Nikolas Jaspert
DIE RECONQUISTA
Christen und Muslime auf der
Iberischen Halbinsel
711–1492
C.H.Beck
«Reconquista» ist ein schillernder Begriff. Er beschwört zunächst eine fast 700-jährige Geschichte von blutigen Kämpfen zwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel herauf, die 1492 in der Eroberung des muslimischen Königreichs Granada durch die «Katholischen Könige» kulminierten. Nikolas Jaspert zeigt jedoch in dem vorliegenden Band, dass eine solche Sichtweise auf die Vorgänge zwischen 711 und 1492 zu einer unangemessenen Vereinfachung führt – das Signum dieser Zeitspanne war weit mehr als nur religiöse Feindschaft.
Ausgehend vom Ende des Westgotenreichs im Jahr 711 bietet der Autor nicht nur einen ebenso fundierten wie spannenden Überblick über die wichtigsten Königreiche und ihr wechselndes Kriegsglück, sondern lässt die «Reconquista» gleichsam als Epoche kulturellen Austauschs lebendig werden. So erzählt er von der ethnisch-religiösen Vielfalt in al-Andalus, christlich-muslimischen Bündnissen, interreligiöser Heiratspolitik, diplomatischen Beziehungen und Gefangenenfreikauf. Er geht in seiner durchwegs gut lesbaren Darstellung, die auch noch die jüngste Forschung berücksichtigt, Fragen nach, deren aktuelle Bezüge unübersehbar sind: Wie lebten Juden, Christen und Muslime unter der Herrschaft Andersgläubiger? War die «Reconquista» ein iberischer Kreuzzug? Gab es auch eine islamische «Reconquista»? Indem Nikolas Jaspert das spätere Fortleben dieses Kampfbegriffs als wirkmächtiges Narrativ in den amerikanischen Kolonien und im rhetorischen Arsenal neuer Rechtsextremer verfolgt, schlägt er den Bogen bis in unsere Zeit.
Nikolas Jaspert lehrt als Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg. Ihn zeichnet vor allem seine Expertise im mediterranen und insbesondere iberischen Raum aus, wie seine zahlreichen Publikationen zu Themen wie den Kreuzzügen, Ritterorden, transkulturellen Beziehungen, Seeraub und dem Meer als Kommunikationsraum belegen.
1. al-Andalus: Die Iberische Halbinsel kommt
unter muslimische Herrschaft (711–1031)
Vom Ğabal Ṭāriq (Gibraltar) bis zu den Pyrenäen
Ethnische und religiöse Vielfalt
2. Im Zeichen der Restauration (ca. 722–ca. 1035)
Reizbegriff «Reconquista»
Das Königreich Asturien: «Neogotismus»
und der Vorstoß in die Meseta
Die Reiche des Nordens
Diplomatie und interreligiöse Heiratspolitik
3. Die Taifenreiche und ihre christlichen Nachbarn
(1031–1085)
Tribute und Bündnisse
Religiöse Aufladung
Der Einfluss der Kirche und der «Proto-Kreuzzug»
gegen Barbastro
4. «Reconquista» und Kreuzzug:
Narrative und Praktiken
Die Iberische Halbinsel, ein neues Heiliges Land?
Pragmatik und religiöse Deutung
5. Wechselndes Kriegsglück (1085–1199)
Aufstieg und Fall der Almoraviden
Die Bewegung der Almohaden
6. Die Zeit der großen christlichen Eroberungen
(1199–1260)
Der Sprung nach Süden
Gab es eine islamische «Reconquista»?
7. Grenzkriege und Grenzgesellschaften
(ca. 1260–1480)
Die Nasriden und ihre erfolgreiche Schaukelpolitik
Zwietracht unter den Christen
«Heiße Grenze» oder Zone des Austauschs?
