Jens Schröter
DIE APOKRYPHEN
EVANGELIEN
Jesusüberlieferungen
außerhalb der Bibel
C.H.Beck
Neben den vier biblischen Evangelien entstanden im frühen Christentum zahlreiche Texte zu Jesus, die keinen Eingang in die Bibel fanden. Vor allem die Kindheitsevangelien haben die christliche Frömmigkeit – Liturgie, Festtraditionen, bildliche Darstellungen – nachhaltig beeinflusst. Andere Texte wie das Thomasevangelium wurden erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt. Jens Schröter beschreibt die wichtigsten apokryphen Schriften zu Jesus, beleuchtet ihr Verhältnis zu den kanonischen Evangelien und erklärt ihre Bedeutung für die Geschichte des Christentums.
Jens Schröter ist Professor für Neues Testament und antike christliche Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat u.a. in Houston und Jerusalem gelehrt und ist Mitherausgeber international einschlägiger Buchreihen und Zeitschriften. Bei C.H.Beck erschien von ihm zuletzt «Die Entstehung der Bibel» (mit Konrad Schmid, 3. Aufl., 2019).
1. Evangelien im frühen Christentum
Apokryphe Evangelien und die Evangelien des Neuen Testaments
Zur Erforschung der apokryphen Evangelien
Die apokryphen Evangelien und die Frage nach dem historischen Jesus
2. Kindheitsevangelien:
Erzählungen über Geburt und Kindheit Jesu
Das Protevangelium des Jakobus
Die Kindheitserzählung des Thomas
Die weitere Entwicklung der Kindheitsevangelien
3. Überlieferungen über das Wirken Jesu
Die «judenchristlichen» Evangelien
Das Hebräerevangelium
Das Nazoräerevangelium
Das Ebionäerevangelium
Das Ägypterevangelium
Papyrus Egerton 2 und Papyrus Köln 255
Papyrus Oxyrhynchus 840
Weitere Fragmente
Zusätze zu neutestamentlichen Evangelien
4. Überlieferungen über Leiden und Tod Jesu
Das Petrusevangelium
Das Judasevangelium
Das Unbekannte Berliner Evangelium
Der Straßburger koptische Papyrus
Papyrus Vindobonensis Graecus 2325 (Faijumfragment)
Das Nikodemusevangelium und die Pilatusakten
5. Die Lehre des auferstandenen und lebendigen Jesus
Ergänzungen zu neutestamentlichen Evangelien:
Johannes 21 und der sekundäre Markusschluss
Die Epistula Apostolorum
Das Mariaevangelium
Die Weisheit Jesu Christi
Das Apokryphon des Johannes
Der apokryphe Brief des Jakobus
Der Dialog des Erlösers
Das Thomasevangelium
6. Weitere Evangelien
Das Philippusevangelium
Das Evangelium der Wahrheit
7. Die Bedeutung der apokryphen Evangelien
Zeittafel
Literatur
Texte und Übersetzungen
Einführungen und Überblicke
Kommentare und Untersuchungen
Bildnachweis
Personen- und Sachregister
Neben den vier Evangelien des Neuen Testaments wurden im Christentum seit früher Zeit zahlreiche weitere Schriften über Jesus und Personen in seinem näheren Umfeld verfasst. Diese werden häufig als «apokryphe», also «verborgene» Evangelien bezeichnet (von griechisch apókryphos). Sie enthalten zahlreiche Berichte vom Leben und Wirken Jesu, die über das Neue Testament hinausgehen, ihm mitunter sogar widersprechen. Das Jesusbild des Christentums ist, bezieht man diese Schriften ein, deutlich vielfältiger, als es der Bibel zu entnehmen ist. Es kommt also «Verborgenes» zur Sprache. Die apokryphen Schriften sind heute freilich in Textausgaben und Übersetzungen gut zugänglich und werden von niemandem geheim gehalten, gehören jedoch nicht zur Bibel. Wie ist es zur Unterscheidung von biblischen und «apokryphen» Evangelien gekommen?
