Walter Toman
Familienkonstellationen
Ihr Einfluß auf den Menschen
Verlag C. H. Beck
Ob man das einzige Kind war oder ob man Geschwister hatte, ob ältere oder jüngere Geschwister, ob solche vom gleichen Geschlecht oder vom anderen Geschlecht, oder beides, ob die Eltern aus kleinen oder größeren Familien stammen, ob Personenverluste in den Familien zu beklagen waren, wie gut die Erfahrungen der Ehepartner in ihren jeweiligen Herkunftsfamilien zusammenpassen und wie sich die Kinderfolge, die ihnen das Schicksal beschert, in diese Erfahrungen einfügt, alles das wird hier beschrieben.
Die Leser finden in dieser Vielfalt auch Aufschluß über ihre eigene Familienkonstellation, ebenso über jene der Freunde und Bekannten, der Liebes- oder Ehepartner. Die eigenen Eltern und Geschwister können sie ebenfalls besser verstehen lernen, und im täglichen Umgang mit den Kindern, wenn sie welche haben, wird ihnen manches einleuchten, das sie zunächst verwunderte. Wenn sie noch keine Kinder haben, aber welche möchten, können sie hier erfahren, was ihnen an Möglichkeiten bevorsteht. Wenn sie keine Kinder wollen, finden sie vielleicht sogar dafür eine Erklärung.
Alles hier Gesagte ist der Wirklichkeit, dem tatsächlichen Verhalten und Handeln der Menschen und den vielen Familienleben nachgezeichnet, die der Autor systematisch beobachtet und an denen er oft auch beraterisch oder therapeutisch Anteil genommen hat.
Walter Toman (1920–2003), war Professor für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg mit Schwerpunkt Klinische Psychologie, Psychotherapie-Forschung und Psychotherapie-Ausbildung. Toman hat als erster seit 1959 in wissenschaftlichen Artikeln und seit 1961 mit dem englischen Buch Family Constellation, das in Amerika als „Klassiker“ gilt, außer den Geschwisterpositionen selbst das Thema der Geschwisterpositionen der Eltern, die Beziehungen der Eltern untereinander und zu den Kindern empirisch und theoretisch grundlegend behandelt.