Gefangenenloskauf
8. Mehr als der Cid:
Akteure und Pragmatismus
Monarchen und Adel
Päpste, Bischöfe und Ritterorden
Festungen und Krieger
Seitenwechsel und Verträge
9. Das Leben unter der Herrschaft Andersgläubiger
Im Zeichen des Halbmonds
Unter dem Kreuz
Abgrenzungsbemühungen
Emigration – Immigration
10. Iberisches Ende und amerikanische Anfänge
(1481–ca. 1550)
Krieg um Granada
Erinnerungsgeschichte und Fortleben
der «Reconquista»-Ideologie
Dank
Bibliographie
Synthesen
Die muslimische Eroberung und das Umayyadenreich
von Córdoba (711–1031)
Reizbegriff «Reconquista»
Christliche Eroberung im Zeichen der Restauration (722–1035)
Die Taifenreiche und ihre christlichen Nachbarn (1031–1085)
Religiöse Aufladung bei Christen und Muslimen
«Reconquista» und Kreuzzug: Narrative und Praktiken
Wechselndes Kriegsglück (1085–1199)
Die großen christlichen Eroberungen (1199–1260)
Gab es eine islamische «Reconquista»?
Grenzkriege im Spätmittelalter (ca. 1260–1482)
Grenzgesellschaften und ihre Herausforderungen
Mehr als der Cid: Akteure und Formen der Gewalt
Pragmatismus: Diplomatie und Bündnisse zwischen Muslimen und Christen
Besiegte, Unterworfene, Untertanen: Muslime, Juden und Christen unter der Herrschaft Andersgläubiger
Migration, Besiedlung, Vertreibung
Iberisches Ende und amerikanische Anfänge (1481–ca. 1550)
Register
Im April 711 überquerte ein muslimischer, wahrscheinlich berberischer Heerführer namens Ṭāriq ibn Ziyād (gest. ca. 720) zusammen mit einer Streitmacht von einigen Tausend Reitern und Fußsoldaten die Meerenge, die Nordafrika von der Iberischen Halbinsel trennt. Damit griff er das Reich der Westgoten an. Der Ort, an dem Ṭāriq ibn Ziyād an Land ging, trägt noch heute seinen Namen, Gibraltar oder «Berg des Tariq» (arab. Ğabal Ṭāriq). Kurze Zeit später wurde seine Armee von der Streitmacht des westgotischen Königs Roderich gestellt. In der Schlacht, die zwischen dem 19. und 23. Juli 711 am Fluss Guadalete (arab. Wādī Lakku) ausgefochten wurde, fiel König Roderich, und sein Heer erlitt eine vernichtende Niederlage. Das Westgotenreich, das seit dem Beginn des 6. Jahrhunderts die Iberische Halbinsel beherrscht und nachhaltig geprägt hatte, war besiegt.
Ṭāriq ibn Ziyād handelte nicht in eigener Sache. Er war von Mūsā ibn Nuṣayr (gest. 715) entsandt worden, der im Dienst der in Damaskus residierenden Kalifen aus dem Geschlecht der Umayyaden stand. Mūsā, als Gouverneur für die nordafrikanischen Gebiete zuständig, überquerte 712 persönlich zusammen mit seinen Söhnen und weiteren Kämpfern die Meerenge von Gibraltar. In den folgenden etwa acht Jahren unterwarf das vereinigte Heer alle christlichen Territorien der Iberischen Halbinsel bis an den Rand der Pyrenäen. Weitere umayyadische Heerführer konnten das islamische Herrschaftsgebiet sogar nach Südfrankreich ausdehnen, wurden jedoch in den Dreißigerjahren des 8. Jahrhunderts von den Franken über die Pyrenäen zurückgedrängt. Dieses Gebirge markierte fortan die Grenze zwischen dem christlichen, dem römisch-päpstlichen Kirchenritus folgenden «Lateineuropa» und den islamisch beherrschten Gebieten der Iberischen Halbinsel. Von den Muslimen wurde das ihnen unterstehende Territorium – vielleicht in Anlehnung an die Vandalen, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts Südspanien beherrscht hatten – als «al-Andalus» bezeichnet.
Der fulminante Sieg der nordafrikanischen Invasoren im Frühjahr 711 und der rasche Zusammenbruch der westgotischen Herrschaft haben in der Geschichtswissenschaft immer wieder Fragen aufgeworfen: Wie konnte eine vergleichsweise kleine Streitmacht über das Heer des Westgotenreichs siegen? War dieses geschwächt, und wenn ja: wodurch?