Um das Jahr 180 verfasste Irenäus, Bischof von Lyon, eine groß angelegte Schrift in fünf Büchern mit dem Titel Gegen die Häresien (Adversus Haereses). Darin setzte er sich ausführlich mit Lehren auseinander, die aus seiner Sicht die Wahrheit des christlichen Bekenntnisses verfälschten. Im dritten Buch kommt er auf das Zeugnis der Evangelien zu sprechen. Gleich zu Beginn stellt er heraus, dass der Kirche das Evangelium Gottes durch Matthäus, Markus, Lukas und Johannes überliefert worden sei. Das eine Evangelium sei deshalb «viergestaltig», wie es auch vier Weltgegenden, vier Hauptwindrichtungen und vier Cherubim vor dem Thron Gottes gebe (vgl. Ez 1,5–10 und Offb 4,6–11). Die über die ganze Erde verbreitete Kirche beruhe demnach auf vier Säulen – eben den vier Evangelien – und entspreche damit der Weltordnung, die zugleich die Heilsordnung des Sohnes Gottes widerspiegele, sowie den vier Bünden, die Gott mit Noah, Abraham, Mose und schließlich durch das Evangelium geschlossen habe.
Hinter dieser fulminanten Begründung der vierfachen Gestalt des einen Evangeliums verbirgt sich offensichtlich ein Problem. Irenäus verteidigte diese Viergestalt gegen Leute, die behaupteten, die Evangelien seien nicht fehlerfrei und stimmten auch untereinander nicht überein. Er führte zudem aus, dass sich christliche Gruppen oder einzelne Lehrer nur auf eines der vier Evangelien berufen und es gegen seinen Sinn auslegen würden. Dieser erschließe sich jedoch nur aus der Gesamtbetrachtung des einen, viergestaltigen Evangeliums. Schließlich schrieb Irenäus über die Anhänger des Valentinus, eines christlichen Lehrers, der um das Jahr 140 in Rom wirkte und dessen Lehren Irenäus heftig bekämpfte, sie behaupteten, mehr Evangelien als die vier zu besitzen. In diesem Zusammenhang erwähnte er eine Schrift, die von ihnen «Evangelium der Wahrheit» genannt werde, obwohl doch gerade das von den Aposteln überlieferte Evangelium die Wahrheit enthalte (vgl. dazu den Abschnitt zum Evangelium der Wahrheit).
Die Ausführungen des Irenäus zeigen, dass es keineswegs unumstritten war, ob alle vier Evangelien und nur diese das verbindliche Zeugnis über Jesus darstellten. Irenäus verteidigte die Vierzahl der Evangelien deshalb sowohl gegen ihre Reduzierung auf nur ein Evangelium als auch dagegen, dass darüber hinaus noch andere Evangelien als verbindlich angesehen wurden. Es liegt ja auch keineswegs auf der Hand, dass ausgerechnet vier Evangelien, nicht eines, zwei oder drei, das für die Kirche verbindliche Zeugnis über Jesus Christus enthalten sollen. Dies hätte sich mindestens genauso gut begründen lassen – etwa mit dem Verweis auf den einen Gott, auf die zwei Naturen Jesu Christi oder auf die Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dass Irenäus insistierte, es seien vier Evangelien, auf denen die Wahrheit beruhe, lässt sich deshalb nur so erklären, dass diese bereits in christlichen Gemeinden verbreitet und anerkannt waren. Nur so erklärt sich auch, warum die einander recht ähnlichen Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas – sie werden auch «synoptische», also gemeinsam zu lesende Evangelien genannt – alle drei in das Neue Testament gelangt sind und nicht nur eines oder zwei von ihnen. Das ist besonders im Fall des Markusevangeliums bemerkenswert, dessen Inhalt sich nahezu vollständig auch im Matthäus- und im Lukasevangelium findet.
