Geschichte und Methoden
Verlag C.H.Beck
Das 20. Jahrhundert gilt vielen als das Jahrhundert Sigmund Freuds und der durch ihn begründeten Psychoanalyse. Sein Werk hat vielfältige Spuren in allen Lebensbereichen, in Kunst und Wissenschaft, hinterlassen, und die Annahme unbewußter Handlungsgründe, die unser Verhalten und Erleben prägen, wird heutzutage kaum mehr ernsthaft bestritten. Psychoanalyse ist aber keineswegs nur ein Therapieverfahren, sondern auch eine Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie, eine Methode, individuell Verdrängtes oder gesellschaftlich Tabuisiertes bewußtzumachen. Dieses Buch erläutert die Anfänge der Psychoanalyse, ihre Grundlagen und Ziele und informiert über die wichtigsten Schulen und Strömungen, die sich inzwischen aus ihr entwickelt haben.
Dr. Wolfgang Mertens, Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker, ist Professor emeritus für klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die analytische Behandlungstechnik, Krankheitslehre, Entwicklungspsychologie und Psychotherapieforschung.
1. Von den Anfängen bis zur Gegenwart
2. Schulrichtungen der Psychoanalyse
Trieb- und Strukturtheorie
Ich-Psychologie
Objektbeziehungstheorien
Melanie Klein und ihre Schule
Französische Psychoanalyse: Jacques Lacan
Sozialwissenschaftliche Psychoanalyse: Alfred Lorenzer
Selbstpsychologie
Feministische Psychoanalyse
Interpersonelle Psychoanalyse
Auf dem Weg zu einer paradigmatischen Wissenschaft
3. Aufdeckung von Selbsttäuschung
Rückgriff auf bewährte Methoden anderer Wissenschaften?
Kritik an der vorschnellen Unterstellung biologischer oder sozialer Determiniertheit
Introspektion als Ausgangspunkt der psychoanalytischen Methode
Szenisches Verstehen bezieht die Subjektivität des Forschers und Therapeuten mit ein
Widerstand gegen die Selbsterkenntnis
Psychoanalytische Wahrheitssuche als Philosophie eines gelungenen Lebens
Kritik an den blinden Flecken der Psychoanalyse
4. Das Unbewußte – aktueller als je zuvor
Das Unbewußte ist psychisch, nicht physiologisch oder körperlich
Ich-Psychologie als Rückfall in die Bewußtseinspsychologie
Undurchschaute patrizentrische Vorurteile bei der Konzeption des Unbewußten?
Inhalte, Organisationsmodi und Codierungsformen des Unbewußten
Erfahrungsmäßiges und nicht erfahrungsmäßiges Unbewußtes
Abwehrvorgänge in neuem Licht
Gibt es eine Annäherung zwischen Psychoanalyse und Kognitionspsychologie?
5. Von der Trieb- zur Motivationstheorie
Sind alle Handlungen durch Sexualität und Aggression bestimmt?
Veränderungen des Freudschen Triebkonzepts
Die Theorie der Motivationssysteme
Verflüchtigung des Sexuellen?