Lateinische Quellen des 8. und arabische Texte des 9. Jahrhunderts, die von den Ereignissen berichten, liefern wenige Hintergrundinformationen. Im 13. Jahrhundert hingegen wusste ein christlicher Autor, Lucas von Tuy (gest. 1249), die vermeintlichen Schuldigen zu benennen: Juden seien es gewesen, welche den Eindringlingen in verräterischer Absicht die Königsstadt Toledo in die Hände gegeben hätten. Zwar wurden die jüdischen Gemeinden des Westgotenreichs in der Tat in den Jahren vor der muslimischen Eroberung massiv unterdrückt, doch liegen keine zeitgenössischen Hinweise vor, die auf eine Kollaboration deuten könnten, so verständlich diese auch gewesen sein möge. Eine andere Erklärung ist plausibler: Schon der anonyme Autor der sogenannten «Mozarabischen Chronik von 754» berichtet von inneren Streitigkeiten in der Führungsschicht des Westgotenreichs. Im Jahre 710 war König Witiza gestorben. Aus den Streitigkeiten um dessen Nachfolge ging der erwähnte Roderich als Sieger hervor, doch gab es auch eine Fraktion, welche die jungen Söhne des verstorbenen Königs favorisierte und aus diesem Grund von den Muslimen Nordafrikas Militärhilfe erbat. Arabische Quellen nennen auch einen geheimnisvollen, angeblich byzantinischen Grafen Julian, der die Verhandlungen mit Ṭāriq ibn Ziyād geführt und ihn zur Invasion eingeladen haben soll.
Die jüngere Geschichtsforschung hat eine Reihe weiterer Gründe für den muslimischen Erfolg ausgemacht: etwa den Schlachtentod König Roderichs, der das Reich führungslos zurückließ, oder die Inbesitznahme des Reichsschatzes durch die Muslime bei der Einnahme Toledos. Außerdem gingen die Eroberer geschickt vor: Sie sicherten lediglich vereinzelte städtische Vorposten militärisch und arrangierten sich gezielt mit lokalen Machthabern. Mit einigen Territorialherren schlossen sie Verträge, welche deren Herrschaft weitgehend intakt ließen, solange die muslimische Oberhoheit anerkannt wurde. Die Übereinkunft mit dem westgotischen Adeligen Theudemir (gest. ca. 743), der über ein ausgedehntes Gebiet an der südlichen Levanteküste um Orihuela gebot, illustriert dieses Vorgehen. Auf der Grundlage solcher Verträge konnten einzelne Familien insbesondere in den Städten ihre soziale Stellung behalten. Manche von ihnen konvertierten zum neuen Glauben und nahmen auch unter muslimischer Herrschaft Führungspositionen ein. Andere christliche Adelige zogen sich auf das Land zurück und gelangten erst nach mehreren Jahrzehnten zu einer Einigung mit den neuen Machthabern. Aus ihnen gingen teils einflussreiche, nunmehr islamisierte Geschlechter hervor wie etwa die wohl nach einem westgotischen Grafen Cassius benannten «Söhne des Qasī» (arab. Banū Qasī) im Nordosten der Iberischen Halbinsel.
Für die spätere, mittelalterliche Begründung der muslimischen Eroberung des 8. Jahrhunderts sollten sich indes nicht diese Verträge mit den Einheimischen als wirkmächtig erweisen, sondern vielmehr die Geschichten von Witiza und den jüdischen Verrätern. Sie wurden von Chronisten des hohen und späten Mittelalters aufgegriffen und dienten als Warnung davor, wie schnell sich das Glück wenden und ein Reich untergehen kann, wenn seine Einwohner uneins sind und sich versündigen. Allerdings dienten diese Narrative aber auch jenen christlichen Autoren des späteren Mittelalters als Argument, welche die Loyalität unterworfener Juden und Muslime infrage stellen sollten.