Irenäus verwendet den Begriff «Evangelium» – das griechische Wort für «gute Botschaft» – in zweifacher Weise: für das eine Evangelium von Jesus Christus in seiner vierfachen Gestalt und als Bezeichnung für die einzelnen Schriften, die «Evangelium nach Matthäus», «Evangelium nach Markus» usw. heißen. Er setzt also voraus, dass der Begriff «Evangelium» als Bezeichnung für bestimmte Schriften verwendet wird, kennt daneben aber auch die Bedeutung «frohe Botschaft (von Jesus Christus)». Diese doppelte Verwendung lässt sich bis in die Anfänge des Christentums zurückverfolgen. Paulus benennt in seinen Briefen häufig «das Evangelium», das er näher beschreibt als «Evangelium Gottes», «Evangelium von Jesus Christus» oder auch als «mein Evangelium». Paulus bezeichnet mit «Evangelium» demnach die von ihm selbst verkündigte Botschaft von Gottes Heilshandeln durch Jesus Christus. Im Markusevangelium wird der Begriff «Evangelium» auf die Geschichte vom Wirken und Geschick Jesu angewendet. Bereits der erste Satz lautet «Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes». «Evangelium» kommt dann an mehreren Stellen vor: Jesus verkündigt «das Evangelium Gottes» (Mk 1,14), Jesus und das Evangelium werden nebeneinander genannt (8,35; 10,29), das Evangelium soll allen Völkern in der Welt verkündigt werden (13,10; 14,9). Im Evangelium des Markus gehört die Verkündigung des Evangeliums von der nahen Gottesherrschaft durch Jesus demnach eng mit seinem Wirken und Geschick zusammen.
Hiervon ausgehend hat sich der Begriff «Evangelium» um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert als Bezeichnung für Erzählungen vom Wirken und Geschick Jesu eingebürgert. Um sie voneinander zu unterscheiden, wurden sie «nach Matthäus», «nach Markus» usw. genannt. Diese Benennungen waren also erst in dem Moment nötig, als mehrere Evangelien bekannt waren und gemeinsam verwendet wurden. Die eigenwillige Bezeichnung «Evangelium nach …» bringt dabei zum Ausdruck, dass es ein Evangelium ist, das in verschiedenen Formen vorliegt. Spätere Evangelien – etwa das Evangelium nach Thomas, das Evangelium nach Petrus oder das Evangelium nach Maria – nehmen dies auf und wenden es auf ihre Jesusdarstellungen an. Damit erheben sie den Anspruch, ebenfalls – oder: im Gegensatz zu den anderen Evangelien – verbindliche Jesusüberlieferungen zu enthalten. Der Plural «Evangelien» taucht dagegen zuerst um die Mitte des 2. Jahrhunderts bei dem christlichen Philosophen und Märtyrer Justin auf. Er bezeichnet die Schriften der Apostel als «Denkwürdigkeiten» (lateinisch «Memorabilia», eine literarische Charakterisierung, die zum Beispiel auch für Xenophons Schrift Denkwürdigkeiten des Sokrates verwendet wurde) und erläutert, dass die «Denkwürdigkeiten der Apostel» auch «Evangelien» hießen.
Später wurde der Begriff «Evangelium» auch für solche Schriften verwendet, die sich selbst nicht «Evangelium» nannten und sich von den Evangelien des Neuen Testaments mitunter deutlich unterschieden. In dieser erweiterten Bedeutung wurde er auf Texte angewandt, die Herkunft, Lehre, Wirken und Geschick Jesu in unterschiedlichen literarischen Formen präsentierten. Diese Ausweitung hat dazu geführt, dass im Umkreis der Evangelien auch solche Texte auftauchten, die sich mit Personen aus dem Umfeld Jesu – seinen Eltern, Johannes dem Täufer oder Pontius Pilatus – befassten. In diesem erweiterten Verständnis lassen sich als «Evangelien und verwandte Literatur» Schriften zusammenfassen, die sich in biographischer Absicht auf die Person Jesu beziehen.