Sexuelle Störungen und Näheangst
Zur Ganzheitlichkeit des Erlebens
6. Psychoanalytische Sozialpsychologie und Kulturtheorie
Nationalsozialismus, sozialer Konformismus und das Wiedererstarken der psychoanalytischen Gesellschaftstheorie
Der Vorwurf der Medizinalisierung und Therapeutisierung
Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen
Analyseebenen der psychoanalytischen Sozialpsychologie
„Die Stimme des Intellekts ist leise“
7. Forschung in der Psychoanalyse
Psychoanalytische Epidemiologie
Psychoanalytische Entwicklungspsychologie
Psychoanalytische Diagnostik
Psychoanalytische Langzeittherapie
Psychoanalytische Persönlichkeits- und Motivationstheorie
Psychoanalytische Wahrnehmungsforschung
Literaturhinweise
Register
Der Beginn der Psychoanalyse wird auf das Jahr 1895 datiert, in dem Sigmund Freud den Entwurf einer Psychologie ausarbeitete und zusammen mit Josef Breuer die Studien über Hysterie herausgab. Im allgemeinen Bewußtsein gilt jedoch das Jahr 1900, als Die Traumdeutung erschien, als der eigentliche Beginn des weitgespannten Werkes von Freud, das von der Psychologie des Alltags über die Entwicklungspsychologie, Klinische Psychologie, Persönlichkeitspsychologie, Methodologie, Kulturtheorie bis hin zur Institutionenkritik reicht und unzählige Wissenschaftler in vielen Teilen der Welt bis zum heutigen Tag immer noch beschäftigt. Die von ihm entwickelten Gedanken sind in viele, keineswegs nur psychoanalytische Therapieformen eingeflossen; in der pädagogischen Anwendung haben sie beispielsweise die Art der Kindererziehung in Familie und Schule stark beeinflußt. In trivialisierter Form taucht die Psychoanalyse mittlerweile in mannigfachen Redewendungen und Denkfiguren auf, was allerdings nicht immer dazu geführt hat, daß diejenigen, die sich ihrer Erklärungsversuche bedienen, deswegen aufgeklärter oder zufriedener geworden sind. Psychoanalyse hat das intellektuelle Leben des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen der westlichen Welt zutiefst geprägt. Der Einfluß auf die Human- und Sozialwissenschaften, auf die Kultur des modernen Lebens ist enorm. Der Philosoph Richard Rorty hat das Ausmaß der Rezeption von Freud sogar mit demjenigen von Platon und Christus verglichen, mit dem einzigen Unterschied, daß es bei Freud noch nicht einmal ein Jahrhundert gedauert hat, bis seine Ideen weltweit bekannt geworden sind.
Andere haben das 20. Jahrhundert vielleicht ein wenig zu euphorisch als das Jahrhundert der Psychoanalyse bezeichnet. Viele Künstler und Schriftsteller haben sich vom Freudschen Gedankengut befruchten lassen. Im Jahr 1936 sandten 197 führende Schriftsteller und Künstler, darunter auch Pablo Picasso, ihre Geburtstagswünsche an den 80jährigen Sigmund Freud. Abgesehen von einer kurzen therapeutischen Arbeitsbeziehung mit dem Komponisten Gustav Mahler hat Freud aber nur zu drei Schriftstellern intensiveren Kontakt aufgenommen: zu Arthur Schnitzler, Thomas Mann und Stefan Zweig. Der „Archäologe der Seele“ liebte seine antiken Kunstgegenstände; zu der von ihm inspirierten Kunst eines Oskar Kokoschka oder Egon Schiele fand er dagegen nur wenig Zugang. Theater, Konzert und Oper waren für ihn so gut wie kein Thema. Seine literarischen Vorbilder waren allesamt die Klassiker; in die abendländische Vergangenheit zurückblickend, interessierten ihn die künstlerischen Ausdrucksformen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts nur wenig. Der Mann, der auf die geistige und kulturelle Entwicklung der gebildeten Welt in den Industrienationen einen immensen Einfluß genommen hat, der maßgeblich dazu beigetragen hat, das Zeitalter der Moderne mit seiner spezifischen Emotions- und Triebunterdrückung zu beenden, war allzusehr in sein Werk vertieft, um daran Anteil nehmen zu können, wie seine Ideen überall um ihn herum in epochemachende kulturelle Produktionen umgesetzt wurden – eine Besonderheit, die er mit Ludwig Wittgenstein, einem anderen berühmten Wiener Zeitgenossen, teilte.