Heutzutage wird der beispiellose Siegeszug des Islam im 7. und 8. Jahrhundert häufig unter dem Begriff der «islamischen Expansion» oder der «arabischen Expansion» gefasst. Doch ist das zutreffend? Wer genau waren die Männer, die 711 in der Schlacht am Guadalete kämpften und in der Folge die Iberische Halbinsel unter islamische Herrschaft brachten? Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es sich weder um eine ethnisch noch religiös kohärente Streitmacht handelte und daher die vereinfachende Bezeichnung arabisch bzw. islamisch zumindest irreführend ist. Zum einen bildeten die sogenannten «Araber»– im engeren Sinne die Bewohner der arabischen Halbinsel, die wiederum zwischen Nord- und Südarabern zu scheiden sind – gar nicht die Mehrheit in der Armee der Invasoren, bestand doch das Aufgebot größtenteils aus unterworfenen und erst kurz zuvor zum Islam konvertierten Berbern, bei denen wiederum unterschiedliche Stämme zu unterscheiden sind (vor allem Ṣanhāğa- und Zanāta-Berber). Zum anderen dürften keineswegs alle Krieger Muslime gewesen sein. Dazu war die Islamisierung des Maghreb zu Beginn des 8. Jahrhunderts noch nicht hinreichend fortgeschritten, und die neuen Herren zeigten ohnehin kein besonderes Interesse, die Unterworfenen zu missionieren. Dass die Eroberung aber von Beginn an im Zeichen des Islam erfolgte, belegen nicht nur die geschriebenen Texte, sondern auch die ersten Münzprägungen der Sieger.
Vor allem die ethnische Heterogenität der Eroberer, die noch anstieg, als zur Mitte des 8. Jahrhunderts infolge innerer Unruhen weitere muslimische Truppen aus Syrien nach al-Andalus kamen, sollte Folgen zeitigen. Zu dieser Vielfalt trugen außerdem die islamisierten Sklaven aus Mittel- und Ostmitteleuropa bei, die vor allem im 9. und 10. Jahrhundert in großen Mengen gekauft und ins Land gebracht wurden. Manche von ihnen wurden bei Hofe eingesetzt und erscheinen als sogenannte Ṣaqāliba (Slawen) in den arabischen Quellen.
Aus nord- und südarabischen, berberischen, syrischen und slawischen Muslimen sowie aus ehemaligen Christen und Juden setzte sich also die islamische Bevölkerung in al-Andalus zusammen. Die zum Islam übergetretenen Christen werden in den arabischen Quellen als muwalladūn (span. muladíes) bezeichnet. Mit der Zeit dürften diese Konvertierten und ihre Nachfahren die Mehrheit der muslimischen Gesellschaft ausgemacht haben.
Die Gründe für ihren Religionswechsel sind im Einzelfall kaum zu greifen und ohnehin selten auf einen Faktor zu reduzieren. Neben denen, die aus religiöser Überzeugung den neuen Glauben annahmen, gab es andere, die sich Vorteile aus diesem Schritt versprachen. Im Islam genießen die nichtmuslimischen Angehörigen der Buchreligionen (arab. ahl al-kitāb) als sogenannte Dhimmis (arab. ahl aḏ-ḏimma) gewisse verbriefte Rechte. Diese wurden zwar oft situativ niedergelegt und angepasst, doch lassen sich einerseits einige grundlegende Privilegien benennen, welche Christen unter muslimischer Herrschaft beanspruchen konnten, andererseits aber auch Pflichten, denen sie nachkommen mussten, sowie Einschränkungen, denen sie unterlagen. Dazu gehörte etwa, dass es Dhimmis nicht gestattet war, ohne Erlaubnis Gotteshäuser zu bauen; sie hatten sich im öffentlichen Raum unauffällig zu benehmen und durften keinen Lärm verursachen – vor allem keine Geräusche, die auf ihre Religion hinwiesen. Sie waren zur Abgabe einer Kopfsteuer (arab. ğizya) verpflichtet und mussten Muslimen gegenüber ihre Ehrerbietung erweisen. Im Gegenzug waren sie als Religionsgemeinschaft geduldet und es war ihnen erlaubt, ihren Glauben – allerdings diskret – auszuüben. Insofern genossen die Christen, aber auch die Juden, in al-Andalus eine eingeschränkte Religionsfreiheit innerhalb einer den Islam privilegierenden Religionshierarchie. Zugleich waren sie aber in sozialer Hinsicht diskriminiert und damit einer Form staatlichen und gesellschaftlichen Drucks unterworfen, die man als strukturelle Gewalt bezeichnen kann. Der wachsende Einfluss des mālikitischen Rechts und damit eine gewisse Normensystematisierung sind ebenfalls in Rechnung zu stellen. Anziehung und Zwang (sog. Pull- und Pushfaktoren) waren also gleichermaßen ursächlich dafür, dass mit der Zeit immer weniger Christen in al-Andalus lebten.
