Ruud Koopmans
Das verfallene Haus
des Islam
Die religiösen Ursachen
von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt
C.H.Beck
Das «Haus des Islam» ist vielerorts zum Haus von Krieg, Terror, wirtschaftlicher Stagnation und Diktatur geworden. In seiner bahnbrechenden Analyse dieser desolaten Lage setzt der renommierte Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans harte Fakten gegen islamkritische Pauschalurteile und eine modische Selbstkritik des Westens. Er zeigt, wie der Fundamentalismus den Islam weltweit in den Würgegriff nimmt, und fragt, welche Wege aus dieser Sackgasse führen.
Immer mehr Muslime fliehen vor Diktatur und Unfreiheit, Terror und Krieg, Armut und Arbeitslosigkeit in den Westen – und bringen nicht nur ihre Kultur, sondern vielfach auch die Probleme der islamischen Welt mit. Ruud Koopmans zeigt erstmals auf breiter empirischer Grundlage und durch den systematischen Vergleich von muslimischen und nichtmuslimischen Ländern und Migrantengruppen, wie die islamische Welt einerseits und Muslime im Westen andererseits bezüglich Demokratie, Bildung und wirtschaftlicher Lage immer weiter ins Hintertreffen geraten. Er schildert, wie der real existierende Islam seit rund vierzig Jahren zunehmend von fundamentalistischen Strömungen beherrscht wird, die die Rechte der Frauen einschränken, Homosexuelle und andere Minderheiten verfolgen, säkulare Bildung bekämpfen und sich von Nichtmuslimen abkapseln. Am Ende seines erhellenden Buches macht Koopmans deutlich, dass sich die Hoffnung vieler Muslime auf Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand nur durch eine konsequente Zurückdrängung des Islamismus erfüllen kann.
Ruud Koopmans ist Direktor der Abteilung «Migration, Integration, Transnationalisierung» am Wissenschaftszentrum Berlin sowie Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er gehört zu den meistzitierten europäischen Sozialwissenschaftlern und ist einem breiten Publikum durch regelmäßige Beiträge in großen Zeitungen und Fernsehauftritte bekannt.
Vorwort
1.: Im Bann des Fundamentalismus
Vergangener Ruhm
Das Jahr 1979
Was ist Fundamentalismus?
Der real existierende Islam
Religiöse oder andere Ursachen?
2.: Warum ist die Demokratisierung an der islamischen Welt vorbeigegangen?
Zwei Ferienparadiese
Freiheit und Demokratie im internationalen Vergleich
Ein arabisches oder ein islamisches Demokratiedefizit?
Is it the economy, stupid?
Der Fluch des Öls
Das Erbe der kolonialen Vergangenheit
Die Puzzleteile zusammengefügt
3.: Die religiösen Wurzeln der Unfreiheit
Die Erben von Britisch-Indien
Diskriminierung religiöser Minderheiten
Der Islam als Rechtsquelle
Islamische Apartheid: die Position der Frauen
Tödliche Liebe: Verfolgung von Homosexuellen
Der Schleier der Unwissenheit
4.:Die islamischen Religionskriege
Wie eine Miss-Wahl furchtbar außer Kontrolle geriet
Ein Kampf der Kulturen?
Die blutigen Grenzen und das blutende Herz des Islam
Terror im Namen des Islam
Leugnungsthesen
Verschwörungstheorien
Ursachen
5.: Die wirtschaftliche Stagnation der islamischen Welt
Religiöse Ursachen für den wirtschaftlichen Niedergang
Wirtschaftstiger und islamische Nachzügler
Demokratie und Wirtschaftswachstum
Das Volk des einen Buches
Die andere Hälfte
6.: Die schwierige Integration muslimischer Migranten
Die Probleme der islamischen Welt im Kleinformat
Der eine Libanese ist der andere nicht
Schlusslichter der Integration
Diskriminierung oder Kultur?
Gewalt gegen Juden, Homosexuelle und Frauen
7.: Kann sich der Islam vom Fundamentalismus befreien?
Alles-oder-Nichts-Denken
Die religiösen Wurzeln der islamischen Krise: drei Kernprobleme
Der irreführende Diskurs der Islamophobie
Der israelisch-palästinensische Konflikt
Die Entfundamentalisierung des Islam
Für eine Reformbewegung im Islam
Anmerkungen
1. Im Bann des Fundamentalismus
2. Warum ist die Demokratisierung an der islamischen Welt vorbeigegangen?
3. Die religiösen Wurzeln der Unfreiheit
4. Die islamischen Religionskriege
5. Die wirtschaftliche Stagnation der islamischen Welt
6. Die schwierige Integration muslimischer Migranten
7. Kann sich der Islam vom Fundamentalismus befreien?
Bildnachweis
Literatur
Personenregister
Sachregister
Um es gleich vorwegzunehmen: Dieses Buch ist islamkritisch, aber nicht islamfeindlich. Jeder, der nicht zwischen Kritik an einer Religion – oder besser gesagt: an ihrer derzeit dominierenden Interpretation – und Rassismus unterscheiden kann, sollte dieses Buch beiseitelegen. Dasselbe gilt für diejenigen, die glauben, dass der desolate Zustand, in dem sich die islamische Welt befindet, auf unveränderliche Merkmale des Islam zurückzuführen ist. Wie bei anderen Religionen gibt es auch bei den heiligen Schriften des Islam viele Auslegungsmöglichkeiten. Eine dieser Interpretationen ist, dass alles, was darin steht, wörtlich genommen werden sollte und im einundzwanzigsten Jahrhundert genauso anwendbar ist wie vor fast anderthalb Jahrtausenden. Wir nennen diese Interpretation Fundamentalismus, und sie findet sich auch in anderen Religionen. Nicht der Islam, sondern seine fundamentalistische Interpretation ist die Wurzel der Krise, in die die islamische Welt in den letzten fünfzig Jahren immer tiefer gesunken ist. Diejenigen, die glauben, dass die fundamentalistische Interpretation des Islam die einzig mögliche ist und den «wahren» Islam darstellt, verkünden tatsächlich die gleiche Botschaft wie die Fundamentalisten. Die öffentliche Debatte über den Islam ist inzwischen so polarisiert, dass ich mit diesen beiden Gruppen möglicherweise einen erheblichen Teil meiner potentiellen Leserschaft ausschließe. Ich hoffe jedoch, dass es zwischen den Extremen genügend Muslime und Nicht-Muslime gibt, die in der öffentlichen Debatte vielleicht nicht so lautstark sind, die aber wohl bereit sind, sich kritisch mit den religiösen Ursachen der Missstände in der islamischen Welt auseinanderzusetzen, ohne sofort eine ganze Religion mit weltweit etwa anderthalb Milliarden Anhängern ins Abseits zu stellen.