Analysieren, Schreiben, Diskutieren und sein Familienleben bildeten die Schwerpunkte seiner Existenz; zwischen Praxis und Privaträumen verbrachte er sein Leben 47 Jahre lang – ab dem Spätsommer 1891 bis hin zum Aufbruch ins Londoner Exil 1938 – immer in derselben Wohnung an der Berggasse. Nur die von ihm so sehr geschätzten Reisen, wie z.B. nach Rom und nach Athen, in die Toskana und nach Sizilien, unterbrachen gelegentlich die Regelmäßigkeit und Enge seiner grundsoliden Existenz. Aber vielleicht war die Verinnerlichung der bürgerlichen Moral auch die Voraussetzung dafür, die kulturellen Repressionen bis hinein in die verstecktesten Symptome der an ihren Verdrängungen erkrankten Menschen mit derartiger Leidenschaft und Präzision aufdecken zu können. Vielleicht bedurfte es der fast biedermeierlichen Behaglichkeit seines familiären Ambientes, um sich derart gelassen nicht nur mit dem Unbehagen in der Kultur, sondern auch mit dem Jahrhundert des Schreckens, der Kriege und der industriell bewerkstelligten Massenvernichtung, deren Vorboten Freud noch am eigenen Leib zu spüren bekam, beschäftigen zu können.
Schätzen manche Kritiker nun die Potenz des psychoanalytischen Denkens bereits als erschöpft ein, wissenschaftlich ohnehin nie ausgewiesen und in seiner revolutionären Kraft verbraucht und verschlissen, von anderen Wissenschaften geschluckt und vom Alltagsdenken eingemeindet, so sehen andere – und deren Meinung wird von mir geteilt – psychoanalytisches Gedankengut erst in einer präparadigmatischen Phase. Nach einhundert Jahren ihrer Existenz, was einen sehr kurzen Zeitraum für eine so umfangreiche wissenschaftliche Disziplin wie die Psychoanalyse bedeutet, schickt sie sich erst jetzt an, in einen paradigmatischen Zustand überzuwechseln und damit, in den Worten des Wissenschaftstheoretikers Thomas Kuhn, zu einer Normalwissenschaft zu werden. So beginnt sich klinisches Wissen schrittweise zu konsolidieren, die therapeutische Praxis gewinnt immer mehr Klarheit über die zugrundeliegenden Vorgänge und Wirkfaktoren, hinsichtlich ihrer Methoden und ihrer Stellung innerhalb der herkömmlichen Wissenschaftseinteilungen stellt sich allmählich ein Konsens darüber ein, daß die Psychoanalyse zwischen den Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaften angesiedelt ist, weil sie die Trennung des Menschen in ein natürliches und ein soziales Wesen dialektisch aufhebt. In ihrer gesellschaftstheoretischen Dimension, die Freud sehr viel mehr schätzte als ihre klinisch-therapeutische Anwendung, wird im Grunde erst damit begonnen, das Forschungsinstrument der Psychoanalyse z.B. für sozialpsychologische und kulturhermeneutische Analysen oder für wissenschaftspsychologische Untersuchungen einzusetzen. Aufgrund welcher biographischen Erfahrungen kommt z.B. ein Forscher dazu – neben den intellektuellen und wissenschaftlichen Prägungen seiner Zeit und seiner Ausbildung –, eine bestimmte Theorie mit einer bestimmten Methode zu entwickeln? Schon zu Beginn dieses Jahrhunderts hatte Freud in der Traumdeutung eine neue Methodologie für eine bislang nicht gekannte Art, Wissenschaft zu betreiben, geschaffen: Er ging vom unweigerlich gegebenen Zusammenhang zwischen dem Erkenntnisgegenstand und den subjektiven Strukturen eines Forschers aus und verstieß damit eindeutig gegen das vorherrschende cartesianische und positivistische Objektivitätsideal, nach dem wissenschaftliche Erkenntnis nur verbürgt werden kann, wenn es eine strikte Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt gibt. Vielleicht war es sogar dieser Bruch mit der bewährten männlichen Erkenntnishaltung, der ihm am meisten Widerspruch und Feindschaft in der wissenschaftlichen Welt eingebracht hat.
Wegen der Bekanntheit der Psychoanalyse könnte der Eindruck entstehen, als seien psychoanalytisches Denken und Wahrnehmen bereits zur allgemein gängigen Auffassung geworden. Doch wenn psychoanalytisches Argumentieren oder – genauer gesagt – das, was viele Menschen dafür halten, streckenweise schon zur Populärpsychologie geworden oder zur narzißtischen Selbstentblößung in Talkshows degeneriert ist, gerät diese Anwendung selbst zur Ideologie. Denn diese Form der Trivialisierung dient zumeist der Abwehr dessen, was wirkliche Aufklärung über das eigene Leben oder gesellschaftlich bedingte Selbstentfremdung bedeutet.
Es konnte nicht ausbleiben, daß eine so einflußreiche und das 20. Jahrhundert derart prägende Theorie und Methode viele Widersacher auf den Plan gerufen hat. Beginnend mit dem Pansexualismus-Vorwurf des Psychiaters Oswalt Bumke, der Anklage einer moralischen Zersetzung, vorgebracht vom Psychologie-Professor Felix Krueger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem Immunisierungsvorwurf des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper in den 60er Jahren, der Unterstellung von Bauernfängerei des Nobelpreisträgers für Medizin Peter Medawar, der polemischen Entwertung als Aberglauben des Jahrhunderts seitens des unermüdlichen Altpositivisten Hans-Jürgen Eysenck bis hin zur Entlarvung der Psychoanalyse als Tiefenschwindel, ausgeführt vom Journalisten Dieter E. Zimmer in den 80er Jahren, wurde und wird die Freudsche Psychoanalyse zumeist unsachlich und fast immer leidenschaftlich bekämpft. Vor allem die Tatsache, daß eine wissenschaftliche Disziplin trotz aller Zersplitterung, wie sie z.B. durch Alfred Adler, Carl Gustav Jung oder Karen Horney ausgelöst wurde, trotz aller Weiterentwicklungen in verschiedene Schulrichtungen nach über 100 Jahren immer noch existiert, scheint ihre Kritiker zu immer neuen Attacken zu provozieren. Während viele andere Theorien zumeist ihr Ende finden, wenn ihre Schöpfer sterben, und dann nur noch in historischen Darstellungen erwähnt werden, erfreut sich die Psychoanalyse nach wie vor eines kräftigen Daseins.
Infolge der Emigration vieler Psychoanalytiker aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft entstand in den 40er, 50er und 60er Jahren in den USA ein Zentrum psychoanalytischen Forschens; noch heute erscheinen maßgebliche Veröffentlichungen zuerst in den Staaten, bis sie dann zumeist als Übersetzung auch einem breiteren deutschen Publikum zugänglich werden. Im südamerikanischen Raum hat die Psychoanalyse, vor allem die Kleinianische Richtung, eine große Verbreitung gefunden. Auch wenn sich derzeit die nordamerikanische Psychoanalyse gegenüber einem Wiedererstarken biologischer und psychopharmakologischer Theorie- und Therapieansätze zusammen mit einem Zeitgeist, der schnelle Machbarkeit fordert, in der Defensive befindet, so haben doch die psychoanalytische Theorie und Praxis eine stete Weiterentwicklung erfahren. Zwar versuchten viele schon ihren Tod herbeizureden oder attestierten ihr, daß sie lediglich noch ein Anrecht auf Erwähnung in Geschichtsbüchern habe, zwar wurde ihr unterstellt, daß sie die relative Geschlossenheit ihrer Entwicklung nur dadurch erreicht habe, daß ihre Anhänger wie Zöglinge in einer Klosterschule geführt und zu fundamentalistischen Glaubenssätzen abgerichtet würden; zwar wurde gegen sie polemisiert, daß die Hermetik ihrer Lehre nur deshalb existiere, weil die freudianischen Adepten die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften, vor allem die der experimentellen Psychologie, aber auch der Kognitionspsychologie, der Neuroscience, der Biologie oder der Epidemiologie nicht zur Kenntnis nehmen würden; doch niemals kam einer ihrer Kritiker auf die Idee, daß an der Psychoanalyse auch etwas Richtiges sein könnte; daß sie über eine größere und befriedigendere Erklärungskraft verfügt als andere bewußtseinspsychologische Theorien, die heute – am Rande sei’s vermerkt – unzählige Enzyklopädien, ja ganze Regalwände füllen, ohne daß aus ihnen sehr viel praktische Anwendungsmöglichkeiten für das tatsächliche Leben ableitbar wären.
Niemals machten sich die Kritiker wohl auch bewußt, daß sich in diesem Jahrhundert bis zum heutigen Tag viele herausragende Wissenschaftler an verschiedenen Orten dieser Welt mit dem psychoanalytischen Gedankengut beschäftigen, nicht nur Mediziner und Psychologen, sondern auch Historiker, Philosophen, Theologen, Soziologen, Pädagogen, Kinderärzte, Kriminologen, Biologen, Ethnologen, Sprach- und Kulturwissenschaftler, ja sogar Physiker. Weltweit existieren an die 70 bis 80 renommierte Fachzeitschriften, und Jahr für Jahr werden Hunderte von Büchern psychoanalytischen Inhalts veröffentlicht. In Deutschland ist die Psychoanalyse seit nunmehr über 30 Jahren als Therapieform für psychisch und psychosomatisch kranke Menschen im System der gesetzlichen und privaten Krankenkassen verankert und gilt vor allem wegen ihres hohen Selbsterfahrungsanteils als die qualifizierteste Ausbildung zum Psychotherapeuten.
Dennoch, auch in den eigenen Reihen wurde und wird immer wieder Kritik an der Psychoanalyse laut: Sie sei der Medizinalisierung zum Opfer gefallen, lautet ein bekannter Vorwurf von Paul Parin; sie kümmere sich zu sehr um das therapeutische Geschäft und zu wenig um gesellschaftskritisches Denken. Die Psychoanalyse gehört uns allen, und nicht einer Institution, die sich anheischig macht, sich zum einzig wahren Eigentumsverwalter zu machen, so Johannes Cremerius, der sich vehement gegen die Institutionalisierung der Psychoanalyse wendet. Die Psychoanalyse habe sich – so der Tenor vieler ihrer Freunde – zu wenig um interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Biologie, Soziologie, Neurologie oder Kognitionspsychologie gekümmert und trete deshalb schon seit geraumer Zeit auf der Stelle, ohne innovatives Denken hervorzubringen. Nach der Diagnose des in der Tradition der psychoanalytischen Selbstpsychologie argumentierenden Hans Kilian hat der mainstream der Psychoanalytiker zu wenig die psychohistorischen Wandlungsprozesse in diesem Jahrhundert reflektiert. Kein Grund zum Feiern also, wenn Psychoanalytiker mittlerweile auf ein Jahrhundert Psychoanalyse zurückblicken können; Skepsis ist vielleicht angemessener und im übrigen auch nicht die schlechteste wissenschaftliche Einstellung.
Vielleicht befindet sich die Psychoanalyse aber auch in einer Phase der Konsolidierung, und dazu ist es vor allem notwendig, falsche Idealisierungen aufgeben zu können. Weder ist ihre kulturkritische Methodik dazu geeignet, zu jedem gesellschaftlichen Ach und Weh sofort eine tiefschürfende Diagnose oder gar ein Rezept parat zu halten, noch kann ihre Therapeutik umstandslos glücklich machen. Und die Geheimnisse des Menschlichen sind ohnehin ein Bollwerk gegen jedwedes allzu ambitioniertes wissenschaftliches Erkennen. Nüchtern betrachtet gibt es somit auch keinen Anlaß zur Entwertung, die ja oft nur die Kehrseite der Idealisierung ist. Auch wenn es zur Zeit vielen ein Vergnügen zu bereiten scheint, die Freudianer von ihrem Sockel herunterzuholen – „Freud bashing“ wird dies in den USA genannt –, auch wenn die Psychoanalyse als Therapieverfahren zum momentanen Zeitgeist des Erlebnishungers und raschen Konsumierens nicht zu passen scheint, und auch wenn Magazine und populärpsychologische Journale sich in der Verbreitung von Schreckensszenarien, die alle beim Psychoanalytiker stattgefunden haben sollen, gegenseitig überbieten, so lassen sich die Verdienste der psychoanalytischen Theorie und Praxis auch von noch so eifrigen Journalisten nicht aus der Welt schaffen.
Im Jahr 1998 veranstaltete die Library of Congress in Washington, unterstützt vom Sigmund-Freud-Archiv in New York und vom Freud Museum in Hampstead, London, eine Ausstellung, die den Einfluß Freuds und des psychoanalytischen Denkens im 20. Jahrhundert dokumentierte, aber auch verständlich machen wollte, wie und warum das Freudsche Vermächtnis von seinen Gegnern immer wieder heftig bekämpft wird. Oliver Sacks, der renommierte Neurologe und bekannte Buchautor, der gebeten worden war, einen Aufsatz für den Ausstellungskatalog zu schreiben, kündigte an, daß er diese Aufgabe als Verantwortung und Freude betrachtet, denn, so schrieb Sacks, „ich bin der Auffassung, daß Freud … einer der Väter der Kultur und des Denkens dieses Jahrhunderts war“.
Auch wenn der Ruhm Freuds allmählich verblaßt, entwickelt sich doch die psychoanalytische Bewegung von Tag zu Tag weiter, und die Faszination, die von seinem Denkansatz ausgeht, vermag auch Jahrzehnte nach seinem Tod Menschen auf der ganzen Welt immer noch zu begeistern. Als in der Sowjetunion Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts die ersten Anzeichen von Glasnost zu erkennen waren und die Aufsätze Freuds zum ersten Mal – nach 50 Jahren – offiziell gedruckt werden durften, wurden von ihnen binnen sechs Monaten über eine Million Exemplare verkauft. Psychoanalyse wird in diesem Land als eine ungemein anziehende Möglichkeit der Sinnfindung verstanden, die nicht von der Partei oder vom Staat vorgeschrieben ist. Jedes Land hat aufgrund seiner nationalen Eigentümlichkeiten die Grundgedanken Freuds und seiner Schüler auf andere Weise rezipiert – in Frankreich z.B. galt sie, bis Lacan Anfang der 60 er Jahre die Intellektuellen für sie begeistern konnte, als deutschösterreichisches Machwerk oder amerikanischer Import –, und doch gibt es mittlerweile einen weltweiten Austausch der Ideen, der angesichts der Vielfalt der diversen Weiterentwicklungen immer notwendiger wird.