Allerdings blieben beachtliche jüdische und christliche Gruppen über Jahrhunderte hinweg ihrem Glauben treu. Sie übernahmen nicht die muslimische Religion, sehr wohl aber die arabische Sprache. Sie wurden also arabisiert, nicht jedoch islamisiert, und entwickelten damit kulturelle Eigenheiten, die sie von ihren Glaubensgenossen in christlich beherrschten Gebieten unterschieden. Die Christen unter muslimischer Herrschaft – die sogenannten Mozaraber (vom arab. mustaʿrib = Arabisierter) – entwickelten liturgische Besonderheiten und verfügten über eigene Bischöfe sowie eine eigene Kirchenstruktur, deren sichtbarer Kopf der Erzbischof von Toledo war.
Gegen ihre Arabisierung regte sich allerdings vereinzelt auch Widerstand. So kritisierten islamische Gelehrte die allzu große Nähe zwischen Christen und Muslimen, und christliche Kleriker wiederum mahnten ihre Glaubensgenossen zur Orthodoxie. In der Mitte des 9. Jahrhunderts entstand eine christliche Bewegung, die islamische Autoritäten bewusst provozierte und damit Repressionen herausforderte, die bis zur Hinrichtung einzelner Christen reichten. Diese in christlichen hagiographischen Texten als Märtyrer (von Córdoba) gefeierten Männer und Frauen wollten vermutlich ihren andalusischen Glaubensgenossen als Vorbilder dienen und diese von einer vollständigen Assimilierung an ihr muslimisches Umfeld abbringen. Oft aus höheren sozialen Schichten stammend, versuchten sie erfolglos, sich einer letztlich unaufhaltsamen Entwicklung entgegenzustellen. Andere wiederum wählten den Weg der Migration und zogen in den christlichen Norden.
Trotz dieser Beispiele für Gewalt und Unterdrückung seitens der Machthaber – auch die ersten antijüdischen Pogrome Europas im muslimischen Granada des Jahres 1066 ließen sich anführen – wies al-Andalus bis weit ins 12. Jahrhundert hinein eine beachtliche ethnische und religiöse Vielfalt auf. Denn neben den verschiedenen muslimischen Gruppen verblieben auch jüdische und christliche Gemeinden im Land. Mehr noch: Vor allem die Juden hatten ihr Auskommen und Möglichkeiten aufzusteigen, die ihnen anderswo in Europa verwehrt waren. Diese Jahrhunderte jüdischen Lebens auf der Iberischen Halbinsel unter muslimischer Herrschaft sind daher mit gewissem Recht als «goldenes Zeitalter» des iberischen Judentums bezeichnet worden.
Die wesentlichen konfliktträchtigen Spannungslinien im al-Andalus der Umayyadenzeit scheinen denn auch nicht zwischen den Religionsgemeinschaften, sondern zwischen ethnischen Gruppen verlaufen zu sein. Schon in den Dreißigerjahren des 8. Jahrhunderts brachen Streitigkeiten zwischen arabischen und berberischen Gruppen aus. Immer wieder sollte das Reich in der Folge durch bürgerkriegsähnliche Unruhen (arab. fitna, Plur. fitan) erschüttert werden, von den vielen kleineren Rebellionen ganz zu schweigen. Zwar entwickelte sich Córdoba im Verlauf des 9. und vor allem während des 10. Jahrhunderts zu einer schillernden Metropole und zur bevölkerungsreichsten Stadt Europas. Im Jahre 929 sagte sich der Emir von Córdoba sogar von der Zentralgewalt des sunnitischen Islam in Bagdad los und rief ein eigenes Kalifat aus, womit er in Konkurrenz zum Abbasidenkalifat in Bagdad und zum Fatimidenkalifat in Kairo den Anspruch erhob, das Oberhaupt der gesamten muslimischen Gemeinschaft (arab. umma) zu sein. Unter seiner und seiner Nachfolger Herrschaft stellte das Umayyadenkalifat von Córdoba im 10. Jahrhundert unzweifelhaft das herausragende kulturelle und politische Zentrum des westlichen Mittelmeerraums dar. Und dennoch war auch dieses Kalifat stets von zentrifugalen Kräften gekennzeichnet, welche die Herrschaft der Umayyaden immer wieder – etwa während der großen fitan in den letzten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts oder von 1009 bis 1031 – zu destabilisieren drohten.
Diese internen Konflikte schwächten die Macht der Emire des 9. und der Kalifen des 10. Jahrhunderts insbesondere an den Grenzen des Reiches und eröffneten an der Peripherie die Möglichkeit zur Bildung eigenständiger Herrschaften. Dies galt auch für die besonders abgelegenen Gebiete im äußersten Norden der Halbinsel, wo die Zentralgewalt in Córdoba nicht über die Mittel oder den Willen verfügte, ihre Herrschaft mit aller Konsequenz durchzusetzen. Dort, in den gebirgigen Randzonen des Reichs, lebten Christengemeinschaften, welche die muslimische Oberherrschaft entweder nie akzeptiert oder sehr schnell wieder abgeworfen hatten. Sie nutzten den Schutz der Berge, die Entfernung zur Machtzentrale und deren Schwächephasen dazu aus, Eroberungszüge zu unternehmen. In der historischen Rückschau sind diese militärischen Unternehmungen als Beginn eines Prozesses angesehen worden, der mit dem umstrittenen Begriff der «Reconquista» belegt wird.
Während in Deutschland die «Reconquista» als geschichtswissenschaftlicher Fachbegriff weitgehend wertneutral verwendet wird, ist er in der spanischsprachigen Welt mit vielen, oftmals negativen Bedeutungen aufgeladen. Vor allem in Spanien selbst – in geringerem Maße auch in Portugal – hat er in den letzten 200 Jahren verschiedentlich dazu gedient, aktuelle politische Ansprüche historisch zu legitimieren. «Reconquista» ist kein mittelalterlicher Begriff, sondern fand erstmals Ende des 18. Jahrhunderts Verwendung. Wirkmächtigkeit begann er zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach der napoleonischen Invasion Spaniens zu entfalten. Die Erfahrung der Unterdrückung durch die französischen Invasoren und der erfolgreiche Freiheitskampf bildeten das zeitgenössische Fundament für eine neue Interpretation mittelalterlicher Kriege als Befreiungskriege.
Am folgenreichsten für die Wirkungsgeschichte des Begriffs «Reconquista» war der zwischen 1936 und 1939 blutig geführte, noch heute tief im kollektiven Bewusstsein verankerte Spanische Bürgerkrieg. Denn die Nationalisten unter General Francisco Franco Bahamonde (gest. 1975) erklärten ihren Aufstand zu einer christlichen Wiedereroberung Spaniens aus der Hand des Kommunismus, des Freimaurertums und des Judentums. Um ihren Putsch zu legitimieren, stellten sie ihn als einen Kreuzzug dar. Franco ließ sich dezidiert als Wiedereroberer (span. reconquistador) eines «heidnischen» Spanien feiern. Diese Inanspruchnahme war ein Grund dafür, dass sich die postfrankistische spanische, aber auch die portugiesische Forschung mit diesem Begriff, der so stark politisch aufgeladen und mit einer traumatischen Erfahrung der jüngeren Geschichte verknüpft war, schwertat.
