandidaten neben dem marktkonformen Umbau ihrer Wirtschaftssysteme auch die Konsolidierung demokratischer und rechtsstaatlicher Prozesse und Institutionen. Bereits die Beitritte der jungen Demokratien Griechenlands, Spaniens und Portugals in den achtziger Jahren machten deutlich, dass sich die Europäische Gemeinschaft nicht allein als Wirtschaftsgemeinschaft begriff, sondern auch als Gemeinschaft demokratischer Staaten. Neue Mitglieder müssen nicht nur Marktwirtschaft «können», sondern auch demokratische und rechtsstaatliche Standards erfüllen. Das Nobelkomitee würdigte 2012 die Leistung der EU als Garant für Frieden und Demokratie in Europa mit dem Friedensnobelpreis.
Das unaufhaltsame Fortschreiten der Marktintegration. Der Siegeszug der EU-Marktintegration ist beeindruckend. Von der Wirtschaftsgemeinschaft über den Binnenmarkt bis zur Währungsunion brauchte es gerade einmal vier Jahrzehnte. Um Marktverzerrungen zu verhindern, wird der gemeinsame Markt durch Regulierungsmaßnahmen eingehegt; um Staaten, Regionen oder Wirtschaftssektoren wettbewerbsfähiger zu machen, verteilt die EU zudem Subventionen. Die EU beseitigt heutzutage nicht nur Handelshemmnisse und verhindert unlauteren Wettbewerb; sie setzt Standards für den Schutz von Flora und Fauna, reguliert die Inhaltsstoffe für Verpackungen und Lebensmittel und ist für die Zulassung von Arzneimitteln zuständig. Sie finanziert Grundlagenforschung an Universitäten, leistet Hilfszahlungen an landwirtschaftliche Betriebe und unterstützt Infrastrukturmaßnahmen in wirtschaftlich schwachen Regionen.
Abgesehen von episodenhaften «Skandalen» über die angebliche Regulierungswut der EU – der zulässige Krümmungsgrad von Gurken oder die verpflichtende Umsetzung einer Seilbahnrichtlinie in Mecklenburg-Vorpommern gehören zum europaskeptischen Grundwortschatz – war das Fortschreiten der Marktintegration und marktkorrigierender Maßnahmen lange Zeit ein eher leiser Prozess. Für politischen Zündstoff in innenpolitischen Debatten oder gar in Wahlkämpfen sorgte die Liberalisierung und Regulierung des gemeinsamen Marktes nur selten. Marktintegration war und ist in erster Linie Interessen- und Klientelpolitik: Profiteure der Marktintegration, wie beispielsweise international konkurrenzfähige Unternehmen, fordern von ihren Regierungen, sich für Marktöffnung einzusetzen. Leidtragende der Marktintegration, die Billiglohn- oder Importkonkurrenz fürchten, verlangen Marktabschottung. Je konzentrierter die Gewinne oder Verluste von Marktliberalisierung sind, desto mehr Druck üben organisierte Interessen auf ihre Regierungen und die EU aus. Solange jedoch die große Mehrheit der Bevölkerung von der Marktintegration im Großen und Ganzen profitiert, nimmt die Öffentlichkeit wenig Notiz von den Aushandlungsprozessen zwischen Lobbygruppen, Regierungen und EU-Institutionen über die Ausgestaltung des gemeinsamen Marktes. EU-Marktintegration erfreute sich über Jahrzehnte «stillschweigender Zustimmung» (Leon Lindberg und Stuart Scheingold) beziehungsweise rationaler Ignoranz: Warum soll mich der europäische Integrationsprozess interessieren, wenn er mir nicht schadet? Abgesehen von einzelnen Krisenepisoden – wie beispielsweise der «Krise des leeren Stuhls» während der Regentschaft des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle in den sechziger Jahren, der kniffligen Frage des «Britenrabatts» unter Premierministerin Margaret Thatcher in den achtziger Jahren oder den Zeiten der durch fehlgeleitete EU-Subventionspolitik erzeugten Milchseen und Butterberge – spielte die europäische Politik in den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Mitgliedstaaten meist eine untergeordnete Rolle.
Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge 1958, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (und die Europäische Atomgemeinschaft, Euratom) begründeten, nahm die Marktliberalisierung Fahrt auf und kurbelte wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Modernisierungsprozesse an. Gleichzeitig behielten die Mitgliedstaaten ausreichend politischen Spielraum bei der Ausgestaltung ihrer nationalen Wohlfahrtssysteme. Der amerikanische Politikwissenschaftler John Ruggie bezeichnete diese Gleichzeitigkeit aus internationaler Marktöffnung und dem Ausbau nationaler Sozialstaaten als System des «eingebetteten Liberalismus». Im Fahrwasser europäischer Marktintegration konnten die Mitgliedstaaten korrigierend in den Markt eingreifen, um ihre innenpolitisch ausgehandelten sozial-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Ziele zu verfolgen. Marktinterventionen und Marktöffnung schlossen sich nicht aus, sondern ergänzten sich. Anstatt den Nationalstaat zu schwächen, hat die Marktintegration in Europa die Mitgliedstaaten wirtschaftlich und politisch gestärkt. Stephan Leibfried und Michael Zürn sprechen deshalb auch vom «goldenen Zeitalter des Staates», der sich in den sechziger und siebziger Jahren auf dem Höhepunkt seiner autonomen Leistungs- und Gestaltungsfähigkeit befand.
Die Politisierung der EU. Es mag paradox klingen, aber der Prozess der Marktintegration war in mancherlei Hinsicht zu erfolgreich. Im Zuge der neoliberalen Wende in den siebziger und achtziger Jahren, die in Ronald Reagan und Margaret Thatcher jenseits und diesseits des Atlantiks tatkräftige Avantgardisten fand, schwang das Pendel immer stärker in Richtung Marktliberalisierung. Regierungen folgten dem Credo, dass staatliche Eingriffe in die Märkte auf ein Minimum reduziert und bessere Anreize für Investitionen durch den Abbau von Kapitelverkehrskontrollen geschaffen werden sollten. Auch die Marktintegration in der EU geriet in den Sog der neoliberalen Wende: Das EU-Binnenmarktprogramm Mitte der achtziger Jahre war als wirtschaftlicher Liberalisierungsturbo gedacht, der den ökonomisch stagnierenden und durch hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Staaten der Gemeinschaft Schwung verleihen sollte. Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts – Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit sowie die Personenfreizügigkeit – wurden zur neuen Integrationsdoktrin, und der Abbau all jener Barrieren, die den Grundfreiheiten im Wege standen, war das Gebot der Stunde. Die Verwirklichung des Binnenmarktes schritt zügig voran. Heute herrscht weitgehende Arbeitnehmerfreizügigkeit, Waren passieren ohne Kontrollen innereuropäische Grenzen, Kapital fließt ungebremst dorthin, wo es die höchsten Renditen verspricht, und die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten hat sogar die Kontrolle über nationale Währungen an eine unabhängige Europäische Zentralbank (EZB) abgegeben, um Währungsmanipulationen den Garaus zu machen.
Die Währungsunion ist der vorläufige Schaffenshöhepunkt der europäischen «Liberalisierungsmaschine» (Wolfgang Streeck), die den Primat des Marktes festschreibt und in dessen Dienst sich die Politik zu stellen hat. Mit der Einführung des Euro verpflichteten sich die Mitglieder der Eurozone auf wirtschaftliche Konvergenz und eine Politik niedriger Verschuldung – besser noch eine Fixierung auf die «schwarze Null». Mit der selbst auferlegten Stabilitätspolitik beschneiden sich die Staaten der Eurozone in der Fähigkeit, durch eine schuldenfinanzierte, expansive Fiskalpolitik innenpolitische Verteilungskonflikte zwischen Liberalisierungsgewinnern und -verlierern effektiv befrieden zu können. Die Staaten der Eurozone sind daher der Möglichkeit beraubt, die eigene Währung abzuwerten, um in Krisenzeiten wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen zu können. Ihnen bleibt nur mehr die innere Abwertung durch die Kürzung von Löhnen und Sozialleistungen. Als die Bankenkrise 2008 die EU mit voller Wucht traf, folgte eine Finanz- und Wirtschaftskrise, die gleichzeitig eine Politik- und Demokratiekrise nach sich zog: Das Korsett der gemeinsamen Währung ließ den von der Krise am meisten betroffenen Staaten kaum mehr Luft zum Atmen und zum politischen Gestalten. Statt die staatliche Fürsorge auszubauen, um krisenbedingte soziale Verwerfungen zu bekämpfen, sahen sich die Mitglieder des Euroraums zuletzt angehalten, zuvorderst Finanzmärkte und Währungsspekulanten zu bedienen. Die südeuropäischen Staaten der Eurozone mussten sich neoliberalen Strukturanpassungsprogrammen unterwerfen, um dem Staatsbankrott zu entkommen. Die zu diesem Zweck getroffenen Maßnahmen wurden von der «Troika» beschlossen, einem Expertengremium aus Vertretern der Europäischen Zentralbank (EZB), des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU