Volker Ullrich
ACHT TAGE IM MAI
Die letzte Woche
des Dritten Reiches
C.H.Beck
Die letzte Woche des Dritten Reiches hat begonnen. Hitler ist tot, aber der Krieg noch nicht zu Ende. Alles scheint zum Stillstand zu kommen, und doch ist alles in atemloser Bewegung. Volker Ullrich schildert Tag für Tag diese «zeitlose Zeit» und entführt den Leser in eine zusammenbrechende Welt voller Dramatik und Gewalt, Hoffnung und Angst. Sein Buch ist eine unvergessliche Zeitreise in den Untergang.
Mai 1945: Während die Regierung Dönitz nach Flensburg ausweicht, rücken die alliierten Streitkräfte unaufhaltsam weiter vor. Berlin kapituliert, in Italien die Heeresgruppe C. Raketenforscher Wernher von Braun wird festgenommen, Marlene Dietrich sucht in Mauthausen nach ihrer Schwester. Es kommt zu einer Selbstmordepidemie und zu Massenvergewaltigungen. Letzte Todesmärsche, wilde Vertreibungen, abtauchende Nazi-Bonzen, befreite Konzentrationslager – all das gehört zu jener «Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht», die Erich Kästner am 7. Mai 1945 in seinem Tagebuch vermerkt. Volker Ullrich, der große Journalist und Hitler-Biograph, hat aus historischen Miniaturen und Mosaiksteinen ein Panorama dieser «Acht Tage im Mai» zusammengefügt, das sich fesselnder liest als mancher Thriller.
Volker Ullrich ist Historiker und leitete von 1990 bis 2009 bei der Wochenzeitung «Die Zeit» das Ressort «Politisches Buch». Er hat eine ganze Reihe von einflussreichen historischen Werken vorgelegt, darunter «Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918» (1997) und die zweibändige Biographie «Adolf Hitler» (2013 und 2018), die auch in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Volker Ullrich erhielt 1992 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik und 2008 die Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Vorwort
Prolog, 30. April 1945
1. Mai 1945
2. Mai 1945
3. Mai 1945
4. Mai 1945
5. Mai 1945
6. Mai 1945
7. Mai 1945
8. Mai 1945
Epilog
Anhang
Anmerkungen
Vorwort
Prolog, 30. April 1945
1. Mai 1945
2. Mai 1945
3. Mai 1945
4. Mai 1945
5. Mai 1945
6. Mai 1945
7. Mai 1945
8. Mai 1945
Epilog
Bibliographie
1. Gedruckte Quellen
2. Tagebücher, Briefe, Erinnerungen
3. Literatur
Dank
Bildnachweis
Personenregister
Das Deutsche Reich im Mai 1945
Am 7. Mai 1945 schrieb der Schriftsteller Erich Kästner in sein Tagebuch: «Leute laufen betreten durch die Straßen. Die kurze Pause im Geschichtsunterricht macht sie nervös. Die Lücke zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht irritiert sie.»[1] Von dieser Phase des «Nichtmehr» und «Nochnicht» handelt dieses Buch. Die alte Ordnung, die Herrschaft des Nationalsozialismus, war zusammengebrochen; eine neue Ordnung, das Regiment der Besatzungsmächte, hatte sich noch nicht etabliert. Viele Zeitgenossen erlebten die Tage zwischen dem Tod Hitlers am 30. April und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 7./8. Mai 1945 als eine tiefgreifende lebensgeschichtliche Zäsur, als die vielzitierte «Stunde Null».[2] Die Uhren schienen buchstäblich stillzustehen. «Es ist so sonderbar, ohne Zeitung, ohne Kalender, ohne Uhrzeit und Ultimo zu leben», notierte eine Berlinerin am 7. Mai. «Die zeitlose Zeit, die wie Wasser dahinrinnt und deren Uhrzeiger für uns einzig die Männer in den fremden Uniformen sind.»[3] Dieses Gefühl, in einer Art «Niemandszeit» zu leben, gab den ersten Tagen des Mai 1945 ihr eigentümliches Gepräge.[4]
Dabei waren gerade diese Tage erfüllt von einer ungeheuren Dramatik. «Sensation auf Sensation! Die Ereignisse überstürzen sich!», hielt ein Justizinspektor im hessischen Städtchen Laubach am 5. Mai in seinem Tagebuch fest. «Berlin von den Russen erobert! Hamburg in den Händen der Engländer! (…) Die deutschen Truppen in Italien u(nd) West-Österreich haben kapituliert. Heute Vormittag ist auch noch die Kapitulation der deutschen Armee in Holland, Dänemark u(nd) Nordwestdeutschland in Kraft getreten. Auflösung an allen Fronten.»[5]
Dieser Auflösungsprozess vollzog sich so plötzlich und in einem so rasanten Tempo, dass zeitgenössische Beobachter Mühe hatten, sich zu orientieren und mit der Entwicklung Schritt zu halten. Bei vielen hinterließ der dramatische Umbruch ein Gefühl der Fassungslosigkeit, ja des Phantastisch-Unwirklichen. «Immer wieder fasst man sich an den Kopf, um sich zu vergewissern, dass alles dies nicht ein Traum sei», bemerkte der württembergische Liberale Reinhold Maier am 7. Mai.[6]
Zur Verwirrung trug bei, dass das Kriegsende in verschiedenen Teilen des untergehenden «Dritten Reiches» unterschiedlich verlief und von den Menschen auch unterschiedlich wahrgenommen wurde.[7] Während die Alliierten in den eroberten westlichen Gebieten vielerorts als Befreier begrüßt wurden, war in den östlichen Provinzen die Angst vor den Russen vorherrschend. Das jahrelang geschürte antibolschewistische Feindbild spielte hier eine Rolle, aber auch das verbreitete Wissen um die deutschen Verbrechen im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Während sich im Westen viele Soldaten mehr oder weniger bereitwillig Briten und Amerikanern ergaben, leistete die Wehrmacht an der Ostfront bis zuletzt erbitterten Widerstand gegen die Rote Armee. So wurde Hamburg am 3. Mai kampflos übergeben, in der Festung Breslau aber noch bis zum 6. Mai weitergekämpft. Während in den befreiten Städten und Regionen erste Maßnahmen zur Reorganisation des politischen Lebens getroffen wurden, dauerte die deutsche Besatzungsherrschaft in den Niederlanden, Dänemark und Norwegen noch in den ersten Maitagen an. Im Protektorat Böhmen und Mähren setzte ihr erst der Aufstand in Prag vom 5. Mai ein Ende.