Den Ausführungen des Irenäus lassen sich diejenigen anderer frühchristlicher Theologen an die Seite stellen. Clemens von Alexandria, ein Zeitgenosse des Irenäus, zitiert in seinem Werk Stromateis (Teppiche) aus einem «Evangelium nach den Ägyptern», merkt allerdings an, dass das Zitat «nicht aus den uns überlieferten vier Evangelien» stamme. An anderer Stelle führt Clemens einen Spruch aus dem Evangelium nach den Hebräern an. In der in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts entstandenen Kirchengeschichte des Euseb wird ein Brief des Bischofs Serapion an eine seiner Gemeinden zitiert. Der Brief stammt etwa aus dem Jahr 180 und erwähnt ein «Evangelium unter dem Namen des Petrus». Schließlich bemerkt Origenes in seinen Lukashomilien, die um 233/34 in Cäsarea entstanden, dass die Kirche vier Evangelien kenne, die «Häresie» dagegen viele. Origenes zählt auch einige Evangelien der «Häresie» auf: das Evangelium «nach den Ägyptern», dasjenige «nach den zwölf Aposteln», ein weiteres unter dem Namen des Basilides sowie Evangelien «nach Thomas» und «nach Matthias».
Um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert existierte demnach eine Vielzahl von Schriften, die sich «Evangelium» nannten. Die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes wurden dabei von frühchristlichen Theologen als diejenigen betrachtet, die das für die Kirche maßgebliche Zeugnis über Jesus von Nazareth – sein irdisches Wirken, seine Auferstehung und seine Erscheinungen danach – enthalten. Andere Schriften, die ebenfalls den Anspruch erhoben, «Evangelien» zu sein, wurden dagegen als «häretisch», «gefälscht» oder «apokryph» verworfen, auf jeden Fall aber von den vier Evangelien unterschieden.
Die grundlegende Gemeinsamkeit der in das Neue Testament gelangten Evangelien besteht darin, dass sie die Geschichte Jesu von Nazareth von ihren Anfängen bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung erzählen. Dennoch gibt es zahlreiche Unterschiede zwischen ihnen. Diese betreffen etwa die chronologische und geographische Darstellung des Wirkens Jesu, die Charakterisierung seiner Person sowie Einzelzüge seines Wirkens, etwa seine Lehre und seine machtvollen Taten. Am deutlichsten treten diese Differenzen zwischen den synoptischen Evangelien einerseits und dem Johannesevangelium andererseits zutage. Erstere erzählen von der Aufrichtung der Gottesherrschaft durch das Wirken Jesu, insbesondere durch seine Heilungen, seine Mahlgemeinschaften und seine Lehre in Gleichnissen. Das Evangelium des Johannes stellt Jesus dagegen als das menschgewordene göttliche «Wort» dar, durch das Gottes Herrlichkeit in der Welt erschienen ist. Diese Herrlichkeit war an Jesus während seines irdischen Wirkens unmittelbar zu erkennen: «Das Wort wurde Fleisch … und wir sahen seine Herrlichkeit» (Joh 1,14). Jesus spricht im Johannesevangelium in großen Reden über sich selbst als Offenbarer der Wahrheit Gottes, als «Licht der Welt», «Brot des Lebens» und «guter Hirte». Seine Machttaten sind «Zeichen» für seine göttliche Herkunft. Das Evangelium des Johannes blickt demnach deutlicher als die synoptischen Evangelien aus der Perspektive der Auferstehung und Erhöhung Jesu auf sein irdisches Wirken. Es ist von den historischen Ereignissen bereits weiter entfernt, auch wenn es historische Informationen über das Wirken Jesu bewahrt hat.
