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Michael Hauskeller

Was ist Kunst?

Positionen der Ästhetik
von Platon bis Danto

 

 

 

 

 

 

 

VERLAG C.H.BECK

 


 

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Zum Buch

Nie zuvor herrschte eine solche Unsicherheit wie heute hinsichtlich der Frage, welche Dinge als Kunst gelten dürfen und welche nicht. Verdutzt steht man oft im Museum und fragt sich: Soll dies wirklich Kunst sein? Offenbar wird es von manchen dafür gehalten, sonst wäre es nicht dort, aber warum? Knapp und konzis stellt Michael Hausskeller sechzehn verschiedene Theorien vor, die durch die Jahrhunderte der Frage nachgehen, was es mit der Kunst auf sich hat – von der Antike bis in die Gegenwart.

Über den Autor

Michael Hauskeller ist Professor für Philosophie an der Universität Liverpool in England. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Versuch über die Grundlagen der Moral (2001); Ich denke, aber bin ich? Phantastische Reisen durch die Philosophie (22004) und Mögliche Welten. Neue phantastische Reisen durch die Philosophie (2006).

Inhalt

Vorwort

  1. Platon

  2. Aristoteles

  3. Mittelalter

  4. Renaissance

  5. Immanuel Kant

  6. Friedrich Schiller

  7. Arthur Schopenhauer

  8. Georg Wilhelm Friedrich Hegel

  9. Karl Rosenkranz

10. Benedetto Croce

11. Walter Benjamin

12. Martin Heidegger

13. Theodor W. Adorno

14. Nelson Goodman

15. Jean-François Lyotard

16. Arthur C. Danto

Anmerkungen

Vorwort

Die sechzehn nachfolgenden Essays erschienen erstmals von Juli 1997 bis Januar 1998 in der Frankfurter Rundschau. Initiator des Projekts war der Chef des Feuilletons Peter Iden, der sich im April 1997 mit dem Vorschlag an mich wandte, jeweils auf zwei Zeitungsspalten in allgemeinverständlicher Sprache und doch philosophisch anspruchsvoll die wichtigsten Positionen der Ästhetik von den Anfängen bis heute darzustellen. Die Idee erschien mir heikel, aber reizvoll, und ich sagte zu.

Das erste Problem bestand in der zu treffenden Auswahl. Es hat natürlich während der letzten zweieinhalb Jahrtausende weit mehr als sechzehn verschiedene Theorien über Kunst gegeben. Sie alle vorzustellen war nicht möglich, und sicher wird man den ein oder anderen Autor vermissen. Beabsichtigt war, wenigstens die einflußreichsten, interessantesten und repräsentativsten Kunsttheorien in die Reihe aufzunehmen und dabei einen Eindruck von der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten zu vermitteln. Doch hätte man zweifellos auch anders entscheiden können.

Ein weiteres Problem, aber auch eine Herausforderung, war die durch das Zeitungsmedium erforderte Knappheit der Darstellung verbunden mit dem Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit. Die betreffenden Theorien sind meist derart komplex und beruhen auf so vielen Voraussetzungen, daß es beinahe unmöglich schien, ihnen auf wenigen Seiten auch nur annähernd gerecht zu werden. Unter solchen Bedingungen konnte es nur einen Weg geben, Oberflächlichkeit zu vermeiden: Jede philosophische Theorie besitzt einen Kern, einen Grundgedanken, den sie entfaltet. Wenn es gelingt, diesen Gedanken zu finden und zu verstehen, fügen sich mit einem Mal die verschiedenen Aspekte der Theorie zusammen. Ich habe mich also darum bemüht, diesen philosophischen Kern von seinen wortreichen Schalen zu befreien, um von dort aus das jeweilige Kunstverständnis begreiflich zu machen. Daß bei solcher Vorgehensweise manche Feinheiten des Denkens unberücksichtigt bleiben mußten, war nicht zu vermeiden. Daher sollte der Leser, wenn ihm eine in diesem Buch dargelegte Position etwa schlecht begründet oder gar völlig abwegig erscheint, sich stets daran erinnern, daß hieran auch die Darstellung schuld sein könnte, und, bevor er zur Verdammung schreitet, den Originaltext zu Rate ziehen.

Allerdings habe ich mich selbst weitgehend der Kritik enthalten, um die Objektivität der Darstellung nicht unnötig zu gefährden. Wer angemessen kritisieren will, muß zunächst verstehen, und das ist schwer genug.