Es gibt mehrere Gründe, warum ich den Drang verspürte, dieses Buch zu schreiben. Der direkteste davon ist meine Forschung als Soziologe über die Schwierigkeiten bei der Integration von Migrantengruppen, die aus islamischen Ländern wie der Türkei, Marokko und Pakistan nach Westeuropa eingewandert sind. Obwohl viele Integrationsforscher nach wie vor behaupten, dass Kultur und Religion für den Erfolg der Integration irrelevant seien, bin ich auf der Grundlage meiner und anderer Forschungen – die ich in Kapitel 6 dieses Buches diskutiere – zu einem anderen Schluss gekommen. Viele der Hindernisse für eine erfolgreiche Integration muslimischer Migranten hängen mit der Religion zusammen. Dies gilt beispielsweise für die konservative Sicht auf die Rolle der Frau, die damit verbundenen relativ großen Familien und die geringe Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen sowie für den hohen Grad der sozialen Segregation der Muslime, die im Vergleich zu anderen Migrantengruppen stark auf ihre eigene Gruppe ausgerichtet sind. Das hat mich neugierig gemacht zu untersuchen, ob religiöse Faktoren auch dazu beitragen können, den Mangel an Demokratie und Wohlstand sowie das Übermaß an Gewalt in der islamischen Welt zu erklären. Genau das sind nämlich die Gründe, warum so viele Muslime ihr Herkunftsland verlassen haben.
Aber es gibt auch persönlichere Gründe für mein Interesse an diesem Thema, beispielsweise meine eigenen Erfahrungen mit religiösem Fundamentalismus christlicher Natur. Als ich etwa sechs Jahre alt war, wurden meine Eltern Mitglieder einer charismatischen Pfingstgemeinde. Glücklicherweise waren sie selbst nicht so streng in der Lehre, aber es gab dort nicht wenige Fanatiker, die den «teuflischen» Fernseher aus ihren Wohnungen verbannten, den Kontakt zu Andersdenkenden radikal abbrachen und die Welt in einem «Endkampf» zwischen den Anhängern des «wahren» Christentums und den Kräften des Bösen sahen. Diese Endkämpfer pflegten eine tiefe Liebe zum Staat Israel, denn nach den neutestamentlichen Offenbarungen des Johannes wird der entscheidende Kampf zwischen den Armeen Jesu und denen des Bösen in Jerusalem stattfinden. Diese Gedankenwelt weist auffallende Ähnlichkeiten mit der vieler islamischer Dschihadisten auf, die ebenfalls glauben, dass das Ende der Zeiten nahe ist und dass die Apotheose in ‹al Quds› (der arabische Name für Jerusalem) stattfinden wird.
Meine Reisen haben mich in den letzten Jahrzehnten in viele islamische Länder geführt, vom Senegal bis Indonesien. In einige dieser Länder, wie Marokko, Ägypten und die Türkei (wo meine Frau herkommt), bin ich im Laufe der Zeit mehrmals zurückgekehrt. Ich denke, jeder, der die Länder der islamischen Welt über einen längeren Zeitraum beobachtet hat, kann meinen Eindruck bestätigen: Es hat sich dort seit den 1970er-Jahren viel verändert, und das meiste davon nicht zum Besseren. Kulturell und religiös gesehen waren Städte wie Istanbul, Kairo und Karatschi vor vierzig Jahren fortschrittlicher, toleranter und weltoffener. Dies galt natürlich besonders für die relativ kleine städtische Mittelschicht. In den ärmeren Stadtteilen und auf dem Land herrschte ein traditionellerer und religiöser Lebensstil. Aber der religiöse Fanatismus und die Intoleranz, die heute in vielen islamischen Ländern herrschen, waren damals nicht so spürbar.
Mein vielleicht stärkstes Motiv, dieses Buch zu schreiben, ist das große Desinteresse an der erschütternden Unterdrückung von religiösen Minderheiten, Glaubensabtrünnigen und Atheisten, Frauen und Homosexuellen in der islamischen Welt, die manchmal auch einfach geleugnet wird. Eines der politischen Ereignisse, das mich am meisten beeindruckte, war der Empfang Nelson Mandelas am Leidseplein in Amsterdam am 16. Juni 1990, wenige Monate nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis auf Robben Island. Zusammen mit etwa 20.000 anderen stand ich da, mit Tränen in den Augen. Überall in Europa, und nicht zuletzt in den Niederlanden, waren in den 1970er- und 1980er-Jahren in großer Zahl Menschen auf die Straße gegangen, um gegen das Apartheidsregime zu demonstrieren. Viele boykottierten südafrikanische Produkte wie Outspan-Orangen und Unternehmen wie Shell, die mit Südafrika Geschäfte machten. Südafrikanische Mannschaften durften nicht an internationalen Sportwettbewerben teilnehmen, und viele westliche Universitäten hatten ihre Verbindungen zu Südafrika abgebrochen. Schließlich half dieser Druck, das Apartheidsregime in die Knie zu zwingen.
Im Vergleich dazu bleibt es erstaunlich still, wenn es um die Solidarität mit den Opfern der islamischen Apartheid geht, die in den meisten islamischen Ländern Frauen im Namen der Scharia zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, minderjährige Mädchen in Ehen zwingt, Männern erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten und sich per SMS von ihnen zu scheiden, Frauen das Sorgerecht für ihre Kinder nach einer Ehescheidung entzieht und sie in einigen Ländern sogar nach einer Vergewaltigung wegen «außerehelichen Geschlechtsverkehrs» ermordet oder inhaftiert. Homosexualität wird in elf islamischen Ländern mit dem Tod bestraft, und allein der Iran hat diese Strafe Hunderte Male vollstreckt. Religiöse Minderheiten wie Christen, Jesiden und Atheisten, aber auch islamische Minderheiten wie die Ahmadiyya werden in islamischen Ländern verfolgt, und Vorwürfe der Blasphemie haben viele von ihnen das Leben gekostet. Während die westlichen Länder kulturell immer vielfältiger werden, auch durch die Einwanderung von Muslimen, verwandelt die religiöse Säuberung die islamische Welt zunehmend in eine homogene kulturelle Wüste, in der nur eine Wahrheit ein Existenzrecht hat. Aber anders als im letzten Jahrhundert im Fall des südafrikanischen Apartheidsregimes oder der Menschenrechtsverletzungen in El Salvador, Chile oder Vietnam wird das Leid in der islamischen Welt geleugnet oder ignoriert. Keine westliche Universität ist auf die Idee gekommen, Kontakte zu Saudi-Arabien, dem Iran oder Pakistan abzubrechen. In Katar werden wir 2022 die Fußballweltmeisterschaft feiern, und viele Top-Vereine werden von den Golfstaaten gesponsert. Niemand geht auf die Straße, um gegen die Unterdrückung von Frauen, Homosexuellen und religiösen Minderheiten in der islamischen Welt zu protestieren. Im Gegenteil, wer dies ausdrücklich thematisiert – auch wenn es sich um Menschen handelt, die selbst aus der islamischen Welt kommen und sehr wohl wissen, wovon sie sprechen –, läuft Gefahr, als islamophob oder Nestbeschmutzer an den Pranger gestellt zu werden. Ich möchte mit diesem Buch dazu beitragen, dieses Schweigen zu brechen.
Für ihre konstruktiven Kommentare danke ich Ines Michalowski, Paul Scheffer, Odile Verhaar und Frank de Zwart. Obwohl sie alle nur einen kleinen Teil des Manuskripts gelesen haben, habe ich auch in anderen Kapiteln sehr von ihrem scharfsinnigen Rat profitiert. Besonders für das Schlusskapitel waren mir die Vorschläge der Mitglieder meiner Abteilung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) eine große Hilfe. Jeyhun Alizade danke ich für seine augezeichnete Hilfe beim Zusammentragen der in diesem Buch verwendeten internationalen Daten. Für seine höchst professionelle Begleitung und hilfreiche inhaltliche Hinweise und Vorschläge möchte ich mich bei meinem Lektor vom Verlag C.H.Beck, Ulrich Nolte, bedanken. Der größte Dank gebührt meiner Frau Dilek Kurban. Mit ihr habe ich fast alles, was in diesem Buch behandelt wird, ausführlich besprochen. Sie ist meine Inspiration und der Maßstab, an dem ich mich messe.
Ich möchte dieses Buch meiner Mutter Mart Porsinck widmen. Mit 84 Jahren verfolgt sie die politischen Entwicklungen immer noch aufmerksam, und wir sprechen oft über die Themen, über die ich schreibe. Sie hat den religiösen Fundamentalismus längst hinter sich gelassen, aber ihr Glaube hat sich dadurch nicht verringert. Das ist es, was ich auch der islamischen Welt wünsche.
Berlin, im November 2019 |
Ruud Koopmans |
1.
Während Europa nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches stagnierte, erlebte die islamische Welt einen beispiellosen Aufschwung. In etwas mehr als einem Jahrhundert nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 eroberten die muslimischen Armeen des Kalifats der Umayyaden ein Gebiet, das sich von der Iberischen Halbinsel im Westen bis nach Pakistan im Osten erstreckte. Als 1492 mit Granada im Westen die letzte islamische Hochburg in Spanien fiel, waren die türkischen Osmanen im östlichen Mittelmeer und in der islamischen Welt zur dominierenden Macht geworden. 1453 hatten sie Konstantinopel, die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches und nach Rom die wichtigste Stadt des Christentums, erobert. In den folgenden Jahrhunderten nahmen sie große Teile des Balkans und der Schwarzmeerregion ein und belagerten zweimal Wien (1529 und 1683).
Nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und auf dem Gebiet der Wissenschaft blieb die muslimische Welt in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz keineswegs hinter dem Westen zurück. Im Gegenteil, es waren islamische Gelehrte in Städten wie Córdoba, Alexandria und Bagdad, die einen großen Teil des Wissens der griechischen und römischen Antike für die Nachwelt bewahrten und unter anderem wichtige Grundlagen für die moderne Medizin und Mathematik legten.[1] Da es für die damalige Zeit keine Wirtschaftsstatistiken gibt, gilt der Urbanisierungsgrad als der beste Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung. Städte können nur wachsen, wenn auf dem Land ein wirtschaftlicher Überschuss produziert wird, mit dem die städtische Bevölkerung und zentrale politische und militärische Institutionen ernährt und finanziert werden können. Darüber hinaus sind Städte ein Maß dafür, inwieweit Handel betrieben wurde.[2] Nach diesem Standard war die islamische Welt dem christlichen Europa um das Jahr 800 weit voraus. Bagdad, die Hauptstadt des Abbasidenkalifats, war mit Abstand die größte Stadt Europas, Nordafrikas und des Nahen Ostens, und von den acht größten Städten in diesem Gebiet lagen sieben im islamischen Einflussbereich – nur Konstantinopel konnte in der Größe mit den islamischen Metropolen konkurrieren. Danach deutet aber alles auf einen stetigen wirtschaftlichen Niedergang der islamischen Welt hin: Während im Jahr 800 zwölf der zwanzig größten Städte islamisch waren, galt dies 1300 nur für acht und 1800 für drei (Kairo, Tunis und Istanbul). Der wirtschaftliche Schwerpunkt hatte sich zunächst nach Italien und dann nach Nordwesteuropa verlagert.[3]
Mit der Industriellen Revolution distanzierte sich Westeuropa weiter vom Osmanischen Reich, das im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts immer weiter schrumpfte und nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg völlig auseinanderfiel. Große Teile der islamischen Welt standen nun unter westlicher Kolonialherrschaft. Die Franzosen kontrollierten Nord- und Westafrika, Syrien und den Libanon, die Briten Ägypten, den Irak, Palästina, den Jemen, Malaysia, das heutige Pakistan und Bangladesch, und die Niederlande mit Indonesien das bevölkerungsreichste islamische Land. Von dem riesigen Osmanischen Reich blieb nur die heutige Türkei übrig.
Wie konnte eine Zivilisation, die in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz so fortschrittlich war, so weit zurückfallen? Die anfängliche Blüte der islamischen Welt und ihr damaliger Vorsprung vor dem Westen werden oft als Argument angeführt, warum die Ursachen für die spätere Krise der islamischen Welt nicht religiöser Natur sein können. Denn sonst hätte die islamische Welt anfänglich nicht so erfolgreich sein können. Das mag auf den ersten Blick überzeugend klingen, übersieht aber die Tatsache, dass Ideologien und soziale Institutionen, die in einem bestimmten weltgeschichtlichen Kontext effizient und vielleicht sogar fortschrittlich waren, dies nur bleiben können, wenn sie auch die Fähigkeit haben, sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Nehmen wir das Beispiel des sowjetischen kommunistischen Gesellschaftssystems. Unter der Führung von Lenin und Stalin schien die Sowjetunion jahrzehntelang ein Erfolgsmodell zu sein, das höhere Wachstumsraten aufwies als die westlichen kapitalistischen Volkswirtschaften, das Nazideutschland in die Knie zwang und Osteuropa in seinen Einflussbereich brachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg übertraf das Land für einige Zeit den Westen auch technologisch und schickte als erstes einen Satelliten (den Sputnik) und einen Menschen (Juri Gagarin) ins All. Aber trotz dieses anfänglichen Erfolgs war die zentral verwaltete Planwirtschaft auch die Ursache für den späteren Niedergang der kommunistischen Wirtschaft. Die Planwirtschaft war kurzfristig in der Lage, die Industrialisierung der Sowjetunion schneller voranzutreiben, als es unter einer kapitalistischen Marktwirtschaft möglich gewesen wäre, aber das starre, hierarchische System war später nicht in der Lage, auf sich ändernde Umstände der Weltwirtschaft adäquat zu reagieren.
Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von der Differenz zwischen «statischer Effizienz» – einem Organisations- oder Gesellschaftsmodell, das im Kontext eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit funktioniert – und «dynamischer Effizienz» – einem Modell, das sich erfolgreich an veränderte Bedingungen anpassen kann.[4] Dynamisch effiziente Systeme bieten nicht immer die effizienteste Lösung zu einem bestimmten Zeitpunkt – zum Beispiel dauert die Entscheidungsfindung in einer Demokratie länger als in einer Diktatur –, aber auf Dauer werden sie statisch effiziente Systeme hinter sich lassen. Längerfristig sind individuelle Kreativität, Wettbewerb und Wahlfreiheit von großer Bedeutung für die technologische Innovation, und bei deren Abwesenheit stagnierten die zunächst so erfolgreich erscheinenden kommunistischen Volkswirtschaften. So blieben der Trabant und der Lada technologisch in den 1950er-Jahren stecken, während sich der Rest der Welt – nicht nur in der Automobilindustrie – weiterentwickelte. Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungswirtschaft wussten die kommunistischen Planer noch weniger anzufangen. Michail Gorbatschow versuchte, das System mit Glasnost und Perestroika dynamischer zu machen, aber da war es bereits zu spät.
Der zeitgenössische Islam ist der Trabant, oder, respektvoller gesagt, der Sputnik unter den Weltreligionen: eine gute und erfolgreiche Idee zum Zeitpunkt seiner Lancierung, die aber inzwischen aus Mangel an Anpassungsfähigkeit hoffnungslos zurückgefallen ist. In seinen frühen Tagen brachte der Islam eine Reihe von Vorteilen mit sich, die ihn positiv vom damaligen christlichen Westen unterschieden. Durch die Bekehrung zum Islam konnten unterworfene Völker gleichberechtigte Bürger werden, Christen und Juden hatten zwar einen Status zweiter Klasse, aber genossen immerhin wichtige Rechte und Freiheiten, von denen Muslime und Juden in der christlichen Welt nur träumen konnten. Man denke zum Beispiel an den Kontrast zwischen dem für damalige Verhältnisse religiös toleranten islamischen Al-Andalus und der anschließenden spanischen Inquisition, die allen Juden und Muslimen, auch den zum Christentum übergetretenen, nur die Wahl zwischen Verbannung und Scheiterhaufen ließ. Heute sind wir es gewohnt, dass Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa fliehen, aber bis zum siebzehnten Jahrhundert ging der Flüchtlingsstrom in die andere Richtung: Christliche Gruppen, die in Europa als Ketzer galten, und Juden suchten im Osmanischen Reich Zuflucht.[5] Trotz aller Beschwörung der sogenannten «jüdisch-christlichen Zivilisation» ist es eine ziemlich neue Entwicklung, dass es den Juden im Westen besser geht als in der islamischen Welt.