Während in der subjektiven Wahrnehmung vieler Deutscher die Zeit gleichsam zum Stillstand gekommen schien, war auf den Straßen doch alles in Bewegung. Große Menschenmassen waren unterwegs. Die Todesmärsche der KZ-Häftlinge kreuzten sich mit zurückflutenden Wehrmachteinheiten und Flüchtlingstrecks, die Kolonnen der Kriegsgefangenen mit denen befreiter Zwangsarbeiter und heimkehrender Ausgebombter. Alliierte Beobachter sprachen von einer regelrechten Völkerwanderung. «Es wirkte, als habe jemand in einen ungeheuren Ameisenhaufen gestochert», erinnerte sich der britische Diplomat Ivone Kirkpatrick.[8] Die chaotische und widersprüchliche Abfolge des Geschehens anschaulich zu machen, ist ein wichtiges Vorhaben des Buches.
Mit dem Zwischenspiel der acht Tage untrennbar verbunden ist die Regierung unter Karl Dönitz in Flensburg. Der Großadmiral war noch von Hitler selbst zu seinem Nachfolger bestimmt worden. Er trägt die Hauptverantwortung dafür, dass der Krieg auch nach dem Selbstmord des Diktators noch um eine volle Woche verlängert wurde. Sein Konzept – Teilkapitulationen im Westen bei Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion – sollte nicht nur möglichst vielen Zivilisten und Soldaten die Flucht hinter die britischen und amerikanischen Linien ermöglichen, sondern auch Zwietracht säen im Lager der Anti-Hitler-Koalition. Wie versucht wurde, dieses Konzept umzusetzen, welche Schritte unternommen wurden und welche Illusionen dabei im Spiel waren, bildet einen roten Faden der Darstellung.
Das Intermezzo der Dönitz-Regierung ist auch deshalb aufschlussreich, weil sie sowohl in ihrem Personal als auch in ihren programmatischen Verlautbarungen eine geradezu gespenstische Kontinuität mit dem NS-Regime aufwies – und weil sie keinerlei Bereitschaft zeigte, sich der Verantwortung für die begangenen Verbrechen zu stellen. Darin entsprach sie nicht nur der Haltung der gesamten nationalsozialistischen Machtelite, sondern auch großer Teile der deutschen Bevölkerung.
Doch die Dönitz-Regierung als letztes Überbleibsel deutscher Staatlichkeit prägte nur einen kleinen Ausschnitt jener acht Tage. Daher richtet das Buch den Scheinwerfer weit über die Flensburger Enklave hinaus auf viele andere Schauplätze, um ein möglichst facettenreiches Panorama politischer, militärischer und gesellschaftlicher Ereignisse und Entwicklungen einzufangen. Dabei soll keines der relevanten Themen ausgespart bleiben: die letzten Kämpfe, die Todesmärsche, die Selbstmordepidemie am Ende des Krieges, die immer noch andauernden Schrecken der deutschen Besatzungsherrschaft, die ersten Begegnungen mit den fremden Soldaten, die Massenvergewaltigungen in Berlin, das Schicksal der Kriegsgefangenen, KZ-Häftlinge und «Displaced Persons», die frühen «wilden» Vertreibungen der Deutschen, der Alltag in den Trümmern und der tastende Neubeginn, der für einige den Start in eine steile Nachkriegskarriere markierte.
Die Ereignisse, von denen hier erzählt wird, haben Ursachen, die in die Vergangenheit zurückreichen, und Folgen, die in die Zukunft weisen. Die Darstellung überschreitet daher immer wieder die zeitlichen Grenzen der acht Tage – teils nach hinten und teils nach vorne. Und ebenso müssen die Personen, die in den Blick treten, in ihrem Werdegang und ihrer Entwicklung porträtiert werden. Biographische Miniaturen und Nahaufnahmen mit historischer Tiefenschärfe wechseln sich ab, und dieses Ensemble soll sich zu einem Gesamtbild runden, das, wie ich hoffe, einen plastischen Eindruck von der dramatischen Umbruchphase zwischen dem apokalyptischen Untergang des «Dritten Reiches» und den Anfängen der Besatzungsherrschaft vermittelt.
Dieses Buch lässt Zeitgenossen in Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen ausführlich zu Wort kommen. Vor allem Tagebücher erweisen sich als unverzichtbare Quelle, weil sie die Schwellenerfahrung des Kriegsendes am unmittelbarsten zum Ausdruck bringen.[9] Darin spiegelt sich das Nebeneinander widersprüchlichster Empfindungen und Gefühle, das die Tage Anfang Mai 1945 auch kennzeichnete: Endzeitstimmung auf der einen und Aufbruchstimmung auf der anderen Seite.
In den frühen Stunden des 30. April 1945 traf im Tiefbunker unter der Alten Reichskanzlei eine niederschmetternde Nachricht ein. Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), meldete, dass der Vormarsch der 12. Armee unter General Walter Wenck auf Berlin am Schwielow-See südwestlich von Potsdam zum Stehen gekommen war. Damit war auch die letzte Hoffnung geschwunden, die seit dem 25. April von sowjetischen Truppen eingeschlossene Reichshauptstadt zu entsetzen. Erst jetzt entschloss sich Adolf Hitler, das wahrzumachen, womit er im Laufe seiner unheilvollen Karriere immer wieder gedroht hatte: seinem Leben ein Ende zu setzen.[1]
Noch in der Nacht begann er, sich von einem Teil seiner Mitarbeiter zu verabschieden, darunter auch vom medizinischen Personal des Behelfslazaretts unter der Neuen Reichskanzlei. Er habe das «Gefühl einer fast unerträglichen Ernüchterung» empfunden, berichtet der Arzt Ernst Günther Schenck, der Hitler zum ersten Mal aus der Nähe beobachten konnte. Denn der Mann, der vor ihm stand, habe nicht mehr entfernt dem energiegeladenen «Führer» früherer Tage geähnelt: «Wohl trug er einen grauen Rock mit dem goldgestickten Hoheitszeichen und dem Eisernen Kreuz an der linken Brustseite, auch die lange schwarze Hose; aber der Mensch, der in diesem Tuch steckte, war unvorstellbar tief in sich selbst zurückgefallen. Ich sah hinab auf einen gekrümmten Rücken mit sich abhebenden Schulterblättern, aus dem er den Kopf fast gequält hob.»[2] Hitler gab allen die Hand und bedankte sich für die ihm erwiesenen Dienste. Er wolle sich das Leben nehmen, erklärte er, und entbinde sie von ihrem Eid. Sie sollten versuchen, sich nach Westen, zu den britischen und amerikanischen Verbänden durchzuschlagen, um nicht in russische Gefangenschaft zu geraten.