Selbst in jüngsten politischen Debatten wird noch auf das Konzept zurückgegriffen, um die jeweilige Position zu stärken. Die stets virulente, zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder aufgeflammte Diskussion um die Einheit Spaniens, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und der allenthalben feststellbare Aufschwung des Nationalgedankens in Europa werfen Fragen auf: Waren alle Teile Spaniens in gleichem Maße von der mittelalterlichen «Reconquista» geprägt? Sollte das moderne Katalonien wieder in einen straff zentralistisch organisierten Nationalstaat eingegliedert oder gar «zurückerobert» werden? Auch im radikalen islamischen Fundamentalismus wird das Konzept der «Reconquista», allerdings unter Vermeidung des Begriffs, aufgegriffen: Die Wortführer rufen unumwunden zu einer gewaltsamen Wiederherstellung des untergegangenen islamischen Kalifats auf spanischem Boden auf.
Diese neuen Instrumentalisierungen mehren nur ältere Vorbehalte gegen die Nutzung eines derart aufgeladenen Begriffs. Schon früh wurde angemerkt, es handele sich bei dem Terminus «Reconquista» um ein modernes Konzept, das den mittelalterlichen Menschen fremd gewesen sei. Im Übrigen suggeriere er einen dauerhaften Kriegszustand, obwohl es doch lange Perioden des Friedens oder sogar der Bündnisse zwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel gab, wie noch gezeigt werden soll. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (gest. 1955) formulierte diesbezüglich einprägsam: «Wie kann man etwas als Rückeroberung bezeichnen, was acht Jahrhunderte angedauert hat?» Ein weiterer Vorwurf lautete und lautet, mit dem Terminus «Reconquista» greife man zwar keinen mittelalterlichen Begriff auf, aber man benutze sehr wohl unreflektiert ein ideologisches, religiöses Konzept des Mittelalters. Kritische Historiker forderten deshalb einen Perspektivenwechsel von den Siegern zu den Besiegten und schlugen vor, lieber schlicht von Eroberung oder sogar von Aggression zu sprechen als den letztlich legitimierenden Begriff der Rückeroberung zu verwenden.
Es kommt hinzu, dass auch in der mediävistischen Geschichtsforschung die Nutzung des Begriffs «Reconquista» unscharf ist, kennzeichnet er doch gleich vier Sachverhalte: Erstens wird er dazu verwendet, eine aus der historischen Rückschau konstruierte Periode – den Zeitraum von der Schlacht von Covadonga ca. 722 bis zur Eroberung Granadas 1492 – zu umschreiben; zweitens bezeichnet er die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel überhaupt; drittens benennt er die konkrete «Rückeroberung» einzelner Befestigungen oder Städte durch die Christen; seine vierte Verwendung in der Forschung ist schließlich am weitesten gefasst, wird doch damit die Wiederherstellung politischer, kirchlicher oder territorialer Ordnung durch mittelalterliche Christen bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob man den Begriff der «Reconquista» überhaupt noch benutzen sollte. Trotz aller Vorbehalte wird er aber in diesem Buch verwendet. Zum einen deshalb, weil – wie wir noch sehen werden – zwar nicht der Begriff, wohl aber die Vorstellung einer Wiederherstellung christlicher Herrschaft über die Iberische Halbinsel auch im Mittelalter wirksam war. Zum anderen sind alternative Begrifflichkeiten noch weniger überzeugend. Der Terminus «Eroberung» (Conquista) zum Beispiel ist im Wissenschaftsdiskurs mittlerweile fest zur Kennzeichnung der europäischen Expansion in Südamerika eingeführt und damit besetzt. Außerdem würde der Begriff der Eroberung die Spezifika der iberischen Situation im europäischen Vergleich zu wenig zum Ausdruck bringen, die Ideologisierung des Krieges in diesem Raum verschweigen und eine Rückwirkung dieses Konzepts auf die zeitgenössischen Handlungsträger negieren. Auch der als Alternativvorschlag vorgebrachte Terminus der «Restauration» kann letztlich nicht überzeugen, versperrt er doch den Blick auf ein wesentliches Anliegen nicht weniger Akteure: eben jene blanke Eroberung. Schließlich haben sich weite Teile der Geschichtswissenschaft trotz aller Vorbehalte in Ermangelung einer überzeugenden Alternative mit dem komplizierten Terminus «Reconquista» abgefunden. Daher wird er auch in diesem Buch benutzt – allerdings stets in Anführungszeichen gesetzt, um seine Vielschichtigkeit und Umstrittenheit zum Ausdruck zu bringen.