In der islamischen Welt diente die arabische Sprache als Lingua franca und als Schmiermittel für den Fernhandel. Die Scharia, die wir heute als archaisch betrachten, bot in den Anfängen des Islam ein Maß an Rechtssicherheit in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, wie es in der vorislamischen arabischen Welt und in weiten Teilen der damaligen christlichen Welt kaum zu finden war. Selbst für Frauen war die Scharia damals oft besser als die ihnen bekannten Alternativen. Durch sie hatten Frauen in weiten Teilen der islamischen Welt erstmals Anspruch auf ein Erbe – was auch im damaligen Europa keineswegs selbstverständlich war –, und die Polygamie wurde zumindest bestimmten Regelungen und Einschränkungen unterworfen. Darüber hinaus gelten die Scharia-Gesetze nicht nur für einfache Gläubige, sondern setzen auch der Korruption und Willkür politischer Herrscher Grenzen. Dass viele Menschen damals den Islam umarmten, ist daher keineswegs überraschend. Aus den gleichen Gründen ziehen auch heute noch viele Männer und Frauen in Ländern wie Somalia und Afghanistan die Scharia den ihnen bekannten Alternativen vor: gesetzlos plündernden Kriegsherren und sich bereichernden Diktatoren.
Verlust von altem Ruhm, Erniedrigung durch verlorene Kriege, ausländische Besatzung und wirtschaftliche Abhängigkeit können zu kritischer Selbstreflexion und Reformen führen. Nach der Auflösung des Osmanischen Reiches taten sie das auch in der islamischen Welt, zumindest unter den gebildeten Eliten. Mustafa Kemal Atatürks radikale Abrechnung mit allem, was mit der islamischen Vergangenheit der Türkei zu tun hatte – dem Kalifat, der Scharia, der arabischen Schrift, der islamischen Zeitrechnung und so weiter –, ist das bekannteste Beispiel dafür. Während Atatürk es bei einem Kopftuchverbot in Schulen und für Beamte beließ, ging Reza Schah Pahlavi (der Vater von Mohammad Reza, dem letzten Schah) in Persien einen Schritt weiter und verbot das Kopftuch 1936 vollständig. Sowohl Atatürk als auch Reza Schah verbaten Männern das Tragen traditioneller Kopfbedeckungen und erlaubten nur westliche Hüte. Auf die ungebildete Mehrheit der Bevölkerung hatte diese von oben auferlegte Verwestlichung nur begrenzten Einfluss. Bei vielen regte sich hingegen Widerstand, nicht zuletzt weil Atatürk, der Schah und die neuen Herrscher des Irak, Syriens und Ägyptens (die 1932, 1946 und 1954 unabhängig wurden) zwar vieles vom Westen übernahmen, nicht aber Menschenrechte und Demokratie. So unterdrückte Atatürk Proteste in verschiedenen Städten gegen das «Hutgesetz» von 1925 blutig und nahm Dutzende Tote in Kauf. Ein islamischer Rechtsgelehrter wurde zum Tode durch Erhängen verurteilt, weil er eine Broschüre mit dem Titel «Die Nachahmung des Westens und der Hut» veröffentlicht hatte.[6] Da rächte sich der Umstand, dass die Krise der islamischen Welt mit einer Krise der Demokratie im Westen zusammenfiel, wo lange Zeit nicht die Demokratien, sondern die totalitären Regime von Mussolini, Hitler und Stalin als die erfolgreichsten Vorbilder erschienen. Später, während des Kalten Krieges, konnten autoritäre Herrscher außerdem auf wirtschaftliche und militärische Unterstützung aus dem Ausland zählen, indem sie sich entweder den Vereinigten Staaten oder der Sowjetunion anschlossen.
Mustafa Kemal Atatürk 1925 bei einer Kampagne in Izmir, um für das «Hutgesetz» zu werben. Das Gesetz untersagte türkischen Männern das Tragen traditioneller Kopfbedeckungen wie des Fes und erlaubte nur noch Hüte westlichen Stils. Proteste gegen das Gesetz wurden blutig unterdrückt.
Dieser geopolitische Kontext allein kann jedoch nicht erklären, warum die islamische Welt bisher nicht geschafft hat, was großen Teilen der übrigen nichtwestlichen Welt in den letzten fünfzig Jahren gelungen ist. Schließlich war die islamische Welt nicht die einzige Region, die wirtschaftlich und politisch von der westlichen Welt abhängig war und sich der von ihr dominierten Moderne anschließen musste. Lateinamerika und die nichtislamischen Teile Afrikas und Asiens litten genauso unter der Rivalität zwischen den beiden Supermächten während des Kalten Krieges – man denke an Korea, Vietnam oder Chile. Vor fünfzig Jahren waren die Demokratien in der Welt weit und breit in der Minderheit, heute ist eine klare Mehrheit der nichtmuslimischen Länder demokratisch. Süd- und Osteuropa, die meisten Länder Mittel- und Südamerikas, Südafrika und ostasiatische Länder wie Taiwan und Südkorea haben den Übergang zur Demokratie erfolgreich abgeschlossen. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Demokratien in der islamischen Welt jedoch weiter zurückgegangen (siehe Kapitel 2 dieses Buches). Vor fünfzig Jahren war es um die Rechte von religiösen Minderheiten, Frauen und Homosexuellen in vielen Teilen der Welt schlecht bestellt. Heute genießen Muslime in nichtmuslimischen Ländern, mit wenigen Ausnahmen wie China und Myanmar, mehr Religionsfreiheit als in der islamischen Welt selbst, vor allem wenn sie nicht der lokal vorherrschenden Ausprägung des Islam angehören. Ganz zu schweigen von den Rechten nichtmuslimischer religiöser Minderheiten oder Nichtgläubiger. Was die Rechte von Frauen und Homosexuellen betrifft, so gibt es überall noch viel zu gewinnen, doch in den meisten Ländern wurden große Fortschritte erzielt, während die Situation in der islamischen Welt stagniert oder sich sogar verschlimmert hat (Kapitel 3). Vor einem halben Jahrhundert war die islamische Welt nicht wesentlich mehr von Bürgerkriegen und politischer Gewalt geprägt als der Rest der Welt; heute gibt es kaum Bürgerkriege, an denen keine Muslime beteiligt sind, und die weltweite Zahl der Todesfälle durch Terroranschläge hat aufgrund des Aufstiegs dschihadistischer Gruppen wie al-Qaida, IS und Boko Haram einen historischen Höchststand erreicht (Kapitel 4). Obwohl einem Teil der islamischen Länder reiche Einnahmen aus dem Erdölgeschäft in den Schoß gefallen sind, ist der relative Wohlstand der islamischen Welt im Vergleich zu anderen Teilen der Welt in den letzten fünfzig Jahren dramatisch gesunken (Kapitel 5). Mit der Migration von Millionen von Muslimen, die anderswo eine bessere Zukunft suchen, sind die Probleme der islamischen Welt auch in den Einwanderungsländern des Westens spürbar geworden. Gewalt gegen Ungläubige und Islamkritiker, Hass auf Juden und Homosexuelle sowie die Unterdrückung von Frauen fordern auch in den Einwanderungsländern Opfer, allerdings in viel geringerem Umfang als in der islamischen Welt selbst. Darüber hinaus schneiden Migranten aus islamischen Ländern an fast allen Fronten der Integration schlechter ab als andere Migranten, und die Ursachen sind weitgehend die gleichen wie die, die für die dramatische Situation in den islamischen Herkunftsländern verantwortlich sind (Kapitel 6).
Der Hauptgrund dafür – so werde ich in diesem Buch zeigen –, dass die islamische Welt in den letzten fünfzig Jahren an fast allen Fronten stagniert hat oder in einigen Fällen sogar in die Barbarei zurückgefallen ist, ist der Aufstieg des islamischen religiösen Fundamentalismus. Wie die Politik der Verwestlichung von oben war der Fundamentalismus eine Reaktion auf die Erniedrigung der islamischen Welt durch den Fall des Osmanischen Reiches und die schmerzhafte Erkenntnis, dass der Westen, auf den jahrhundertelang – und lange Zeit zu Recht – herabgesehen worden war, die islamische Welt links und rechts überholt hatte. Die Diagnose und Reaktion der Fundamentalisten waren jedoch genau das Gegenteil von dem, was weltliche Führer wie Atatürk in der Türkei, Reza Schah im Iran und Gamal Abdel Nasser in Ägypten propagierten. Nach Fundamentalisten wie dem Ägypter Hasan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft gründete, und Sayyid Qutb, dem wichtigsten Ideologen der Bruderschaft, war die Ursache für die Krise der islamischen Welt nicht die Überlegenheit der westlichen Kultur, sondern die Tatsache, dass sich die islamische Welt vom ursprünglichen Islam abgewandt habe. Nicht durch die Übernahme westlicher Vorstellungen von Säkularismus, Geschlechtergleichstellung, Nationalismus, Demokratie oder Kommunismus, sondern nur durch die radikale Ablehnung derselben und die Rückkehr zu den (vermeintlichen) Wurzeln des Islam könne der alte Glanz der islamischen Welt wiedererlangt werden. Je mehr der Erfolg säkularer Regime ausblieb, die die westliche Erfolgsformel mit kapitalistischen, kommunistischen oder nationalistischen Mitteln zu kopieren versuchten – was schmerzhaft durch die Niederlagen der arabischen Welt gegen Israel veranschaulicht wurde –, desto stärker gewann der Fundamentalismus an Boden.
Für den Westen war 1979 aus zeitgenössischer Perspektive ein typisches Jahr des Kalten Krieges. Die Stationierung von SS-20-Atomraketen durch die Sowjetunion, die Entscheidung der NATO, als Reaktion darauf Marschflugkörper in Westeuropa aufzustellen, und die dagegen aufbegehrende Friedensbewegung dominierten die Nachrichten.[7] Die Sowjetunion und der Kalte Krieg sind längst überwunden, aber mit den globalen Folgen von drei miteinander verbundenen Ereignissen in der islamischen Welt im Jahr 1979 leben wir bis heute. Es war das Jahr des Durchbruchs des islamischen Fundamentalismus, der zu einer dramatischen Verschlechterung des ohnehin schon beklagenswerten Zustands von Demokratie, Menschenrechten, Frieden und Wohlstand in der islamischen Welt führte und die Beziehungen zwischen ihr und dem Rest der Welt polarisieren sollte.
Ayatollah Ruhollah Khomeini bei seiner Rückkehr in den Iran am 1. Februar 1979. Kurz zuvor hatte der letzte Schah das Land verlassen. Khomeinis Fundamentalisten gewannen rasch die Oberhand in der Revolution, und am 1. April wurde die Islamische Republik Iran ausgerufen.
Das Jahr begann mit der islamischen Revolution im Iran. Nach Monaten immer massiverer Proteste und Streiks startete am 16. Januar ein Flugzeug vom Flughafen Teheran mit dem todkranken Mohammad Reza Pahlavi, dem letzten Vertreter der mit rund 2500 Jahren ältesten Monarchie der Welt, der Persien mit zunehmender Gewalt regiert hatte. Zwei Wochen später, am 1. Februar, waren Millionen von Menschen auf den Beinen, um die Rückkehr des Ayatollah Ruhollah Khomeini aus seinem Exil in Paris zu feiern. Obwohl die iranische Revolutionsbewegung zunächst eine breite Basis hatte und auch Kommunisten und Demokraten eine wichtige Rolle spielten, gewannen die islamischen Fundamentalisten um Khomeini bald die Oberhand. Am 11. Februar wurde die noch vom Schah gebildete Übergangsregierung gestürzt,[8] und am 30. und 31. März stimmten nach offiziellen Angaben 99,3 Prozent der Wähler für die Ausrufung der Islamischen Republik Iran und eine neue theokratische Verfassung, die am nächsten Tag in Kraft trat. In der Zwischenzeit wurde der Schah wie eine heiße Kartoffel von einem Land ins nächste weitergereicht. Die Flamme breitete sich aus, als er nach Aufenthalten in Ägypten, Marokko, auf den Bahamas und in Mexiko Ende Oktober 1979 zur medizinischen Behandlung in die Vereinigten Staaten einreisen durfte. Zwei Wochen später stürmten radikale Aktivisten die amerikanische Botschaft in Teheran und hielten 52 amerikanische Bürger 444 Tage lang als Geiseln fest. Zwischen dem Iran und dem «großen Satan» – wie der Iran seither die Vereinigten Staaten bezeichnet – war das Verhältnis seitdem zerrüttet. Präsident Sadat bot schließlich dem Schah Asyl in Ägypten an, wo er im Juli 1980 an Krebs starb.
Die iranische Revolution hatte globale Folgen, die sich nicht auf die Polarisierung mit den Vereinigten Staaten beschränkten. Obwohl Amerika der große Satan war, kehrte sich das iranische Regime auch entschieden gegen den «minderen» und den «kleinen Satan» – womit die Sowjetunion und Israel gemeint waren.[9] Khomeini ließ keinen Zweifel daran, dass die revolutionäre Mission mit der Machtübernahme im Iran noch nicht beendet war: «Ich hoffe, dass der Iran zu einem Modell für alle zertrampelten und islamischen Nationen der Welt wird und dass dieses Jahrhundert zu einem Jahrhundert wird, in dem große Götzen zerbrechen […]. Oh, fromme Muslime der Welt, erwacht aus eurem Schlaf der Vernachlässigung und befreit den Islam und die islamischen Länder aus dem Griff der Kolonialisten und ihrer Diener!»[10] Beim Export der Revolution blieb es nicht bei Worten. Der Iran intervenierte im libanesischen Bürgerkrieg und machte die schiitische Miliz Hisbollah zu einem wichtigen Machtfaktor und einer ernsthaften Bedrohung für Israel. In Palästina unterstützte der Iran die Terrorgruppen Hamas und Islamischer Dschihad.[11] Die Fatwa vom Februar 1989, in der Khomeini Muslime auf der ganzen Welt aufforderte, den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie zu töten, fand große Resonanz, auch unter sunnitischen Muslimen und unter muslimischen Migranten in westlichen Ländern. In Rotterdam und Den Haag demonstrierten Anfang März 1989 mehrere Tausend Muslime gegen Rushdie und sein Buch. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien gab es neben Demonstrationen zahlreiche Bomben- und Brandanschläge auf Buchhandlungen. Dutzende von Menschen starben bei Demonstrationen in Indien und Pakistan. Der japanische Übersetzer des Buches wurde ermordet, der italienische Übersetzer und der norwegische Verleger wurden bei Angriffen schwer verletzt. 1993 starben 37 Menschen in der türkischen Stadt Sivas, als nach dem Freitagsgebet eine Gruppe von Muslimen ein Hotel in Brand setzte, in dem der Schriftsteller Aziz Nesin, der Rushdies Buch ins Türkische übersetzt hatte, übernachtete.
Angesichts der aktuellen schiitisch-sunnitischen Bürgerkriege in Syrien und dem Jemen, an denen der Iran aktiv beteiligt ist, ist es schwer vorstellbar, dass Khomeinis Botschaft von einer islamischen Weltrevolution anfänglich auch viele sunnitische Muslime erfasste. Gerade weil die revolutionäre Botschaft des Iran so populär war, standen die herrschenden Eliten der umliegenden Länder dem iranischen Regime von Anfang an feindlich gegenüber. Aus Angst, dass sich die iranische Revolution auf die schiitische Mehrheit der Bevölkerung seines Landes ausbreiten würde, versuchte der irakische Diktator Saddam Hussein zunächst, das iranische Regime zu destabilisieren, und als dies nicht gelang, fiel er im September 1980 in sein Nachbarland ein. Mehr als eine Million Menschen starben in einem acht Jahre dauernden Grabenkrieg, der keiner der Parteien dauerhafte Landgewinne brachte. Auch die sunnitischen Monarchien in Saudi-Arabien und den Golfstaaten waren besorgt über die Begeisterung für die iranische Revolution und befürchteten, es könnte ihnen ähnlich ergehen wie dem Schah.
Rauchwolken über der Großen Moschee von Mekka. Die heiligste Stätte des Islam wurde am 20. November 1979 von etwa 500 bewaffneten Extremisten besetzt. Saudische Armeeeinheiten konnten den Aufstand nach zwei Wochen niederschlagen. Um seine angeschlagene religiöse Legitimität zu sichern, investierte das saudische Regime in den folgenden Jahrzehnten Milliarden in die weltweite Verbreitung des Salafismus und veränderte so das Gesicht des Islam von Westafrika bis Südostasien.
Für die saudische Königsfamilie schien dieser Tag gekommen zu sein, als am Neujahrstag des Jahres 1400 des islamischen Kalenders – am 20. November 1979 nach dem westlichen Kalender – mehrere Hundert schwer bewaffnete Aufständische den heiligsten Ort des Islam, die Große Moschee von Mekka, besetzten.[12] Sie forderten den Rücktritt des Hauses Saud, das ihrer Meinung nach den Islam verraten hatte, und den Abzug aller ausländischen Truppen von der Arabischen Halbinsel: die gleichen Forderungen, die zwanzig Jahre später den Kern von al-Qaidas Aufruf zum globalen Dschihad bilden sollten. Viele der Aufständischen waren ehemalige Studenten der Islamischen Universität Medina, wo sie in den Lehren des Wahhabismus ausgebildet wurden, der ultra-konservativen Form des Islam, die seit dem achtzehnten Jahrhundert mit dem Haus Saud verbunden und Staatsreligion in Saudi-Arabien ist. Der Besetzung waren monatelange Vorbereitungen vorausgegangen, in denen die Rebellen mit Hilfe sympathisierender Mitglieder der saudischen Nationalgarde Waffen in den Moscheenkomplex geschmuggelt hatten. Die Rebellen glaubten, dass das Ende der Zeiten nahe sei und dass einer von ihnen, Mohammed Abdullah al-Qahtani, der Mahdi – der Messias – sei, der nach den Hadithen (den Überlieferungen des Propheten Mohammed) den Jüngsten Tag verkünden und die Mächte des Bösen vernichten werde. Auch viele spätere Dschihadisten sind vom bevorstehenden Ende der Zeiten überzeugt, darunter Anhänger des Islamischen Staates im Irak und in Syrien (ISIS, seit 2014 IS). Nur glaubt der IS, dass vor der Ankunft des Mahdi zuerst das Kalifat wiederhergestellt werden müsse.
Nach zwei Wochen machten saudische Truppen, unterstützt von französischen und pakistanischen Kommandos, dem Aufstand ein Ende. Auf beiden Seiten starben Hunderte von Menschen – einschließlich des angeblichen «Mahdi» –, und Anfang 1980 wurden Dutzende von verhafteten Rebellen enthauptet. Die Entscheidung, die Moschee zu stürmen, war für die saudischen Behörden nicht einfach, denn es ging um die Anwendung von Gewalt gegen andere Muslime, und das an der heiligsten Stätte des Islam. Die Regierung musste daher die Ulama, die religiösen Gelehrten, um Erlaubnis bitten.[13] Obwohl die wahhabitischen religiösen Führer eine Fatwa aussprachen, die eine solche Erlaubnis erteilte, machten sie zur Bedingung, dass das Regime von nun an die Einhaltung der islamischen Regeln strenger überwachen und die Verbreitung der wahhabitischen Botschaft in der ganzen Welt unterstützen würde. Für Saudi-Arabien bedeutete dies unter anderem, dass Kinos geschlossen und Konzerte verboten wurden, dass die ohnehin schon extreme Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum weiter verschärft wurde, Frauenbilder in den Medien verboten wurden und die Anzahl der Religionsstunden an Schulen erhöht wurde. Eine Studie des amerikanischen Außenministeriums, die nie offiziell veröffentlicht wurde, um die Saudis nicht vor den Kopf zu stoßen, gibt einen Einblick in den Inhalt dieses Religionsunterrichts.[14] Den Schülern der Sekundarstufe wird beigebracht, dass es nichts gibt, was Gott so sehr gefällt wie der Kampf gegen die Ungläubigen, dass Menschen, die den islamischen Glauben aufgeben, getötet werden müssen, und dass mit den Almosen (zakat) «die Mudschaheddin, die ihr Leben in den Dienst Gottes gestellt haben», unterstützt werden sollten. «Sie müssen genügend Waffen, Nahrung und andere Dinge erhalten, damit sie den Dschihad fortsetzen können.» Das ist die Art von Bildung, die Menschen dazu inspiriert, Flugzeuge in Hochhäuser zu lenken, und andere dazu bringt, sie zu finanzieren.
Noch drastischer waren die Folgen der Ausbreitung des wahhabitischen islamischen Fundamentalismus außerhalb Saudi-Arabiens. Allein in Ländern, in denen Muslime eine Bevölkerungsminderheit bilden, wurden seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts 1359 Moscheen, 210 islamische Zentren, 202 Universitäten und Hochschulen sowie 2000 Schulen mit saudischem Geld finanziert.[15] Die Imame, die dort predigen und lehren, sind meist in Saudi-Arabien ausgebildet, vor allem an der Universität von Medina, wo 85 Prozent der Studienplätze für ausländische Studierende reserviert sind. In den Vereinigten Staaten wurden 16 Moscheen mit saudischem Geld gebaut; in Großbritannien gab es 2014 nicht weniger als 110 salafistische Moscheen, von denen viele mit saudischem Geld finanziert wurden.[16] In den Niederlanden flossen saudische Gelder an die El Tawheed Stiftung in Amsterdam, die As-Soennah-Moschee in Den Haag und die Al Fourkaan-Moschee in Eindhoven – alles bekannte Brutstätten des Extremismus.[17] In Belgien kontrollierte Saudi-Arabien unter anderem die Große Moschee von Brüssel, die jahrzehntelang ungehindert salafistisch-wahhabitische Ideen verbreiten konnte. Auf Empfehlung einer Kommission, die die Anschläge auf den Brüsseler Flughafen und die U-Bahn im Jahr 2016 untersuchte, beschloss die belgische Regierung 2018, die saudische Kontrolle über die Moschee zu beenden.[18] Dass Geld aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten auch an deutsche Moscheen und islamische Zentren geflossen ist, steht außer Zweifel. Diesbezügliche Anfragen aus dem Bundestag an die Bundesregierung wurden jedoch mit ausweichenden Antworten beschieden wie: «Die Bundesregierung erhebt nicht im Sinne der Fragestellung anlasslos, allgemein und systematisch eigene Erkenntnisse über Verbindungen und Einflüsse ausländischer Stellen auf islamische religiöse Vereine und Religionsgemeinschaften in Deutschland», oder: «Die Beantwortung der Frage […] kann aus Gründen des Staatswohls nicht offen erfolgen.»[19]
Die Zahl der von Saudi-Arabien finanzierten Institutionen in islamischen Ländern muss noch deutlich höher sein. Insgesamt wird geschätzt, dass das Land seit 1975 jährlich zwei bis drei Milliarden Dollar für die Verbreitung seiner Version des Islam im Ausland ausgegeben hat.[20] Von Westafrika bis Indonesien hat saudisches Geld – und in kleinerem Umfang auch solches aus anderen konservativen Golfstaaten wie Kuwait und Katar – das Gesicht des Islam verändert. Lokale religiöse Varianten wurden zunehmend durch den ultraorthodoxen, intoleranten und von Hass auf die «Ungläubigen» durchdrungenen Islam der Arabischen Halbinsel ersetzt. Der Schriftsteller und Nobelpreisträger V. S. Naipaul hat diese Veränderungen in seinen 1981 und 1998 veröffentlichten Berichten über seine Reisen durch den Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien eindrücklich beschrieben.[21]