Trotz aller Appelle an ihre Geschlossenheit und trotz aller Unterstellungen, daß die Freudianer noch immer statt wissenschaftlicher Forschung lediglich Gartenzäune um ihren Meister errichtet und sich gegenüber jeglicher Kritik abgeschottet hätten: Die Psychoanalyse gibt es schon lange nicht mehr. Das, was heutzutage als Psychoanalyse bezeichnet wird, ist eine manchmal friedliche, manchmal streitbare Koexistenz von verschiedenen Theorie- und Schulrichtungen wie z.B. die ichpsychologische, die objektbeziehungstheoretische, die selbstpsychologische, die interpersonelle, die Lacanianische, feministische, Kleinianische Richtung, die post-ichpsychologische, die an der Kleinkindforschung orientierte oder diejenige Psychoanalyse, die als kritische Sozialwissenschaft und auch als Tiefenhermeneutik bekannt geworden und hauptsächlich mit dem Namen von Alfred Lorenzer verbunden ist. Jede dieser Richtungen unterscheidet sich hinsichtlich bestimmter Überzeugungen, z.B. was die Auffassung bezüglich der Natur des Menschen, des impliziten oder expliziten Gesellschaftsbildes, des Einflusses der Sozialisation, des Verhältnisses von bewußten zu unbewußten seelischen Vorgängen und Inhalten und bezüglich vieler behandlungstechnischer Modalitäten anbelangt; und doch lassen sich diese zum Teil sehr unterschiedlichen Vorstellungen immer noch als psychoanalytisch verstehen und z.B. nicht als behavioristisch, kognitiv, systemtheoretisch, rogerianisch. Psychoanalyse spricht heutzutage also mit vielen Zungen.
Noch zu Freuds Zeiten trotzte die Psychoanalyse allen Kräften, die eine allzu große Veränderung des begrifflichen Grundgerüsts vornehmen wollten; ihre Theorie umgab eine dicke Mauer, und wer in diese Festung hinein wollte, mußte ein Codewort benützen, das von Freud festgelegt worden war: Psychoanalytiker darf sich nur nennen, wer an die Macht der Psychosexualität, an das Unbewußte, die Übertragung und den Ödipuskomplex glaubt. Alle abtrünnigen Söhne und Töchter, die, wie etwa Carl Gustav Jung, sich weigerten, sämtliche psychischen Probleme auf einen Sexualtrieb zurückzuführen, oder wie Alfred Adler andere Prioritäten setzten und im Machttrieb die Haupttriebfeder des Menschen erblickten, wurden aus der psychoanalytischen Gemeinschaft ausgeschlossen.
Aber noch vor dem Tod Freuds begannen innerhalb des eigenen Lagers intensive Auseinandersetzungen. Melanie Klein und Anna Freud z.B. befehdeten sich heftig in London; Sandor Ferenczi betonte gegenüber seinem Meister Freud die traumatisierenden Auswirkungen elterlicher Erziehungshandlungen. Imre Hermann postulierte den Primat eines Bindungstriebs gegenüber der Psychosexualität. Heutzutage hat man sich hingegen daran gewöhnt, daß es die Psychoanalyse nicht mehr gibt. Es existiert vielmehr ein psychoanalytischer Theorienpluralismus, eine kreative Phase theoretischer Weiterentwicklung, geprägt von den Charakteristika der jeweiligen Forscher, aber auch von den nationalen und kulturellen Eigentümlichkeiten. Gleichzeitig wächst nunmehr der Wunsch nach der Bestimmung des common ground, nach einer differenzierten Feststellung der Gemeinsamkeiten, aber auch der Unterschiede der jeweiligen Schulrichtungen. Und bemerkenswert ist ganz gewiß auch, daß nicht alles, was Freud vor 70, 80, 90 oder noch mehr Jahren gedacht und geschrieben hat, gänzlich überholt ist. Sicherlich läßt sich so manche Hypothese heutzutage so gut wie überhaupt nicht mehr aufrechterhalten, aber andere Entwürfe von Freud enthalten erstaunlich moderne Auffassungen und Problemstellungen, die auch von heutigen Forschern nicht besser ausgearbeitet und untersucht werden könnten. Freud hat viele richtige Fragen gestellt, und manche seiner Fragen harren bis zum heutigen Tag einer exakten Beantwortung.
Auch wenn sich die Psychoanalyse schon seit geraumer Zeit in verschiedene Richtungen entwickelt hat, die sich in unterschiedlichem Ausmaß von einigen grundlegenden Annahmen Freuds unterscheiden, so haben doch alle ihren Ausgangspunkt in Freuds Denken und teilen gewisse Grundüberzeugungen.