cover

Wir schaffen das war ursprünglich der Ausruf Michael Klonovskys beim Anblick seines ersten Käsewagens in einem französischen Restaurant. Seitdem hat sein Diktum es weit gebracht, und der Urheber fühlt sich mittlerweile an sein Leben im Sozialismus erinnert: »2015 ist das DDR-ähnlichste Jahr meiner seit 1990 gesamtdeutsch-bundesrepublikanischen Existenz«, schreibt Klonovsky im neuen Band der Acta diurna. Das Jahr der Bereicherung markiert die Teilung des Landes in einen guten, hellen, ewigmorgigen und in einen dunklen, dumpfen, ewiggestrigen Teil, einstimmig verkündet und verstärkt durch die Medienschaffenden der zweiten Deutschen Demokratischen Republik. Mit heiterem Scharfsinn protokolliert Klonovsky die Umformung Deutschlands in eine sozialistische Erziehungsdemokratur mit halbwegs levantinischem Antlitz.

Michael Klonovsky, geboren 1962 im Erzgebirge, ist Romanautor, Essayist und Publizist. Bis zum Mauerfall lebte er in Ostberlin, wo er als Maurer, Gabelstaplerfahrer, Sportplatzwart und Korrekturleser tätig bzw. eher untätig war. 1992 kam er zum Magazin Focus, wo er heute Autor ist. Den Prozess der deutschen Wiedervereinigung beschrieb er in seinem Roman Land der Wunder (2006). Seine letzten Buchveröffentlichungen: Lebenswerte (2012), Aphorismen und Ähnliches (2014) sowie Bitte nach Ihnen (Acta diurna 2012 bis 2014).

   Michael Klonovsky– Die Liebe in Zeiten der Lückenpresse– Reaktionäres vom Tage Acta diurna 2015– Lichtschlag in der Edition Sonderwege

Für Krawalltschik

Man sieht gleich, wo die zwei notwendigsten Eigenschaften fehlen: Geist und Gewalt.

Goethe

Wer schaut, ohne zu bewundern oder zu hassen, hat nichts gesehen.

Nicolás Gómez Dávila

Man muß sich daran gewöhnen, die Menschen gleich von Anfang an umzudenken, man versteht sie dann viel schneller, man erkennt sofort in jeder beliebigen Person ihre Realität als ungeheure gierige Made.

Louis-Ferdinand Céline

… weil die Wollust, »Du bist schuld!« zu schreien, die höchste ist, der sich ein menschliches Wesen hingeben kann.

Giuseppe Tomasi di Lampedusa

INHALT

Vorbemerkung

Acta diurna 2015

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Personenregister

VORBEMERKUNG

Für den mit diesen Notizen bislang unvertrauten Premierenleser gestatte ich mir, den ersten Absatz aus dem Vorwort des Vorgängerbandes zu zitieren, der trefflich auch in das vorliegende, jenen fortsetzende Opus einführt. Nämlich:

»Das private Tagebuch war ursprünglich die diskrete Art, eine Chronik zu führen. Damit hat weder die heutige Zeit, in der nahezu alles öffentlich verhandelt wird, noch das vorliegende Diarium, das im Internet für jedermann einsehbar war, viel zu tun. Acta diurna bedeutet tägliches Geschehen. Diese Urform einer Zeitung in Gestalt öffentlicher Tagesberichte wurde 59 v. Chr. von Gaius Julius Caesar eingeführt, der sich in der Folgezeit in einem fremden Land aufhielt, genau wie ich heute, freilich an der Spitze von Legionen, was ihm ganz andere Möglichkeiten des Herumrandalierens eröffnete.«

Die weiland konstatierte Fremdheit hat sich 2015 etwas gemildert; immerhin handelte es sich um das DDR-ähnlichste Jahr meiner seit 1990 gesamtdeutsch-bundesrepublikanischen »Ek-sistenz« (M. Heidegger). Von alt her vertraute heimatliche Klänge drangen immer lauter und zugleich einschmeichelnder an mein Ohr, Rufe nach Zensur und Bücherverboten etwa, engagierte Plädoyers für mehr Rechtsnihilismus zugunsten moralischer Planvorgaben, freiwillige kollektive Selbstverpflichtungen zum spontanen Zeichensetzen gegen Hetzer und Falschmeiner, beispielsweise indem man ihnen Restaurantbesuche oder Hotelzimmer verweigerte – vielleicht irgendwann auch, man wird ja wohl träumen dürfen, die Benutzung von Parkbänken und öffentlichen Verkehrsmitteln? Die rhetorische Teilung des Landes in einen guten, hellen, aufgeklärten, ewigmorgigen und einen dunklen, dumpfen, gefährlichen, ewiggestrigen Teil ward wie Donnerhall verkündet und verstärkt durch die Medienschaffenden der zweiten deutschen demokratischen Republik. 2015 war insofern ein durchaus historisches Jahr, als es die kaum mehr aufhaltbare Verwandlung Deutschlands in eine rumpfmarktwirtschaftliche sozialistische Erziehungsdemokratur mit neuerdings halbwegs levantinischem Antlitz markieren wird. Es schnuppert endlich wieder nach Kulturrevolution und »demokratischem Zentralismus«.

Bereits in den Sündenjährchen zuvor hatte unsere geliebte Kanzlerin eindrucksvolle Proben ihrer Waghalsigkeit geliefert, ob sie nun den Atomausstieg, die Haftung für die Milliardenschulden der anderen oder die faktische Entmachtung des Parlaments ins Werk setzte. Doch im vergangenen Jahr schwang sich Angela I. aufs Ross und avancierte zur ca. achten Emanation der Weltseele seit Napoleon (es heißt »Weltseele« bei Hegel, nicht »Weltgeist«). Mit einem an Neys Kavallerieattacke bei Waterloo erinnernden Handstreich brach sie EU-Abkommen wie Strohhalme und verzichtete als erster Staatschef der Weltgeschichte mutwillig sowohl auf die Definition als auch auf den Schutz jener Grenzen, die bis dato das von ihr gewissermaßen regierte Territorium markierten. Es wäre halbherzig gewesen, hätte sie nicht zugleich mit einem freundlichen Wink samt einigen Selfies halb Nordafrika und Vorderasien bedeutet, dass an den gedeckten deutschen Tischen aufgrund einer gewissen Überalterungsmortalität und Vermehrungsungeneigtheit der Eingeborenen zunehmend Plätze frei würden. Nachdem die Fronten ins Rutschen gekommen waren, hielt sie die Stunde für gekommen, Thilo Sarrazins etwas laue Prognose »Deutschland schafft sich ab« durch ein elanvoll-fideles »Wir schaffen das!« zu bekräftigen. Das Schicksal, dass sowohl viele ihrer zum letzten großen nationalen Kraftakt angestachelten Landsleute als auch große Teile des Auslands der Meinung sind, sie habe schwer einen an der Waffel, teilt sie mit anderen politischen Visionären wie Nero, Heinrich VIII., Alfredo Stroessner oder Jürgen Habermas bzw. Todenhöfer. Als Folge ihres noblen Tuns (beziehungsweise Lassens) – und da Zäune sowieso keine Menschen aufhalten – wird sich die Bevölkerungszusammensetzung im Lande der Schlichten und Schenker binnen zweier Generationen dermaßen radikal geändert haben, dass ein Autor, der gerade an einem Nachruf auf das (bio-)deutsche Volk schreibt, dieser Frau nur glühend danken kann. Was hiermit getan sei.

Die vorliegenden Notate mögen in ihrer prangenden Merkellastigkeit – sie hat im Register sogar ihren Amtsvorgänger A. Hitler überholt, der im ersten Buch der Acta noch allzu unangefochten das Rennen machte – auch eine Art literarisches Monument für eine große deutsche humanistische Amokläuferin und politische Romantikerin bilden, welche zugleich für sich in Anspruch nehmen darf, die bedeutendste Silberzunge in der Geschichte öffentlicher Rede seit ihrem anderen Amtsvorgänger E. Honecker zu sein. Selbstverständlich ist sich der Verfasser dieser hochmoralischen Betrachtungen auch dann darüber im klaren, dass Frau Merkel durchweg aus ehrenwerten Motiven wie Mitgefühl, Rache, persönlicher Heiligenscheinpolitur und Obenaufbleibenwollen handelt, wenn er auf die Schattenseiten ihres Wirkens zu sprechen kommt. Bekanntlich läuft Politik, auch die bestgemeinte, fast immer auf Leichen im fünften Aufzug hinaus. Heil der Staatsfrau, die solcher unabweisbaren Tragik mit Elan und einem gerüttelt Maß an Indolenz beizukommen weiß!

Es gehört seit Olims Zeiten zum Wesen der politischen Betätigung, dass die einen die Lorbeeren einheimsen und die anderen dafür zu zahlen haben, wobei Letzteres sogar noch sicherer ist als Ersteres. Dafür, dass dieser einfache und im Grunde einfach zu durchschauende Mechanismus möglichst nicht so schnell offenbar wird, sind heutzutage die Medien da. Liebevoll, wenn auch etwas lückenhaft, hat der Autor dieser Zeilen ganz speziell das Walten und Wirken der Lückenpresse gewürdigt (die Genese des längst in aller Munde befindlichen Begriffes wird hier philologisch befriedigend dokumentiert). Wer weiß schließlich, wie lange es sie noch gibt und ob sie nicht noch schneller eine Lücke hinterlässt als ihr ebenfalls im Verschwinden begriffenes Publikum?

Der Leser ist also gehalten, sich bei der Lektüre die andere, zeitgeistsegnende Seite stets hinzuzudenken, denn sonst könnte das Kontrastprogramm der Acta diurna womöglich etwas einseitig wirken. Des Verfassers politische Position wäre unter anderen Umständen gewiss eine andere (seine Aversion gegen Denunzianten bliebe dieselbe), denn seine einzige Utopie besteht in dem Wunsch, es möge nicht irgendein, sondern überhaupt kein Zeitgeist herrschen. Damit das Tier im Menschen halbwegs domestiziert bleibt, soll man dies krumme Geschlecht weder mit eumenidischen Ideologien aufhetzen noch mit einer allzu elastischen Ethik überfordern.

Warum aber ist im Titel des vorliegenden Diariums von Liebe in Zeiten der Lückenpresse die Rede? Klänge »Der Hass in den Zeiten der Lückenpresse« nicht viel plausibler? Welche Liebe mag gemeint sein? Offenbar kommt die christliche Agape für den Verfasser nicht in Frage. Ist die erotische Liebe in Zeiten einer sich energisch ankündigenden Wiederverpackung und Heimführung von Frauenkörpern gemeint? Ach was! Die Liebe zur Partei- und Staatsführung? Schon eher – aber auch nicht. Vielleicht die Liebe zu Allah und seinem Gesandten (Ersterer segne Letzteren und schenke ihm Heil) ? Ihrer wird genug gepflogen, sie bedarf meines Zutuns nicht. Die Liebe zum Grundgesetz? Zum Rauschtrank? Zu Borussia Dortmund? Zum transatlantischen Bündnis? Nein, nein, nein, nein.

Aber welche Liebe denn dann?

Brüder und Schwestern zur Linken, nun wird es abartig, nun heißt es, rasch nach jenen von innen imprägnierten Tüten zu greifen, die bei der letzten Kanzlerinnenrede unbenutzt geblieben sind:

Ich glaube, Vaterlandsliebe nennt

Man dieses törichte Sehnen.

Ich spreche nicht gern davon; es ist

Nur eine Krankheit im Grunde.

Verschämten Gemütes, verberge ich stets

Dem Publiko meine Wunde.

Also reimte bekanntlich Heinrich Heine in seinem Wintermärchen – um gleich darauf das »Lumpenpack« der wortführenden Patrioten zu beschimpfen, welches ihm diese Liebe verleide. Heute ist das wortführende Lumpenpack meist antipatriotisch, während der Gemütszustand des Literaten in betrüblicher Konstanz verschämt bleiben muss. Vaterlandsliebe, das ist natürlich Autobahn hoch zehn und nicht zu tolerieren. Der Autor muss gestehen, dass die seine, an der Betrachtung der Zeitgenossen geschulte, zunehmend auf platonische Weise und vergangenheitsaffiziert sein kaltes Herz wärmt. Es geziemt sich freilich, mit alten Lieben, zumal wenn sie schon einen Sprung haben, behutsam und pfleglich umzugehen. So fand sie denn den Weg auf den Buchtitel. Soll sie dort einstweilen fortdauern! Te tua, me delectant mea (Cicero).

Abschließend ein paar Worte zur Textgestalt. Im Wesentlichen folgen die vorliegenden Notate jenen, die ich in meinem kleinen Eckladen an der Peripherie des World Wide Web weniger feil- denn darbot. Zu meiner nicht geringen Verwunderung sind dort anno 2015 von mehr als 400 000 verschiedenen Besuchern knapp zwei Millionen Seiten aufgerufen und von zahlreichen verzückten Lesern mit Geld- und Weinspenden honoriert worden. All diesen freundlichen Menschen sei hiermit eine anständig gebundene Ausgabe in die Hand gegeben. Wie schon im ersten Band wurden ein paar eher belanglose Beiträge gelöscht, einige andere zusammengezogen. Fünf von mir pseudonym anderswo publizierte Texte fanden aufgrund ihrer Tagebuchartigkeit ebenfalls Eingang in den Korpus.

Ein kleines Problem bestand darin, dass ich auf meiner Webseite, die ursprünglich eine Sackgasse, ein Holzweg, ja ein Blinddarm sein sollte, inzwischen bisweilen Links zu anderen Seiten setze; diese Notizen sind entweder verschwunden, oder ich habe den Querverweis durch eine Erklärung dessen ersetzt, worauf der Leser stoßen würde, wenn es in Büchern Links gäbe. Von den online zitierten Leserzuschriften sind einige nicht in dieser Ausgabe enthalten, und zwar einzig aus Platzgründen und Proportionserwägungen.

Drei Einträge, in denen ich a) wahrscheinlich eine Ente und b) eine Übertreibung verbreitete sowie c) die Ursache des beschriebenen todtraurigen Ereignisses – ein ertrunkenes Kind an der türkischen Küste – eine völlig andere als von mir gemutmaßt war, habe ich getilgt. In allen drei Fällen konnte man die angehängte Korrektur online über Monate zur Kenntnis nehmen; es handelt sich also nicht um ein nachträgliches Beschönigen meinerseits. Überhaupt – ich werde es nicht müde, dies zu wiederholen – ist mir am Rechthaben wenig gelegen, in vielen Fällen wünsche ich mir geradezu, dass ich mich irre. Mein Recht, dies coram publico zu tun, werde ich mir allerdings so schnell nicht nehmen lassen.

München, im Januar 2016Michael Klonovsky

ACTA DIURNA 2015

JANUAR

2. Januar

Witternd tritt der Journalist vor seinen Bau: Ob die Ansicht, die gestern als opportun galt, es auch heute noch ist?

4. Januar

Der authentische Linke ist moralisch angewidert, der authentische Rechte ästhetisch.

5. Januar

Allmählich sollte man dazu übergehen, in Nachrufen und Sterbeanzeigen darauf hinzuweisen, ob die von uns gegangene Person gestorben oder ausgestorben ist.

8. Januar

In Paris haben islamische Fundamentalisten die Satirezeitung Charlie Hebdo überfallen und mehrere Mitarbeiter erschossen – aber mit dem Islam hat der Anschlag nichts zu tun! Das sagen nach dem Massaker von Paris nicht etwa vorrangig Muslim-Vertreter – dort überwiegt der Tenor: Diese Mörder beschmutzen den Islam –, sondern biodeutsche Parlamentarier, und sie sagen es mit jovialer Entschiedenheit, etwa, und pars pro toto zitiert, Innenminister Thomas de Maizière (CDU): »Terroristische Anschläge haben mit dem Islam nichts zu tun«, oder SPD-Fraktionsführer Thomas Oppermann, der von »Killern« sprach, »die mit dem Islam nichts zu tun haben«. Selig das Land, das solche Politiker besitzt, Männer von edler Sprachschlichtheit und mit der göttlichen Fähigkeit, in die Köpfe und Herzen aller schauen zu können! Denn Oppermann weiß nicht nur, dass die Attentäter, die »Allahu akbar!« riefen und Menschen niederschossen, weil sie den Propheten Mohammed (gepriesen sei er neuerlich) mit Karikaturen schmähten, nichts mit dem Islam zu tun haben, er ist überdies exakt im Bilde darüber, dass 15 000 oder 17 000 Pegida-Demonstranten »keine Patrioten, sondern Rassisten« sind und nichts mit Heimatverbundenheit und Einwanderungspolitikkritik zu tun haben. Nur Oppermann und Heiko »Pegida ist eine Schande für Deutschland« Maas sowie natürlich der HERR selber kennen sie alle beim Namen!

Später 8. Januar

Eine Freundin, Pianistin im schönen Städtchen ***, weiß am Telefon nichts von den Vorfällen in Paris, hat nichts gehört oder gesehen und ist auch nicht sonderlich an Informationen darüber interessiert. Wie souverän!

Das erinnert mich an den frühen Nachmittag des 11. September 2001, als ich, nachdem beschlossen worden war, dass Focus seinen Erscheinungstermin vorziehen und ich die Titelgeschichte verfassen würde, in jenem der Redaktion benachbarten italienischen Lokal saß, in welchem ein nicht unerheblicher Teil meiner Bezüge der vergangenen 22 Jahre auf Nimmerwiedersehen deponiert ist, um bei einem Flascherl Wein darüber nachzudenken, was nun zu schreiben sei. Natürlich lief auch hier der Fernseher mit den Bildern aus New York, und die Leute redeten von nichts anderem, mit Ausnahme zweier Bogenhausener Schickeriaschachteln im durchaus noch attraktiven Alter, die ostentativ mit dem Rücken zum TV saßen, um sich in ihrem Gespräch über Bogenhausener Schickeriaschachtelthemen nicht ablenken oder gar stören zu lassen, und je länger ich ihnen dabei aus den Augen- und Ohrenwinkeln folgte, desto mehr mischte sich in meine Verständnislosigkeit, ja Empörung über so viel Gleichgültigkeit eine heimliche Bewunderung über diesen grandiosen Willen zur Asynchronizität …

An Spätheit noch zugelegt habender 8. Januar

Alle westlichen Kommentatoren sind sich einig: Der Mordanschlag auf Charlie Hebdo war ein Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit, einen zentralen Wert unserer Zivilisation. Netzauf, landab tönt das kollektive Bekenntnis Je suis Charlie! Zur Meinungsfreiheit gehören bekanntlich Satire, Blasphemie und die Beleidigung religiöser Gefühle. Die Grenzen der Freiheit wegen spezieller staatlicher Animositäten sind durch das Strafrecht markiert (worüber hier nicht diskutiert werden soll; ich bin selbstredend kein Freund solcher Einschränkungen). Ansonsten kann jeder sagen und zeichnen, was er will – auf das Risiko, gesellschaftlich geächtet zu werden, aber ohne Gefahr für Leib und Leben. So ist das im Westen, zumindest pro forma und einstweilen.

Wer gegen die Todesstrafe ist, muss auch gegen die Todesstrafe für Eichmann sein; wer will, dass Eichmann hängt, muss für sie sein. Wenn ich für die Meinungsfreiheit bin, muss ich für die Meinungsfreiheit von jedermann sein, und ich muss mich erst recht mit Menschen solidarisieren, die ermordet wurden, weil sie von ihr Gebrauch machten. Aber Dreckschleudern und Hassprediger darf ich sie trotzdem nennen.

Viele Zeichnungen von Charlie Hebdo waren ekelhaft und verbreiteten Hass. Eine bezeichnete den Koran auf der Titelseite als »Scheiße«. Papst Benedikt wurde als Penetrierer eines Maulwurfs ins Bild gesetzt. Vater, Sohn und Heiligen Geist sah man beim analen Rudelbums. Marine Le Pen rasiert sich auf einem Bild das Schamhaar so, dass Hitler-Scheitel und Hitler-Bärtchen bleiben, eine andere Zeichnung zeigt einen dampfenden Kothaufen mit der Zeile: »Le Pen: eine Kandidatin, die euch ähnelt«. Der große deutsche Humanist Karl Marx nannte die unbelehrbare Masse in seinen Briefen gern »Menschendreck« und »Menschenkehricht«. Seine – im allerweitesten Sinne – politischen Enkel haben es immer noch drauf.

Wenn der deutsche Grafiker Thomas Meitsch alias Schwarwel auf einer Karikatur die Pegida-Demonstranten aus einem haarigen Hintern marschieren lässt und das Bild mit der sinnigen Zeile »Als der Stuhlgang wieder laufen lernte« versieht, wirkt das wie bei Charlie Hebdo gelernt. Nur arbeitet sich der hiesige Meutenfeigling lieber an einem ungefährlichen Gegner ab, während seine Pariser Kollegen immerhin einen beeindruckenden Schneid zeigten, denn ihnen war völlig klar, dass muslimische Reinheitsvollstrecker sie im Visier hatten.

In gewissem Sinne sind sie auch dafür gestorben, dass ich sie abstoßend finden darf, ich weiß. Und es ist ein Skandal, dass westliche Satiriker unter Polizeischutz stehen, weil sie muslimische Blasphemievorstellungen übertreten haben. Also soll Herr Meitsch Menschenkehricht malen dürfen, ohne Wenn und Aber. Und Muslime, die im Westen leben, müssen wie alle akzeptieren, dass Freiheit eklig sein kann.

Das Problem ist nämlich, dass eine einmal begonnene Einschränkung dieser Freiheit auf die Gesellschaft wirken würde, als habe man ihr eine kollektive Droge verabreicht. Fängt man damit an, gibt es kein Halten mehr: In jeder Minderheit, jeder Ethnie, jeder Religionsgemeinschaft werden sich plötzlich Sprecher oder Funktionäre finden, die auch ein Stück vom Meinungsfreiheitseinschränkungskuchen abhaben und ihre Gruppe besonders vor Beleidigungen schützen wollen. Und es wird viele Anwälte geben, die das große Geschäft wittern. Am Ende wären wir von Strafandrohungen umstellt, die nicht eine so noble Sache wie die Sitte schützten, sondern schnöde Partikularinteressen. Und deshalb müssen wir ertragen, dass es zum Beispiel Karikaturisten gibt, die wirken, als litten sie an einer ins Graphische umgelenkten Unterform des Tourette-Syndroms, der sogenannten Koprolalie, dem zwanghaften Ausstoßen von Obszönitäten.

Schlaumeier sagen jetzt: »Wir sind Charlie« war ja symbolisch gemeint. Nichts da! Ich kann sehr wohl die Meinungsfreiheit verteidigen, ohne mich gleich mit ihren Exkrementen einzureiben. Je suis Michael.

9. Januar

In Eren Güvercins so empfehlenswerter wie frappierend unrezensiert gebliebener Bestandsaufnahme Neo-Moslems (Herder 2012) wird einer aus dieser Kohorte, der Autor Feridun Zaimoglu, mit dem Vorschlag zitiert, den Technokratenterminus Integration zugunsten des schönen deutschen Wortes Heimat fallenzulassen. Von der anscheinend habituellen oder auch bloß marktgängigen Kraftmeierei abgesehen, mit welcher diese Idee von Zaimoglu ins Leserland gestemmt wird, wäre meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Auch den Integrationszwang, der im umgekehrten Fall bei der Einwanderung von Okzidentalen in ein beliebiges Morgenland ausgeübt würde, wollen wir hier beiseite lassen. Allein deshalb, weil von Otto-Normal-Deutschen steuerfinanzierte deutsche Grüne wie auch die meisten deutschen Grünen-Wähler in ihren schicken deutschen Eigenheimen in besten deutschen Stadtteilen ums Verrecken nicht von ihrer deutschen Heimat sprechen würden, sondern bei Heimat sogleich brav das Geräusch marschierender Stiefel und SA-Gebrüll assoziieren, vielleicht auch Pegida, jedenfalls fast soviel Dumpfheit und Tümelei, wie sie selber in sich hegen, nur nicht den Neo-Moslem, der dabei Heimat denkt und nichts außerdem. Wie viele mag es davon geben?

Güvercin sagt: Abendland, ja bitte! Wir treffen uns bei Goethe und Heidegger.

Die Fronten müssen völlig neu gezogen werden.

10. Januar

Daniel Cohn-Bendit hat die Attentäter von Paris aus einem offenbar tiefverwurzelten Reflex heraus als »Faschisten« bezeichnet. Damit lieferte er zwar keine brauchbare Erklärung der Bluttat, brachte aber eine Zeit in Erinnerung, wo nahezu alles »faschistisch« (oder »faschistoid«) geheißen wurde, was nicht der schrankenlosen und insonderheit sexuellen Selbstverwirklichung der ihrer restlosen Befreiung entgegenstrebenden Erdenkinder eilends den Weg frei machte: der Staat, die Polizei, die Kirche, die repressiven Gesellschaftsstrukturen, der bürgerlichautoritäre Charakter, das Patriarchat, die Familie, Hierarchien, Klotüren und die »Betreten verboten!«-Schilder vor öffentlichen Rasenflächen. Alles Böse war faschistisch.

Aber ist der radikale Islamismus ein »Faschismus«? Immerhin spricht auch der deutsch-ägypische Autor Hamed Abdel-Samad, ein Kritiker des politischen Islam und ehemaliger Muslimbruder, in seinem aktuellen Buch vom »islamischen Faschismus«, und vor ihm haben, besonders nach dem 11. September 2001, aber vereinzelt auch schon im Zusammenhang mit Chomeinis Gottesstaat, verschiedene Publizisten und sogar der weltweise George W. Bush einen »Islamo-Faschismus« ins rhetorische Spiel gebracht.

Ich halte diese Wortwahl für verfehlt. Es handelt sich um ein Kraftwort, das Aufsehen machen und eine gewisse Hilflosigkeit bei der Deutung von Gewaltphänomenen überspielen soll. Wir meinen es ernst mit unserer Verurteilung, soll das heißen; diese Figuren sind wirklich und wahrhaftig böse, so böse, dass wir sie sogar mit dem Allerbösesten, das die Welt je gesehen hat, in Verbindung bringen. Zugleich vernebeln wir ein bisschen, dass es ein Importproblem ist, indem wir ein originär europäisches Etikett draufkleben.

Der Islamismus ist eine Kriegserklärung nicht nur an die westliche Welt, ihre Lebensart und ihre Wertvorstellungen im Allgemeinen, sondern auch an die Reste jener bürgerlichen Gesellschaft, die der historische Faschismus gegen den kollektivistischen Sturmlauf der radikalen Linken zu retten versuchte. Strenggenommen gibt es den Faschismus ja nur »in seiner Epoche« (Ernst Nolte), und die währte von 1919 (oder meinetwegen auch 1915) bis 1945. Eine darüber hinausgehende Verwendung des Begriffes ist stets mehr Metapher, Kraftwort oder Denunziation als Deutung. Vor allem stimmt beim Islamismus die Richtung der Aggression nicht mit der faschistischen überein. Zwar ist der Islamismus ebenso reaktiv, wie der Faschismus es war (der Begriff des »Antifaschismus« hat das erfolgreich verschleiert), aber der Islamismus kämpft gewissermaßen »von unten«, der Faschismus dagegen »von oben«. Die Islamisten sind eigentlich die Avantgardisten eines potentiellen Emanzipationskollektivs, die sich zum Amoklauf entschlossen haben, weil ihnen die Herrenwelt mit allen ihren Regeln und Wertvorstellungen nicht passt oder nicht zugänglich ist, während die Faschisten jener Herrenwelt angehörten, und sei es nur als Dienstboten, und sie um jeden Preis verteidigen wollten (ich rede hier vom Faschismus; der Nationalsozialismus ist wegen der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg ein spezieller Fall).

Wenn der Faschismus-Begriff überhaupt in der Gegenwart einen Sinn haben soll, folgt man am besten der prägnanten Definition von Ernst Niekisch: »Faschismus, das ist die bürgerliche Gesellschaft im Belagerungszustand.« Sekundärphänomene wie Führerprinzip, Gewaltkult, Rassismus, Antisemitismus, Erhebung des Kollektivs über den Einzelnen nach innen und über alle anderen Kollektive nach außen sind daneben bloß sozusagen Uniformfarben. Wenn der Faschismus im Sinne der Definition Niekischs eine Zukunft hat, dann als Eurofaschismus, als Selbsterhaltungsextremismus, das heißt, er wäre genauso reaktiv, aber defensiver als das Original. Vor allem wäre er deutlich harmloser, auf technische Mittel und Auxiliarkräfte angewiesen, weil sein Trägerkollektiv überwiegend aus Senioren bestünde. Vergessen wir ihn.

Der Islamismus ließe sich, wenn man denn unbedingt einen Terminus aus unserer Weltgegend verwenden will, wahrscheinlich besser als Islamobolschewismus charakterisieren, denn er ist ein Aufstand der historisch Abgehängten, Zukurzgekommenen und dabei zugleich von einer Heilsidee Durchglühten, eine von Kadern geführte Bewegung, die die Massen erfassen und in eine phantastische, vormoderne Märchenwelt hinein emanzipieren oder sogar erlösen will. Sie verheißt die Befreiung des revolutionären, durch die Idee rein gewordenen Kollektivs aus den Banden von Fremdbestimmung und Dekadenz, und sie nimmt tendenziell jeden auf, der bereit ist, ihr beizutreten und das Glaubenbekenntnis zu sprechen. Ihre Vertreter träumen von der Weltrevolution, von der Errichtung einer paradiesischen Globalkommune der Gleichen unterm grünen statt roten Banner. Offenbar ist diese solidarische Gemeinschaft der Kämpfenden und von einer gerechten Mission Erfüllten, diese Kommune der auserwählten Reinen, die mit der bisherigen, abgelebten, durch und durch verdorbenen Welt Schluss machen will, etwas, das auf viele junge Männer eine enorme Anziehungskraft ausübt.

Eine Pointe? Nein, ich weiß keine. Vielleicht nur die, dass sich die Reinheitszwangsvorstellungen sogar über den Tod hinaus erstrecken, bis ins verheißene Paradies, wo bekanntlich um die 70 Jungfrauen des im Kampf gefallenen Märtyrers ergebenst harren. Also für mich wäre das nichts (und hier trennen sich auch die Wege der Bolschewiken und Dschihadisten). Was für ein grauenhafter Stress, 70 unbefleckte Maiden in die Liebeskunst einzuführen! Wozu erst ein Martyrium erdulden, wenn danach gleich das nächste folgt?

11. Januar 2015

»Es ist nicht möglich, ein gerechtes Urteil über eine öffentliche Figur von so enormen Dimensionen wie Adolf Hitler zu fällen, ehe nicht sein Leben als Ganzes vor uns liegt. Wenn auch kein späteres politisches Handeln unrechte Taten stillschweigend übergehen kann, ist die Geschichte voller Beispiele von Männern, die mit harten, grimmigen, selbst fürchterlichen Methoden an die Macht kamen und dann doch, wenn ihre Spur als Ganze erkennbar geworden war, für große Figuren gehalten wurden, deren Leben die Geschichte der Menschheit bereichert hat. So mag es auch mit Hitler sein.« Also schrieb Winston Churchill anno 1935, zu lesen im Hitler-Aufsatz seines Buches Great Contemporaries, das 1937 erschien.

Weder Heidegger noch Benn und erst recht nicht Ernst Jünger haben 1937 derart moderat und »ergebnisoffen« über den Führer gedacht bzw. gesprochen. Aber sie sind, wenn auch nur von alliierten Umerziehern und nachgeborenen Gesinnungsstrebern, als verdammenswürdige Kollaborateure überführt worden, die von Anfang an hätten wissen müssen, worauf es mit dem NS-Staat hinauslaufen würde.

Umgekehrt gab es die Kommunismus- und Stalin-Claque, von Feuchtwanger, Benjamin, Bloch, Heinrich Mann bis Shaw, der man ganz schnell verziehen hat, sofern überhaupt irgendwelche Vorwürfe wegen geistiger Kollaboration erhoben wurden.

Da wir gerade bei Churchill und der grotesk ungleichen Bewertung des braunen und des roten Führers sind, folgt hier ein weiterer Auszug aus dem besagten Buch, nämlich aus dem Kapitel über George Bernard Shaw (welcher zugleich illustrieren möge, was für ein glänzender Stilist Churchill war). Der bekanntlich linken Ideen sehr gewogene Dichter besuchte 1931 gemeinsam mit Lady Astor, einer millionenschweren Vorkämpferin des Feminismus, das kommunistische Russland. Churchill notierte: »Die Führer der Sozialistischen Sowjet-Republiken dürften der Ankunft einer fröhlichen Harlekinsgesellschaft in ihrem düsteren Reich mit einer gewissen Nervosität entgegengesehen haben. Die Russen haben stets für Zirkus und wandernde Schausteller etwas übrig gehabt. Da sie die Mehrzahl ihrer besten Komiker eingesperrt, erschossen oder dem Hungertod überantwortet hatten, mochten ihre Besucher für eine Weile diese spürbar gewordene Lücke ausfüllen. Und hier kamen wahrhaftig der Welt berühmtester intellektueller Clown und Pantalone und die bestrickendste Columbine der kapitalistischen Pantomime! Also ließ man die Massen aufmarschieren. Die Militärkapellen schmetterten, lauter Begrüßungsjubel aus derben Proletarierkehlen zerriß das Himmelszelt. Die verstaatlichten Eisenbahnen stellten ihre besten Wagen zur Verfügung, Volkskommissar Lunatscharski hielt eine blumenreiche Volksrede. Volkskommissar Litwinow richtete, ohne die Lebensmittelschlangen in den Nebenstraßen zu beachten, ein kostspieliges Festbankett her, und Erzkommissar Stalin, ›der Mann aus Stahl‹, öffnete die streng bewachten, heiligen Gemächer des Kreml, schob sein morgendliches Pensum an Todesurteilen und Haftbefehlen beiseite und empfing seine Gäste mit dem Lächeln überströmender Kameradschaft. (…)

Es ist nur zu wahr gesprochen, daß der Genius der Komödie und der Tragödie im innersten der gleiche ist. In Rußland haben wir ein riesiges zum Schweigen verurteiltes Volk, das unter der Disziplin eines Wehrpflichtigenheeres in Kriegszeiten dahinlebt; ein Volk, das in Jahren des Friedens die Härten und Entbehrungen der schlimmsten Feldzüge erleidet; ein Volk, das vom Terror, vom Fanatismus und der Geheimpolizei beherrscht wird. Hier haben wir einen Staat, dessen Untertanen so glücklich sind, daß man ihnen unter Androhung gräßlicher Strafen verbieten muß, seine Grenzen zu überschreiten (…) Hier haben wir ein System, dessen soziale Errungenschaften fünf oder sechs Menschen in einem einzigen Zimmer zusammenpferchen; dessen Löhne an Kaufkraft kaum der britischen Arbeitslosenunterstützung gleichkommen; wo das Leben unsicher ist und die Freiheit unbekannt; wo Anmut und Kultur im Sterben liegen und Rüstungen und Kriegsvorbereitungen auf Schritt und Tritt vorherrschen. Hier ist ein Land, wo Gott gelästert wird und dem Menschen, der bis an den Hals im Elend dieser Welt steckt, die Hoffnung auf Gnade diesseits und jenseits des Grabes versagt wird. (…) Hier haben wir einen Staat, der drei Millionen seiner Bürger im Ausland dahinschmachten läßt, dessen geistige Oberschicht methodisch ausgerottet worden ist; einen Staat, in dem nahezu eine halbe Million seiner Bürger wegen ihrer politischen Ansichten zu Sklaven erniedrigt worden sind, in der arktischen Nacht verrotten und erfrieren, sich in Wäldern, Bergwerken und Steinbrüchen zu Tode schinden, nur weil sie sich jene Gedankenfreiheit gestattet haben, die schrittweise den Menschen über das Tier hinausgehoben hat.

Anständige, gutherzige britische Männer und Frauen sollten nicht in so leichtfertiger Weise unbeteiligt an der Wirklichkeit bleiben, daß sie kein Wort ehrlicher Entrüstung über so mutwillig und fühllos zugefügten Schmerz zu finden vermögen.«

Späterer 11. Januar

»Man muß die Ängste dieser Menschen und ihre dumpfen Ressentiments ernstnehmen«, spottet der stets lesenswerte Martin Lichtmesz über den Präsidenten des Bundesverbandes deutscher Zeitungsverleger Helmut Heinen. Der Verbandsfunktionär nannte das neuerdings im Netz sowie auf Pegida-Veranstaltungen zirkulierende Wort »Lügenpresse« einen »Kampfbegriff aus Deutschlands dunkelster Vergangenheit« und verrührte die Benutzung desselben als irgendwie konzertierten Angriff auf die freie Presse in einen Brei mit dem Pariser Massaker. Ähnlichlautende Kommentare fanden sich in den letzten beiden Tagen nahezu in jeder anständig gebliebenen deutschen Gazette. Ein neutraler Beobachter würde solche Wertungen sicher nicht unter Lüge, sondern unter Hetze rubrizieren, und auf so viel Differenzierung sei auch hier beharrt, wenn friedliche Demonstrierer mit Kopfschussverteilern in einen Zusammenhang gebracht werden.

Freilich stimmt das mit der dunkelsten Vergangenheit nur zur Hälfte, denn im Herbst 1989 gingen die Menschen in der DDR und vor allem in Sachsen unter anderem gegen die staatliche Lügenpresse auf die Straße, wie einige es heute wieder tun oder zu tun meinen, mit ihren Auftritten aus zahlreichen Genossen Journalisten jenes Ressentiment herauskitzelnd, welches diese Karyatiden des Pluralismus immer wahlloser jeder Kritik an ihrem publizistischen Lastenträgertum unterstellen – obwohl, am Rande bemerkt, neun von zehn deutschen Qualitätsjournalisten vermutlich keine Ahnung haben, was der Terminus Ressentiment eigentlich beschreibt.

Lügenpresse, halten wir das bolzenfest, ist also auch ein Freiheitskampfbegriff aus Deutschlands rosiger Vergangenheit. Wohin derzeit das Pendel ausschlägt, wird sich erst noch zeigen; eine gewisse DDR-Ähnlichkeit in der Berichterstattung des täglich mit immer mehr Recht so genannten Medienmainstreams u. a. über Problembären mit gewissen Wanderungshintergründen, Frauengleichstellung, Putin, die AfD und eben Pegida ist jedenfalls nicht zu übersehen. Auch die Schrillheit des Tones und die offenkundige, für jedermann leicht nachprüfbare Verdrehung von Fakten erinnern an die launige Spätzeit von Erichs des Einzigen antifaschistischem und weltfriedenssicherndem Sozialparadies.

Eine gewisse DDR-Ähnlichkeit zeigt sich eventuell auch in den divergierenden Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen pro und contra Pegida. In der DDR demonstrierten bis fast zuletzt deutlich mehr Menschen für die SED als gegen sie, was mit dem guten, alten, berechenbaren, jederzeit auch anders könnenden Opportunismus von Wesen zusammenhängt, die in sozialen Verbänden leben. Dass von den momentanen Staatsparteien organisierte Aufmärsche der Guten, Treuen, Aufgeklärten und Bunten mehr Menschen auf die Beine brachten als zumindest eine einzelne Parallelveranstaltung der Ewiggestrigen, Verblödeten, Dumpfen und Rassisten, bedeutet zunächst einmal überhaupt nichts; es wurde gewiss ein bisschen aufgepasst, wer erscheint und wer nicht, es winken oder wanken ja stets staatliche Fördergelder. Desgleichen kann man das autosuggestive Frohlocken der Medien unter voreilig verbuchen; solche Prozesse muss man über Monate beobachten, und da die Ursachen der Proteste nicht nur keineswegs bekämpft, sondern eifrig geleugnet oder beschwiegen werden, dürften diese so schnell nicht enden.

Der Souveränitätsmangel, mit welchem diejenigen unserer Medienvertreter auf den »Lügenpresse«-Plakatismus reagieren, die sich offenbar angesprochen fühlen, hat weniger mit dessen allmählich recht klotzigem Wahrheitskern zu tun als vielmehr mit dem Auflagen- und Bedeutungsschwund sämtlicher in ihrer Selbstwahrnehmung immer noch hochbedeutender Zeitungen und Magazine dieses Landes. Die Wahrscheinlichkeit, dass in zehn Jahren noch ein einziges der großen BRD-Blätter existiert, würde ich nicht höher veranschlagen als die, dass Borussia Dortmund in diesem Jahr absteigt und zugleich die Champions League gewinnt – es sei denn, sie werden alimentiert. Auf den aus vielerlei Gründen sinkenden Schiffen der sogenannten Qualitätspresse suchen aufgescheuchte Redakteure und Redaktricen nach Rettungsbooten, weshalb sie sich mit ihren Beiträgen immer williger bei Parteien und Verbänden (und in der Wirtschaft) andienen und deren Positionen immer aggressiver ins Leserland tröten. Die Insel, von der sie inzwischen träumen – sofern sie sich nicht rechtzeitig aufs Altenteil retten können –, ist der von den Bürgern zwangsalimentierte Staatsfunk; andere mögen hoffen, dass eine oder zwei Gazetten im Moment des Konkurses verstaatlicht und die Redakteure verbeamtet werden, weil die Bundesregierung nach dem Zusammenbruch des Journalismus am Markt wenigstens pro forma so etwas wie einen potemkinschen Medienpluralismus aufrechterhalten will.

