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JOHANNES WILLMS

WATERLOO

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NAPOLEONS
LETZTE SCHLACHT

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C.H.BECK

ZUM BUCH

Keine andere Schlacht der Weltgeschichte ist so sprichwörtlich geworden wie jenes Debakel in einem Dorf südlich von Brüssel, das Napoleons Schicksal endgültig besiegelte. Zum 200. Jahrestag erzählt Johannes Willms, einer der besten Kenner des napoleonischen Zeitalters, noch einmal die Vorgeschichte und den dramatischen Verlauf der Schlacht. Lebendig und dicht geschrieben, ist sein Buch nicht nur für Liebhaber der Militärgeschichte eine mitreißende Lektüre.

ÜBER DEN AUTOR

Johannes Willms ist Historiker und Publizist. Er lebt in München. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen „Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution“ (2014), „Napoleon. Eine Biographie“ (32009) und „Talleyrand. Virtuose der Macht“ (22011).

INHALT

Vorwort

ERSTES KAPITEL
Elba

ZWEITES KAPITEL
Der vol de l’aigle

DRITTES KAPITEL
Der Kongress tagt

VIERTES KAPITEL
L’Empire libéral

FÜNFTES KAPITEL
Der Krieg im Sandkasten

SECHSTES KAPITEL
Der Tanz beginnt

SIEBTES KAPITEL
Ligny oder die siegreiche Niederlage

ACHTES KAPITEL
Waterloo: Eine Schlacht in fünf Akten

NEUNTES KAPITEL
Gewinner und Verlierer

Anmerkungen

Bildnachweis

Personenregister

VORWORT

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Waterloo ist, so wird gern gesagt, die berühmteste Schlacht der Weltgeschichte. Diese Behauptung wird schon vor dem 6. April 1974 gegolten haben, als die schwedische Popgruppe ABBA mit dem Song «Waterloo» beim europaweit im Fernsehen ausgestrahlten Eurovision Song Contest im englischen Seebad Brighton über alle Mitbewerber den Sieg davontrug. Die Koinzidenz von Austragungsort und Siegertitel in diesem Schlagerwettbewerb war sicherlich ein Zufall. Andererseits ist der Name des einstigen, südlich von Brüssel gelegenen Dorfs Waterloo im angloamerikanischen Kulturraum als Konnotation für die Schlacht, die unweit davon am 18. Juni 1815 geschlagen wurde, so weit verbreitet wie der keines anderen Orts.

Allein in London sind nicht nur Pubs und Straßen, sondern auch eine Brücke und ein Bahnhof nach Waterloo benannt. Nicht genug damit, erhielten im 19. Jahrhundert Dörfer, Städte, Buchten und Berge britischer Besitzungen in allen Erdteilen den Namen Waterloo. In Sydney gibt es einen Vorort dieses Namens, auf den Cayman-Inseln heißt ein Golfplatz Waterloo, und in Kanada gibt es in der Provinz Ontario eine University of Waterloo, die in der Stadt gleichen Namens ihren Sitz hat. Besonders häufig sind «Waterloos» in den USA anzutreffen, und der Ausdruck «to meet one’s Waterloo» ist in den englischen Sprachschatz als feste Wendung eingegangen. Die Allgegenwart eines Dorfnamens aus Wallonien, des südlichen Teils von Belgien, in dem Französisch gesprochen wird, im angloamerikanischen Teil der Welt ist verblüffend.[1] Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus in den europäischen Staaten gang und gäbe war, Straßen und Plätze der größeren Städte nach den Orten siegreicher Schlachten zu benennen. In Paris, dessen Stadtbild und Straßenführung nach 1852 radikal umgestaltet und modernisiert wurden, war Napoleon III. darauf bedacht, nicht nur den eigenen Kriegsruhm, sondern vor allem auch den des großen Onkels Napoleon I. mittels Namensgebung ausgiebig zu würdigen.

So war es damals überall, von Berlin bis Rom, von Madrid bis St. Petersburg. Und sogar in der Haupt- und Residenzstadt bayerischer Bierseligkeit München erinnern drei Straßennamen an die Teilhabe uniformierter Landeskinder an Schlachten, bei denen Napoleon 1814 während der Kampagne in Frankreich geschlagen wurde. Allerdings ist der Gebrauch dieser Straßennamen mundartlich längst so eingeschliffen, dass kaum ein Münchner deren Ursprung und Bewandtnis anzugeben wüsste.[2]

Die weltweite Verbreitung von Waterloo zumindest im angelsächsisch geprägten Kultur- und Sprachraum reflektiert also eine Bekanntheit, mit der diese Schlacht jedes andere kriegerische Ereignis, einschließlich der Seeschlacht von Trafalgar, weit übertrifft. Eine Erklärung dafür ist, dass die Schlacht, an der aufseiten der Alliierten drei Armeen – eine britische, eine niederländisch-belgische und eine preußische – beteiligt waren, und vor allem deren siegreicher Ausgang von Großbritannien erfolgreich monopolistisch vereinnahmt wurde. Dieser Prozess begann unmittelbar nach der Schlacht, als der Oberbefehlshaber der britisch-niederländischen Armee, der Herzog von Wellington, den Wunsch seines Bündnispartners Blücher, Chef der an der Schlacht und ihrem siegreichen Ausgang maßgeblich beteiligten preußischen Armee, ignorierte, die Schlacht nach dem Gasthof «La Belle-Alliance» zu benennen,[3] der dem Gegner, Napoleon, als Hauptquartier gedient hatte. Wellington beharrte stattdessen darauf, der Schlacht den Namen des wallonischen Nests zu geben, in dem sich sein Hauptquartier befand. Dessen ungeachtet firmierte die Schlacht in preußisch-deutschen Geschichtswerken, die vor dem Ersten Weltkrieg erschienen, unter dem Namen des Gasthofs,[4] während französische Historiker lange dem Vorbild Napoleons folgten, der in seiner auf Sankt Helena diktierten Darstellung der Kampagne von 1815 diese letzte von ihm geschlagene Schlacht nach der Anhöhe des Mont Saint-Jean benannte, die im Zentrum der britisch-niederländischen Front lag.

Drei unterschiedliche Nomenklaturen für ein und dasselbe Ereignis einer Schlacht in den Geschichtswerken dreier Nationen machen darauf aufmerksam, dass das blutige Geschehen an jenem 18. Juni 1815 in der nationalen Sichtweise von Historikern, die im 19. Jahrhundert zumal als Demiurgen einer nationalen Geschichte Beiträge zur Sinnstiftung der je besonderen Identität ihres Volkes leisteten, unterschiedlich gewichtet und geschildert wurde. Solche Differenzen in der Wahrnehmung und Darstellung sind, wie jüngere Darstellungen über die Schlacht von Waterloo zeigen, weitgehend verschwunden, denn um deren Namensgebung wird längst kein nationaler Wettstreit mehr ausgetragen.[5]

Im Übrigen verdankt die Schlacht von Waterloo heute ihre Berühmtheit weit weniger dem Sieger Wellington und/oder Blücher als dem Verlierer Napoleon, um dessen beispiellose Karriere als Militär und Staatsmann es an jenem 18. Juni 1815 jäh und endgültig geschehen war. Waterloo war der Höhepunkt und die Peripetie in der Tragödie eines Mannes, die auf Elba ihren Anfang nahm und in Sankt Helena zu ihrem Ende kam und deren Verlauf bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat.

München, im Herbst 2014

Johannes Willms

ERSTES KAPITEL

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ELBA

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Bevor der Protagonist die Bühne betrat, diktierte er am 27. April 1814 eine Botschaft an den Inspizienten: «Herr General Dalesme, die Umstände haben mich dazu veranlasst, auf den Thron von Frankreich zu verzichten. Damit habe ich meine Rechte für das Wohl und die Interessen des Vaterlands geopfert, mir selbst jedoch die Souveränität und den Besitz der Insel Elba sowie der Festungen von Portoferrajo und Porto Longone ausbedungen; dem haben alle Mächte zugestimmt. Ich sende Ihnen also General Drouot, damit Sie diesem umgehend die genannte Insel übergeben ebenso wie die Waffen- und Nahrungsmittelvorräte und alle Liegenschaften, die zu meiner kaiserlichen Domäne gehören. Veranlassen Sie, dass den Bewohnern diese neuen Umstände bekannt gemacht werden und dass ich mir ihre Insel für meinen Aufenthalt ausgesucht habe unter Berücksichtigung der Annehmlichkeit ihrer Sitten und der Milde ihres Klimas.»[1]

Diese Botschaft an den Gouverneur der Insel Elba kündete von der Selbsteinschätzung ihres Verfassers. Kein Wort darüber, dass ihm diese Insel von den Mächten zum Exil diktiert worden war, kein Wort über die Verzweiflung, in die Napoleon immer tiefer geriet angesichts der schieren Aussichtslosigkeit seiner Lage. Die musste ihm am Abend des 30. März 1814 aufgehen, als er die Nachricht erhielt, Paris habe vor den anrückenden Truppen der Alliierten kampflos kapituliert. Damit hatte er nicht gerechnet. Der Widerstand von Paris, so sein Plan, würde den Vormarsch der Alliierten zum Stehen bringen. Das hätte ihm die Chance verschafft, deren Armeen hinterrücks anzufallen und in die Flucht zu schlagen. An dieses Kalkül hatte sich Napoleon geklammert, und das war mit dem Fall von Paris zunichtegemacht worden. Das Spiel war aus; rien ne va plus. Als Hasardeur fiel es ihm jedoch leicht, sich dieser Einsicht zu verweigern. Also flüchtete er sich in den aberwitzig anmutenden Einfall, die Aussichtslosigkeit seiner Situation sei nur eine Selbsttäuschung, die sich durch unbeirrte Siegeszuversicht überwinden ließe. Das suchte er umgehend seinem Vertrauten, Außenminister Caulaincourt, weiszumachen:

«Zweifellos wird sich alles noch retten lassen, und selbst diese schändliche Kapitulation wird dafür noch von Nutzen sein, sagte er mir, sobald ich meine Truppen zur Hand habe, um schon morgen den Feind anzugreifen, der im Rausch seines Erfolgs und seines Einzugs in Paris schwelgt. Allein, ich werde drei Tage brauchen, um meine in alle Winde verstreuten Truppen zu sammeln () Wir werden kämpfen, Caulaincourt, denn besser ist es allemal, mit der Waffe in der Hand zu sterben, als sich vor den Gegnern zu demütigen (…) Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, fuhr er fort: Je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, dass die Sache noch nicht entschieden ist. Die Einnahme von Paris wird, wenn ich unterstützt werde, das Signal der Rettung sein. Da ich keine andere Wahl mehr habe und bei meinen Operationen auch keinerlei Rücksichten mehr auf die bislang allem übergeordnete Überlegung, Paris zu verteidigen, nehmen muss, bin ich in meinem Handeln völlig frei, und der Feind wird teuer für seine Unverfrorenheit bezahlen, uns drei Tagesmärsche zuvorgekommen zu sein.»[2]

Um diesen Illusionen Substanz zu verleihen, galt es Zeit zu gewinnen. Folglich erhielt Caulaincourt am Morgen des 31. März Vollmachten für Friedensverhandlungen mit den Alliierten.[3] Gleichzeitig wurde Generalstabschef Berthier angewiesen, zerstreute Truppenteile zu sammeln sowie Munition und Vorräte heranzuschaffen.[4] Das waren gleichsam galvanische Reflexe, die nicht darüber hinwegtäuschen konnten, dass Napoleon ausgespielt hatte. Das musste Caulaincourt erfahren, als er in Bondy, vor den Toren der Hauptstadt, mit dem russischen Außenminister Nesselrode zusammentraf, der ihm mitteilte, seine Mission sei nutzlos, weil sich die Alliierten auf keine Verhandlungen mit Napoleon mehr einlassen wollten. Ähnlich, wenngleich verbindlicher im Ton wurde Caulaincourt auch von Zar Alexander beschieden, der von Talleyrand in diesem Sinne bearbeitet worden war. Napoleon habe bei vorangegangenen Verhandlungen stets bewiesen, an einem Friedensschluss nicht interessiert zu sein. Deshalb hätten sich die Verbündeten darauf verständigt, Gesprächsangebote von seiner Seite abzulehnen, zumal Frankreich seiner Herrschaft überdrüssig sei und sich nach einer Ordnung sehne, die Ruhe verspreche.[5]

Caulaincourt sah sich damit bereits am Morgen des 31. März mit einer Entscheidung konfrontiert, die erst am Abend dieses Tages auch vom König von Preußen und für Österreich vom Fürsten Schwarzenberg, die beide bereits in Paris weilten, auf Drängen des Zaren hin abgesegnet wurde. Die Alliierten legten sich damit darauf fest, Napoleon oder Angehörige seiner Familie nicht mehr als Verhandlungspartner zu akzeptieren.[6] Dieser Beschluss hatte umso mehr Gewicht, als man sich jetzt auf Betreiben Talleyrands auch darauf verständigte, die Verfassung anzuerkennen, die von der französischen Nation gewollt werde, und diese zu garantieren. Mit anderen Worten: Mit dem Repräsentanten dieser Verfassung würden die Verbündeten in die Verhandlungen eintreten, die sie Napoleon verweigerten. Als allein legitime Kontrahenten in diesem Zusammenhang hatte Talleyrand dem Zaren die Bourbonen souffliert.

Indem sich der Zar dem Drängen Talleyrands beugte, befreiten sich die Alliierten aus der Verlegenheit, die ihnen schon seit Längerem zu schaffen machte und die sich auch nachteilig auf die Strategie ihrer Kriegführung gegen Napoleon ausgewirkt hatte. Diese war bisher nur darauf abgestellt, den Kaiser der Franzosen zu besiegen. Je näher man diesem Ziel trotz aller Rückschläge während des Frankreichfeldzugs kam, desto lähmender wirkte sich die Ungewissheit aus, wie das dann eintretende Machtvakuum in Frankreich zu füllen sei. Welches andere Regime als das napoleonische würde nicht nur die Akzeptanz der Franzosen finden, sondern sich auch in die notwendige Neuordnung Europas einfügen? Schon diese Bedingung schloss einen Friedensschluss aus, der Napoleon oder seiner Familie die Herrschaft über Frankreich beließ.

Dass die Alliierten dafür noch keine Antwort gefunden hatten, musste Baron Vitrolles, ein Agent der Bourbonen, erfahren, als ihn Zar Alexander am 17. März 1814 in Troyes zur Audienz empfing. Man habe, so erzählte ihm dieser, sich schon den Kopf darüber zerbrochen, welches Regime Frankreich nach dem Verschwinden Napoleons zuträglich sei. Zunächst habe man dafür Bernadotte [i. e. Jean-Baptiste-Jules Bernadotte, einer der napoleonischen Marschälle, der am 21. August 1810 von einer Versammlung der schwedischen Stände zum König von Schweden und Norwegen gewählt worden war und der 1813 mit dem Zaren ein Bündnis gegen Napoleon geschlossen hatte] wegen seines Ansehens bei der Armee und der Wertschätzung, die er sich seitens der Anhänger der Revolution erfreue, in Erwägung gezogen. Davon sei man aber wieder abgekommen. Daraufhin sei die Rede von Eugène de Beauharnais [i. e. der Stiefsohn Napoleons, seit 1806 Vizekönig von Italien] gewesen, für den nicht nur gesprochen habe, dass er von adeliger Herkunft sei, sondern dass er auch von der Armee und der französischen Öffentlichkeit sehr geschätzt werde, ein Eindruck, der die Vermutung nahegelegt habe, er könne auf eine große Anhängerschaft rechnen. Schließlich sei auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen worden, dass möglicherweise «eine umsichtig organisierte Republik am besten dem esprit français entspräche. Schließlich ist es ja nicht von ungefähr gekommen, dass die Ideen der Freiheit während so langer Zeit in einem Land wie dem Ihren geblüht haben; sie vor allem machen die Errichtung einer stärker konzentrierten Gewalt so überaus schwierig.»[7]

Dass ausgerechnet der Zar, ein Autokrat sans phrase, den Vitrolles als den «roi des rois unis pour le salut du monde» apostrophierte, eine Republik als die für Frankreich gemäße Problemlösung ins Auge fasste, stürzte nicht nur den bourbonischen Agenten in sprachlose Verzweiflung. Es verriet sich darin auch das ganze Ausmaß der Verlegenheit, mit der sich die Alliierten nach ihrem Sieg über Napoleon konfrontiert sahen. Das machte sich Talleyrand sofort zunutze, der seit dem Bruch mit Napoleon 1808 insgeheim mit Zar Alexander gegen sein einstiges Idol konspirierte.[8] Seither besaß Talleyrand das Vertrauen des Zaren, der bei seinem Einzug am 1. April 1814 in Paris in dessen Palais an der Place de la Concorde wohnte. Als früherer Außenminister und enger Vertrauter Napoleons war Talleyrand für den Zaren, der sich seit dem Debakel von Napoleons Russlandfeldzug 1812 die Führungsrolle der Mächtekoalition in diesem Krieg zusprach, der Gewährsmann für alle die Zukunft Frankreichs betreffenden Fragen. Bei den Beratungen der Alliierten hatte das Wort des Zaren, wie Talleyrand wusste, besonderes Gewicht. Das nutzte er angesichts der vorherrschenden Ratlosigkeit, wie die nachnapoleonische Ordnung Frankreichs zu gestalten sei, mit Geschick, indem er Alexander vom bourbonischen Gambit überzeugte, das bislang mit Ausnahme der Briten noch keiner der Verbündeten erwogen hatte. Darin verriet sich nicht nur eine gehörige Portion Respekt vor den von der Revolution geschaffenen Tatsachen, sondern auch, und das galt insbesondere für Alexander, eine tiefe Abneigung gegen die Bourbonen.[9]

Eine Restauration der Bourbonen war auch Talleyrand zuwider, aber er zog sie in Erwägung, weil ihm dies die einzige realistische Lösung zu sein schien. Den Zwiespalt Talleyrands hat Caulaincourt anschaulich geschildert: «Er machte mir den Eindruck eines Mannes, der sich durch mehr als eine Notwendigkeit dazu gezwungen sieht, ein Mädchen zu heiraten, das er weder liebt noch sonderlich schätzt.»[10] Vermutlich wollte sich jedoch Talleyrand von Caulaincourt, der von einer ersten Unterredung mit dem Zaren kam, nicht in die Karten schauen lassen, denn er hatte mit den Bourbonen wie mit deren Parteigängern in Paris schon seit Längerem Kontakte geknüpft.[11] In dem Maße, wie sich der Untergang Napoleons absehen ließ, war das ein Gebot politischer Klugheit. Erstmals seit der Republik von 1792 wurden die Bourbonen zu einer politischen Alternative. Im Unterschied zu den Alliierten wusste Talleyrand auch, dass die treibenden Kräfte dieser bourbonischen Opposition nicht die Ewiggestrigen der alten Aristokratie waren. In Frankreich zumal rekrutierten sich diese aus jenen masses de granit, die von den Revolutionsgewinnlern der Grundbesitzer gebildet wurden und als Notabeln den «pays légal» darstellten, auf den das napoleonische Regime gegründet worden war.[12] Während Napoleons Herrschaft hatten die Notabeln lediglich die Rolle willenloser Figuranten in den repräsentativen Gremien gespielt, die zum Dekor des Regimes gehörten. Erweckte man sie aber aus ihrer Ohnmacht, so der Plan Talleyrands, hatte man mit ihnen den Hebel zur Hand, um Napoleon in Übereinstimmung mit der Verfassung des Kaiserreichs zu stürzen.

Der Gedanke musste Alexander sehr einleuchten, weil ausgerechnet er auf dem Kongress von Châtillon im Februar 1814 gegenüber dem britischen Repräsentanten Castlereagh die Ansicht vertreten hatte, die künftige staatliche Ordnung Frankreichs müsse vom Willen der Nation abhängig gemacht werden.[13] Diese für einen autokratischen Herrscher höchst seltsame Achtung der Volkssouveränität muss Talleyrand zu Ohren gekommen sein, doch gab diese Haltung ihm kein Rätsel auf: Der Zar machte sich nur deshalb zum Anwalt des Selbstbestimmungsrechts, um den britischen Vorschlag, eine Restauration der von ihm verachteten Bourbonen in Frankreich zu vereiteln. Mit dieser Äußerung hatte sich Alexander die Schlinge geknüpft, mit der ihn Talleyrand jetzt fing, indem er ihn mit dem fragwürdigen Argument überzeugte, die Notabeln des Senats wie im Corps législatif würden sich von Napoleon ab- und den Bourbonen zuwenden. Für ein entsprechendes Votum, das unverzüglich erfolge, verbürgte sich Talleyrand gegenüber dem Zaren, der im Gegenzug seine Abneigung gegen die Bourbonen abzulegen versprach.[14]

Talleyrand verschaffte sich damit die Blankovollmacht des Zaren, den von ihm geplanten Putsch auszuführen. In seiner Eigenschaft als Vice-Grand Electeur des napoleonischen Empire war Talleyrand befugt, den Senat für den Nachmittag des 1. April zu einer Sitzung einzuberufen. In dieser Sitzung, an der nur rund die Hälfte der 140 Senatoren teilnahm, wurde eine aus fünf Mitgliedern bestehende und von Talleyrand geführte provisorische Regierung gebildet, die als erste Amtshandlung proklamierte, den Eid der Armee auf Napoleon zu lösen. In einer zweiten Sitzung am Abend des 2. April votierte der Senat für die Absetzung Napoleons, der «im Felde unbesiegt» durch einen Staatsstreich mit legalem Anstrich entmachtet wurde. Der Beschluss war die entscheidende Weichenstellung für die weitere Entwicklung. Kaum wurde das Senatsvotum in Fontainebleau, wo Napoleon sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, bekannt, begannen die Loyalitäten zu erodieren. Diesen Verfallsprozess suchte Napoleon mit einem Kriegsrat, zu dem er am 4. April sechs seiner Marschälle um sich versammelte, mit beschwörenden Worten aufzuhalten. Sein verzweifelter Versuch scheiterte jedoch, wie er erkennen musste und Caulaincourt, der an den Beratungen teilgenommen hatte, eingestand.[15]

Um den Zusammenhalt der Armee zu gewährleisten, dem drohenden Verrat der Generäle vorzubeugen, setzte Napoleon auf eine Schlacht. Das entsprach seinem Charakter: Noch ein letztes Mal wollte er alles wagen. Das hinderte ihn nicht, sein bisheriges Doppelspiel fortzusetzen und zu versuchen, mit den Alliierten weiter zu verhandeln. «Was mich anbetrifft», sagte er Caulaincourt, «habe ich meinen Entschluss gefasst. Während Sie verhandeln, werden wir eine Schlacht schlagen, und diese wird die ganze Frage entscheiden.» Die Garde, ließ er Caulaincourt wissen, sei bereits nach Essonnes, einem Ort vor Paris, in Marsch gesetzt. Dort stehe Marschall Marmont, auf den er sich verlassen könne, und der ihm für seine Pläne besonders wichtig sei. Was die Verhandlungen anbelange, komme alles darauf an, Zeit zu gewinnen, damit er seine Operationen unbehelligt ausführen könne. Die vom Senat verkündete Entthronung sei im Übrigen ohne Bedeutung, wenn die geplante Schlacht den Feind zwinge, auch nur um fünfzig Meilen zurückzuweichen. Durch einen solchen Erfolg ließen sich die Franzosen ebenso leicht beeindrucken wie durch einen Misserfolg. Allein deshalb müsse Caulaincourt schleunigst nach Paris zurückkehren, ehe man dort von den Operationen der Garde erfahre. Im Übrigen liege ihm der Gedanke nicht fern, zugunsten seines Sohnes auf den Thron zu verzichten. Caulaincourt stehe es frei, diese Bereitschaft anzudeuten, sollte dies für seine Verhandlungen von Nutzen sein. Allerdings hege er Zweifel, dass eine «österreichische Regentschaft» die Zustimmung des Zaren fände.[16]

Das war eine verzweifelte List, mit der Napoleon darauf spekulierte, Zar Alexander würde es nicht wagen, diese Frage namens der Alliierten allein zu entscheiden, die das künftige Schicksal der «Lieblingstochter» von Kaiser Franz, der sich noch immer fern von Paris in Dijon aufhielt, unmittelbar berührte. Die Überlegung war nicht unplausibel, allein sämtliche Voraussetzungen für Napoleons Doppelspiel lösten sich jetzt in nichts auf: Seit dem 2. April stand Marmont in konspirativen Verhandlungen mit den Alliierten, und als Caulaincourt am Nachmittag des 4. April von Fontainebleau zu einer neuen Mission nach Paris aufbrach, ging der Marschall mit dem von ihm kommandierten Armeecorps von 12.000 Mann zum Gegner über. Die Desertion Marmonts war ein Fanal, das alle Kalkulationen Napoleons zunichtemachte, denn sie gab ein Beispiel, dem andere folgten. Napoleon verfügte damit über keine Machtmittel mehr von Gewicht. In den Gesprächen mit Caulaincourt zog der Zar daraus die Konsequenzen: Napoleons Angebot, zugunsten einer Regentschaft seines Sohnes abzudanken, sei ohne jede Bedeutung. Als einzige Lösung sehe er jetzt nur noch den bedingungslosen Thronverzicht Napoleons und dessen sofortigen Gang ins Exil sowie die Restauration der Bourbonen, um Frankreich eine neue staatliche Ordnung zu geben.[17]

Das Spiel war also endgültig aus. Als Napoleon am frühen Morgen des 5. April vom Verrat Marmonts erfuhr, diktierte er eine Proklamation an die Armee, deren letzte Sätze seine Resignation anzudeuten schienen: «Das Wohlergehen Frankreichs ist mit dem Schicksal des Kaisers verknüpft. Heute, da sich das Glück gegen ihn gewendet hat, kann nur noch der Wille der Nation ihn dazu veranlassen, auf dem Thron zu verharren. Sollte er zu der Einsicht gelangen, dass er das einzige Hindernis für den Frieden darstellt, wird er freiwillig dieses letzte Opfer für Frankreich bringen.»[18] Die Einsicht brauchte noch eine gute Weile, um zum Entschluss zu reifen, denn zunächst zeigte Napoleon noch Anzeichen, den Kampf fortzusetzen. So gab er Anweisung, die ihm noch verbliebenen Truppenteile in Richtung der Loire zu verlegen.[19] Den Zwiespalt Napoleons zeigt der Monolog, den er Caulaincourt vortrug, der am Morgen des 6. April gegen 2 Uhr in der Frühe wieder in Fontainebleau eingetroffen war. Die Forderung der Alliierten nach seiner sofortigen und bedingungslosen Abdankung interessierte ihn, wie Caulaincourt betont, entschieden weniger als die in der Armee vorherrschende Stimmung, über die er sich noch immer Illusionen machte, auch wenn er sich eingestand, dass der Fall von Paris und die Desertion des Corps Marmont die Moral seiner ihm noch loyalen Truppen beeinflussten. Weiterer Widerstand beschwöre überdies die Gefahr herauf, Frankreich im Bürgerkrieg versinken zu lassen. Das müsse um jeden Preis verhindert werden. Also werde er tun, was die Alliierten von ihm verlangten, und abdanken. Das solle Caulaincourt aber für sich behalten, denn zuvor wolle er sich noch mit Berthier, Ney und Oudinot beraten.[20]

Die Agonie des Abschieds von der Macht dauerte fort, doch das Beispiel Marmonts entfaltete seine Wirkung: Die Marschälle und Generäle, mit denen sich Napoleon wie angekündigt austauschte, wollten ihm den Gehorsam aufkündigen, falls er sich für eine Fortsetzung des Kampfes entscheiden würde. Diese Auskunft gab Ney, mit dem sich Napoleon in den frühen Morgenstunden des 6. April beriet; auch Berthier und Oudinot ließen sich in diesem Sinne vernehmen.[21] Damit waren die letzten Illusionen verflogen, an die sich Napoleon noch immer klammerte. Der Thron, so ließ er Caulaincourt jetzt wissen, sei für ihn nichts mehr als «ein Stück Holz», an dem er sich nicht festhalten wolle.[22] Das war Napoleons prinzipielle Einwilligung in die Abdankung, die er mit Bedingungen verknüpfte, die ihm einen ehrenvollen Abschied garantierten. Außerdem sollte sein Thronverzicht erst nach Unterzeichnung eines Vertrags wirksam werden, der sein künftiges Los und das seiner Familie verbindlich regelte. Die Modalitäten dieses Vertrags, zu denen sich die Alliierten und die provisorische Regierung Frankreichs verpflichten müssten, sollte Caulaincourt, assistiert von den Marschällen Ney und Macdonald, mit Zar Alexander aushandeln.

Die wichtigste Frage, die mit dem Vertrag beantwortet werden musste, betraf das weitere Schicksal Napoleons. Damit hatten sich die Alliierten bislang noch gar nicht befasst. Von vorneherein stand außer Frage, dass Napoleon weder in Frankreich noch Italien seinen künftigen Aufenthalt nehmen könnte. Darauf hatte der Zar im Gespräch mit Caulaincourt am Nachmittag des 2. April bereits insistiert. Zugleich gab er ihm die Versicherung, er werde alles in seinen Kräften Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Napoleon ein «établissement convenable et indépendent» erhielte. Dafür verbürge er sich mit seinem Wort.[23] Im weiteren Verlauf der Unterredung kam Caulaincourt auf dieses Versprechen zurück und ersuchte den Zaren, sich darüber genauer auszusprechen. Alexander verstieg sich daraufhin sogar zu dem Gedanken, Napoleon in Russland Asyl zu gewähren, und versprach, ihn wie einen «Souverän» zu respektieren. Allenfalls käme noch Österreich infrage. Vorrangig sei jedoch, dass er keinerlei Einfluss auf das Geschehen mehr ausüben könne. Deshalb gehe er davon aus, dass England mit jedem Vorschlag einverstanden wäre, vorausgesetzt, der Ort seines Exils sei möglichst weit von Europa entfernt. Einer Unterbringung Napoleons irgendwo in den Kolonien widersprach Caulaincourt entschieden mit dem Hinweis auf das dort herrschende Klima. Mit Rücksicht darauf erscheine ihm allein Italien vorstellbar. Dagegen wandte der Zar ein, dass Napoleon dort unweigerlich in Versuchung geriete, sich erneut einzumischen und Europa in Unruhe zu stürzen.

Da diese Erörterung noch jeglicher konkreter Voraussetzung entbehrte, habe er sich, schreibt Caulaincourt, mit dem Hinweis darauf beschieden, dass es nur billig sei, ein so großes Opfer, wie es ein möglicher Thronverzicht für Napoleon darstelle, wenigstens mit einem kleinen Entgegenkommen zu vergelten, wenn man sich seine Zustimmung dazu wirklich wünsche, zumal seine Gesundheit wie auch die Strapazen der letzten Jahre ihm ein angenehmes Klima zur unabdingbaren Voraussetzung machten. Im Zuge dieser unverbindlichen Plauderei sei es ihm gelungen, Alexander den Vorschlag der Insel Elba zu entlocken. «Diesen Einfall, den ich in den Rang eines verbindlichen Vorschlags, einer heiligen Verpflichtung erhob, gereichte schon wenig später dem Kaiser [i. e. Napoleon] zum Heil, als der Verrat, die Desertionen und die weiteren Ereignisse, die davon die Folge waren, ihn der Gnade seiner Feinde auslieferten und es ihnen gestattet hätten, seinen Aufenthalt auf einem Felsen inmitten der europäischen Meere infrage zu stellen. Er, der den wichtigsten Thron der Ruhe geopfert hatte, die sich Frankreich vermeintlich ersehnte.»[24]

Das Geschick des diplomatisch versierten Plauderers Caulaincourt war das eine; das andere die Bewunderung Zar Alexanders für Napoleon, in die er seine eigene ausgeprägte Eitelkeit hineinspielte. Das trug maßgeblich dazu bei, dass er an dem wahrhaft törichten Einfall, Napoleon die souveräne Herrschaft über die zwischen Korsika und der italienischen Küste gelegene Insel Elba zuzubilligen, gegen alle wohlbegründeten Einreden der Alliierten festhielt. Aber ungeachtet des großen Wohlwollens des Zaren, das Caulaincourt unter allen Umständen für die Vertragsverhandlungen nutzen wollte, zögerte Napoleon die Ausfertigung der Abdankungserklärung, die dafür die Voraussetzung war, mit ständig neuen Einwänden und Änderungswünschen hinaus. Schließlich, nachdem alle letzten Worte von ihm mehrfach geäußert, alle an seinem Untergang vermeintlich Hauptschuldigen wieder und wieder benannt, alle, die ihm bis zuletzt die Treue gehalten hatten, mit anerkennenden Worten bedacht und die unglücklichen Umstände, denen Frankreich unweigerlich entgegenginge, erneut aufgezählt worden waren, händigte Napoleon die nachträglich auf den 11. April 1814 datierte Abdankungsurkunde aus: «Im Lichte dessen, dass die Alliierten verkündet hatten, Kaiser Napoleon stelle das einzige Hindernis für die Wiederherstellung des Friedens in Europa dar, erklärt der Kaiser Napoleon, getreu seinem Schwur, für sich und seine Erben den Verzicht auf die Throne Frankreichs und Italiens. Gleichzeitig tut er kund, dass er zu jedem persönlichen Opfer, gelte es auch das eigene Leben, bereit ist, wenn dieses dem Interesse Frankreichs von Nutzen sei.»[25]

Mit diesem Dokument traf Caulaincourt, begleitet von den Marschällen Ney und Macdonald, in der Nacht vom 6. auf den 7. April in Paris ein, wo sie sofort von Zar Alexander empfangen wurden, der sich eine Kopie der Abdankungserklärung erbat und sich ohne Widerspruch auch Napoleons Vorstellungen hinsichtlich des geplanten Vertrags skizzieren ließ.[26] Diese fasste Caulaincourt danach in einem 21 Artikel umfassenden Vertragsentwurf zusammen, den er am Nachmittag des 7. April dem Zaren aushändigte. Der versicherte bei dieser Gelegenheit, an einem schnellen Abschluss interessiert zu sein, dafür aber noch das Eintreffen der bevollmächtigten Minister Österreichs und Großbritanniens, Metternich und Castlereagh, abwarten müsse.[27] Dieser Aufschub war angesichts des nur zu bekannten Wankelmuts Napoleons sehr misslich, zumal man in Paris den Eindruck gewann, in Fontainebleau gehe es drunter und drüber: Während die schwankende Haltung der Marschälle und Generäle immer deutlicher hervortrat, die von der begreiflichen Versuchung geplagt wurden, für sich zu retten, was zu retten war, bekundeten diejenigen, die nichts zu verlieren hatten, die Soldaten und unteren Offiziersränge, lautstark ihre unverbrüchliche Loyalität zu Napoleon. Als das Gerücht aufkam, Napoleon sei aus Fontainebleau verschwunden, löste das beim Zaren einen heftigen Ausfall gegen Caulaincourt aus, dem er Verrat und Täuschung vorwarf und mit dem Abbruch der Verhandlungen drohte, denn seine Mission habe allein dem Zweck gedient, diese Flucht zu decken.[28] Auch wenn sich dieses Gerücht bald als falsch erwies, sorgten Napoleons fortwährende Zweifel an der Richtigkeit seiner Abdankung für neue Spannungen und Verwirrungen.

Der von allen gewünschte zügige Abschluss der Verhandlungen – Zar Alexander hatte den Forderungen Napoleons prinzipiell auch namens der Alliierten zugestimmt – wurde auch vereitelt, weil der englische und der österreichische Bevollmächtigte noch immer nicht in Paris eingetroffen waren.[29] Das verkomplizierte den weiteren reibungslosen Ablauf, denn je mehr Marschälle, Generäle, Divisionen und Regimenter zu den Alliierten überliefen, desto mehr musste sich Caulaincourts Verhandlungsposition verschlechtern.[30] Kaum aber waren die Bevollmächtigten Österreichs und Englands, Metternich und Castlereagh, am 10. April in Paris angelangt, erhielt Caulaincourt von Napoleon den Befehl, ihm die Abdankungsurkunde zurückzuerstatten: Napoleon wollte mit einem Mal von seiner Abdankung nichts mehr wissen! Den dramatischen Sinneswandel hatten Loyalitätsbekundungen von Soldaten sowie die Aussicht bewirkt, das Kommando über die Italienarmee und das Corps Augereau, das im Raum Lyon stand, zu übernehmen. Dieses Ansinnen lehnte Caulaincourt mit würdiger Entschiedenheit ab.[31]

Am Abend des 10. April versammelten sich die Bevollmächtigten der Alliierten in Talleyrands Palais in Paris, um den im Wesentlichen zwischen Caulaincourt und Zar Alexander ausgehandelten Vertrag über das künftige Schicksal Napoleons und seiner Familie in einer stürmisch verlaufenden Sitzung abschließend zu beraten.[32] Das Protokoll dieses «Traité de Fontainebleau» genannten Vertragswerks wurde einen Tag später paraphiert. Im Namen Napoleons wurde das 21 Artikel umfassende Dokument von Caulaincourt sowie den Marschällen Ney und Macdonald, für Österreich von Metternich, für Russland von Außenminister Nesselrode und für Preußen von Hardenberg unterschrieben; der britische Bevollmächtigte Castlereagh verweigerte seine Unterschrift mit der Begründung, dass der Vertrag für seine Regierung nicht von Belang sei, stellte aber einen «act of accession», also eine Protokollnotiz, in Aussicht, d.h. man werde den Vertrag zur Kenntnis nehmen, verweigere aber jegliche Mitverantwortung für seinen Inhalt.[33]

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Napoleon 1814 in Fontainebleau

Die wichtigsten Bestimmungen des Vertrags waren der Verzicht auf die Throne von Frankreich und Italien, den Napoleon für sich und all seine Verwandten und Nachfahren erklärte (Artikel 1). Dessen ungeachtet behielten er und seine Frau den Titel eines Kaisers resp. einer Kaiserin, während die Brüder und Schwestern, Nichten und Neffen als «princes de sa famille» anerkannt sein sollten (Artikel 2). Napoleon erhielt auf Lebenszeit die Insel Elba als souveränes Besitztum sowie jährlich 2 Millionen an Renteneinkünften «sur le grand livre de France» zugesprochen; davon sollte eine Million seiner Frau zufallen (Artikel 3), die ihrerseits die Herzogtümer von Parma, Placentia und Guastalla als souveränen Besitz erhielt, der nach ihrem Ableben ihrem Sohn und dessen Nachkommen übertragen werden sollte (Artikel 4). Auch für die fünf Brüder und Schwestern Napoleons sowie für Madame Mère und die Schwägerin, Königin Hortense, wurde eine jährliche Leibrente von 2,5 Millionen Francs vereinbart,[34] die ebenfalls von der französischen Regierung aufgebracht werden musste (Artikel 6), während der Exkaiserin Joséphine eine Jahrespension von 1 Million Francs ausgesetzt wurde (Artikel 7), die auch aus dem französischen Staatshaushalt bestritten werden sollte.[35]

Dieses Vertragswerk war ein Dokument, aus dem die Unaufrichtigkeit all seiner Kontrahenten sprach. Napoleon stimmte ihm nur zu, als er sich nach einem quälenden Prozess zur Abdankung entschlossen hatte. Für die Alliierten hingegen war die Vereinbarung das für ihre augenblicklichen Interessen opportune Mittel, Napoleon so rasch und problemlos wie möglich loszuwerden, um so die Gefahr zu bannen, die seine weitere Anwesenheit in Frankreich für eine zügige Konsolidierung der bourbonischen Restauration darstellen musste. Diese, so hofften sie, würde ihnen die Gewähr bieten, sich auf die anderen, ihnen weit wichtigeren Probleme konzentrieren zu können, die sich mit der fälligen politischen Neuordnung Europas stellten, bei der jeder Vorteile für sich herauszuschlagen suchte. Einzig Großbritannien war nicht von dieser machtegoistischen Kurzsichtigkeit geschlagen. Das zeigt die Entscheidung, den Vertrag nicht zu ratifizieren, sondern ihn lediglich widerspruchslos zur Kenntnis zu nehmen, die Castlereagh mit dem Prinzip begründete, dass Großbritannien grundsätzlich nur die Gewähr für eigene Verpflichtungen übernähme, nicht aber für die, die andere eingegangen seien.[36] Das war die diplomatisch verklausulierte Formulierung dafür, dass die britische Regierung vor allem Anstoß an der Entscheidung des Zaren nahm, Napoleon die Insel Elba als Wohnsitz anzuweisen. Dafür wollte man weder die Mitverantwortung übernehmen noch andererseits durch Einwände dagegen die Vertragsverhandlungen scheitern lassen. Außerdem konnte auch Castlereagh keine Alternative vorschlagen, die Napoleon akzeptierte.[37]

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Caulaincourt

Der britische Bevollmächtigte Castlereagh trug nicht als Einziger wegen der Zuweisung von Elba an Napoleon Bedenken; diese wurden auch von Metternich geteilt, der am 11. April dem Zaren gegenüber bemerkte, er werde seinen Namen unter einen Vertrag setzen, «der in weniger als zwei Jahren uns auf das Schlachtfeld zurückführen wird».[38] Das war prophetisch, auch wenn er sich um ein Jahr irrte. Einwände gegen Elba machte auch Kaiser Franz I. geltend, der sich noch in Troyes aufhielt und Metternich am 12. April 1814 wissen ließ: «Die Hauptsache ist, den Napoleon aus Frankreich, und wollte Gott, weit weg zu bringen, daher haben Sie recht gehabt, den Abschluss des Tractats nicht bis auf meine Ankunft zu verschieben, denn nur dadurch kann dem Krieg ein Ende gemacht werden. Die Insel Elba ist mir nicht recht, denn sie ist für Toscana ein Schaden, man disponiert mit Gegenständen für Andere, die meiner Familie taugen, was man in Hinkunft nicht angehen lassen kann, und Napoleon bleibt zu nahe an Frankreich und Europa. Übrigens muss getrachtet werden zu erhalten, dass Elba, wenn die Sache nicht verhindert werden kann, nach Napoleons Tod zu Toscana komme.»[39]

Der gewichtigste Einwand von Kaiser Franz I. gegen die Zuweisung von Elba an Napoleon ist aufschlussreich für das künftige Geschehen auf dem Wiener Kongress, der sich im Herbst versammelte, um die politische Neugestaltung des nach-napoleonischen Europa zu vereinbaren: Elba, das seit 1736 zum Königreich beider Sizilien gehörte, war erst im April 1797 in den Besitz von Großherzog Ferdinand von Toskana aus dem Hause Habsburg gekommen und wurde im Mai 1801 von Frankreich annektiert.[40] Die Besitzansprüche, die Kaiser Franz I. deshalb für sein Haus geltend machte, bezogen sich also auf diese gerade vier Jahre währende und in der kurzen Zeitspanne keineswegs unangefochtene Zugehörigkeit der Insel Elba zum Großherzogtum Toskana, die von Anfang 1799 bis zum Juli dieses Jahres zum ersten Mal von den Franzosen besetzt worden war!

Schon während der Verhandlungen über den Vertrag wurde an der Absicht des Zaren Kritik geübt, Napoleon als Preis für seine Abdankung die Herrschaft über Elba zu geben. Das zeigt dessen Bemerkung gegenüber Caulaincourt zu Beginn der dritten Konferenz in der Nacht vom 6. auf den 7. April, als Alexander verschiedene Einwände der Alliierten gegen den vorgelegten Vertragsentwurf referierte. «Es sei selbst die nur zu vernünftige Ansicht geäußert worden, dass die Insel Elba viel zu nahe gelegen sei; die allzu große Nähe dieses Aufenthaltsorts [i. e. Napoleons] zu Italien und Frankreich sei bereits der Gegenstand vielfältiger einsichtiger Kritik gewesen. Allein, so fügte er dem hinzu, die Umstände hätten ihn dazu veranlasst, deswegen mir gegenüber eine Art von Verpflichtung einzugehen, die er allein deshalb schon respektieren werde, weil er ein gegebenes Wort unbedingt halte und sich in diesem Entschluss auch durch nichts beirren ließe, schon gar nicht gegenüber einem Fürsten, der vom Glück verlassen ist und der keine andere Garantie mehr hat als das Wort des Zaren.»[41]

Davon wich der Zar nie ab, auch als auf dem Wiener Kongress verschiedentlich der Gedanke aufgeworfen wurde, Napoleon auf eine Azoreninsel, nach Santa Lucia in der Karibik oder nach Sankt Helena im Südatlantik zu deportieren, um so die Gefahr zu bannen, die seine Italien und Frankreich so nahe Existenz auf Elba aufwarf. Dafür setzte sich vor allem Talleyrand ein,[42] dem Napoleons korsischer Erzfeind Pozzo di Borgo sekundierte, der in den Diensten des Zaren stand und sich gemeinsam mit Wellington dafür starkmachte, Napoleon nach Sankt Helena zu schaffen.[43] All diese Vorstöße scheiterten regelmäßig an der Weigerung Alexanders.[44] Mit dieser Hartnäckigkeit des Zaren hatte wohl keiner der anderen Vertragspartner gerechnet, die wie die Briten, die diese Absicht zumindest diplomatisch unmissverständlich dokumentierten, davon ausgingen, das Problem zu einem späteren Zeitpunkt befriedigend lösen zu können. Das sollte sich als folgenreicher Irrtum erweisen.

Die tiefe Unaufrichtigkeit, die den zwischen Napoleon und den Alliierten geschlossenen Vertrag kennzeichnete, zeigt noch ein weiterer Aspekt, der bei der Ratifikation zutage trat, die als Erster Napoleon am 14. April leistete. Es folgten die Unterschriften des Zaren am 15. sowie die von Kaiser Franz I. und des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. am 16. April. Außer von der britischen Regierung, die sich der Ratifikation verweigerte, fehlt auch die Unterschrift der provisorischen französischen Regierung. Das verwundert sehr, weil der Vertrag dieser finanzielle Verpflichtungen von jährlich 5, 5 Millionen Francs aufbürdete! Doch die von Talleyrand geführte Regierung war kein an den Verhandlungen beteiligter Partner, sondern wurde über deren Ergebnis erst nach dessen Paraphierung offiziell unterrichtet. Das geschah bei einer eigens anberaumten Sitzung am 11. April kurz vor Mitternacht, an der außer den Bevollmächtigten der Vertragsparteien auch die Mitglieder der provisorischen Regierung teilnahmen, die sich in einer gewundenen Erklärung dem Unvermeidlichen unterwarfen und den Vertrag akzeptierten.[45] Erst im Austausch mit dieser Erklärung wurde die Abdankungsurkunde Napoleons, die deshalb auf den 11. April datiert ist, von Caulaincourt ausgehändigt.[46]

Das war noch nicht der letzte Akt in der windungsreichen Abwicklung von Napoleons Herrschaft. Kaum hatte Louis XVIII am 3. Mai 1814 den Thron bestiegen und Talleyrand zum Außenminister der neuen Regierung ernannt, sah sich der zu Recht misstrauische Caulaincourt genötigt, auf einer förmlichen Bestätigung jener von der provisorischen Regierung abgegebenen Erklärung zu bestehen. Die Rechtfertigung für dieses Verlangen waren die Verhandlungen mit den Alliierten über den Abschluss eines Friedensvertrags, der bereits am 30. Mai unterzeichnet wurde. Damit verknüpfte der loyale Bevollmächtigte Napoleons den Verdacht, die königliche Regierung werde diesen Friedensvertrag als einen willkommenen Vorwand nehmen, um sich den von ihrer Vorgängerregierung eingegangenen finanziellen Verpflichtungen gegenüber Napoleon zu entziehen. Wie berechtigt Caulaincourts Misstrauen war, zeigte sich, als er sich erneut an den Zaren wenden und diesen bitten musste, seine Forderung mit allem Nachdruck bei Louis XVIII durchzusetzen.[47] Erst die energische Demarche Alexanders nötigte Talleyrand, namens der königlichen Regierung am 30. Mai in einer weiteren Erklärung die Anerkennung der Vertragsbestimmungen zu bekräftigen.[48] Dessen ungeachtet zeigte sich aber sehr schnell, dass Louis XVIII nicht gewillt war, den feierlich bekräftigten Verpflichtungen zu entsprechen: Von den vertraglich vereinbarten 5,5 Millionen Francs, die Frankreich für den Unterhalt des Exkaisers und seiner Familienangehörigen jährlich aufwenden sollte, wurde nie auch nur ein Sou bezahlt.[49]

Nach dem letzten verzweifelten Aufbegehren gegen seine Abdankung am 10. April versank Napoleon in tiefe Depression. Seine Gespräche mit den Vertrauten kreisten nur noch um Tod, um Freitod, zu dem sich einst die großen Männer der Antike entschlossen, wenn sie sich in auswegloser Situation befanden.[50] Caulaincourt, der am 12. April nach seiner Mission in Paris nach Fontainebleau zurückgekehrt war, diente ihm einmal mehr als Zuhörer für Monologe, um die Fehler seiner Gegner anzukreiden, den Abfall jener zu geißeln, die er einst mit Großzügigkeiten überhäuft hatte, das sichere Scheitern der Bourbonen zu prognostizieren oder den wenigen, die ihm noch die Treue hielten, das Loblied zu singen.[51] Diese Monologe, bei denen Caulaincourt einen neuen, ungewohnt warmen Ton gewahrte, waren als Napoleons Schwanengesang angelegt, denn er hatte sich entschlossen, jenes Gift zu nehmen, das er seit dem Russlandfeldzug, in einem kleinen Beutel verschlossen, um den Hals trug. Das Gift scheint aber seine Wirkung verloren zu haben, denn als er es in der Nacht vom 13. auf den 14. April einnahm, verursachte es ihm nur große Schmerzen. Als sein Arzt sich weigerte, ihm eine neue, höhere Dosis des Gifts zu geben, und sich durch Flucht diesem Ansinnen entzog, kehrte er ins Leben zurück.[52] Am Morgen, kaum war Napoleon etwas zu Kräften gekommen, weigerte er sich, das ausgehandelte Abdankungsabkommen mit seiner Unterschrift zu ratifizieren. Wieder musste Caulaincourt seine Überredungskunst aufbieten, bis Napoleon endlich die Feder nahm und das Dokument unterzeichnete.

Nach diesen dramatischen Momenten vergingen weitere sechs Tage, ehe am Mittag des 20. April alle Vorbereitungen zur Abreise Napoleons getroffen waren. Außer einer Handvoll Getreuer, die das Leben auf Elba mit ihm teilen wollten, waren auch Vertreter der vier Siegermächte zur Stelle, um dem gestürzten Kaiser sicheres, verbürgtes Geleit bis an die Mittelmeerküste zu geben. Caulaincourt hatte auf deren Begleitung gegenüber dem Zaren beharrt, da er vorhersah, Napoleon könne in Südfrankreich, wo Royalisten eine sehr feindliche Stimmung gegen ihn schürten, in Gefahr für Leib und Leben geraten.[53] Deshalb war der über zehn Wagen umfassende Konvoi auch von einer Abteilung der Gardekavallerie begleitet, die an jeder zweiten Poststation auf dem Weg an die Mittelmeerküste ausgewechselt wurde.[54] Diese Bedenken waren keineswegs übertrieben, denn auf der Strecke von Orange nach Süden wurde der Konvoi in verschiedenen Orten von wütenden Demonstranten aufgehalten, die nachdrücklich ihre Absicht bekundeten, mit dem Exkaiser kurzen Prozess machen zu wollen.[55] Diese Erlebnisse veranlassten den britischen Kommissar Neil Campbell, der als Einziger der vier alliierten Offiziere auf Elba stationiert sein sollte, die ursprünglich in Saint-Tropez geplante Einschiffung Napoleons nach Fréjus zu verlegen, weil sie dort gefahrloser zu bewerkstelligen sei. Das war eine hübsche Ironie, denn Fréjus war ebenjener Mittelmeerhafen, in dem etwas weniger als 15 Jahre zuvor General Bonaparte, aus Ägypten kommend, zu seinem Rendezvous mit caesarischem Ruhm gelandet war.

Jene knapp zehn Monate, die Napoleon im Zwangsurlaub von der Macht auf Elba zubringen sollte, waren ein entscheidender Wendepunkt in dem Drama, dessen fulminanter Schluss in dieser Frist vorbereitet wurde. Ein solcher Ausgang war unschwer vorherzusehen, denn die lediglich 222 Quadratkilometer große Insel mit ihren knapp 14.000 Einwohnern vermochte einem Mann wie dem erst 45-jährigen Napoleon nichts zu bieten, das seinen brennenden Ehrgeiz hätte fesseln können. Einen solchen Ort zum Exil zu bestimmen war ein krasser Fehler: In Sichtweite der italienischen Küste, gerade einmal fünfzig Kilometer vom heimatlichen Korsika entfernt und damit auch in bequem erreichbarer Nähe zu Frankreich würde selbst ein weit weniger machtbesessener und tollkühner Krieger und Staatsmann als Napoleon in Versuchung geraten, den Bewachern ein Schnippchen zu schlagen und sich durch Flucht zu entziehen.[56]

Der mit den Siegermächten geschlossene Abdankungsvertrag sicherte Napoleon die souveräne Herrschaft über dieses Miniaturkaiserreich, das ihm aber nur insoweit Sicherheit verschaffte, als man sich hier vor ihm sicher wähnte. Um sich dessen wiederum ganz sicher zu sein, unterhielten Frankreich und Österreich ein Heer von Spitzeln, während sich England, nobel oder geizig, begnügte, mit Sir Neil Campbell einen eigenen Kommissar auf der Insel zu postieren, der seinem Wächteramt als gentleman nachkam und mit Napoleon ausweislich seiner Erinnerungen geradezu freundschaftlichen Verkehr pflegte.

Zunächst tat Napoleon, was er nicht lassen konnte: Weder frönte er der Muße, noch begann er damit, wie er Joséphine in einem Brief vom 16. April angekündigt hatte, Lebenserinnerungen zu diktieren. «Ich will an meinem Ruhesitz das Schwert mit der Feder vertauschen. Die Geschichte meiner Herrschaft wird sehr interessant werden. Man hat mich bislang immer nur im Profil gesehen, jetzt werde ich mich ganz darstellen.»[57] Stattdessen war er tagelang auf den Beinen, inspizierte sein Zaunkönigtum, um eine Fülle von Arbeiten zur Verbesserung der Verkehrswege, der Hafenanlagen, die Wiederinbetriebnahme aufgelassener Marmorbrüche und sonstiger Einrichtungen anzuordnen. Als Ende Mai 1814 auch der Bataillon sacré der Garde in Elba eintraf, den man ihm als Streitmacht zu seinem Schutz zugestanden hatte, konnte er sich auch wieder damit amüsieren, Paraden abzunehmen.[58596061