Bereits um 5.00 Uhr lag die Reichskanzlei wieder unter Dauerbeschuss der russischen Artillerie. Eine Stunde später rief Hitler Wilhelm Mohnke, den Kommandanten der «Zitadelle», des letzten Verteidigungsrings um das Regierungsviertel, zu sich in den Tiefbunker und erkundigte sich, wie lange die Reichskanzlei noch gehalten werden könne. Allenfalls noch ein bis zwei Tage, lautete die Antwort des SS-Brigadeführers. Inzwischen hatten die Russen den größten Teil des Tiergartens erobert und kämpften bereits am Potsdamer Platz, nur 400 Meter von der Reichskanzlei entfernt. Eile war also geboten.
Gegen 12.00 Uhr mittags kam General Helmuth Weidling, den Hitler wenige Tage zuvor zum Kampfkommandanten von Berlin ernannt hatte, von seinem Gefechtsstand in der Bendlerstraße zu einer letzten Lagebesprechung in den Führerbunker. Er zeichnete ein noch düstereres Bild als zuvor Mohnke: Aller Wahrscheinlichkeit nach werde die Schlacht um Berlin bereits am Abend des 30. April beendet sein, da die Munitionsvorräte zur Neige gingen und mit einer weiteren Versorgung aus der Luft nicht mehr gerechnet werden könne. Hitler nahm die Mitteilung ruhig entgegen. Eine Kapitulation lehnte er zwar nach wie vor strikt ab, aber nach Rücksprache mit dem Chef des Generalstabes, General Hans Krebs, erlaubte er den Verteidigern Berlins für den Fall, dass alle Reserven aufgebraucht seien, in kleinen Gruppen auszubrechen und Anschluss an die noch kämpfenden Truppen im Westen zu suchen. Einen entsprechenden letzten schriftlichen «Führerbefehl» erhielt Weidling nach seiner Rückkehr in die Bendlerstraße.[3]
Nach der Lagebesprechung ließ Martin Bormann, der mächtige Leiter der Parteikanzlei und «Sekretär des Führers», Hitlers persönlichen Adjutanten, SS-Sturmbannführer Otto Günsche, zu sich kommen und teilte ihm mit, dass der Diktator sich am Nachmittag mit Eva Braun, seiner frisch angetrauten Frau, das Leben nehmen wolle. Er habe angeordnet, dass die Leichen verbrannt werden sollten. Zu diesem Zweck solle Günsche die notwendige Menge Benzin heranschaffen. Kurze Zeit später nahm auch Hitler seinem Adjutanten das Versprechen ab, für die strikte Ausführung des Befehls zu sorgen. Er wolle nicht, dass man seinen Leichnam nach Moskau bringe und ihn dort zur Schau stelle. Offensichtlich stand ihm das Schicksal Benito Mussolinis vor Augen. Der war am 27. April gemeinsam mit seiner Geliebten Claretta Petacci am Comer See von italienischen Partisanen verhaftet und einen Tag später erschossen worden. Die Leichen waren am Morgen des 29. April nach Mailand geschafft und kopfüber an einer Tankstelle auf der Piazzale Loreto aufgehängt worden. Die Nachricht vom Ende des Duce war am späten Abend des 29. April im Bunker eingetroffen, und sie dürfte Hitler in dem Entschluss bestärkt haben, dass von seinem Leichnam und dem seiner Frau nichts übrigbleiben sollte.
Unverzüglich traf Günsche die Vorbereitungen für die Verbrennung. Er rief Hitlers Chauffeur und Leiter des Kraftwagenparks, Erich Kempka, an und beauftragte ihn, zehn Kanister Benzin heranzuschaffen und am Notausgang des Bunkers zum Garten der Reichskanzlei bereitzustellen.[4]
Zwischen 13.00 und 14.00 Uhr nahm Hitler in Gesellschaft seiner Sekretärinnen Traudl Junge und Gerda Christian sowie seiner Diätköchin Constanze Manziarly die letzte Mahlzeit ein. Wie in den Wochen zuvor drehte sich die Unterhaltung um banale Themen; über das unmittelbar bevorstehende Ende wurde nicht gesprochen – ein «Gastmahl des Todes unter der Maske heiterer Gelassenheit und Gefasstheit», so hat sich Traudl Junge in ihren 1947 geschriebenen (und erst 2002 veröffentlichten) Erinnerungen die Szene ins Gedächtnis zurückgerufen.[5] Eva Braun, Hitlers langjährige Gefährtin, nahm nicht teil. Sie war Anfang März 1945 endgültig aus München nach Berlin zurückgekehrt und hatte sich früh entschieden, gemeinsam mit Hitler in den Tod zu gehen. Zum Dank für ihre bedingungslose Loyalität hatte Hitler sie noch in der Nacht vom 28. auf den 29. April geheiratet. Er habe sich, ließ er die Nachwelt in seinem zuvor diktierten «privaten Testament» wissen, «entschlossen, jenes Mädchen zur Frau zu nehmen, das nach langen Jahren treuer Freundschaft aus freiem Willen in die schon fast belagerte Stadt hereinkam, um ihr Schicksal mit dem meinen zu teilen».[6]
Für Hitler wurde es nun Zeit, sich von seiner Entourage zu verabschieden. Seinem Chefpiloten Hans Baur vermachte er als Geschenk Anton Graffs Porträt Friedrichs des Großen, das über dem Schreibtisch in seinem kleinen Arbeitszimmer im Bunker hing. «Meine Generale haben mich verraten und verkauft, meine Soldaten wollen nicht mehr, und ich kann nicht mehr!» Er wisse, setzte er hinzu, dass ihn «morgen schon (…) Millionen Menschen verfluchen» würden, aber das Schicksal habe es nun einmal nicht anders gewollt.[7] Seinem Kammerdiener Heinz Linge, der seit zehn Jahren täglich um ihn gewesen war, empfahl der Diktator, sich einer der Gruppen anzuschließen, die sich nach Westen absetzen sollten. Auf die erstaunte Frage Linges, für wen man sich denn jetzt noch durchschlagen solle, entgegnete Hitler: «Für den kommenden Mann!»[8]
Gegen 15.15 Uhr versammelten sich die engsten Mitarbeiter im Korridor des Bunkers: Martin Bormann, Propagandaminister Joseph Goebbels, der Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes Walther Hewel, der Generalstabschef des Heeres Hans Krebs, der Chefadjutant der Wehrmacht Wilhelm Burgdorf sowie die Sekretärinnen Junge und Christian und die Diätköchin Manziarly. Hitler erschien in Begleitung seiner Frau. «Er kommt ganz langsam aus seinem Zimmer, gebeugter denn je, tritt in die offene Tür und reicht jedem die Hand», erinnerte sich Traudl Junge. «Ich fühle seine Rechte warm in der meinen, er schaut mich an, aber er sieht mich nicht. Ganz weit weg scheint er zu sein. Er sagt mir etwas, aber ich höre es nicht (…) Erst als Eva Braun auf mich zukommt, löst sich der Bann etwas. Sie lächelt und umarmt mich. ‹Bitte, versuchen Sie doch, rauszukommen, vielleicht können Sie noch durch. Dann grüßen Sie Bayern›.»[9]
Unmittelbar danach tauchte Magda Goebbels auf und bat Günsche, Hitler noch einmal sprechen zu dürfen. Mit ihrem Mann hatte sie entschieden, ebenfalls gemeinsam Selbstmord zu begehen und dabei auch ihre sechs Kinder mit in den Tod zu nehmen. Sie seien nun schon sechs Tage im Bunker, um ihrem «nationalsozialistischen Leben den einzig möglichen, ehrenvollen Abschluss zu geben», hatte sie am 28. April in ihrem Abschiedsbrief an ihren Sohn aus erster Ehe, Harald Quandt, geschrieben. «Die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht wert, darin zu leben, und deshalb habe ich auch die Kinder hierher mitgenommen. Sie sind zu schade für das nach uns kommende Leben, und ein gnädiger Gott wird mich verstehen, wenn ich selbst ihnen die Erlösung geben werde.» Sie habe dem Führer «Treue bis in den Tod» geschworen, und dass sie und ihr Mann mit ihm das Leben beenden könnten, betrachte sie als «eine Gnade des Schicksals, mit der wir niemals zu rechnen wagten».[10] Anscheinend war Magda Goebbels nun in ihrem Entschluss schwankend geworden, denn sie versuchte Hitler zu bewegen, doch noch einen Versuch zu unternehmen, Berlin zu entkommen. Sichtlich ungehalten über die Störung in letzter Minute, wies Hitler sie ab.[11]
Nach etwa zehn Minuten – es war kurz nach 15.30 Uhr – öffnete Diener Linge die Tür zu Hitlers Arbeitszimmer, warf einen Blick hinein und meldete Bormann: «Herr Reichsleiter, es ist passiert!» Beide betraten den Raum. Ihnen bot sich folgendes Bild: Auf der linken Seite des Sofas – vom Betrachter aus gesehen – saß Hitler, den Kopf leicht nach vorn geneigt. Seine rechte Schläfe wies eine zehnpfenniggroße Einschusswunde auf, von der Blut die Wange hinunterlief. Wand und Sofa waren blutbespritzt. Auf dem Boden hatte sich eine tellergroße Blutlache gebildet. Dem herunterhängenden rechten Arm war die Pistole entglitten und lag neben Hitlers rechtem Fuß. Auf der rechten Seite des Sofas saß Eva Braun mit hochgezogenen Beinen. Der bittermandelähnliche Geruch, den die Leiche ausströmte, wies darauf hin, dass sie sich mit einer Zyankalikapsel vergiftet hatte.[12]
Adjutant Günsche ging in den Lageraum und rief den dort Wartenden zu: «Der Führer ist tot!» Goebbels, Krebs, Burgdorf, Reichsjugendführer Artur Axmann und der Leiter des Reichssicherheitsdienstes, SS-Gruppenführer Johann Rattenhuber, begaben sich in den Vorraum zu Hitlers Arbeitszimmer. In diesem Augenblick kam Linge, gefolgt von zwei SS-Männern, mit Hitlers Leichnam heraus. Der Körper war in eine Decke gehüllt, nur die Unterschenkel mit den schwarzen Hosenbeinen, den schwarzen Socken und Halbschuhen schauten heraus. Man trug die Leichen Hitlers und seiner Frau die Treppe hinauf in den Garten der Reichskanzlei und legte sie etwa drei bis vier Meter vom Bunkerausgang entfernt nieder. Bormann trat noch einmal vor, schlug die Decke über Hitlers Gesicht zurück und verharrte einen Augenblick schweigend.
Währenddessen ging ein Hagel von Artilleriegeschossen über der Reichskanzlei nieder. In einer Feuerpause stürzten Günsche, Kempka und Linge hinaus und leerten die bereitgestellten Benzinkanister über die Leichen aus. Zunächst gelang es nicht, das Benzin zu entzünden, da der starke Wind, der durch die Brände entfacht wurde, die Streichhölzer immer wieder ausblies. Schließlich drehte Linge aus einem Stück Papier eine Fackel und schleuderte sie auf die Leichen. Augenblicklich schoss eine helle Flamme empor. Die am Ausgang Versammelten hoben noch einmal den Arm zum Hitlergruß und zogen sich danach schnell in den Bunker zurück. Die sterblichen Überreste Adolf und Eva Hitlers wurden am Abend des 30. April auf Befehl Günsches von zwei SS-Leuten aus Hitlers Leibwache in einer Mulde im Garten der Reichskanzlei verscharrt.[13]
Zur selben Zeit, als Hitler die letzten Vorbereitungen für seinen Selbstmord traf, setzten die sowjetischen Truppen zum Sturm auf den Reichstag an. Das wuchtige neobarocke Gebäude am Königsplatz, das der Frankfurter Architekt Paul Wallot zwischen 1884 und 1894 hatte erbauen lassen, galt den russischen Befehlshabern als das eigentliche Wahrzeichen der verhassten Hitler-Diktatur. Für sie waren es die Nationalsozialisten gewesen, die am 27. Februar 1933 den Reichstag in Brand gesteckt hatten – ein Ereignis, das nicht nur den Vorwand geliefert hatte für die brutale Verfolgung der Kommunisten in ganz Deutschland, sondern mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar auch den Grundstein gelegt hatte für die Errichtung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. So erklärt sich, dass der Reichstag und nicht die nur wenige hundert Meter entfernte Reichskanzlei mit dem Führerbunker, Hitlers letztem Schlupfloch, als wichtigstes Ziel im Endkampf um Berlin auserkoren wurde. Bis zum 1. Mai, dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, sollte der Wallot-Bau erobert werden.
