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Sandra Gugić

ASTRONAUTEN

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Über das Buch

Es ist Sommer, irgendwo in einer größeren Stadt. Die Ferien haben begonnen, und sechs Menschen treffen aufeinander, deren Wege sich begegnen, überschneiden und wieder trennen werden: die Schulfreunde Darko und Zeno, der schreibende Taxifahrer Alen, dessen Freund, der junge Polizist Niko, die Künstlertochter Mara, in die Darko verliebt ist, und ein drogenabhängiger Sohn aus gutem Haus, Alex, der sich als Kleinkrimineller durchschlägt.

Alle haben sie aus verschiedenen Gründenden Kontakt zu ihrem bisherigen Leben verloren, alle müssen sich neu orientieren – wie Astronauten, deren Verbindung zu ihrem Mutterschiff brüchig geworden ist.

So entstehen Geschichten von Liebe und Verrat, von Vereinsamung und Zugehörigkeit: eine poetische Reise in die Gegenwart.

Über die Autorin

Sandra Gugić, 1976 in Wien geboren, schreibt Prosa, Lyrik und Theatertexte. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und gewann 2012 den Open Mike, 2013 erhielt sie das Autorenstipendium der Stadt Wien. Astronauten ist ihr erster Roman.

Für Herrn Schlick

TEIL EINS

You’re on Earth. There’s no cure for that.

Samuel Beckett, Endgame

I. DARKO

«Gott ist ein Astronaut», sagt Zeno und tritt seine Zigarette aus. Wir stehen vor der roten Ziegelmauer, die den Park zur Straße hin begrenzt, und betrachten eine Weile schweigend das noch unbeschriebene Stück Mauer vor uns. Die Stadt gehört uns steht rechts davon, links Meine Mutter nennt mich Hurensohn. Beides Werke von Zeno, auch wenn er darauf besteht, dass er nur den Hurensohn gesprayt hat, weil ihm das mit der Stadt mittlerweile peinlich und abgegriffen vorkommt, sprayt doch jeder, außerdem gehört uns die Stadt nicht. Wenn sie einem gehört, dann nicht uns, nur der Park, der Park ist unser.

Der Park liegt nur dreihundert Meter vom Casino entfernt hinter dem lang gezogenen Gebäudekomplex des Theaters. Also auf der einen Seite, Schulter an Schulter, Theater und Casino mit dem verschnörkelten Springbrunnen und dem akkurat gemähten Rasen davor und auf der anderen der Park. Im Festsaal des Casinos finden die Partys und Abschlussbälle der Privatschulen statt, Unterrichtssprachen Französisch und Englisch, dort sitzen abends die Mädchen kichernd auf den Treppen, in Cocktail- oder Ballkleidern, je nachdem, ein Martiniglas in der Rechten, Zigarette in der Linken, nein, andersrum, nur das Kleid nicht ansengen, also die Zigarettenhand weit weghalten, ein leichtes Schwanken und Tänzeln auf den zu hohen Absätzen, Frisur und Make-up gegen Ende des Abends, wie alles, an der Grenze zur Auflösung. Die Jungs in Anzügen, die Haare mit Gel nach hinten gekämmt oder kunstvoll verstrubbelt, die älteren fahren in den Autos der Väter vor, der Lack glänzend, die Wagen frisch aus der Waschanlage, Fenster heruntergekurbelt, Zigarette im Mundwinkel. Die Mädchen zücken ihre Kameras, schürzen die Lippen und posen angestrengt sexy für das perfekte Bild, quetschen sich zu dritt vor die Linse, fallen lachend auf den Rasen, nur das Kleid und die Schuhe nicht ruinieren, Zeno sagt, dabei sollten sie, sowieso und erst recht. Minuten, Stunden später wird das Geknutsche und Gefummel vor dem Springbrunnen losgehen, auf dem Parkplatz und zwischen den Säulen. Von drinnen dringen Fetzen von Paartanz-Musik nach draußen, sittsamer Ausgleich zum allgemeinen Treiben bleibt die Verwendung von Französisch und Englisch als Partykonversationssprachen, und immer neue Erinnerungsfotos vom Abheben und Abstürzen und den Aggregatzuständen dazwischen, an die sich keiner erinnern wird. Dazwischen liegt die steinerne Grenze zwischen Casino und Park, der Gebäudekomplex des Theaters, das Zeno nur einmal von innen gesehen hat. Eine Aufführung der Räuber, in die uns eine Jugendarbeiterin mitgenommen hatte, der alte Schinken aufgepimpt als Gangballade, mit Rap und Breakdance, und Zeno und ich, als alberner Gegensatz dazu, aufgebrezelt in Hemd und Krawatte im Parkett.

Zum Haupteingang des Theaters führen etliche Stufen, über die sich ein Dach aus Arkaden spannt, flankiert von Säulen, in Stein gehauenen Gesichtern und Figuren aus vergessener Zeit, und auf der Rückseite, dort, wo der Bühneneingang liegt, beginnt der Park. Unser Park. Jeden Tag sind wir hier draußen, an den Wochenenden, vor allem im Sommer, manchmal bis spät in die Nacht. Zeno, die anderen und ich.

Die Mitte des Parks markiert ein kreisrunder, künstlich angelegter See, in dessen leicht nach rechts verschobenem Zentrum thront ein überdimensional großer, hässlicher Frosch aus Beton, von unzähligen Schichten Taubenscheiße bedeckt und marmoriert. Im brackigen Wasser des Sees baden Enten und andere Vögel, rote und graue Eichhörnchen flitzen an Ästen entlang, jagen einander, manchmal huscht eine Ratte durchs Gebüsch. Stadtkonservennatur, sagt Zeno. Kieswege laufen kreisförmig um den See und verzweigen sich nach außen, an die Ränder. Die große Wiese, unser Treffpunkt, wird flankiert von dicken alten Bäumen, der Fußballkäfig liegt ganz vorne, zur Straße hin dann noch ein winziger Kinderspielplatz mit Sandkisten und rostigen Wippen. Angrenzend der städtische Sportplatz, auf dem Jahr für Jahr Schüler in allen Größen und Gewichtsklassen scheinbar endlose Runden drehen. Schüler der öffentlichen Schulen, die, weit weg von Französisch und Englisch, in ihrem eigenen Sprachgewirr kreisen, ständig kommen neue Sprachen dazu, verweben sich zu einem Rauschen, das immer wieder von den Pfiffen des Sportlehrers unterbrochen wird. In jedem echten Spiel regt sich eine ganze Welt steht in gebrochener Schrift über dem Vordach der Tribüne, unter diesem Motto ziehen wir jeden Mittwoch unsere Runden, schwitzen, keuchen, spucken und verstecken uns zwischendurch in den umliegenden Büschen, um mit nervösen Fingern SMS zu tippen oder einfach in Ruhe eine zu rauchen. Die rote Backsteinmauer, vor der Zeno und ich stehen, ist die Grenze des Parks zur Stadt hin. «Gott ist ein Astronaut, das sollte ich sprayen», sagt er, wartet auf eine Reaktion von mir. Ich zucke mit den Schultern.

Ob einer was zu rauchen hat. Einer hat immer. Die gewohnten Gesichter haben sich heute Abend zusammengefunden, und Zeno erzählt die üblichen Geschichten, ich kenne schon alle auswendig, höre nicht mehr zu, beobachte stattdessen zwei Pitbulls, die ungeduldig darauf warten, abgeleint zu werden, und sofort losrennen, als das Halsband sich mit einem sanften Klicken löst, im Zickzack über die Wiese, quiekend und keuchend miteinander rangeln, mit den Zähnen den Hals des Kontrahenten suchen, bis einer von ihnen nachgibt. Ein Spiel, das sie nicht müde werden zu wiederholen, während der Park langsam in der Dämmerung versinkt und schließlich ganz von der Dunkelheit geschluckt wird, bis die trüben Parklaternen das einzige Licht sind. Über die Wiese legt sich Musikwummern wie ein Teppich, wir sind die Schemen im Laternenlicht, Schattenrisse gegen die Bäume. Gekicher breitet sich aus wie ein Virus, hoch ansteckend, gefolgt von einem Zusammenrücken, näher an fremde Haut und Gesichter, das gemeinsame Lachen macht uns stark, überlegen, unser Wir ist ein Körper, der zu viele Arme, Beine und Münder hat. Macht nichts, dass irgendwann bald Schluss sein wird mit der Musik, weil der Akku beinahe leer ist, heute ist der erste Abend der Ferien, der gefeiert werden will oder muss oder soll. Macht nichts, dass wir längst aus dem Park herausgewachsen sind, aber immer noch jeden Abend hier, am Ausgangspunkt, anfangen. Ein neuer, alter Sommer, der mich daran erinnert, dass wir in diesem Jahr nicht mehr gemeinsam nach Hause fahren, wie wir es früher jeden Sommer gemacht haben. Wir, das sind meine Großeltern, bei denen ich aufgewachsen bin, und ich. Wir werden uns nicht mehr eine endlose Autofahrt lang anschweigen, weil es dieses zu Hause für mich nicht mehr gibt, eigentlich niemals gab. Weil ich mich durchgesetzt habe, weil ich alt genug bin, selbst zu entscheiden, und diesen Sommer bei meinem Vater, hier in der Stadt, verbringen will. Zeno hat gefragt, ob es mir wirklich darum geht, bei meinem Vater zu sein, den er für zu weich hält, oder ob ich den strengen Regeln meiner Großeltern, bei denen Zeno Hausverbot hat, entkommen will, wenn auch nur auf Zeit, oder darum, in diesem Jahr einmal nicht die Seiten wechseln zu müssen, der Fremde zu sein, auf den die Kinder im Heimatdorf meines Großvaters kichernd zeigen, und meinen Verwandten in holprigen Touristensprachfetzen zu antworten:

«Was hast du mit deiner Muttersprache gemacht?»

«Der Sommer ist ein Arschloch», sagt Zeno, er langweilt sich schnell, und diese Ferien bedeuten eigentlich nichts weiter, als dass wir im Park die Dinge, die Abende, wiederholen, die wir schon kennen, jeder Tag nur ein neuer Tag, wieder ein Tag und nichts zu tun. Nichts, was Sinn macht, in Gegenwart der müden, der enttäuschten, der zweifelnden Gesichter der Erziehungsberechtigten, die sich Tag für Tag abrackern, für uns, für unsere Zukunft, die kommen wird. Ich versuche, die Dinge richtig zu machen, für meine Großeltern, aber ich habe kein Talent dafür, dankbar zu sein.

Die Sommerferien werden mir lang, bevor sie richtig begonnen haben. Auch die Jugendarbeiter, die den Sommer über hierbleiben und jeden Tag missionarisch durch den Park pflügen, alle Grüppchen abklappern, uns in ihr Büro, in den Jugendtreff einladen, selbst die sehen müde aus. Zeno und ich sind eigentlich zu alt, um hier rumzuhängen, uns vor den ausgedienten Rechnern im Gemeinschaftsraum zu langweilen, den die Jugendarbeiter Begegnungsraum nennen. Aber wir bleiben ohnehin unter uns. Zeno sitzt vor dem Computer und klickt die Stellenanzeigen weg, sucht nach Partyfotos vom letzten Wochenende, wichtig ist, ob der Club-Fotograf uns auch wirklich, wie versprochen, ins Netz gestellt hat, mit wem wir abgelichtet worden sind, ob wir auf den Bildern nach Spaß aussehen, ob wir noch da, noch vorhanden sind.

Ein Polizeiwagen zieht ab und an träge Runden um den Park, immer ist ein wachsames Auge auf uns gerichtet. Ausweiskontrollen gibt es nur, wenn ihnen langweilig wird oder wenn Neue im Dienst sind. Die Neuen, die von der Stadt eingestellt werden, sehen aus wie aus dem Katalog, Gardemaße, Barbie-und-Ken-Bullen, übermotiviert und verbissen. Ich halte Ausschau, ob Niko im Wagen sitzt, Niko, der einer von diesen Neuen ist und der beste Freund meines Vaters. Obwohl ich nicht verstehe, warum sie Freunde sind, was sie gemeinsam haben könnten. Ich versuche, mir Zeno in einer Uniform vorzustellen, aber es klappt nicht. Zeno wollte auf die Polizeischule, was er sich nach der Geschichte mit den Briefkästen anders überlegt hat. Die Briefkästen, das war eines seiner Projekte, seine Projekte, die immer auch meine geworden sind, und wir hätten nicht gedacht, dass sie uns erwischen, weil sie uns auch nicht erwischt haben, als wir den Springbrunnen vor dem Casino mit Waschpulver und Seifenlauge zur Schaumkanone gemacht haben und der Schaum über den Rasen und hoch bis auf die Treppen des Casinos gestiegen ist und immer höher. Rosafarbener Schaum, bis die Feuerwehr gekommen ist und alles abgepumpt hat. Viel später erst, beim Briefkästen-Sprengen, haben sie uns erwischt. Zeno hat gesagt, das sei Perfektion, ich solle genau hinhören, diese Stille vor dem Moment, in dem alles in die Luft fliegt, und die Stille danach, die Schönheit dieser Stille.

Auf dem Wachzimmer wollten sie, dass wir alles Mögliche gestehen, mit dem wir nichts, gar nichts, zu tun hatten. Die Telefonbücher, die sie uns gegen Kopf und Bauch geschlagen haben, Zeno und mir, damals, Telefonbücher geben keine blauen Flecken, wenn man es richtig anstellt.

Heute Abend wird sich keiner von ihnen die Mühe machen auszusteigen, keine Neuen dabei, und die Alten lassen uns, solange wir uns ruhig verhalten, wir sind immer hier im Park, sie sind uns gewohnt. Außerdem ist heute, auf der anderen Seite, der Sommerball der Privatschule, sie werden dort vorbeifahren, sehen, ob auch alles seine Ordnung hat, aber tatsächlich, um die Mädchen in ihren Kleidern zu begutachten, die auf der Treppe vor dem Casino nackte Beine und Schultern zeigen.

«Zieh oder gib weiter, was ist?» Zeno fragt, wo ich mit meinen Gedanken bin, ich sehe aus, als würde ich nachdenken, zu viel Denken macht Kopfschmerzen, ich soll mir lieber die Mädchen anschauen, sagt er, und nicht nur anschauen, heute geht sicher was. Zeno sagt, die Dinge, auf die es ankommt, die stehen nicht in meinen Büchern, die Bücher haben mit dem echten Leben nichts zu tun, ich antworte nicht, vielleicht, weil ich nie viel sage, vielleicht, weil ich für den Moment damit zufrieden bin, mit den anderen hier zu sein. Obwohl es offensichtlich sein muss, dass Zeno die einzige Verbindung ist zwischen ihnen und mir, bin ich froh, auch wenn das Gefühl immer da ist, immer bleibt, am Rand zu stehen, den anderen vom Rand aus zuzusehen.

Zeno sagt, dass der Park unser ist, weil wir hier großgeworden sind, während die anderen von ihren Eltern zum Klavier-, zum Judo-, und weiter zum Nachmittagsunterricht chauffiert worden sind und mein Vater wieder ihre Eltern chauffiert, Nacht für Nacht in seinem Taxi Runden zieht. Mein Vater war der erste aus unserer Familie, der studiert hat, was egal ist, schließlich ist er doch Taxifahrer geworden wie mein Großvater vor ihm, weil die Dinge nicht so einfach sind, sagt mein Vater. Dass er ein Versager ist, sagt hingegen Großvater über ihn, wenn er glaubt, ich höre es nicht. Mein Vater, der seine Gewohnheiten pflegt wie seine Anzüge, die er zum Taxifahren trägt, als wäre er ein Privatchauffeur, der gleiche Anzug in drei Ausführungen, dazu drei identische, passende Hemden. Aber ich weiß auch von den 136 Seiten auf dem Schreibtisch meines Vaters, er hat daran zu schreiben begonnen, als ich noch ein Kind war, hat den Text aus dem Deutschen in unsere Muttersprache und wieder zurück übersetzt. Das Hin-und-her-Übersetzen ist eine Manie geworden, weil er immer Fehler findet, Ungereimtheiten, in jeder Sprache andere, so geht das seit Jahren. Einhundertsechsunddreißig Seiten vor und zurück, ohne jemals weiterzukommen. Das, grau werden und Taxi fahren, unterbrochen von den Nächten, von den Wochen, in denen er verschwindet. Meine Großeltern glauben, dass ich davon nichts weiß, weil ich nichts mitbekommen soll, weil ich in ihren Augen immer noch der kleine Junge bin, der ohne Mutter aufgewachsen ist, ein Kind. Jetzt ist es an mir, jetzt soll etwas aus mir werden, sagt mein Großvater, der mir vorbetet, dass ich klug bin, aber aufpassen muss, dass er weiß, was ich treibe, dass es an Zeit ist, erwachsen zu werden, dass ich lernen, meine Zeit nicht im Park und schon gar nicht mit Zeno verschwenden soll.

Im Park hab ich sprayen gelernt, wobei Zeno immer noch besser ist als ich, hab ich meinen ersten Joint geraucht, haben mich die Bullen gefilzt, immer wieder, aber nichts in meinen Taschen, hab ich meinen ersten Rausch ausgeschlafen, unter den Bäumen. Heute Abend ist es, als würde sich der Park, der mein Zuhause war, auflösen, als würde die Abfolge unserer Abende keinen Sinn mehr ergeben.

Zeno sagt, wir sind zusammen, hier und jetzt, alles andere zählt nicht. Zeno sagt wir, zieht das Wir ein Stück enger und meint nur uns beide. Zeno sagt wir und meint alle anderen, Zeno sagt wir und meint nur sich selbst.

Wer heute Abend fehlt, wer mir nicht aus dem Kopf will, ist Mara, die auftaucht und wieder verschwindet, wie es ihr gefällt. Letzten Sommer ist sie im Park aufgetaucht, hat Fotos von uns gemacht, mit der Kamera ihres Vaters, die sie niemals aus der Hand gegeben hat. Danach habe ich sie das ganze Jahr nicht wiedergesehen und auf den nächsten Sommer gehofft. Mara folgt ihren eigenen Regeln. Mara, in ihrer merkwürdigen Aufmachung, in Männerschuhen und Hemd. Mara, die mich nicht küssen wollte, das Gesicht weggedreht und gelacht hat, aber die mir damals im Club, auf dem Konzert, auf das ich sie eingeladen hatte, im Gedränge und Geschiebe der Menge einen runtergeholt hat. Die flirrenden Lichter und Stroboskope, Mara und ich oben auf der Treppe, vor uns die beleuchteten Schemen der anderen, ein Menschenteppich, und wir mittendrin, die Band vorne war das Bild im Bild im Bild unzähliger Kameras und Displays, die hochgehalten wurden, um festzuhalten, den Moment festhalten, irgendetwas festhalten, jetzt. Mara war nicht das erste Mädchen, das mich angefasst hat, aber sie ist die Erste, die zählt. Der Geruch von Schweiß, die klebrige Feuchtigkeit in meiner Hose und ihr Lipglosslächeln ganz nah an meinem Mund, und keiner, keiner hat etwas mitbekommen.

Vorkriegsjugend steht in weißen Buchstaben auf der grünen Militärjacke eines hageren, immer schlecht gelaunten Jungen, Zeno nennt ihn Ökoficker, mit dem ich jeden Morgen im Bus fahre. Zeno sagt, dass scheißegal ist, was der Ökoficker auf seine Jacke schreibt. Vorkriegsjugend. Weiße Buchstaben auf Kunstleder, von denen ich meinen Blick nicht abwenden kann. Was das für ein Krieg sein soll, der kommt, und wann der kommt oder wie er ihn sich vorstellt, ob das witzig sein soll, ich muss mir Krieg nicht vorstellen, ich seh ihn jeden Tag im Gesicht meines Großvaters. Der Krieg, der ihn geprägt hat, ist mir nicht näher als die Nachrichtenbilder aus fremden Ländern und Katastrophengebieten, Bilder, die von immer neuen abgelöst werden. Die Heimat meines Großvaters ist in Fernsehbildern, Zeitungsberichten und zwischen abgebrochenen Telefonaten mit zu Hause zerfallen, in seiner Abwesenheit, das ist ein Teil der Schuld, die er mit sich herumträgt. All die Dinge, vor denen mein Großvater mich beschützen will, weil er nicht versteht, dass ich längst verstanden habe, dass der Krieg ein Teil unserer Familie ist. Das würde ich dem Ökoficker gern sagen oder ihn fragen, was nach dem Krieg sein wird, wenn jetzt und hier vor dem Krieg ist, aber ich lasse es. In der Trägheit des Abends verzieht sich einer nach dem anderen, die meisten sind schon weg, auch die Musik ist aus, der Akku leer, und Zeno ist sauer, weil er sich das anders vorgestellt hat, weil die besten Mädchen nach Hause oder weiter in den Club sind, für den wir heute beide kein Geld haben, was mich nicht stört. Die Stille des Parks hüllt uns ein, ich knicke langsam weg, Wattedösen, gleite in erste Traumbilder hinein, bis mich Zeno mit dem Ellbogen hart in die Seite stößt.

«Kommt schon, kommt schon, kommt schon», Zeno ist langweilig geworden, Zeno hat eine Idee, Zeno hat immer eine Idee. Er springt auf und tigert wild gestikulierend am Ufer auf und ab, als würde das Wasser ihn von einer unwiderstehlichen Beute trennen. Dass der See trüb und brackig ist, ist in der bekifften Stimmung des Abends egal, der See wird ein Meer, die schwüle Stadtluft eine Brise darüber, einer nach dem anderen schält sich, begleitet von nervösem Gekicher, aus den Kleidern, und wichtig ist, wer sich traut, wer zuerst ins Wasser hechtet, aber ich zögere, wie ich immer zögere, suche nach dem Buch in meiner Tasche, das ich vom Schreibtisch meines Vaters mitgenommen habe, taste danach, als könnte es mich davor schützen, etwas tun zu müssen, fahre über die Konturen der Buchstaben, ich weiß, dass unter meinen tastenden Fingern auf dem Einband Gesegnete Wirklichkeit steht, und ich könnte einfach hier sitzen bleiben, zusehen oder verschwinden, unauffällig, mich in der Dunkelheit auflösen. Ich zögere, während Zeno schon abtaucht und die ersten es ihm gleichtun, aber dann steh auch ich auf, weil ich weiß, dass es jetzt wichtig ist, ins Wasser zu hechten, kopfüber, und ob die Mädchen, wann sich die Mädchen aus dem Dunkel lösen werden und zu uns ins schwarze Wasser gleiten. Unsere halbnackten Schemen flackern im gelben Laternenlicht, der See wird der Strand der Stadt, an dem wir angespült worden sind.

II. ZENO

Das Gewehr anlegen und warten. Ganze Tage hab ich genau so, aufm Dorfplatz, oben aufm Baum, dort, ganz oben in der Krone, aufrecht, ich, der Feldherr, der über das Schlachtfeld schaut, die Hand an die Stirn, so, konzentriert, total ernst, nichts ist mir entgangen, und unten alle so peng peng peng peng peng, sind da rumgekrochen, rumgerobbt, und ich von oben, vorwärts, Deckung, vorwärts, Männer, dabei, von wegen, wir waren keine Männer, noch nicht, und einmal ist einer von ihnen zu mir rauf, hat sich angeschlichen, hält mir seine Pistole an den Kopf und brüllt: Du bist tot, du bist tot, und ich hab ihn gepackt, geschüttelt, wollt ihn runterschmeißen, willst du sterben, ha, wer stirbt jetzt, wer zuerst, wer ist jetzt tot, wer? Dann ist der Stoff gerissen von seinem T-Shirt, und geflennt hat der, wegen dem T-Shirt und vor Schiss zu fallen, der Feigling, alles Feiglinge, aber das war das einzige Mal, sonst ist das nie, das hat sich keiner getraut, der Scheißbaum mitten aufm Scheißdorfplatz war mein Scheißbaum, mein Stützpunkt, mein Gewehr war aus Holz, aber die Treffer waren echt. In meinem Kopf waren die echt. Von dort oben hab ich echt wirklich total so alles beobachtet, die Autos, die vorbei sind, und die Busse, hab gecheckt, ob die auch pünktlich dran sind, ich, der Mittelpunkt von allem, nichts ist mir entgangen, gar nichts, alles hab ich gewusst, wann die Nachbarn weg sind und wohin, wann die fette Sladja ihren Laden aufgesperrt hat, immer zu spät dran, die Alte, faul und langsam, hat mein Vater immer gesagt, dagegen Milena aufm Fahrrad, das war schon was anderes, die schönste Frau in diesem Kaff, hätt ich gesagt, wenn mich mal einer gefragt hätt, und ich sags auch, wenn mich keiner fragt, ihre Beine haben immer so geschimmert, ob das die Haut war oder Strumpfhosen, keine Ahnung, und der Wind unter Milenas Rock, und der Rock hoch über die Schenkel, und sie die Hand drauf, grad noch so, und ich, ein dummer kleiner Scheißer, dem sie manchmal den Kopf getätschelt hat, kleiner Mann, hat Milena gesagt, kleiner Mann, was hast du denn da, kaufst du für deine Mama ein, und die Hitze über beide Ohren, bis unter die Haarspitzen, total rot angelaufen, und hab die Liste versteckt, die mit den Kennzeichen, die Liste war wichtig, zählen und aufschreiben, jeden Tag, die Liste immer weiter, nach Ländern sortieren, ordentlich, scheißordentlich, ich oben im Baum und unten die anderen, die Fremden hinter den Windschutzscheiben, die so an mir vorbei und weiter, an andere Orte, alle ein Kennzeichen, eine Nummer auf meiner Liste, und keiner wusste von der Liste, keiner. Wo die alle hinfahren, hab ich mich gefragt, wo die immer alle hin, da war ich noch nie, weil ich noch nie weiter war als im nächsten Ort, hab gedacht, dass ich da auch hinwill, und jeden Tag das gleiche Spiel, unter mir robben die Idioten vorwärts, im Staub, im Kies, im Dreck, schürfen dabei ihre Knie und Ellbogen und Beine am Boden blutig, ich, der Feldherr, brülle von oben: Vorwärts, Deckung, vorwärts, Männer, und dazwischen die Liste, die Liste nicht vergessen, die Kennzeichen zählen, ich, auf Position, der Mittelpunkt, der verdammte Mittelpunkt der Welt, und alle um mich im Kreis, ihre Scheißkreise ziehend, jeden Tag, die Nachbarn, und Milena, die schönste Frau, mit ihren schimmernden Beinen, auf dem Weg in die Arbeit, auf dem Weg nach Hause, egal, auf dem Weg, mit den Haaren im Wind, lach nur, tätschel mir den Kopf, was du willst, es war einmal Milena, hundert Jahre hab ich gewartet, dass Milenas Fahrradkette abspringt, jetzt lacht sie nicht mehr, da steht sie, direkt unter meinem Baum, und ich schau ihr zu, wie sie sich bückt und flucht und träume mich unter ihren Rock, aber bin viel zu feige, trau mich nicht runter vom Baum, um ihr zu helfen, und die alte Sladja lässt den Rollladen hochrattern und winkt Milena zu, ruft quer über die Straße, und sie winkt zurück, aber ich weiß, dass die Alte rumerzählt, was alle im Dorf rumerzählen, dass Milena es mit jedem treibt, das glaub ich aber nicht, neidisch sind die, und als ich mich endlich dranmache, vom Baum runterzuklettern, hat Milena nicht auf mich gewartet, sie ist schon weiter, schiebt ihr Rad die Straße runter und flucht und egal, die kommt wieder, alle kommen wieder, müssen an mir vorbei, die Nachbarn, die Fremden hinter ihren mit Fliegendreck gespickten Windschutzscheiben, die Busse, alle, vorbei an mir und weiter, das war mein Platz, von dort aus konnt ich alles sehen, sogar den verdammten Jesus aufm Steinkreuz, unten, an der Einfahrt zum Dorf, und ich hab Vater gefragt, ob wir auch mal von hier wegkommen, und als wir dann weg sind, hab ich die Liste mitgenommen, mein Holzgewehr dort gelassen, und ich hab Vater gefragt, ob ich irgendwann wieder ein Gewehr haben darf, dann aber eins, das richtig schießt. Vater hat gesagt, Gott ist ein Astronaut, heute behauptet er, dass der Satz nur einer mehr ist, eins von meinen Hirngespinsten, egal, ich hab nie ein neues Gewehr bekommen, und Fakt ist, das Dorf ist Geschichte. Jetzt bin ich hier, mitten im Kunstrasengrün, gepunktet mit weißen Bällchen, Dreieck-Fähnchen an dünnen Stangen, willkommen in der Disneyworld der weißen Krägen. Das Gewehr an meiner Schulter hab ich selbst bezahlt, also, kommt schon, kommt schon, kommt schon. Warum da noch keiner unterwegs ist, ist doch o. k. das Wetter, ob das stimmt, dass o. k. von zero killed kommt, egal, jetzt aber raus mit euch, geht spielen, ihr Idioten, macht euch fein, zieht eure weißen Hosen, Käppchen, Handschuhe über, schiebt eure kleinen Wägelchen über die Wiese, von Drecksloch zu Drecksloch, kommtschonkommtschon, ich langweil mich so, und da flitzt so ein kleines rotes Vieh den Baum hoch, den Ast gegenüber entlang, bleibt stehen, und sein kleines Gebiss mahlt hysterisch, der Kopf dreht sich hin und her, die puscheligen Ohren auf Empfang, und die großen schwarzen Augen schauen mich an, und ich denk mir, Zielübung, gute Zielübung, und atme ein und aus und Schuss, und weg ist es, Drecksvieh, raschelraschelraschel durch die Blätter, ist es gefallen oder gesprungen, vielleicht wars doch ein Treffer, oder auch nicht, und dann gehts los: Der erste Kandidat tritt auf, klassisches Opfer, rollert sein Wägelchen hinter sich her, von rechts nach links, ein alter Typ in Leinenhosen, Poloshirt mit aufgestelltem Kragen, Schirmkappe, die grau melierten Haare hübsch zurückgekämmt, blütenweiße Lichtgestalt aufm neongrünen Rasen, rollert er zurück von links nach rechts, weiß er nicht, wo er hinwill, nawasdennwasdenn, hast du heute Morgen Zeitung gelesen, Fettsack, unter der fetten Headline gelesen, dass der Polizeisprecher denkt, es sei kein Zusammenhang zwischen den Orten oder der Wahl der Opfer, und die Psychologin von einer destruktiven Allmachtsfantasie des Täters faselt, und 8000 bin ich ihnen wert, immerhin, das ist ausbaufähig, da kann man dran arbeiten. Da bleibt der Fettsack stehen und rührt sich nicht, als hätt er mich gehört, denn grüngrüngrün ist alles, was ich habe, grüngrüngrün ist meine liebste Farbe, warum mir das ausgerechnet jetzt einfällt, wie ich dieses Kinderlied hasse, wie alle Sätze in diesen Deutschbüchern für Anfänger, aber jetzt bin ich kein Anfänger mehr, er legt die Hand an die Hüfte, wischt sich über die Stirn, wählt einen Golfschläger und seine Position und jetzt halt still, halt still, aber der Sack schlägt nicht ab, steckt den Schläger zurück ins Täschchen, rollert weiter, bleibt stehen, kratzt sich am Arsch, richtet sich den Schwanz in der Hose zurecht, fühlt sich wie zu Hause auf dem verfickten Kunstrasen, stellt seine Schirmmütze gerade, als hätt die ein Visier, und auf gehts, Schläger, Position. Schön still halten jetzt. Ich atme ein und treffe ihn voll auf die rechte Backe, der Alte brüllt und krümmt sich zusammen, und ich krieche zurück zwischen die Blätter, falls er in meine Richtung, irgendwie, vielleicht, ja, riecht er das, wo das hergekommen sein könnte, na, tut das weh, du fette Sau, Scheiße, was für ein Treffer, was für ein, ich könnt mich kaputtlachen, aber nicht lachen, nicht das Gleichgewicht verlieren. Wenn Darko hier wäre, der hätte auch gelacht, der Idiot, wird immer langweiliger, was der hat, was der immer hat, keinen Spaß mehr, versteht keinen Spaß mehr und kapiert nicht, dass Freundschaft kein Zufall ist, dass man seine Versprechen hält, weil zwei und zwei immer fünf ergibt, und diese zwei könnten wir sein, eine Überzahl, aber Darko klinkt sich aus den Dingen aus, die wir einander versprochen haben, der denkt, ich krieg das nicht mit, dass ich nur mehr einer bin, weil er mich alleinlässt mit der ganzen Scheiße, die ich zu erledigen hab, weil einer muss ja, aber Darko, meine Zwei, glaubt, dass er einen Plan hat, und eins ist eine einsame Zahl, die verdammt einsamste Zahl der Welt, aber ich bin hier und jetzt und hab einen verdammten Scheißspaß, egal wie lang ich warten muss, um den Eintrag in die Liste machen zu können. Die Liste ist wichtig. Jetzt genug. Plastiksack über den Lauf, dann Gummiring drüberziehen, das Gewehr im Seesack über der Schulter, gut verpackt, runter vom Baum und im Zickzack über das Gelände, einen Bogen um die Gebäude machen, einen Bogen um die Kameras an den Hauptausgängen, den Kiesweg queren, vorbei an: Vorsicht bitte nicht stehen bleiben Golfball von rechts, diese idiotischen Schilder: Vorsicht bitte nicht stehen bleiben Golfball von links, damit die eine Entschuldigung haben, falls sie einem Spaziergänger, einem Jogger, einer Omi mit Schoßhund ein achtes Loch in den Schädel putten, die reichen Säcke, ich kriege Seitenstechen vom Lachen und Rennen, sprinte über scheißperfekten Rasen, schon fast neongrün in dem Licht, als wäre der radioaktiv, die Hauptausgänge meiden, also über den Zaun klettern und raus, endlich auf der anderen Seite, renn ich fast einen langen, dürren Typ um, in widerlich engen Jogginghosen, Run for your lifeaus Prinzip