Zum blöden Gefühl, die Deutungshoheit über das Tagesgeschehen an das basisdemokratische Internet verloren zu haben, gesellt sich bei vielen Journalisten die schiere Existenzangst. Kleinbürger mit Abstiegsängsten suchen bekanntlich Sündenböcke und neigen zu aggressivem Verhalten; in Krisensituationen schlagen sie sich sofort und umstandslos auf die Seite des je Stärkeren. Man muss die Ängste dieser Menschen und ihre dumpfen Ressentiments ernstnehmen.

12. Januar

Übrigens: Der Gedanke, dass Gott, Allah, der Ewige, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Herr der Weltbewohner und Herrscher des Gerichtstages, der Allerbarmer, in dessen Händen alle Schicksale ruhen, sich von den Karikaturen eines kleinen Pariser Sterblichen und Gossenzeichners beleidigt fühlen könnte, ist vielleicht die größte Blasphemie, die sich überhaupt denken lässt.

Späterer 12. Januar

Ein Leser dieses Diariums – zum letzten Mal: DAS IST KEIN »BLOG«! – schreibt aus Dresden*:

»Ich war Anfang Dezember, mehr oder weniger aus Neugier und auf eine Versicherung eines Freundes hin, dass dies keine Veranstaltung Rechtsextremer ist, auf einer von Pegida initiierten Demo. Ich habe miterlebt, was dort und in welcher Art gesagt wurde, welche Menschen (Alte, Junge, Arbeiter, Handwerker, kurzum: für mich Menschen aus der Mitte der Gesellschaft) dort teilgenommen haben. Man hat sich unterhalten, den Reden gelauscht und beim sehr, sehr ruhigen Spaziergang Meinungen ausgetauscht. Nicht alle Meinungen hörten sich für mich richtig an, vieles empfand ich als übertrieben und das eine oder andere auch nicht als korrekt. Aber der überwiegende Tenor war für mich akzeptabel und nachvollziehbar. Es wurden keine Parolen gegrölt, die Veranstalter riefen auch immer wieder zur Besonnenheit auf, und alle hielten sich daran.

Als dann der Spaziergang durch eine linke Blockade zum Stillstand kam und wir uns durch dumme Schreihälse meist als Nazischweine und Rassisten beschimpfen und mit irgendwelchen Dingen bewerfen lassen mussten, hoffte ich nur noch, das der friedliche Verlauf weiter anhält. Nach vielem Hin und Her beschlossen die Veranstalter der Demo, umzukehren, um einer Eskalation auszuweichen. Die meisten waren über die Entscheidung froh, und alle Teilnehmer folgten dem Ansinnen. Es wurde an den Ausgangspunkt zurück spaziert, es folgten noch kurze Ansprachen, am Ende wurden brennende Kerzen oder Handys oder Taschenlampen in die Höhe gehalten, was die Hoffnung der Teilnehmer symbolisieren sollte, dass unseren Politikern ein Licht aufgeht. So weit, so gut, ich ging zusammen mit meiner Frau nach Hause, zufrieden mit der Veranstaltung und der Überzeugung, dass Pegida das Richtige will und nichts vertritt, wofür wir nicht einstehen könnten.

Was ich aber dann in den folgenden Tagen seitens der Medien und Politiker über diese Veranstaltung und deren Teilnehmer hören und lesen musste, hat mich so sehr geschockt und mir die Zornesröte ins Gesicht getrieben, dass ich im Nachhinein froh war, dass keines unserer drei Kinder in meiner Nähe gestanden ist, als ich mir meiner Wut darüber verbal Luft gemacht habe.«

14. Januar

Man muss wissen, dass der Zentralrat der Muslime mit seinen höchstens 20 000 Mitgliedern trotz seines vollmundigen Namens zu den eher marginalen muslimischen Organisationen in Deutschland gehört. Dennoch standen gestern bei der »Mahnwache« am Berliner Brandenburger Tor, zu welcher dessen medial omnipräsenter Chef Aiman Mazyek geladen hatte, auch Vertreter aller größeren muslimischen Verbände Deutschlands neben Bundeskanzlerin Merkel, Bundespräsident Gauck und diversen Kabinetts- und Bundestagsmitgliedern auf der Tribüne, um »ein Zeichen zu setzen« für Toleranz und gegen den Terror. »Das ist ein patriotisches ›Ja‹ zu unserem Land«, rief Gauck den wogenden Menschmassen zu und dankte den muslimischen Gemeinschaften für diese Manifestation. Gekommen waren polizeigeschätzt unglaubliche 10 000 Berliner, in der Mehrzahl, wie Medien melden, Nichtmuslime, und das in der nach Istanbul zweitgrößten türkischen Kommune der Welt.

Das Zeichen ist offenbar verstanden worden.

Man könnte die Sache aber auch ins Positive drehen und konstatieren, dass Berlins Muslime nicht dressiert genug sind, um auf Geheiß irgendwelcher Funktionäre, und seien es die eigenen, zur Toleranzerbietung in großer Zahl vorstellig zu werden. Allerdings fehlt der Vergleichsrahmen: Wie viele aufgebrachte Muslime waren im vergangenen Juli gegen Israel auf der Straße?

Auf Spiegel online, also quasi aus der Organisationszentrale des geistigen deutschen Nonkonformismus, spricht heute ein couragierter Guerillero des Nichtdazugehörens von den »Pegida-Mitläufern in Dresden«, denn dort läuft ja weiß Gott inzwischen alles und jeder mit, außer der Kanzlerin, dem Bundespräsidenten, dem Kabinett, sämtlichen Bundes- und Landtagen, allen Ministerien mit dem für Justiz hintenweg, sämtlichen Gewerkschaften, Behörden, gesellschaftlichen Organisationen, Kirchen, Zentralräten, Universitäten, Schulen, Sportvereinen, Zeitungen, TV-Anstalten, Theatern, Opernhäusern, Kindergärten, Pop-Bands, Unterhaltungskünstlern, FDJ und Antifa, zu schweigen von Heribert Prantl und Recep Tayyip Erdogan, Allah erfülle seine Wünsche im Diesseits wie im Jenseits (die vom Heribert, speziell in puncto Bartwuchs, natürlich auch).

Ernst beiseite: Wie wäre es mit: »die Mitläufer der Leipziger Montagsdemonstration im Oktober 1989«? Bilde weitere Beispiele!

15. Januar

»Ein Lügenstaat mit seiner Lügenregierung und seinen seligeinmütigen Lügenparteien und seinen Lügengewerkschaften und seinen Lügenmedien und seinen Lügenkirchen und seinen Lügenislamverbänden und seinen Lügenkapitalisten und allen seinen kleinen Für-dies-und-das-Lügengesellschaften beschließt selig-einmütig ruckzuck das neueste Unwort. Klar, dass das ›Lügenpresse‹ heißt«, schreibt an mich (und sicherlich nicht nur an mich) »Karl Kraus per himmlischer E-Mail«, um als sanfte Korrektur noch anzufügen, natürlich sei »Lügenpresse« nicht das »Unwort«, sondern das »Wort des Jahres«.

Ja was denn sonst!