Vorwort zur sechsten Auflage
I. Theorie und Forschung
1. Einleitung
2. Personenzusammensetzungen in der Familie
2.1. Zwei Brüder
2.2. Bruder und Schwester
2.3. Schwester und Bruder
2.4. Zwei Schwestern
2.5. Jemand hat mehrere Geschwister vom gleichen Typus
2.6. Gemischte und mittlere Geschwisterpositionen
2.7. Die Größe einer Geschwisterkonfiguration
2.8. Einzelkinder
2.9. Zwillinge
2.10. Altersunterschiede
3. Veränderungen in Familienkonstellationen
3.1. Personenverluste
3.2. Halb- und Stiefgeschwister
3.3. Adoptivkinder
4. Andere Einflußfaktoren
5. Tierfamilien und Sonderformen menschlicher Familien
6. Liebes- und Ehepartner
6.1. Komplementarität von Geschwisterrollen
6.2. Nicht-komplementäre Partnerbeziehungen
6.3. Einzelkinder unter den Partnern
6.4. Komplementarität versus Nicht-Komplementarität von
Geschwisterrollen
6.5. Statistische Tests der Komplementarität von Geschwisterrollen
7. Freundschaften
8. Eltern-Kind-Beziehungen
9. Verwandte
10. Das Datenmaterial
II. Anwendung und Praxis
11. Haupttypen von Geschwisterpositionen
11.1. Der älteste Bruder von Brüdern: b(b..)
11.2. Der jüngste Bruder von Brüdern: (.. b)b
11.3. Der älteste Bruder von Schwestern: b(s..)
11.4. Der jüngste Bruder von Schwestern: (.. s)b
11.5 Das männliche Einzelkind: b
11.6. Die älteste Schwester von Schwestern: s(s..)
11.7. Die jüngste Schwester von Schwestern: (..s)s
11.8. Die älteste Schwester von Brüdern: s(b..)
11.9. Die jüngste Schwester von Brüdern: (.. b)s
11.10. Das weibliche Einzelkind: s
11.11. Gemischte und mittlere Geschwisterpositionen:
Interpretationsregeln
11.12. Geschwisterpositionswechsel
12. Eltern und Elternpaartypen
12.1. Elternpaare ohne Rang- und Geschlechtskonflikt
12.1.1. Vater der älteste Bruder von Schwestern – Mutter die jüngste Schwester von Brüdern: b(s..)/(b..)s
12.1.2. Vater der jüngste Bruder von Schwestern – Mutter die älteste Schwester von Brüdern: (s..)b/s(b..)
12.2. Elternpaare mit teilweisem Geschlechtskonflikt
12.2.1. Vater der älteste Bruder von Schwestern – Mutter die jüngste Schwester von Schwestern: b(s..)/(s..)s
12.2.2. Vater der jüngste Bruder von Schwestern – Mutter die älteste Schwester von Schwestern: (s..)b/s(s..)
12.2.3. Vater der älteste Bruder von Brüdern – Mutter die jüngste Schwester von Brüdern: b(b..)/(b..)s
12.2.4. Vater der jüngste Bruder von Brüdern – Mutter die älteste Schwester von Brüdern: (b..)b/s(b..)
12.3. Elternpaare mit Rangkonflikt oder mit Geschlechtskonflikt
12.3.1. Vater der älteste Bruder von Schwestern – Mutter die älteste Schwester von Brüdern: b(s..)/s(b..)
12.3.2. Vater der jüngste Bruder von Schwestern – Mutter die jüngste Schwester von Brüdern: (s..)b/(b..)s
12.3.3. Vater der älteste Bruder von Brüdern – Mutter die jüngste Schwester von Schwestern: b(b..)/(s..)s
12.3.4. Vater der jüngste Bruder von Brüdern – Mutter die älteste Schwester von Schwestern: (b..)b/s(s..)
12.4. Elternpaare mit Rang- und teilweisem Geschlechtskonflikt
12.4.1. Vater der älteste Bruder von Schwestern – Mutter die älteste Schwester von Schwestern: b(s..)/s(s..)
12.4.2. Vater der jüngste Bruder von Schwestern – Mutter die jüngste Schwester von Schwestern: (s..)b/(s..)s
12.4.3. Vater der älteste Bruder von Brüdern – Mutter die älteste Schwester von Brüdern: b(b..)/s(b..)
12.4.4. Vater der jüngste Bruder von Brüdern – Mutter die jüngste Schwester von Brüdern: (b..)b/(b..)s
12.5. Elternpaare mit Rang- und Geschlechtskonflikt
12.5.1. Vater der älteste Bruder von Brüdern – Mutter die älteste Schwester von Schwestern: b(b..)/s(s..)
12.5.2. Vater der jüngste Bruder von Brüdern – Mutter die jüngste Schwester von Schwestern: (b..)b/(s..)s
12.6. Einzelkinder als Ehepartner und Eltern
12.6.1. Vater ein Einzelkind
12.6.2. Mutter ein Einzelkind
12.6.3. Vater und Mutter Einzelkinder: b/s
12.7. Eltern mit mittleren und gemischten Geschwisterpositionen
13. Kleine klinisch-psychologische Kasuistik
13.1. Symbolische Darstellung von Familienkonstellationen
13.2. Ein junger, früh verheirateter Mann
13.3. Ein Ehepaar in Familientherapie
13.4. Eine jugendliche „Bande“ in Gruppentherapie
14. Quantitative Aspekte, verwandte Theorien und
andere Untersuchungen
15. Familiendaten in der klinisch-psychologischen Praxis
16. Datenerhebungen über Familienkonstellationen
16.1. Leitblatt für Datenerhebungen
Nachwort
Bibliographie
Autorenregister
Sachregister
Wir sind alle in Familien aufgewachsen, auch wenn es in manchen Fällen unvollständige oder Ersatzfamilien waren, und die überwiegende Mehrzahl von uns wird selbst eine Familie gründen oder hat sie schon gegründet. Lediglich in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter, wenn wir uns von unserer Familie zunehmend abzusetzen trachten und auf der Suche nach eigenen Möglichkeiten sind, sei es in der Ausbildung, im Beruf, in der Freizeit oder im Freundeskreis, denken wir streckenweise anders. Da brauchen wir kein Familienleben, glauben wir. Da wollen viele von uns frei herumschwärmen, das Leben auskosten und sich nicht auf Dauer binden.
Dieser Zustand hält aber nicht sehr lange an. Früher oder später geraten wir doch auf jene Person, die uns wichtiger ist als alle anderen und mit der wir länger zusammenbleiben wollen, vielleicht für immer. Kinderwünsche beginnen sich zu regen, und eines Tages ist auch für uns ein Kind unterwegs. Wenn wir damit nicht zu lange gewartet haben, folgt oft ein zweites Kind, in einigen Fällen sogar ein drittes.
Aus welchen Familienverhältnissen wir kommen, aus welchen Personen sich unsere Herkunftsfamilien zusammensetzen, was unterschiedliche Familienkonstellationen für unser späteres Leben bedeuten können und welche Erfahrungen und Erwartungen wir dementsprechend in unsere Freundschaften und schließlich in unsere Lebenspartnerschaft einbringen, davon handelt das vorliegende Buch in umfassender, kompakter und übersichtlicher Form. Auch unsere Erwartungen und Hoffnungen für unsere Kinder sind davon beeinflußt. Ob man das einzige Kind war oder ob man Geschwister hatte, ob ältere oder jüngere Geschwister, ob solche vom gleichen Geschlecht oder vom anderen Geschlecht, oder beides, ob die Eltern aus kleinen oder größeren Familien stammen, ob Personenverluste in den Familien zu beklagen waren, wie gut die Erfahrungen der Ehepartner in ihren jeweiligen Herkunftsfamilien zusammenpassen und wie sich die Kinderfolge, die ihnen das Schicksal beschert, in diese Erfahrungen einfügt, alles das wird hier beschrieben.
Die Leser finden in dieser Vielfalt auch Aufschluß über ihre eigene Familienkonstellation, ebenso über jene der Freunde und Bekannten, der Liebes- oder Ehepartner. Die eigenen Eltern und Geschwister können sie ebenfalls besser verstehen lernen, und im täglichen Umgang mit den Kindern, wenn sie welche haben, wird ihnen manches einleuchten, das sie zunächst verwunderte. Wenn sie noch keine Kinder haben, aber welche möchten, können sie hier erfahren, was ihnen an Möglichkeiten bevorsteht. Wenn sie keine Kinder wollen, finden sie vielleicht sogar dafür eine Erklärung.
Alles hier Gesagte ist der Wirklichkeit, dem tatsächlichen Verhalten und Handeln der Menschen und den vielen Familienleben nachgezeichnet, die ich seit 1956 systematisch beobachtet und an denen ich oft auch beraterisch oder therapeutisch Anteil genommen habe. Seit 1960 half mir dabei eine wachsende Zahl von Mitarbeitern.
Systematische empirische Erhebungen fanden zuerst in den USA, dann in einer umfassenden Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz statt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte diese Untersuchung. Ergebnisse kleinerer Erhebungen liegen auch aus Österreich, England, Holland und Dänemark vor. Großstädte und Kleinstädte überwiegen in unseren Stichproben gegenüber der Landbevölkerung, aber inzwischen hat die Landbevölkerung Westeuropas und Nordamerikas anscheinend begonnen, ihre Familiengründungen, ihre Kinderzahlen und ihr Familienleben den städtischen Verhältnissen anzugleichen. Kleinere Familien werden immer häufiger.
Kleinere Familien sind im allgemeinen leichter zu beobachten, zu überschauen und zu verstehen. Das vorliegende Buch geht in der Darstellung von diesen Familien aus. Mit der Lektüre wird aber das Verständnis auch für größere Familien und kompliziertere Familienverhältnisse wachsen. Sie kommen ebenfalls in diesem Buche vor.
Ab der vierten Auflage des Buches wurden die Kapitel 14 bis 16 von der mehr technischen Darstellung der Konfliktmaße sowie von der ausführlicheren Darlegung verwandter Theorien und anderer Untersuchungen entlastet. Wenn ein Leser sich doch dafür interessieren sollte, müßte er auf frühere Auflagen des Buches in öffentlichen und Universitätsbibliotheken oder auf die Literaturliste des vorliegenden Buches zurückgreifen. Sie wurde vollständig beibehalten und auf den neuesten Stand gebracht.
Jeder Mensch wird in eine Familie geboren. Diese kann allerdings unvollständig sein oder im Laufe der Entwicklung des Menschen unvollständig werden. Der Vater, die Mutter oder Geschwister können in ihr fehlen, als Folge von Tod, Scheidung oder Trennung.
Im Durchschnitt wächst der Mensch in einer Zwei- bis Drei-Kinder-Familie auf, und sowohl der Vater wie die Mutter bleiben in der Familie. Der Vater ist bei der Eheschließung etwa 27 Jahre, die Mutter 24 Jahre alt gewesen. Der Altersunterschied zwischen ihnen beträgt im Durchschnitt drei Jahre. Im allgemeinen vergehen nach der Heirat ein bis zwei Jahre, ehe das erste Kind geboren wird, und nach etwa sieben Ehejahren kommt das letzte Kind zur Welt. Der durchschnittliche Altersabstand zwischen den Kindern ist drei bis vier Jahre.
Eltern mit einer größeren Anzahl von Kindern haben meist etwas früher geheiratet. Die Zahl ihrer Ehejahre bis zur Geburt des letzten Kindes kann erheblich höher sein als sieben und der Altersabstand der Kinder verringert sich im Durchschnitt auf zwei bis drei Jahre.
In verschiedenen Epochen, aber auch in verschiedenen sozialen Schichten lag und liegt das Eheschließungsalter etwas oberhalb oder unterhalb der genannten Zahl. Auch dann ist der Mann allerdings im Durchschnitt drei Jahre älter als die Frau.
In 9 von 10 Fällen bleibt die Familie mindestens bis zur Adoleszenz des jüngsten Kindes intakt und beisammen. In etwa 10 % aller Familien mit Kindern wird ein Elternteil im Verlauf der späteren Kindheit oder frühen Jugend (bis zum 15. Lebensjahr des Kindes) durch Trennung, Scheidung oder Tod verloren, in etwa 5 % aller Familien mit Kindern bereits in der frühen Kindheit (bis zum 6. Lebensjahr des Kindes) oder schon zum Zeitpunkt der Geburt. In etwa 8 von 10 dieser Fälle ist der verlorene Elternteil der Vater, in 2 von 10 Fällen die Mutter.
Die Eltern stammen im Durchschnitt jeder aus einer Familie mit vier Kindern. Zwei von ihren drei Geschwistern sind im allgemeinen verheiratet. In mehr als 8 von 10 Fällen haben sie auch eigene Kinder.
Stärkere Abweichungen von diesen durchschnittlichen Verhältnissen haben in der Regel auch unterschiedliche psychologische Folgen. Eltern und Geschwister üben einen Einfluß aufeinander aus, der noch näher beschrieben werden soll. Wenn aber die Eltern etwa einen großen Altersunterschied aufweisen oder erst sehr viel später ihre Kinder bekommen haben als im Durchschnitt der Ehen, wenn ein Geschwister durch einen besonders großen oder aber durch einen besonders kleinen Altersabstand von einem Familienmitglied getrennt ist, wenn ein Elternteil oder ein Geschwister verloren wird, wenn ein solcher Verlust sehr früh im Leben einer Person oder erst relativ spät eintritt, wird die Familiensituation gegenüber anderen Familien in wichtigen Aspekten bleibend verändert. Es ist anzunehmen und konnte empirisch in vielfacher Weise belegt werden (siehe z.B. Bowlby 1951, Toman 1962, 1965), daß solche veränderten Situationen ihre Wirkungen auf das Sozialverhalten des einzelnen innerhalb der Familie haben, aber auch, daß ihre Wirkungen in sozialen Situationen und Kontexten außerhalb der Familie auftreten. Der einzelne verallgemeinert oder überträgt (etwa nach Hull, 1943, oder nach Freud, 1916/17; siehe auch Toman 1968) seine Erfahrungen in der Familie auf soziale Situationen außerhalb der Familie, etwa auf den Kinderspielplatz, den Kindergarten oder die Schule, auf Bekanntschaften und Freundschaften, die er schließt, auf Gruppen und Vereine, denen er sich zugesellt, auf Arbeits- und Berufssituationen, die er zum Teil selbst wählen kann und in die er sich jedenfalls täglich aufs neue und oft viele Jahre lang ohne Unterbrechung begibt.
Außer den Personen spielen auch Wohnverhältnisse und Wohnsizwechsel, Krankheiten und damit verbundene vorübergehende Trennungen von der Familie eine Rolle. Im Durchschnitt hat ein Jugendlicher bis zum 15. Lebensjahr etwa einen bis zwei Wohnsitzwechsel seiner Familie erlebt. In dieser Zeit hat er etwa drei Krankheiten oder Unfälle gehabt, die keinen Krankenhausaufenthalt erforderten, und eine Krankheit oder einen Unfall mit Krankenhausaufenthalt. Dieser dauerte im Durchschnitt etwa vier Wochen.
Auch hier gilt, daß eine starke Abweichung, also eine größere Zahl von Wohnsitzwechseln oder eine größere Zahl von Krankheiten und Krankenhausaufenthalten das Sozialverhalten des Betreffenden verunsichern kann (Toman und Preiser 1973). Umgekehrt wirken unterdurchschnittliche Zahlen von Wohnsitzwechseln, also etwa überhaupt keiner, und unterdurchschnittliche Zahlen von Krankheiten oder Klinikaufenthalten unter sonst vergleichbaren Umständen eher günstig auf das Sozialverhalten des Kindes und Jugendlichen ein.
Ziel der nun folgenden Darstellung ist es, den wichtigsten und von Familie zu Familie am deutlichsten unterscheidbaren Teil der Wirkungen solcher Umweltbedingungen zu beschreiben und zu differenzieren. Wir gehen dabei von der Annahme aus, daß die Familie eines Menschen jenen Lebenskontext darstellt, der von frühester Lebenszeit an, am beharrlichsten und zunächst fast ausschließlich gegeben und wirksam ist. Spielplatz, Kindergarten, Schule, weiterführende Schule, Organisationen und Vereine, der Arbeitsplatz, der Stammtisch usw. kommen erst viel später als die Familie und in der Regel nur für Teilzeiten des Tages und Teilabschnitte der Lebenszeit des Individuums zur Geltung. Der Familienkontext bleibt in der Regel auch dann weiterbestehen. Das Individuum ist bis ins Erwachsenenalter, obschon in zunehmend kürzeren Zeitspannen, in den Familienkontext physisch einbezogen.
Es darf angenommen werden, daß Verallgemeinerungen von Erfahrungen eher aus früheren und nachhaltiger wirksamen Kontexten auf spätere und weniger nachhaltig wirkende Kontexte erfolgen als umgekehrt. Der Einfluß der Familie auf das Verhalten einer Person in der Schule ist in der Regel größer als der Einfluß der Schule auf das Verhalten dieser Person in der Familie. Der Einfluß der Erfahrungen in der Schule zusammen mit den Erfahrungen in der Familie auf die Berufssituation eines Menschen ist wahrscheinlich stärker als die Rückwirkung der Erfahrungen im Beruf auf die Schule und auf die Familie.
Diese Annahme will natürlich nicht besagen, daß spätere Ereignisse frühere Ereignisse überhaupt beeinflussen können. Die Vergangenheit kann nicht mehr abgeändert werden. Lediglich die Interpretation der Vergangenheit ist änderbar. Eine Person kann aus den Erfahrungen in der Schule oder im Beruf ihre Erfahrungen innerhalb der Familie im Rückblick neu einschätzen lernen, und es wäre denkbar, daß sie sogar die derzeit bestehenden Beziehungen zu ihren Familienmitgliedern fortan modifizieren kann. Selbst dann darf aber erwartet werden, daß diese erst im späteren Leben abgeänderten Familienbeziehungen in ihren unmittelbaren Wirkungen auf das weitere Familienleben und auf Kontexte außerhalb der Familie schwächer sind als die alten und ursprünglichen Beziehungen. Damit ist nicht einem hoffnungslosen Determinismus das Wort geredet, wohl aber sollten die alten und seit viel längerer Zeit wirksamen Einflüsse gegenüber den rezenteren und gegenwärtigen Einflüssen nicht unterschätzt werden. Die Wirkungen der alten Einflüsse sind oft versteckt. Sie betreffen emotionale Haltungen, elementare Motive und Interessen, deren sich der Betroffene mitunter gar nicht bewußt ist. Sie wirken aber auf sein soziales Verhalten ein, und zwar oft umso nachhaltiger, je weniger sie ihm bewußt sind.
Die meisten Familien bestehen, wie gesagt, aus einem Vater, einer Mutter und mehreren Kindern. In der Mehrzahl der Familien ist auch heute noch der Vater der Brotverdiener und die Mutter im Haushalt und für die Betreuung der Kinder tätig, zumindest so lange, bis das jüngste ihrer Kinder die Schule besucht. Dies scheint auf lange Sicht und unter den gegebenen Lebensverhältnissen in fast allen Nationen und Gesellschaftssystemen die populärste und vermutlich auch die günstigste Lösung zu sein. Wenn gelegentlich einmal ein Vater den Haushalt und die Kinder versorgt, während die Mutter einen Beruf ausübt, ist das nichts Abnormes. Ein solches Elternpaar muß allerdings gewärtig sein, daß andere Familien oder etwa andere Kinder diese Situation doch als etwas Sonderbares ansehen und daß allein aus dieser Einschätzung durch die Umwelt gewisse Schwierigkeiten für seine Kinder erwachsen könnten.
Wenn beide Eltern voll berufstätig sind, müssen sie wohl oder übel ihre Kinder jemand anderem zur Betreuung übergeben, und hierbei verlieren sie zum Teil ihre Elternrolle. Jene Personen, welche die Betreuung übernehmen, werden die psychologischen Eltern dieser Kinder. Sie, sowie die Lebens- und Familiensituationen, aus denen sie kommen, können mehr Einfluß auf die Kinder ausüben als die Eltern und deren Lebens- und Familiensituationen.
Eine durchschnittliche, intakte Familie mit mehreren Kindern kann sich von einer anderen durchschnittlichen, intakten Familie durch die Altersfolge und Geschlechterverteilung ihrer Kinder bedeutsam unterscheiden. Betrachten wir kurz die Familie mit zwei Kindern. Zu ihr können zwei Jungen, zwei Mädchen oder ein Junge und ein Mädchen gehören. Im letzten Fall kann entweder der Junge oder das Mädchen das ältere Kind sein. Eine Familie mit drei Kindern kann drei Jungen, zwei Jungen und ein Mädchen, einen Jungen und zwei Mädchen oder drei Mädchen haben, wobei die gemischtgeschlechtlichen Kinderkonfigurationen in mehreren Möglichkeiten auftreten können. Bei zwei Jungen und einem Mädchen kann das Mädchen das älteste, mittlere oder jüngste Kind sein, bei einem Jungen und zwei Mädchen der Junge analog der älteste, der mittlere oder der jüngste. Anders gesagt, wenn man nur die Altersreihenfolge und die Geschlechterverteilung beachtet, können drei Kinder in jeweils einer von insgesamt acht möglichen Konfigurationen auftreten. Allgemein formuliert: eine gegebene Kinderkonfiguration ist eine von 2n verschiedenen Möglichkeiten, wobei n die Kinderzahl ist.
Ein Kind aus einer Zwei-Kinder-Familie kann ein Junge oder ein Mädchen sein. Ist es ein Junge, kann er das ältere oder das jüngere der beiden Kinder sein, und er kann als Geschwister einen Bruder oder eine Schwester haben. Das analoge gilt für ein Mädchen. Es kann die ältere oder die jüngere Schwester sein, und zwar entweder von einem Bruder oder von einer Schwester. Anders gesagt, in einer Familie mit zwei Kindern kann ein gegebenes Kind eine von vier möglichen Positionen einnehmen.
Wenn ein Kind, sagen wir ein Junge, aus einer Drei-Kinder-Familie kommt, kann er der älteste, der mittlere oder der jüngste sein, und er kann zwei Brüder, zwei Schwestern, einen Bruder und eine Schwester oder eine Schwester und einen Bruder haben. Der betreffende Junge kann somit eine von drei Altersrangstellen einnehmen und eine von vier Konfigurationen von Geschwistern haben. Er nimmt also eine von insgesamt 12 möglichen Positionen ein. Analoges würde für ein Mädchen gelten. Allgemeiner gesagt, eine gegebene Person nimmt eine bestimmte von n · 2n – 1 möglichen Positionen in ihrer Geschwisterkonfiguration ein, wobei n wieder die Zahl der Kinder der betreffenden Konfiguration ist. Man erkennt, daß bei einer größeren Anzahl von Kindern auch die Möglichkeiten sehr zahlreich werden. Ein Kind, das vier Geschwister hat, das also aus einer Kinderkonfiguration von fünf Kindern kommt, nimmt mit seiner Position eine von 5 · 24 Möglichkeiten wahr, also eine von 80 Möglichkeiten.
Bei der Beschreibung aller dieser Möglichkeiten könnten wir leicht die Übersicht verlieren. Es empfiehlt sich daher, die Zwei-Kinder-Familie als Paradigma zu wählen und an ihr alle möglichen Geschwisterpositionen zu untersuchen.
Betrachten wir zuerst den älteren und den jüngeren Bruder von insgesamt zwei Brüdern.
Der ältere Bruder eines Bruders wird ab der Geburt seines Geschwisters an das Zusammenleben mit einem Kind des gleichen Geschlechtes gewöhnt. Wenn durchschnittliche Verhältnisse vorliegen, ist er zu diesem Zeitpunkt etwa drei Jahre alt. Mit sechs Jahren hat er drei Jahre, also die Hälfte seines bisherigen Lebens, mit seinem Bruder zusammengelebt, sein kleiner Bruder alle drei Jahre seines Lebens. Es wäre verwunderlich, wenn die beiden nicht in irgendeiner Form miteinander auszukommen lernten. Es ist aber auch zu vermuten, daß sie an neue Beziehungen außerhalb der Familie, etwa an solche mit Spielkameraden und -kameradinnen, zunächst mit den Erwartungen herangehen, die sie zu Hause im Zusammenleben miteinander, also mit „altersnahen“ Personen, entwickelt haben.
Unter durchschnittlichen Verhältnissen lernt der ältere Bruder des Bruders unter anderem, Verantwortung und Führung gegenüber seinem kleineren Bruder zu übernehmen. Die Eltern verlangen von ihm, daß er auf seinen kleinen Bruder Rücksicht nimmt, ihn beschützt, ihm zunächst auch dann etwas gibt, wenn er selbst nichts oder nur das Lob der Eltern dafür bekommt. Er muß zugunsten des Kleinen auf manches verzichten, was er anfangs nicht einsieht, woran er sich aber, auch durch Identifikation mit seinen Eltern, gewöhnt. Mit zunehmendem Alter beider wird es auch leichter für ihn, vom kleinen Bruder Gegenleistungen zu verlangen und dabei auch die Unterstützung der Eltern zu finden. Angenehm bleibt für ihn, daß seine Führungs- und Verantwortungsansprüche in vielen gewohnten und zum Teil auch in neuen Belangen vom jüngeren Bruder akzeptiert werden. Der jüngere nimmt sich den älteren Bruder zum Vorbild. In manchen Belangen und zu manchen Zeiten macht er ihm allerdings den Führungs- und Verantwortungsanspruch streitig und beginnt, heftig mit ihm zu wetteifern, was für den älteren Bruder unangenehm ist.
Die Machtkonflikte zwischen dem Älteren und dem Jüngeren von insgesamt zwei Brüdern werden milder und die beiden Persönlichkeiten können sich unabhängiger voneinander entwickeln, wenn sie vier oder fünf Jahre auseinander sind. Gerade dann wird aber dem älteren und später auch dem jüngeren Bruder klar, daß sie zu dritt nur eine Frau in der Familie haben (die Mutter) und daß man sich mit einem Teil ihres Interesses und ihrer Zeit bescheiden muß. – Wenn dagegen der ältere und der jüngere Bruder nur zwei oder ein Jahr auseinander sind, werden die Konflikte zwischen ihnen besonders intensiv, obschon nur undeutlich bewußt. In diesem Falle geht es den beiden nicht so sehr um Gerechtigkeit im Geben und Nehmen, auch nicht um Leistungskonkurrenz, sondern darum, wer mehr bekommt.
Der jüngere Bruder eines Bruders hat, soweit er sich zurückerinnern kann, einen älteren, größeren, gescheiteren, stärkeren, perfekteren Jungen um sich. Das wird ihm nur im ersten Lebensjahr noch nicht recht klar, weil sich dann vor allem die Mutter um ihn kümmert, aber ab dem zweiten und deutlicher im dritten Lebensjahr tritt außer dem Vater auch der „große Bruder“ machtvoll in Erscheinung. Der jüngere Bruder bemerkt zwar, daß er außer Haus den Schutz seines großen Bruders genießt, aber zu Hause oder jedenfalls im Bereich der Familie, wo man sich zunächst mehr aufhält als irgendwo anders, braucht man nicht soviel Schutz. Vielmehr kommt man zunehmend dem großen Bruder ins Gehege. Dieser zwingt einem seinen Willen auf, sofern man nicht Wege findet, Dinge allein zu tun, sie so gut wie er oder gar besser zu machen und so rasch wie möglich so groß und gescheit und stark zu werden wie er.
Das gelingt zunächst nur oberflächlich. Der jüngere Bruder macht sich mitunter lächerlich mit seinen Anstrengungen. Das Bestreben aber, den anderen einzuholen und zu überflügeln bzw. sich ihm zumindest manchmal zu widersetzen, kann sich dem Jüngeren sozusagen als eine der Formen seiner Auseinandersetzungen mit altersnahen Personen für die Zukunft einprägen.
Die Eltern neigen selber dazu, den älteren Bruder dem jüngeren als Vorbild hinzustellen, dem jüngeren Bruder aber auch mehr zu erlauben und bereitwilliger für ihn als für den älteren Bruder einzuspringen. Da die Mutter die einzige Person weiblichen Geschlechts im Hause ist, entwickelt sich unter den beiden Brüdern eine stärkere Rivalitätsbeziehung um die Gunst der Mutter als in anderen Familien. Die tatsächlichen Kontaktmöglichkeiten mit der Mutter, aber auch die Möglichkeiten, den Umgang mit einer weiblichen Person etwa im Rollenspiel untereinander zu praktizieren, sind für die beiden Brüder im Vergleich zu anderen Familienkonstellationen verringert. Das weibliche Geschlecht erscheint den beiden Brüdern weniger erreichbar und weniger verständlich.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Der ältere und der jüngere Bruder von Brüdern sind durch ihre Erfahrungen in der Familie auf den Kontakt mit altersnahen Personen des gleichen Geschlechtes gut, auf jenen mit Personen des anderen Geschlechtes dagegen weniger gut vorbereitet. Der ältere Bruder hat gelernt, gegenüber altersnahen Personen des gleichen Geschlechtes eine Führungs- und Verantwortungsrolle einzunehmen, der jüngere Bruder, sich anzulehnen, seinem Bruder und Jungen überhaupt zu folgen, aber auch mit ihnen zu wetteifern und gegen sie zu opponieren.
Bruder und Schwester richten es sich etwas anders miteinander ein.
Auch der ältere Bruder einer Schwester ist im Durchschnitt schon etwa drei Jahre auf der Welt, ehe sein Geschwister in seinen Lebenskreis tritt. Zu diesem Zeitpunkt, oder jedenfalls im Laufe des vierten Lebensjahres, beginnt er in seinen Kontakten mit Familienmitgliedern und anderen Personen auch das Geschlecht des Kontaktpartners zu berücksichtigen. Daher mag er das Geschlecht seines Geschwisters schon bei der Geburt oder bald danach als angenehm empfinden. Er und seine kleine Schwester sind ja dann so etwas ähnliches wie Vater und Mutter. Das, was seine Mutter ihr an Fürsorge angedeihen läßt, scheint einem Mädchen eben zu gebühren. Der Vater behandelt ja auch die Mutter im allgemeinen eher rücksichtsvoll und zärtlich. Er, der ältere Bruder einer Schwester, ist nicht im Wettkampf mit seiner kleinen Schwester. Was er für sie tun lernt, wird sie ihm durch Liebe und Anhänglichkeit vergelten. Sie wird ihn lieben, wie seine Mutter seinen Vater liebt.
Solche Vorstellungen sind für ältere Brüder von Schwestern in diesem Lebensstadium recht geläufig. Er wird auf die Fürsorge für ein Mädchen, aber auch auf Führung und Verantwortung für ein Mädchen eingespielt. Wenn er vier oder fünf Jahre älter ist, fällt es ihm sogar noch leichter, seine kleine Schwester zu akzeptieren, auch wenn die Konflikte bewußter und deutlicher erlebt werden als bei geringerem Altersunterschied. Wenn er dagegen nur zwei Jahre oder nur ein Jahr älter ist als sie, vermag er das Geschlecht seines Geschwisters zunächst noch nicht wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Die Kleine tritt ihm als ein Konkurrent um die Gunst und Zärtlichkeit der Eltern, mitunter geradezu als ein Futterkonkurrent entgegen. Unter diesem Schreck mag es länger als sonst dauern (also etwa bis zu seinem fünften Lebensjahr), ehe er seine Angst beschwichtigt hat, daß die Schwester mehr bekommt als er oder daß viel weniger Leistungen von ihr gefordert werden als von ihm.
Die jüngere Schwester eines Bruders kann in einem solchen Milieu in der Regel ein Verhalten entwickeln, das einem außenstehenden Beobachter als besonders feminin imponiert. Sie lernt, zu ihrem Bruder aufzublicken, seinen Schutz und seine Fürsorge, aber auch seine Führung zu akzeptieren. In der Regel glaubt sie zu wissen, daß sie ihm gefällt und daß sie sich auf ihn verlassen kann. Es gibt Dinge, die sie nicht zu machen braucht (z.B. schwere körperliche Arbeiten oder Tätigkeiten, bei denen man schmutzig wird). Auch verteidigen muß sie sich nicht selbst, etwa gegenüber Kindern, die zu Besuch kommen, oder gegenüber anderen Kindern auf dem Spielplatz oder später im Kindergarten. Ihr Bruder nimmt ihr das ab.
Auch Vater und Mutter sind in der Regel mit dieser Rolle ihrer kleinen Tochter einverstanden. Sie ist der kleine Liebling der Familie. Der Vater sieht ihr manches nach, auch die Mutter hat oft nichts gegen die Sonderbehandlung ihrer Tochter. Alle Beteiligten scheinen unbewußt zu erkennen, daß sie die Beziehungen beider Geschlechter untereinander in mehrfacher Weise pflegen können: Bruder und Schwester können Vater und Mutter miteinander spielen. Der Bruder kann aber auch Vater gegenüber der Mutter spielen, die Schwester Mutter gegenüber dem Vater. Der Bruder kann sich mit dem Vater, die Schwester mit der Mutter in der Regel ohne Schwierigkeiten identifizieren.
Zusammenfassend darf man sagen, daß beide Geschwister, der ältere Bruder einer Schwester und die jüngere Schwester eines Bruders, gut an das Zusammenleben mit einer altersnahen Person des anderen Geschlechtes gewöhnt werden und daß der Bruder auch außerhalb der Familie dazu neigen wird, Führung und Verantwortung für Mädchen zu übernehmen. Die jüngere Schwester eines Bruders tendiert dagegen dazu, sich führen und verwöhnen zu lassen. Beide Geschwister bleiben auch außerhalb der Familie an den Kontakten mit altersnahen Personen des anderen Geschlechtes mehr interessiert als an den Kontakten mit altersnahen Personen des gleichen Geschlechtes.
Wieder anders richten es sich Schwester und Bruder miteinander und mit den Eltern ein.
Die ältere Schwester eines Bruders bekommt unter durchschnittlichen Verhältnissen mit etwa drei Jahren ihr jüngeres Geschwister, und ihr dämmert bald, daß das Geschlecht des Geschwisters Vorteile hat. Sie kann mit dem jüngeren Bruder Mutter spielen, so wie ihre Mutter es gegenüber den Kindern und gegenüber dem Vater tut. Sie muß zwar den Kleinen bemuttern, auf ihn aufpassen, ihn beschützen und Verantwortung für ihn übernehmen, aber dafür blickt er auch zu ihr auf, schätzt und liebt sie und lernt allmählich auch seinerseits, Gefälligkeiten zu erweisen. Diese sind allerdings von eher oberflächlicher Natur. Die ältere Schwester eines Bruders glaubt zu erkennen, daß er als erster und einziger Junge in der Familie meistens wichtiger genommen wird und mehr gilt als sie. Wenn sie sich der Gunst der Eltern versichern will, muß sie für ihn sorgen.
Wenn der Altersunterschied zwischen ihr und dem jüngeren Bruder vier und fünf Jahre ist, dann fällt es ihr meistens noch leichter als bei einem durchschnittlichen Unterschied von rund drei Jahren, sich an die neue Situation zu gewöhnen, auch wenn es dabei gelegentlich zu recht artikulierten verbalen Auseinandersetzungen mit dem kleinen Bruder und den Eltern kommt. Beträgt der Altersunterschied nur ein oder zwei Jahre, dann erlebt die Schwester eine viel stärkere Bedrohung ihrer eigenen Existenz durch die Ankunft des Bruders. Es mag bis zu ihrem fünften Lebensjahr dauern, ehe sie den oben beschriebenen Modus vivendi findet und die ihr zugedachte Fürsorgerolle für den kleinen Bruder einnehmen kann.
In jedem dieser Fälle bleibt der älteren Schwester eines Bruders eine Haltung der Mütterlichkeit und Verantwortungsfreude sowie ein Bewußtsein ihrer eigenen, „etwas geringeren“ Wichtigkeit in der Familie bis ins Erwachsenenalter aufgeprägt. Sie kann auch mit Jungen außerhalb der Familie gut umgehen. Sie errät deren Interessen, macht sie teilweise zu den ihren und ordnet die eigenen Interessen unter. Sie kann sich leichter als andere Mädchen mit dem Erfolg von Jungen, „ihren“ Jungen, identifizieren, besonders dann, wenn diese ihre Mütterlichkeit und Fürsorge akzeptieren. Bei ihr können sie auch Trost suchen. Sie spendet ihn gern und mit einer gewissen Genugtuung. Wenn andere Menschen in Schwierigkeiten geraten, dann kommen sie zu ihr, und sie nimmt es ihnen nicht übel.
Der jüngere Bruder einer Schwester darf dagegen seinen eigenen Wünschen und Interessen relativ unbekümmert nachgehen, auch dann, wenn diese egoistisch und inkohärent sind. Ihm wird mehr erlaubt als der großen Schwester. Meist wird ihm auch mehr erlaubt als etwa dem jüngeren Bruder eines Bruders. Der jüngere Bruder einer Schwester lernt zwar seine Schwester zunehmend besser verstehen, aber er nützt dieses Verständnis vor allem zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen aus. Er tendiert dazu, die Hilfe, Fürsorge und Bemutterungsbereitschaft seiner Schwester als selbstverständlich hinzunehmen. Falls diese Fürsorge und Bemutterungsbereitschaft einmal ausbleiben sollte, gelingt es ihm verhältnismäßig leicht, die Schwester und später auch andere Mädchen unbewußt in die Mutterrolle zu drängen. Ein wenig den Hilflosen zu spielen oder eine kleine Schmeichelei zu äußern, genügt oft schon.
Auch hier bestehen in der Regel gute Identifikationsmöglichkeiten und Wechselwirkungen mit den Eltern. Die ältere Schwester kann Mutter gegenüber dem Bruder oder dem Vater spielen, der Bruder könnte auch gegenüber der Schwester oder der Mutter eine Vaterrolle übernehmen. Die Schwester macht Gebrauch von dieser Möglichkeit, der Bruder allerdings weniger, und er erregt in manchen Familien mit dieser Säumigkeit sogar Anstoß. Man wirft ihm vor, daß er nicht altruistisch und fürsorglich genug sei. Er denke zu wenig an andere, er mache, was er wolle. Er lasse sich bedienen und helfen.
Zusammenfassend gesagt: der jüngere Bruder einer Schwester und die ältere Schwester eines Bruders bleiben meist auch außerhalb der Familie an Kontakten mit Personen des anderen Geschlechtes stärker interessiert als an Kontakten mit Personen des gleichen Geschlechtes. Auch außerhalb der Familie tendiert die Schwester dazu, für Jungen und junge Männer zu sorgen und sie anzuleiten, während er eher geneigt ist, sich von Mädchen und Frauen verwöhnen und bemuttern zu lassen und seine eigenen Interessen relativ unbekümmert um andere zu verfolgen.
Die Eltern billigen übrigens diese Entwicklung mit der Begründung, daß der Bruder ja der kleinere und jüngere sei. Daß sich das Verhältnis der beiden Kinder gegenüber den konventionellen Vorstellungen der Beziehung von Mann und Frau umkehrt, daß die Tochter sozusagen die Führende und Verantwortliche, der Sohn eher unbekümmert und eigenwillig ist und zumindest in Alltagsangelegenheiten sich gerne auf andere verläßt, stört zwar manche Eltern solcher Kinder, in vielen Fällen können sie sich aber daran gewöhnen. Ihre Reaktion hängt von ihrer eigenen Erfahrung als Geschwister (siehe auch Kapitel 8) ab. Schlimmstenfalls sind die Identifikationen der Kinder mit den Eltern und die direkten interaktiven Beziehungen der Kinder zu den Eltern im Vergleich mit anderen zweigeschlechtlichen Kinderkonfigurationen verringert. Die Eltern haben dann ihre Beziehung zueinander, die Kinder ihre eigene und etwas andersartige Beziehung. Man sieht sich zu, man lernt auch voneinander, aber man vertritt nicht Elternstatt am anderen Elternteil oder am Geschwister. – Wenn dagegen die Eltern das umgekehrte Autoritätsverhältnis der Kinder gern und bereitwillig akzeptieren, etwa weil auch sie selbst ein solches Verhältnis zueinander haben, dann bestehen alle jene Identifikations- und direkten Interaktionsmöglichkeiten zwischen Kindern und Eltern, die bei der Beziehung des älteren Bruders zur jüngeren Schwester bereits beschrieben wurden. Der Sohn kann auch Vater für seine Schwester und seine Mutter spielen, die Tochter Mutter für ihren Bruder und für ihren Vater.
Zwei Schwestern befinden sich in einer wieder anderen Situation.
Auch die ältere Schwester einer Schwester ist unter durchschnittlichen Verhältnissen drei Jahre auf der Welt gewesen, ehe die jüngere Schwester geboren wurde. Sie hat einen Größen-, Kraft- und Intelligenzvorteil gegenüber der Kleinen, der sich erst im Laufe von Jahren verringert. Sie muß allerdings auch, wie alle ältesten Geschwister, mit dem Schock fertig werden, einen Konkurrenten für die Zeit und Aufmerksamkeit der Eltern zu haben. Je nach dem Altersunterschied zwischen ihr und der jüngeren Schwester fühlt sie sich um die Liebe und Zuneigung der Eltern betrogen (bei einem Altersunterschied von ein bis zwei Jahren), in ihrer Fähigkeit, über die Eltern zu verfügen oder mit den Eltern zu kooperieren und zu verhandeln, erschüttert (bei einem Altersunterschied von zwei oder drei Jahren) oder in ihrer Konkurrenz mit der Mutter um das Interesse des Vaters durch die kleine Schwester zusätzlich bedroht (bei einem Altersunterschied von etwa vier und fünf Jahren). Sie bemerkt lange vor ihrer jüngeren Schwester, daß sie sich in ihrer Familie zu dritt die Liebe und Aufmerksamkeit des Vaters, des einzigen Mannes in der Familie, teilen müssen.
Je größer der Altersunterschied zur kleinen Schwester, desto bewußter erlebt sie zwar die Konflikte mit ihr und mit den Eltern, aber desto leichter fällt es ihr im Grunde auch, diese zu akzeptieren und zu handhaben. Sie lernt jedenfalls früher oder später, ihre Eifersucht zu überwinden und für ihre kleine Schwester Verantwortungen zu übernehmen. Sie muß Elternstelle, insbesondere Mutterstelle, an ihr vertreten. In dieser Rolle darf sie aber auch Vorbild sein, befehlen und anordnen, und die kleine Schwester müßte ihr eigentlich gehorchen. So wollen es die Eltern. Da sich die ältere Schwester auch mit dem Vater identifizieren muß, nimmt ihre Kontrolle über die kleine Schwester manchmal härtere Züge an. Die ältere Schwester einer Schwester benimmt sich mitunter so, wie sie den Vater sich der Mutter gegenüber verhalten sah, aber auch so, wie der Vater ihr selbst gegenüber war. Zu ihrem Erstaunen und Leidwesen scheint der Vater im direkten Umgang mit ihrer kleinen Schwester aber milder und nachsichtiger als mit der Mutter und mit ihr selbst zu sein. Sie verdächtigt ihn, die kleine Schwester lieber als sie und vielleicht lieber als die Mutter zu haben.
Die jüngere Schwester einer Schwester wächst in größerer Freizügigkeit als ihre Schwester, aber vorerst auch in Abhängigkeit von dieser auf. Zunächst akzeptiert sie die Autorität ihrer großen Schwester. Sie will ihr gleich werden. Sie läßt sich von ihr auch ohne Bedenken helfen. Allmählich aber versucht sie, sich zu behaupten, die Dinge so gut zu machen wie ihre Schwester oder sogar besser, sowie ihr zuwiderzuhandeln. Die jüngere Schwester einer Schwester lernt, wie man opponiert. Sie bleibt allerdings innerlich von den Anregungen und Plänen der anderen vorerst abhängig. Sie macht ihre eigenen Pläne häufig erst in Antwort auf die Pläne der Schwester oder anderer Familienmitglieder. Das geht so weit, daß sie mitunter erst wissen muß, was ihre große Schwester will, bevor sie entscheiden kann, was sie selbst will.
zusammenfassend,