1. Platon

„Wenn es etwas gibt, wofür zu leben lohnt, dann ist es die Betrachtung des Schönen.“[1] – Kein Philosoph des Altertums hat der Schönheit eine solche Bedeutung beigemessen wie Platon (427–347 v. Chr.) und zugleich so entschieden das verurteilt, was später schöne Kunst genannt wurde. Dabei soll Platon seine Laufbahn selber als Tragödiendichter begonnen haben, und vielleicht hätte er es auf diesem Gebiet zu einigem Ruhm gebracht, hätte ihn nicht die Begegnung mit Sokrates dazu veranlaßt, seine dichterischen Bestrebungen aufzugeben und sich statt dessen der Suche nach Wahrheit zu widmen. Denn was immer es für ihn in der Kunst zu finden gab: Wahrheit gehörte nicht dazu.

Nicht daß die zeitgenössische Kunst es nicht verstanden hätte, Gestalten und Vorkommnisse der realen Welt mit bewundernswürdiger Genauigkeit wiederzugeben. Von dem Maler Zeuxis erzählte man sich, daß er einmal Weintrauben so realistisch gemalt habe, daß die Vögel in Scharen angeflogen kamen, um sie aufzupicken. Nur läßt sich nicht sagen, daß Zeuxis’ Darstellung deshalb wahrer gewesen sei als eine, von der sich die Vögel nicht hätten täuschen lassen. Allenfalls war sie richtiger, denn Wahrheit hat nach Platon nichts mit Ähnlichkeit oder Übereinstimmung zu tun, sondern mit dem Seinsgehalt einer Sache. Das klingt zunächst merkwürdig, weil wir daran gewöhnt sind, „Sein“ für etwas zu halten, das einer Sache entweder zukommt oder nicht zukommt: Entweder es gibt Zentauren oder es gibt sie nicht. Für Platon aber sind Dinge nicht einfach nur, sondern manches ist mehr, anderes weniger, und je mehr etwas ist, desto wahrer ist es auch. Im vollkommenen Sinne wahr ist nur das, was auch in höchstem Maße ist. Das aber kann nach gemeingriechischem Verständnis nur etwas gänzlich Unveränderliches und Unvergängliches sein, ein Immergleichseiendes. Da nun aber alles, was uns in dieser Welt begegnet, der Zeit unterworfen ist, scheint es nichts zu geben, das sich immer gleich bleibt, und nichts, das nicht irgendwann zugrundegeht. Kaum ist etwas, so ist es auch schon nicht mehr. Wenn den Dingen überhaupt eine gewisse Existenz zukommt, dann nur, weil jedes von ihnen ein ganz bestimmtes, wiedererkennbares Wesen besitzt, eine ihm eigentümliche Gestalt, ohne welche die Welt für uns statt aus Häusern, Stühlen, Menschen, Bäumen usw. nur aus einem buchstäblich unvorstellbaren Chaos sukzessiver Eindrücke bestünde. Diese Wesensgestalten sind aber, auch wenn sie in die zeitlichen Dinge eingehen, selber unzeitlich. Jeder einzelne Baum etwa kann und wird irgendwann zugrundegehen, aber das, was ihn allererst zu einem Baum macht, seine Baumhaftigkeit, wird in einem anderen Baum weiterleben. Selbst wenn es eines Tages überhaupt keine Bäume mehr geben sollte, wird deren Wesen – das, was Platon die Idee des Baumes nennen würde – weiterhin bestehen, weil es von dem Untergang der Einzeldinge überhaupt nicht betroffen wird. Das hat nichts damit zu tun, daß Bäume auch dann noch vom Menschen gedacht werden könnten. Ideen sind für Platon keine bloßen Vorstellungsinhalte, sondern vielmehr so etwas wie die ewigen Urbilder alles Seienden, ohne die es die uns bekannte, sinnlich erfahrbare Welt gar nicht gäbe. Sie sind der feste Formenbestand, aus dem sich diese Welt generiert; sie bringen Ordnung in die ständigen Veränderungen und gewährleisten so eine gewisse Konstanz. Vor allem aber sind sie das, was allein in vollem Sinne wirklich und wahr ist.

Wie steht es nun unter solchen Voraussetzungen mit dem Wahrheitsgehalt der Kunst? Platon unterscheidet zwei Arten von Künstlern: erstens solche, die schöpferisch etwas herstellen wie etwa die Baumeister, Tischler und Wagenbauer, und zweitens solche, die sich auf die Darstellung oder Nachahmung (mímesis) des bereits Bestehenden beschränken wie etwa die Maler, Bildhauer und Dichter.[2] Erstere stehen der Wahrheit näher als letztere. Während jene nämlich immerhin noch die Ideen, die sie in ihrem Geist vorfinden, unmittelbar in einen einzelnen, konkreten Gegenstand umsetzen, schaffen diese bloß ein Abbild solcher Gegenstände. Sie sind „Nachahmer“ des sichtbar Gegebenen. Wenn der Zimmermann einen Stuhl herstellt, orientiert er sich an der Idee des Stuhles; wenn der Maler hingegen mit Hilfe seiner Farben einen Stuhl herstellt, so schaut er schon nicht mehr auf die Idee, sondern auf das Werk des Zimmermanns: er schafft so ein Bild zweiter Ordnung, gewissermaßen das Bild eines Bildes, weil er nicht mehr das Seiende nachbildet, sondern nur noch das Erscheinende. Der Maler entfernt sich so um noch eine weitere Stufe von der Wahrheit. Daran ändert sich auch nichts, wenn er statt eines vom Menschen gemachten Gegenstandes irgendeinen Naturgegenstand abbildet, da auch dieser nur wechselhafte Erscheinung ist und somit nicht das eigentlich Seiende, die Idee. Um zur Wahrheit zu gelangen, muß man alle Erscheinung hinter sich lassen und darf nicht, wie es der nachahmende Künstler tut, die Erscheinung durch eine Art Spiegelung noch verdoppeln. Mehr als das kann der Künstler aber nicht tun, da die Idee zwar intellektuell geschaut werden kann, aber sich aufgrund ihrer wesentlichen Allgemeinheit nicht sinnlich darstellen läßt. Die nachahmende Kunst kann somit niemals mehr sein als gleichsam „der Schatten eines Traums“.

Nicht einmal die unbestreitbare Tatsache, daß ihre Werke schön sind, kann die Kunst für sich geltend machen, obwohl Platon keineswegs der Meinung war, daß die Schönheit – die er als Maß, Proportion und Harmonie verstand – gering zu achten sei.[3] Im Gegenteil ist es gerade die Erfahrung von Schönheit, die einen Menschen nach der ewigen Wahrheit der Ideen streben läßt. Denn in allen Erscheinungen ist es allein die Schönheit, die unsere Liebe erweckt. Was immer wir liebend begehren, erscheint uns als etwas Schönes. Wäre die uns sinnlich begegnende Welt gänzlich ohne Schönheit, ließe sie uns gleichgültig. Entsprechendes gilt für die ewigen Wahrheiten: wären die Ideen frei von Schönheit, gäbe es keinen Anlaß, sie erkennen zu wollen. Die Schönheit der sinnlichen Welt ist freilich nur ein schwacher Abglanz der ewigen Schönheit, jener Idee, an der alle schönen Dinge teilhaben. Dieses „Schöne selbst“ nimmt unter den Ideen eine Sonderstellung ein, weil es mit seinem Glanz in die sinnlich erfahrbare Welt hinüberstrahlt und auf diese Weise eine Brücke bildet zwischen dem Reich der Erscheinung und dem der Ideen. Denn mehr als alles andere weist das erscheinende Schöne über sich hinaus: es ist das „Hervorscheinendste“,[4] weil es dem Menschen am deutlichsten die Herrlichkeit der urbildlichen Wahrheit zu Bewußtsein bringt und so in ihm eine starke Sehnsucht danach erweckt. Das sinnliche Schöne zieht an, kann und soll dabei aber zugleich als ungenügend in Erscheinung treten, nämlich als Abbild einer höheren Schönheit, die anzuschauen noch herrlicher zu sein verspricht. Denn schöner als die Schönheit der Körper ist die Schönheit der Seelen, noch schöner sind Gerechtigkeit, Besonnenheit und die übrigen Tugenden, durch welche die Seelen erst schön werden, und noch schöner ist die klare Erkenntnis all dessen, die Schau der Urbilder jener Tugenden. Am schönsten aber ist die Idee des Schönen selbst, die mit der Idee des Guten zusammenfällt und laut Platon die höchste Wahrheit darstellt.[5] So sind das Schöne, Wahre und Gute letztlich ein und dasselbe.

Der hohe Rang, den Platon der Schönheit zuerkennt, ändert allerdings nichts an seiner Geringschätzung der nachahmenden Künste. Grund hierfür ist die Ambivalenz der sinnlichen Schönheit, die zwar die Sehnsucht nach Höherem, den Eros der Wahrheit, erwecken kann, dies aber keineswegs muß, da sie viele Menschen auch unmittelbar zu befriedigen und ihr Begehren zu stillen vermag. Wie die Schönheit wirkt, hängt sehr davon ab, auf wen sie wirkt. Ein und derselbe schöne Körper kann beim einen scheue Bewunderung und damit die Bereitschaft zur reflexiven Betrachtung erregen, während er beim anderen bloß ungezügelte Gier entfacht. Doch sind auch die schönen Gegenstände nicht alle gleich. Manche fördern eher die Hinwendung zu einer höheren Schönheit, andere hingegen reizen eher die körperlichen Begierden. Ein saftiger Braten lädt (den Nichtvegetarier) zur Einverleibung ein, kaum aber zur Kontemplation und Überschreitung des nur Sinnlichen. Der Kunst wirft Platon vor, daß sie gerade dieser Tendenz, im Sinnlich-Körperlichen zu verharren, zuarbeitet. Zunächst beschränkt sie sich weitgehend auf die Produktion schöner Töne, Farben und Gestalten und erweckt so den Eindruck, als sei diese rein sinnliche Schönheit die eigentliche und als gäbe es nichts Höheres. In der Kunst erhält das Sinnliche und seine Schönheit einen Rang, der ihm nicht zusteht. Darüber hinaus ist es zumeist das Ziel der Kunst, die Sinne und Leidenschaften des Betrachters oder Zuhörers zu erregen, und das heißt, die Herrschaft der Vernunft zu unterwandern und so die rechte Ordnung der Seele zu zerstören. Da in dieser Ordnung aber die Schönheit der Seele besteht, vernichtet die Kunst paradoxerweise gerade durch ihre übergroße Schönheit eine andere, höhere Schönheit. Wenn die Kunst überhaupt irgendeine Berechtigung haben soll, muß sie sich in den Dienst des Guten stellen lassen. Das heißt, sie muß, wenn sie schon nicht die Wahrheit der Ideen darzustellen vermag, wenigstens eine erzieherische, seelenbildnerische Funktion übernehmen. Nur einer Kunst, die die Menschen lehrt, ihre Leidenschaften zu kontrollieren, tugendhaft zu leben und der Wahrheit nachzustreben, kommt ein gewisser Wert zu. Denn letztlich gibt es für den Menschen nur eine einzige Kunst, derer er wirklich bedarf, und das ist die Kunst des rechten Lebens, so daß alles, was nicht zum Erlernen dieser Kunst beiträgt, überflüssig oder gar verderblich ist.

2. Aristoteles

Weil die Kunst den Betrachter von der Wahrheit ablenke, gestand ihr Platon, seiner eigenen unverkennbaren dichterischen Begabung zum Trotz, nur wenig Wert zu. Doch ließ der Widerspruch nicht lange auf sich warten. Schon Platons eigenwilliger Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte die erste systematische Literaturtheorie und legte damit den Grund für ein reflektiertes künstlerisches Selbstbewußtsein. Zwar äußerte sich Aristoteles vornehmlich zur Dichtung, und da vor allem zur Tragödie, doch lassen sich viele seiner Überlegungen unschwer auf die übrigen Künste übertragen.[6]

Wie Platon versteht auch Aristoteles die künstlerische Tätigkeit als Darstellung oder Nachahmung (mímesis), doch erhält der Begriff bei ihm eine positive Bedeutung. Ermöglicht wird dies zunächst durch die Preisgabe des platonischen Wahrheitsidealismus. Die sinnlich-gegenständliche Welt gilt Aristoteles nicht mehr als flüchtiges und daher seinsvermindertes Abbild einer von ihr getrennten, eigenständigen Ideenwelt. Vielmehr existieren die Ideen, das heißt die Formen der Wirklichkeit, nunmehr allein in der Wirklichkeit, haben also keinerlei transzendente Realität. Ebensowenig wie es einen ungeformten Stoff gibt, gibt es vom Stoff getrennte Formen. Alles, was ist, ist eine Einheit von Stoff und Form, die sich nur gedanklich, nicht aber real zergliedern läßt. Daher macht es auch keinen Sinn zu sagen, die Erscheinungswelt habe weniger Sein als die Formen und ahme diese nur in unvollkommener Weise nach. Platons Vorwurf, der Künstler schaffe nur Abbilder einer bloßen Scheinwirklichkeit, wird damit hinfällig. Dies gilt um so mehr, als der Gegenstand der künstlerischen Nachahmung gar nicht, wie Platon meinte, die erscheinende Realität selbst ist, also etwas tatsächlich in Raum und Zeit Existierendes. Aufgabe des Dichters ist es nämlich nicht, „mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte“.[7