Das Neue Testament enthält demnach kein einheitliches Jesusbild. Die historisch-kritische Jesusforschung, die ihre Anfänge im 18. Jahrhundert hat, sah sich deshalb mit der Frage konfrontiert, wie sich aus den unterschiedlichen Jesusbildern der Evangelien ein historisches Bild des Wirkens Jesu erstellen ließe. Sie gelangte dabei zu der bis heute weithin anerkannten Auffassung, dass die synoptischen Evangelien näher an der historischen Wirklichkeit des Auftretens Jesu sind als das Johannesevangelium. Historisch-kritische Jesusdarstellungen orientieren sich deshalb zumeist an den synoptischen Evangelien, während das Johannesevangelium als eine später entstandene, theologisch reflektierte Deutung der Person Jesu gilt, dessen Sprache und Inhalt in erster Linie die Theologie seines Verfassers bzw. des Kreises, dem es entstammt, widerspiegelt.
Die Evangelien des Neuen Testaments sind etwa zwischen 70 und 100 entstanden – das Markusevangelium als das älteste um das Jahr 70. Es wurde von den Verfassern des Matthäus- und des Lukasevangeliums verwendet. Das Johannesevangelium setzt die anderen Evangelien voraus und interpretiert das Wirken Jesu aus einer vertiefenden theologischen Perspektive. In der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts entstanden weitere Evangelien. Einige von ihnen enthalten Erzählungen über Geburt und Kindheit Jesu, andere über seine Passion, wieder andere über seine Erscheinungen und seine Lehre als Auferstandener. Diese Schriften setzen die älteren Evangelien in der Regel voraus und stellen Wirken, Lehre und Geschick Jesu in je eigener Weise dar. Dabei greifen sie auch auf weitere Überlieferungen zurück, etwa auf Sammlungen von Worten Jesu oder Episoden aus seinem Leben. Es handelt sich bei den «apokryphen» Evangelien demnach um «kreative Neuinterpretationen» des Wirkens und der Lehre Jesu als Fortschreibung der Evangelien des Neuen Testaments oder als Alternative zu ihnen.
Im Verlauf der ersten drei Jahrhunderte des Christentums wurden «verbindliche» von «umstrittenen» und «verworfenen» (oder «gefälschten») Schriften unterschieden. Diese Entwicklung mündete schließlich in die Gegenüberstellung von «kanonisierten» und «apokryphen» Schriften, zuerst im 39. Osterfestbrief des Bischofs Athanasius von Alexandria aus dem Jahr 367. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts setzte sich demnach der Begriff «Kanon», der zuvor bereits für in der Kirche geltende Glaubensgrundsätze verwendet worden war, zur Bezeichnung derjenigen Bücher durch, die in der Kirche gelesen werden sollten und von anderen, als «nicht kanonisch» oder eben «apokryph» bezeichneten Schriften abgegrenzt wurden. Mit dieser Unterscheidung sollte vor allem die Lektüre der Christen – sowohl die gottesdienstliche als auch die private – geregelt werden. Apokryphe Schriften sollten demnach in der Gemeinde gar nicht, privat nur im Ausnahmefall gelesen werden.
Zur christlichen Bibel gehören Schriften, die sich mit den Grundüberzeugungen des Christentums – die in der «Glaubensregel», auch «Regel der Wahrheit» oder «kirchliche Regel», zusammengefasst werden – in Übereinstimmung bringen lassen. Schriften, bei denen dies nach Auffassung antiker Theologen nicht der Fall ist, wurden dagegen als «apokryph» oder «gefälscht» abgelehnt. Darunter finden sich auch die apokryphen Evangelien. Diese sind zum einen durch Erwähnungen bei frühchristlichen Theologen bekannt (mitunter nur dem Titel nach, mitunter durch Zitate aus diesen Schriften), zum anderen durch zahlreiche Manuskripte, die (oft fragmentarische) Texte mit apokryphen Jesusüberlieferungen enthielten.
Heute ist «apokryphe Evangelien» ein Sammelbegriff für ein breites Spektrum von Texten. Er bezeichnet nicht nur die von den frühchristlichen Autoren verworfenen Schriften, sondern allgemein solche Jesusüberlieferungen, die sich nicht im Neuen Testament finden. In der Antike hat es keine Zusammenstellung apokrypher Evangelien (oder apokrypher Schriften überhaupt) gegeben. Für diese Schriften verwendete Bezeichnungen wie «apokryphe Bibel», «Apocryphal New Testament» oder «Bibel der Häretiker» sind daher irreführend. «Apokryphen des Neuen Testaments» wurden vielmehr zuerst in einer Ausgabe von Johann Albert Fabricius im Jahr 1703 mit dem Titel Codex Apocryphus Novi Testamenti zusammengestellt, der 1719 eine zweite Auflage folgte. «Apokryphen» wurden dabei nicht mehr als «gefälschte» oder «häretische» Schriften aufgefasst, sondern als solche, die sich zwar nicht im Neuen Testament finden, für die Geschichte des antiken Christentums aber dennoch von Interesse sind. Daran orientiert sich seither die Erforschung dieser Schriften, die zu zahlreichen Editionen, Übersetzungen und Untersuchungen geführt hat (einige finden sich in den Literaturhinweisen).
Ausgaben von Apokryphen des Neuen Testaments bzw. von antiken christlichen Apokryphen – und damit auch von apokryphen Evangelien – können unterschiedliche Umfänge aufweisen, je nachdem welche Schriften von den Herausgebern in eine solche Sammlung aufgenommen werden. Die Bezeichnung «apokryph» wird dabei in modernen Ausgaben zumeist beibehalten, allerdings nicht in dem abwertenden Sinn wie bei antiken Theologen. Gelegentlich wird auch der Begriff «nicht-kanonische Evangelien» verwendet, die den Status dieser Texte neutraler und damit letztlich angemessener beschreibt. Der Ausdruck «apokryph» trifft ohnehin nur auf einige dieser Texte zu, sowohl in der Bedeutung «verborgen» als auch in der Beurteilung «gefälscht» oder «verworfen». Das Thomasevangelium, das Judasevangelium, das Apokryphon des Johannes und der apokryphe Jakobusbrief bezeichnen sich selbst als «apokryph», als Schriften also, zu deren Verständnis es besonderer Einsicht bedarf. Bei anderen Schriften – etwa bei den sogenannten Kindheitsevangelien, beim Nikodemusevangelium und etlichen weiteren – ist das dagegen nicht der Fall. Sie sind erst später in abwertendem Sinn als «apokryph» bezeichnet worden, also erst «apokryph geworden» (vgl. dazu die Titel der Werke von Dieter Lührmann im Literaturverzeichnis).
Apokryphe Evangelien sind demnach wichtige Zeugnisse für die antike – dann auch für die mittelalterliche und neuzeitliche – Christentumsgeschichte. Sie zeigen, dass sich das Christentum über die Evangelien des Neuen Testaments hinaus intensiv mit dem Leben Jesu beschäftigt hat: mit seiner Geburt und Kindheit, seiner Familie, seinem Wirken und seiner Lehre, mit Tod und Auferstehung sowie mit seinen Erscheinungen und Belehrungen als Auferstandener. Manche dieser Schriften haben die christliche Frömmigkeitsgeschichte tief geprägt. Sie sind in viele Sprachen übersetzt, fortgeschrieben und ikonographisch umgesetzt worden. Andere apokryphe Texte sind dagegen aus dem christlichen Überlieferungsstrom verschwunden und erst in neuerer Zeit wiederentdeckt und veröffentlicht worden. In all ihrer Unterschiedlichkeit stellen die apokryphen Evangelien dabei die vier in das Neue Testament gelangten Evangelien auf eine breitere Basis von Deutungen der Person Jesu.
Die apokryphen Evangelien geben wichtige Einblicke in die Sozial- und Frömmigkeitsgeschichte des antiken Christentums. Einige dieser Schriften haben die Sicht auf Jesus wesentlich mitgeprägt. Zugleich ist zu bedenken, dass nur in wenigen frühchristlichen Gemeinden alle vier Evangelien, die in das Neue Testament gelangt sind, bekannt oder gar vorhanden waren. Vielmehr ist davon auszugehen, dass in den Gemeinden eines oder zwei dieser Evangelien existierten und darüber hinaus andere Schriften, darunter auch solche, die heute zu den apokryphen Evangelien gerechnet werden. Einige apokryphe Texte sind Zeugnisse für christliche und «gnostische» Gruppen im Umfeld des sich zur Großkirche entwickelnden Christentums. Die Erforschung der apokryphen Evangelien erweitert deshalb die Kenntnisse über das antike Christentum, seine Deutungen der Person Jesu sowie die Verwendung von Schriften in Gemeinden und zum privaten Gebrauch.
Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts waren die apokryphen Evangelien im Wesentlichen durch Erwähnungen und Zitate bei antiken christlichen Theologen sowie durch einige Manuskripte, vornehmlich der Kindheitsevangelien und des Nikodemusevangeliums, bekannt. Die bereits genannte Ausgabe von Fabricius aus dem Jahr 1703 listet antike christliche Erwähnungen dieser Schriften auf und bietet griechische bzw. lateinische Texte. Des Weiteren enthält diese Ausgabe einen Teil «Über Worte Christi, unseres Retters, die in den vier kanonischen Evangelien nicht enthalten sind» (De Dictis Christi Servatoris Nostri, Quae in quatuor Evangeliis Canonicis non extant).
Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat die Erforschung der apokryphen Evangelien einen deutlichen Aufschwung genommen. Wesentlich dazu beigetragen haben zahlreiche Textfunde in Museen und im ägyptischen Wüstensand. Hervorzuheben sind die seit 1898 publizierten Texte aus Oxyrhynchus in Oberägypten, wo mehrere Tausend Papyri ganz unterschiedlichen Charakters entdeckt wurden, darunter auch solche mit apokryphen Jesusüberlieferungen. Ein weiterer aufsehenerregender Fund sind die 1945 in der Nähe des oberägyptischen Ortes Nag Hammadi entdeckten dreizehn Codices, die verschiedenartige Schriften in koptischer Sprache enthalten. Die meisten dieser Schriften sind Übersetzungen ursprünglich griechischer Texte. Dazu gehören auch einige apokryphe Evangelien, die in diesem Buch besprochen werden.
Darüber hinaus wurden zahlreiche Fragmente mit Jesusüberlieferungen, zumeist in griechischer oder koptischer Sprache, an verschiedenen Orten entdeckt. Manche von ihnen lassen sich bereits bekannten Schriften zuordnen, von anderen wusste man schon durch Erwähnungen apokrypher Evangelien bei antiken christlichen Autoren. Bei etlichen dieser Fragmente sind allerdings weder Inhalt noch Umfang oder literarischer Charakter genauer zu identifizieren. Wieder andere Schriften schließlich sind nur durch Zitate antiker Autoren bekannt. Alle diese Texte sind durch Editionen, Spezialuntersuchungen und Übersetzungen in moderne europäische Sprachen – etwa ins Englische, Französische, Spanische, Niederländische und Deutsche – gut zugänglich. Zudem liegen etliche Einführungen vor, die zuverlässige Überblicke über diese Texte vermitteln. Die apokryphen Evangelien haben als Teil der Jesusüberlieferungen des antiken Christentums auch Eingang in Darstellungen der urchristlichen Literatur und der Entstehung des neutestamentlichen Kanons gefunden. Das Bild von der Entstehung des Christentums und seiner Entwicklung in den ersten Jahrhunderten ist auf diese Weise viel facettenreicher geworden.
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