Bereits am 29. April hatten russische Stoßtruppen die über die Spree führende Moltkebrücke freigekämpft und das nahegelegene Reichsinnenministerium besetzt. In den Morgenstunden des 30. April begann der Sturm auf den Reichstag.[14] Doch die Eroberung erwies sich als weitaus schwieriger als gedacht. Denn die Verteidiger – eine zusammengewürfelte Truppe aus Wehrmacht- und SS-Einheiten, dazu einige hundert eingeflogene Marineinfanteristen – hatten das Gebäude in eine Festung verwandelt. Sie hatten alle Fenster und Türen, bis auf Schießscharten, zugemauert und das Gelände vermint. Maschinengewehrnester und mit Wasser gefüllte Gräben stellten ein schwer zu überwindendes Hindernis dar. Der erste Angriff blieb im heftigen deutschen Gegenfeuer liegen. Zur Unterstützung der Infanterie brachten die Russen weitere Sturmgeschütze und Panzer über die Moltkebrücke auf den Königsplatz. Doch auch zwei weitere, am Vormittag und frühen Nachmittag unternommene Angriffe scheiterten unter hohen Verlusten. Deshalb beschlossen die sowjetischen Kommandeure, für den letzten, um 18.00 Uhr angesetzten Angriff den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten. Und tatsächlich glückte es den sowjetischen Soldaten diesmal, bis zu den Stufen des Reichstags vorzudringen und die Eingangstür aufzubrechen. Im Gebäude selbst begann ein blutiger Nahkampf von Mann zu Mann. Während sich die Rotarmisten mit Maschinenpistolen und Handgranaten die breiten Treppen hinaufkämpften, zogen sich die Verteidiger in die Untergeschosse und die Keller zurück.
Gegen 22.40 Uhr gelangte eine Gruppe sowjetischer Soldaten um Michail Petrowitsch Minin auf das Dach des Reichstags. Sie hatten ein rotes Tuch dabei, aber keine Fahnenstange. So nahmen sie ein herumliegendes Rohr, befestigten daran das Tuch und steckten die improvisierte Fahne in eine halbzerstörte Frauenskulptur.[15] Damit war der Kampf um den Reichstag jedoch noch nicht beendet. Die Deutschen leisteten weiterhin verbissenen Widerstand. Erst am Nachmittag des 2. Mai ergaben sich die letzten Einheiten.
Rotarmisten hissen die Rote Fahne auf dem Berliner Reichstag. Die Szene wurde vom sowjetischen Fotografen Jewgeni Chaldej am 2. Mai 1945 nachgestellt.
Es wurde also noch gekämpft, als der sowjetische Fotograf Jewgeni Chaldej am Morgen des 2. Mai das Gebäude betrat und mit seiner Kamera nachstellte, was in Wirklichkeit bereits 30 Stunden zuvor geschehen war: Zwei Rotarmisten hissten als angeblich erste die rote Fahne mit Hammer und Sichel auf dem Dach des Reichstags. Das berühmte Foto wurde zur Ikone, symbolisierte es doch wie kein anderes den Sieg der Sowjetarmee über Hitler-Deutschland. Zur Geschichte dieses Bildes gehört, dass Chaldej einige Monate später eine zweite Armbanduhr am rechten Handgelenk des Soldaten, der den Bannerträger stützte, wegretuschieren musste. Damit wollte man gar nicht erst den Verdacht aufkommen lassen, es handle sich womöglich um Diebesgut. Denn Uhren waren ein begehrtes Beutestück der sowjetischen Eroberer.[16]
Der Reichstag wurde in den folgenden Tagen zum «Ziel einer wahren Pilgerfahrt».[17] Der Strom der Besucher riss nicht ab. Viele Rotarmisten schrieben Losungen auf die Wände oder ritzten Botschaften in das Gemäuer, mit denen sie ihren Triumphgefühlen Ausdruck verliehen.[18] Die Graffiti in kyrillischen Buchstaben sind noch heute zu besichtigen.
«Abends sehen wir einige amerikanische Autos. Sie beziehen Posten in den Straßen. Es ist erstaunlich friedlich vor sich gegangen.» Das notierte Marianne Feuersenger, Sekretärin in der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Oberkommandos der Wehrmacht, am 30. April 1945 in ihren Taschenkalender.[19] Dass die Besetzung Münchens durch die Amerikaner zu der Zeit stattfand, als sich Adolf Hitler und seine Gefährtin in Berlin das Leben nahmen, war von hoher Symbolkraft. Denn in der bayerischen Metropole hatte der namenlose Gefreite des Ersten Weltkriegs im Jahr 1919 seine politische Laufbahn begonnen. Hier, in dem aufgeheizten Klima der Gegenrevolution nach der Episode der Räterepublik, hatte sich dem aufstrebenden Demagogen ein idealer Resonanzboden für seine hemmungslose Agitation geboten. Und hier war die nationalsozialistische Bewegung in den frühen Zwanzigerjahren rasch aufgeblüht, wohlwollend geduldet durch die bayerische Polizei und Justiz. Seine anhaltende Dankbarkeit hatte der spätere «Führer» und Reichskanzler bewiesen, als er München im August 1935 den Ehrentitel «Hauptstadt der Bewegung» verlieh. Bei ihrem Einmarsch präsentierten amerikanische Soldaten als eine Art Siegestrophäe das Ortsschild mit der Aufschrift «Hauptstadt der Bewegung. München», das ihnen zuvor als Zielscheibe gedient hatte. Das Bild sollte fast dieselbe ikonografische Bedeutung erlangen wie Jewgeni Chaldejs Foto von der Flaggenhissung auf dem Berliner Reichstag.[20]
In den letzten Apriltagen 1945, als die Amerikaner bereits Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage, erobert hatten und sich im raschen Vormarsch auf Bayerns Hauptstadt befanden, warfen US-Flugzeuge Flugblätter ab, in denen die «Männer und Frauen von München» aufgefordert wurden, den anrückenden Truppen keinen Widerstand zu leisten: «Es liegt in Eurem Interesse, im Interesse der gesamten Bevölkerung, der Vernunft zum Sieg zu verhelfen. Deshalb: Windet den Fanatikern das Heft aus der Hand! Mut gefasst und gehandelt!»[21]
Doch Gauleiter Paul Giesler, ein fanatischer Nationalsozialist, und seine Gefolgsleute dachten gar nicht daran, München kampflos zu übergeben. Sie wollten die Stadt, die zu großen Teilen nur noch ein Trümmerfeld war, einer Anweisung Hitlers folgend, so lange wie möglich verteidigen. Giesler ordnete an, die wichtigsten Brücken über die Isar zu sprengen – einer der vielen sinnlosen Zerstörungsbefehle in letzter Minute, der von einem Offizier des beauftragten Pionierbataillons erfolgreich sabotiert wurde.
Amerikanische Soldaten führen beim Einmarsch am 30. April 1945 das Ortsschild Münchens als Trophäe mit.
Allerdings gab es in München und Umgebung mehrere Gruppen von Hitler-Gegnern, die sich im Laufe des Monats April 1945 zur «Freiheitsaktion Bayern (FAB)» zusammengetan hatten und nun zum Handeln entschlossen waren. Ihnen gehörten überwiegend konservative, bayerisch-patriotisch gesinnte Männer an. Ihr erstes Ziel war, die hohen NS-Funktionäre festzunehmen und München kampflos den Amerikanern zu übergeben. In der Nacht vom 27. auf den 28. April setzten Offiziere unter Führung von Hauptmann Rupprecht Gerngroß, Chef der Dolmetscherkompanie im Wehrkreis VII, das Signal zum Aufstand. Die Aktion lief unter dem Codewort «Fasanenjagd» ab – eine Anspielung auf die «Goldfasane», wie die ungeliebten braunen Bonzen mit ihren goldbetressten Uniformen genannt wurden. Es gelang den Aufständischen im ersten Anlauf, das Münchner Rathaus zu stürmen und zwei Rundfunksender – den Wehrmachtsender in Freimann und die Großsendeanlage in Ismaning – zu besetzen.
Die Rundfunkhörer im Großraum München glaubten ihren Ohren nicht zu trauen, als sie in den frühen Morgenstunden des 28. April die Nachricht vernahmen, dass eine «Freiheitsaktion Bayern» «die Regierungsgewalt erstritten» habe. In einem Zehn-Punkte-Programm versprachen die Aufständischen die «Ausrottung der Blutherrschaft des Nationalsozialismus», der «die Gesetze der Moral und Ethik in einer Weise verletzt» habe, «dass sich jeder anständige Deutsche mit Abscheu davon abwenden muss». Außerdem verlangten sie die Beseitigung des Militarismus, die Wiederherstellung des Rechtsstaates und der Menschenwürde sowie die Schaffung eines «modernen Sozialstaats», in dem «jeder den Platz erhalten» sollte, «der ihm aufgrund seiner Fähigkeiten zusteht».[22]
Doch Gerngroß und seine Mitstreiter hatten die Lage falsch eingeschätzt. Die Münchner schlossen sich dem Aufruf zur Rebellion nicht an, sondern zogen es vor, sich abwartend zu verhalten. Franz Ritter von Epp, Reichsstatthalter in Bayern, versagte sich dem Wunsch der Aufständischen, gemeinsam mit ihnen Kapitulationsverhandlungen zu führen und eine Übergangsregierung zu bilden. Vor allem aber missglückte der Versuch, Gauleiter Giesler zu verhaften. Nach einer kurzen Phase der Verwirrung leiteten die Machthaber Gegenmaßnahmen ein. In einem Flugblatt «An die Bevölkerung des Gaues München–Oberbayern» verkündete Giesler am Vormittag des 28. April: «Alle Positionen in München sind fest in unserer Hand. Wir stehen zu unserem Führer Adolf Hitler (…) Gerngroß wird seiner Strafe nicht entgehen. Der Spuk wird bald vorbei sein.»[23] Tatsächlich wurde der Aufstand schon nach wenigen Stunden niedergeschlagen. Gerngroß konnte entkommen, aber eine Reihe seiner Mitkämpfer wurde im Hof des Zentralministeriums standrechtlich erschossen, unter ihnen Günther Caracciola-Delbrück, ein Verbindungsoffizier der Wehrmacht und Vertrauter Ritter von Epps.
Auch in zahlreichen Gemeinden Südbayerns, wo der Aufruf der FAB den Anstoß gegeben hatte, sich gegen die örtlichen NS-Funktionsträger zu erheben, kam es zu einem blutigen Rachefeldzug von Hitler-treuen Fanatikern und SS-Männern, dem über 50 Menschen zum Opfer fielen. Eines der scheußlichsten Verbrechen ereignete sich in dem Bergbaustädtchen Penzberg. Hier erschossen und erhängten die Mörder in der Nacht vom 28. auf den 29. April 16 Männer und Frauen, darunter den früheren SPD-Bürgermeister.[24]
Noch bevor die US-Soldaten am Vormittag des 30. April in die bayerische Metropole einrückten, hatte sich Gauleiter Giesler nach Berchtesgaden abgesetzt, wo er sich einige Tage später erschießen sollte. Der Einmarsch der Amerikaner vollzog sich nahezu kampflos. Nur vereinzelt leisteten SS- und Volkssturm-Einheiten noch Widerstand. Kurz nach 16.00 Uhr übergab der Stellvertreter des Münchner Oberbürgermeisters Karl Fiedler – der sich ebenfalls aus dem Staub gemacht hatte – das Rathaus an einen Major der 7. US-Armee. «Die ganze Alliierte Expeditionsstreitmacht gratuliert der 7. Armee zur Einnahme von München, der Wiege der Nazi-Bestie», schrieb General Dwight D. Eisenhower in seinem Tagesbefehl.[25]
Viele Münchner standen Spalier und bereiteten den GIs einen freundlichen Empfang. «Dieser Einzug in die Stadt ist das Eigenartigste, was ich bis jetzt erlebte (…)», empörte sich eine junge Münchner Nationalsozialistin, die 19jährige Wolfhilde von König, in ihrem Tagebuch. «Kaum zeigten sich die ersten Amerikaner in unserer Straße, da wurden von einzelnen Wohnungen die weißen Fahnen gehisst. Manche Leute winkten mit den Tüchern. Etwas mehr Ehre hätte ich den Münchnern schon zugetraut.»[26] Ernst Langendorf, ein emigrierter deutscher Journalist, der als Sergeant in einer US-Propagandakompanie diente, erinnerte sich, wie sich nach der Ankunft im Stadtzentrum der Marienplatz rasch mit Hunderten von Menschen füllte: «Interessiert betrachteten sie unsere Fahrzeuge, andere betasteten den Stoff unserer Uniformen und lobten seine Qualität, Mädchen fielen uns um den Hals und das Verbrüderungsverbot wurde gründlich übertreten. Es herrschte eine recht fröhliche Stimmung, überall hörte ich: Jetzt ist es vorbei. Jetzt können wir wieder schlafen. Jetzt kommen keine Flieger mehr.»[27]
Von seinem Bett im Krankenrevier des Konzentrationslagers Dachau beobachtete der Häftling Edgar Kupfer-Koberwitz am 30. April 1945, einen Tag nach der Befreiung durch amerikanische Soldaten: «Überall im Lager wehen jetzt von den Blocks die Fahnen in den Farben aller Länder, die hier vertreten sind. – Wo sind sie nur hergekommen? (…) Dachau, wie immer, viele Häftlinge gehen auf der Lagerstraße, aber sie gehen, sie schleichen nicht so in ihrem Gang, sie gehen freier, unbeschwerter (…) Alle sind sehr beruhigt, weil die Amerikaner jetzt unseren Schutz übernommen haben. – Ich glaube, für jeden von uns wird das Wort ‹Amerikaner› das Leben lang einen goldenen Klang haben.»[28]
Das Konzentrationslager Dachau war im März 1933 errichtet und schon bald zu einem Synonym für schrankenlosen staatlichen Terror geworden. Es diente als eine Art Laboratorium für alle Formen der Gewalt, die unter der Regie der SS erprobt und in den folgenden Jahren auch auf andere Konzentrationslager übertragen wurden. Gerüchte über das, was im Lager geschah, machten die Runde und waren dem Regime wegen ihrer Abschreckungswirkung durchaus willkommen. «Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm!», wurde zur weitverbreiteten Flüsterparole im «Dritten Reich».[29] Die Befreiung Dachaus wurde daher – noch mehr als die Buchenwalds am 11. April und Bergen-Belsens drei Tage später – zum Symbol für das Ende des nationalsozialistischen Terrorsystems, so wie das Aufziehen der roten Fahne auf dem Reichstag zum Sinnbild für die endgültige Niederlage Hitler-Deutschlands wurde.
In den letzten Monaten des Krieges hatten sich die Bedingungen im Stammlager Dachau dramatisch verschlechtert. Ständig trafen neue Transporte aus den evakuierten Konzentrationslagern in Osteuropa ein, so dass das Lager hoffnungslos überfüllt war. Die ohnehin völlig unzureichenden Lebensmittelrationen wurden weiter gekürzt, die hygienischen Bedingungen spotteten jeder Beschreibung. Viele Häftlinge fielen einer Flecktyphusepidemie zum Opfer. Allein vom Dezember 1944 bis zum Tag der Befreiung kamen über 14.000 Menschen um. «Die Häftlinge, erschöpft, unterernährt und verlaust, starben wie die Fliegen (…)», sagte ein ehemaliger Lagerschreiber in den noch Ende 1945 begonnenen Dachauer Prozessen aus. «Die Leichen lagen zwischen den Blöcken zwischen den lebenden Häftlingen, sie lagen auf den Straßen (…), manchmal so lange, bis sie verwest waren.»[30]
In der zweiten Aprilhälfte, als bereits der Geschützdonner in der Ferne zu hören war und amerikanische Tiefflieger über dem Areal auftauchten, stieg die Spannung ins Unerträgliche. Es verdichteten sich die Anzeichen, dass die SS im Begriff war, aus dem Lager abzuziehen. Um die Spuren ihrer Untaten zu verwischen, ließ sie Unmengen von Akten verbrennen. Die Stimmung der Häftlinge schwankte zwischen der Hoffnung auf Befreiung und der Furcht, noch in letzter Stunde einem Massaker zum Opfer zu fallen.
Am 26. April rückten die Arbeitskommandos nicht mehr aus. Die Häftlinge mussten auf dem Appellplatz antreten. Gegen Abend wurden 6887 Lagerinsassen gezwungen, sich in drei Blöcken in Marsch zu setzen. Ihnen folgten schwerbewaffnete SS-Männer mit Hunden. Dem Zug schlossen sich noch weitere Gruppen aus verschiedenen Außenlagern an, so dass es schließlich rund 10.000 Menschen waren, die sich Richtung Süden bis nach Bad Tölz schleppten. Die Einwohner der Gemeinden, durch die sich der Elendszug wälzte, reagierten zum Teil gleichgültig, zum Teil aber auch erschrocken und verängstigt. Zum ersten Mal wurden sie ganz unmittelbar mit den Verbrechen des Regimes konfrontiert. Wer Mitleid zeigte und den Entkräfteten ein Stück Brot zustecken oder ein Getränk reichen wollte, wurde nicht selten von den SS-Aufsehern daran gehindert. Am Morgen des 2. Mai, nach einem Nachtlager in einem Wald nahe Waakirchen, konnten die Häftlinge schließlich aufatmen: Die Wachmannschaften waren verschwunden. Wie viele der Verschleppten auf dem Todesmarsch am Wegesrand gestorben oder erschossen worden waren, ist nicht sicher. Ihre Zahl wird auf 1000 bis 1500 geschätzt.[31]
Für die im Stammlager verbliebenen rund 32.000 Häftlinge, mehr als 4000 im Krankenrevier, hatte die Stunde der Befreiung schon früher geschlagen. Gegen Mittag des 29. April erreichten Angehörige des 157. Infanterieregiments der 45. Thunderbird-Infanteriedivision unter Lieutenant Colonel Felix Sparks das riesige Areal des Lagers. Edgar Kupfer-Koberwitz hat in seinem Tagebuch den Augenblick festgehalten: «Plötzlich draußen Geschrei, Gelaufe, Gerenne: ‹Die Amerikaner sind da, die Amerikaner sind im Lager, ja, ja, sie sind auf dem Appellplatz!› – Alles gerät in Bewegung. – Kranke verlassen die Betten, die fast Gesunden und das Personal rennen auf die Blockstraße, springen aus den Fenstern, klettern über die Bretterwände. – Alles rennt auf den Appellplatz. – Man hört von weitem bis hierher das Schreien und Hurrarufen. – Es sind Freudenschreie. – Immer noch läuft und rennt alles. – Die Kranken haben erregte, verklärte Gesichter: ‹Sie sind da, wir sind frei, frei!›.»[32]
Bevor die amerikanischen Soldaten bis zum eigentlichen Lagergelände vordrangen, stießen sie auf einen auf einem Nebengeleis abgestellten Güterzug, in dem sich die Leichen von 2000 Häftlingen befanden, die auf dem Transport von Buchenwald nach Dachau verhungert und verdurstet waren. Der Schock über die grausige Entdeckung verstärkte sich noch, als sie im Lager selbst Hunderte über das ganze Areal verstreute Leichen vorfanden. «Dantes Inferno schien blass gegen die reale Hölle von Dachau (…)», beschrieb Lieutenant Colonel Sparks den Anblick. «Etliche Männer der Ersten Kompanie, allesamt kriegsgewohnte Veteranen, wurden aufs höchste erregt. Manche weinten, während andere in Raserei gerieten.»[33] In dieser aufgebrachten Stimmung erschossen die GIs einen Teil der SS-Männer, derer sie habhaft werden konnten. Erst Sparks’ entschlossenes Eingreifen verhinderte, dass die Erschießungen fortgesetzt wurden.[34] Gegen Abend hatte sich die Lage beruhigt. Gemeinsam mit dem Internationalen Häftlingskomitee konnten sich die Amerikaner daranmachen, die Kranken zu versorgen. Aber auch nach der Befreiung starben noch täglich ehemalige Häftlinge. Edgar Kupfer-Koberwitz, der Chronist von Dachau, überlebte. In seinem letzten Eintrag vom 2. Mai schrieb er: «Ich muss jetzt unbedingt aus dem Revier, sehen wie es im Lager aussieht. – (…) Vor allen Dingen aber ist es wichtig, die Manuskripte, das Tagebuch, das Buch über Dachau und die anderen schriftlichen Sachen aus ihrem Versteck zu heben, in Gegenwart der Amerikaner, so dass später niemand sagen kann, es sei vielleicht gar nicht hier geschrieben worden.»[35]
Am 30. April, um 18.35 Uhr, ging im Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, in Plön ein Telegramm Martin Bormanns ein: «Anstelle des bisherigen Reichsmarschalls Göring setzte der Führer Sie, Herr Großadmiral, als seinen Nachfolger ein. Schriftliche Vollmacht unterwegs. Ab sofort sollen Sie sämtliche Maßnahmen verfügen, die sich aus der gegenwärtigen Lage ergeben.»[36] Dass Hitler bereits seit drei Stunden tot war, verschwieg Bormann, ja er hatte das Telegramm wohl absichtlich so formuliert, dass Dönitz in dem Glauben belassen wurde, der Diktator sei noch am Leben.
In seinem in der Nacht vom 28. auf den 29. April diktierten «politischen Testament» hatte Hitler tatsächlich Dönitz zu seinem Nachfolger als Staatsoberhaupt bestimmt – allerdings nicht als «Führer und Reichskanzler», sondern mit dem Titel «Reichspräsident», den er seit dem Tode Hindenburgs im August 1934 abgeschafft hatte. Dönitz zur Seite gestellt hatte er als Reichskanzler Propagandaminister Goebbels und mit dem neugeschaffenen Amt eines «Parteiministers» seinen Sekretär Bormann. Noch in derselben Nacht hatte Hitler angeordnet, das Testament in drei Ausfertigungen aus Berlin herausbringen zu lassen. Ein Exemplar sollte an Dönitz, ein zweites an den neuen Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner, und ein drittes an die Münchner Parteizentrale gehen. Doch keiner der ausgesandten Kuriere erreichte sein Ziel.[37]
In seinen 1963 veröffentlichten Memoiren hat Dönitz bekundet, ihn habe die Ernennung zu Hitlers Nachfolger unvorbereitet getroffen: «Niemals hatte er mir gegenüber die geringste Andeutung gemacht, dass er mich als seinen Nachfolger in Betracht gezogen hätte (…) Nie war ich selbst auf den Gedanken verfallen, dass mir eine solche Aufgabe gestellt werden könnte.»[38] Doch so überraschend war Hitlers Entscheidung nicht. Denn Hermann Göring, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, den der Diktator in seiner Reichstagsrede zu Beginn des Krieges am 1. September 1939 als designierten Nachfolger für den Fall seines Todes präsentiert hatte, hatte viel an Wertschätzung verloren, seit die alliierten Kampfflugzeuge und Bombengeschwader die Luftherrschaft über den Kontinent errungen hatten. Dass sich der Reichsmarschall nach dem letzten Geburtstagsempfang Hitlers am 20. April 1945 als Erster unter seinen Paladinen nach Süddeutschland davongemacht hatte, war übel vermerkt worden. Vollends in Ungnade fiel er drei Tage später, als er in einem Telegramm vom Obersalzberg anfragte, ob die Nachfolgeregelung in Kraft treten solle, da Hitler offenbar seiner «Handlungsfreiheit» beraubt sei. Der Diktator interpretierte den Vorstoß als einen Akt der Illoyalität, ließ Göring unter Hausarrest stellen und enthob ihn aller seiner Ämter.[39]
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