Lügenpresse, zum zweiten: Aus dem Kastell Peripheria am Rande der Hauptstadt der DDR schreibt mir heute Freund *** folgende Zeilen: »Vorgestern rief mich die Mitarbeiterin einer Regional-Tageszeitung an, die wir per Zufall für zwei Wochen kostenlos bezogen. Sie wollte wissen, ob ich sie weiter lesen möchte. Mein klares Nein und ihre Frage warum, erklärte und beantwortete ich u. a. mit der einseitigen Berichterstattung über Pegida. Eisige Reaktion der bisher Scheißfreundlichen: ›Wir haben da unsere klaren politischen Richtlinien.‹«

Lügenpresse, zum dritten: Wenn ein komplexer Sachverhalt durch ein unterkomplexes Medium wie eine Zeitung oder einen TV-Sender dargestellt wird, sind Einseitigkeiten, Weglassungen und Halbwahrheiten auch im Falle seriösester Bemühungen seitens des Verfassers unvermeidlich. Das passiert sogar dem Cristiano Ronaldo des deutschen Journalismus und Verzapfer dieses Diariums gelegentlich. Aber dieses Welt- oder mindest Genregesetz steht bei den Bezichtigern auch gar nicht in Abrede; was die Leute zum Schmähwort »Lügenpresse« treibt, sind wahrscheinlich nicht einmal die immergleichen Kommentare, es dürfte vielmehr die tendenzielle Berichterstattung sein, die zum Beispiel in der Ausländer- und Einwanderungsthematik seit Jahrzehnten beharrlich zugunsten der Zuwanderer und zuungunsten der Einheimischen ausfällt, was ich einmal in die Sottise gekleidet habe: Wenn sich ein Deutscher und ein Immigrant prügeln und der Immigrant gewinnt, handelt es sich um ein Integrationsproblem; gewinnt der Deutsche, ist es Rechtsextremismus.

So werden etwa unentwegt von staatlich alimentierten Instituten Studien herbeigewuchtet und von den Leitmedien willig verbreitet, die »den« Deutschen außer den Grünen- und Links-Wählern irgendwelche Phobien unterstellen, neuerdings eine mangelnde »Willkommenskultur« (als ob man jemanden in einem sogenannten demokratischen Staat dazu verpflichten dürfte, Fremde willkommen zu heißen, als ob das nicht seine Privatangelegenheit wäre), während auch noch die anpassungsunlustigste fremdstämmige Community Verständnis für besagte Unlust verbuchen kann, da sie wahrscheinlich nicht hinreichend bewillkommnet wurde.

Lügenpresse, zum vierten: In den Online-Ausgaben der meisten Zeitungen sind die für eine Rubrizierung unter besagtem Begriff kandidierenden Beiträge dankenswerterweise markiert; man erkennt sie meist an der deaktivierten Kommentarfunktion. Zum Beispiel unter dem heutigen Spiegel online-Text: »Forsa-Umfrage: Das deutsche Volk (sic!) mag den Islam«, dessen lyrische Überschrift hergeleitet wurde aus den beiden Umfrageergebnissen, dass 82 Prozent der Deutschen die Aussage verneinen, Muslime seien »grundsätzlich gewaltbereiter« als andere Religionsgruppen, und 79 Prozent erklärten, dass ihnen der Islam »kein Unbehagen« bereite. 99 Prozent aller Menschen bereiten mir kein Unbehagen, und doch mag ich keinen einzigen davon. Von wegen und apropos Tendenz.

Lügenpresse, zum fünften: In der FAZ versucht sich Rainer Blasius an der Genese des Begriffs und schreibt: »Schon Ende 1914 erschien ein Buch mit dem Titel: Der Lügenfeldzug unserer Feinde: Die Lügenpresse. Der Autor hieß Reinhold Anton, vielleicht ein Pseudonym. Im Jahr darauf legte er nach mit Aus der Lügenwerkstatt. Der Lügenfeldzug unserer Feinde, bis dann 1916 das Pamphlet Die Lügenpresse. Der Lügenfeldzug unserer Feinde: noch eine Gegenüberstellung deutscher und feindlicher Nachrichten erschien, das sich mit den Telegrammen der Nachrichtenagenturen über den ›Weltkrieg 1914/16‹ befasste und dabei stets der eigenen Seite das Monopol auf die Wahrheit bescheinigte.«

Blasius, bei der FAZ zuständig für Politische Bücher, kommt freilich nicht auf den naheliegenden Gedanken, dass Herr Anton recht gut ins Schwarze getroffen hatte (jedenfalls spricht er ihn nicht aus), denn wenn die Lügen- oder »Schwarze« Propaganda größten, schamlosesten und perfidesten Stils irgendwo ihren Ursprung hat, dann bei den Entente-Staaten während des Ersten Weltkrieges, voran England. Später zogen die Kommunisten nach, dann die Nationalen Sozialisten, aber es ist unfair, immer auf Goebbels zu zeigen, ohne seine wahren Lehrmeister zu nennen. Dass die Angelsachsen neben Lügenpropaganda außerhalb der Kriegszeiten auch so etwas wie eine halbwegs freie Presse auf die Beine stellten, wollen wir gleichwohl nicht verschweigen.

Eine Rüge verdient Blasius ferner wegen seiner quintessentiellen Bemerkung: »Der Schmähbegriff wird immer dann aus der Mottenkiste geholt, wenn es darum geht, der jeweils anderen Seite die Legitimation zu entziehen. Wer sich selbst im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt, bezichtigt schnell diejenigen, die anderer Auffassung sind, der hinterhältigen Lüge beziehungsweise der Meinungsunterdrückung.« Der Mann hat nie in einer Diktatur gelebt. Als ob es jedem, der sich gegen’s Belogenwerden oder auch nur gegen die Verleugnung des für ihn Offensichtlichen wehrt, um die Durchsetzung einer Weltsicht ginge! Und natürlich haben diejenigen, die der Presse Verlogenheit vorwerfen, speioft recht, ca. 76,45 Prozent von ihnen meinen keineswegs, sie besäßen die absolute Wahrheit, sie läsen nur gern die relative zuweilen dort, wo man sie man sie teils aufs platteste und plumpeste, teils halbwegs smart, aber allzeit vorsätzlich (sofern Meutenfeigheit als Vorsatz durchgeht) tendenziell desinformiert.

Lügenpresse, zum sechsten: Eine Studie der TU Dresden ergab, dass für mehr als drei Viertel der Dresdner Pegida-Leute die Themen Islam, Islamismus und Islamisierung keine hervorgehobene Rolle spielen. Man geht aus genereller Unzufriedenheit mit der Politik auf die Straße. Jeder Fünfte will mit seiner Teilnahme Medienkritik signalisieren. Ebenfalls 20 Prozent sind unzufrieden mit der Asylpolitik, 18 Prozent mit dem politischen System an sich (das wird nicht näher erläutert, ich insistiere, diese 18 Prozent votieren überwiegend für Volksabstimmungen). Wäre ich Lügenpresse, ich vermeldete jetzt flugs: »Fast jeder fünfte Pegida-Demonstrant hegt (dumpfe) antidemokratische Vorurteile (steigerbar auf: Ressentiments) und lehnt das politische System der Bundesrepublik ab.« Na los doch!

Lügenpresse, zum siebenten und einstweilen letzten: