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WERNER BÄTZING

Das Landleben

Geschichte und Zukunft
einer gefährdeten Lebensform

C.H.BECK

Zum Buch

In einer Zeit zunehmender Verstädterung brauchen wir eine neue Sicht auf das Landleben. Es ist keineswegs Ausdruck überholter Verhältnisse, vielmehr Grundlage für die Dynamik und Spezialisierung in den Städten und Zentren. Wer das Landleben verstehen will, so der bekannte Geograph und Alpenforscher Werner Bätzing, muss Landwirtschaft, bäuerliche Kulturlandschaften, Dorfleben, Traditionen sowie die engen Verflechtungen zwischen ihnen kennen. Da das Land aber stets in einem engen Austausch mit der Stadt steht, muss er auch verstehen, welche Auswirkungen die Industrielle Revolution, die Entdeckung des Landes als «schöner Landschaft», der wirtschaftliche und demographische Wandel, die Entstehung der Konsumgesellschaft und das Erstarken des Neoliberalismus auf das Landleben besitzen – andernfalls besteht die Gefahr, das Land zu stark als Idylle wahrzunehmen. Bätzings breit angelegte und fundierte Darstellung steht quer zu den üblichen Sichtweisen und mündet in Leitideen für die Zukunft des Landlebens.

Über den Autor

Werner Bätzing, Prof. em. für Kulturgeographie, ist als Alpenforscher in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit bekannt geworden. Für seine Arbeiten zum Alpenraum erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Seit 1995 beschäftigt er sich auch vertieft mit dem ländlichen Raum in Bayern und engagiert sich für seine Aufwertung. Mit diesem Buch legt er erstmals eine breit angelegte Darstellung des Landlebens vor. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft (42015).

Inhalt

Bildteil

1. Einführung: Landleben – was bedeutet das?

1.1 Aufgabe und Zielsetzung

1.2 Der doppelte Blick auf das Landleben

1.3 Definitionen von Land und ländlichem Raum

1.4 Zur Konzeption und Gliederung

2. Die Entstehung des Landlebens und die Veränderung der Natur

2.1 Der Beginn des Landlebens

2.2 Neue Raumstrukturen durch Landwirtschaft

2.3 Ökologie der Kulturlandschaft

2.4 Kulturelle Rahmenbedingungen des Landlebens

3. Die Entwertung des Landes durch die Entstehung von Städten und Hochkulturen

3.1 Fundamentale Veränderungen auf dem Land – warum?

3.2 Die Entstehung von Städten und Stadtstaaten

3.3 Die Entstehung von Großstädten, Hochkulturen und großen Reichen

3.4 Zur Entwertung des Landes durch die Stadt

4. Die Gleichwertigkeit von Land und Stadt im mittelalterlichen Europa

4.1 Die europäische Sonderentwicklung ab dem Jahr 1000

4.2 Die Intensivierung der Landwirtschaft: Dreifelderwirtschaft

4.3 Alt-/Jungsiedelräume und Vergetreidung/Vergrünlandung

4.4 Das Aufblühen von Handwerk und Gewerbe auf dem Land

4.5 Die Schwächung des Landlebens im 18. Jahrhundert

5. Die Auswirkungen der Industriellen Revolution auf das Landleben

5.1 Die Industrielle Revolution und das «Ende der Fläche»

5.2 Der wirtschaftliche Wandel: Reagrarisierung des Landes

5.3 Der demographische Wandel: Verstädterung und Bevölkerungsrückgang

5.4 Der kulturelle Wandel: Modernisierung und Neuerfindung der Tradition

5.5 Das neue Sonntagsbild der Städter: Das Land als «schöne Landschaft»

6. Die forcierte Modernisierung des Landlebens zwischen 1960 und 1980

6.1 Die allerletzte Phase der Industriegesellschaft und ihre neuen Rahmenbedingungen

6.2 Der wirtschaftliche Wandel: Spezialisierung und Intensivierung

6.3 Der demographische Wandel: Suburbane und periphere Räume

6.4 Politische Interventionen: Dorfsanierung, Schul- und Gebietsreform und das System der Zentralen Orte

6.5 Der kulturelle Wandel: Landleben als Auslaufmodell

7. Die Postmoderne – eine neue Aufwertung oder das endgültige Verschwinden des Landlebens?

7.1 Der Bruch zu Beginn der 1980er Jahre und seine Ursachen

7.2 Der wirtschaftliche Wandel: Entstehen neue Arbeitsplätze auf dem Land?

7.3 Neue politische Zielsetzungen für den ländlichen Raum

7.4 Bevölkerungsentwicklung: Abwärtsspirale oder erneuter Aufschwung?

7.5 Siedlungsentwicklung: Die Entstehung der «Zwischenstadt»

7.6 Der ökologische Wandel: Agrarwüsten, Wildnisgebiete und der neue Umweltschutz

7.7 Der kulturelle Wandel: Von der selbstverständlichen zur selbstgewählten Tradition

7.8 Gibt es heute noch ein Landleben?

8. Welche Zukunft für das Landleben?

8.1 Bilanz: Das Landleben ist unverzichtbar

8.2 Mögliche zukünftige Entwicklungen des Landlebens

8.3 Leitideen für die Aufwertung des Landlebens

Leitidee 1: Kulturelle Identität als Schlüsselfaktor

Leitidee 2: Wirtschaftliche Stärkung auf der Grundlage regionaler Potenziale

Leitidee 3: Stärkung ländlicher Infrastrukturen

Leitidee 4: Neue Raumstrukturen für das Landleben

Leitidee 5: Unterschiedliche Schwerpunkte für die fünf Typen ländlicher Räume

8.4 Ausblick

ANHANG

Anmerkungen

1. Einführung: Landleben – was bedeutet das?

2. Die Entstehung des Landlebens und die Veränderung der Natur

3. Die Entwertung des Landes durch die Entstehung von Städten und Hochkulturen

4. Die Gleichwertigkeit von Land und Stadt im mittelalterlichen Europa

5. Die Auswirkungen der Industriellen Revolution auf das Landleben

6. Die forcierte Modernisierung des Landlebens zwischen 1960 und 1980

7. Die Postmoderne – eine neue Aufwertung oder das endgültige Verschwinden des Landlebens?

8. Welche Zukunft für das Landleben?

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Sachregister

Bildteil

Abb. 1:  Land bedeutet für die meisten Menschen: Natur, Landwirtschaft und Dörfer.

Abb. 2:  Kleinstädte gehören auf Grund ihrer geringen Bevölkerungsdichte zum Land.

Ausführliche Bildlegenden im Kapitel Abbildungsverzeichnis.

Karte 1: Siedlungsstruktureller Kreistyp

Abb. 3:  Zahllose Burgen verweisen noch heute auf die mittelalterliche Grundherrschaft.

Abb. 4:  Klöster haben im Mittelalter für die Landwirtschaft eine große Bedeutung.

Abb. 5:  Die Landwirtschaft des Mittelalters wird in «Monatsbildern» genau dargestellt.

Abb. 6:  Die tausendjährige Linde ist Symbol für die Obstbaumveredelung dieses Dorfes.

Abb. 7:  Der Schornstein ist der letzte Rest der protoindustriellen Eisenverarbeitung.

Abb. 8:  Durch Waldweide werden die Wälder (Allmend-Flächen) stark aufgelichtet.

Abb. 9:  Ein ehemaliger Niederwald, der schon lange nicht mehr geschnitten wurde.

Abb. 10: Eine Darstellung bäuerlichen Landlebens aus dem Jahr 1886.

Abb. 11:  «Gänsefrühling» von Adolf Lins aus der Malerkolonie Willingshausen.

Abb. 12:  Das Naturschutzgebiet Lüneburger Heide ist eine Kulturlandschaft.

Abb. 13:  Die Flurbereinigung bringt relativ große und homogene Parzellen hervor.

Abb. 14:  Ein typisches kleines Schulzentrum der 1970er Jahre (heute renoviert).

Abb. 15: Das Landleben war 1955 dem Mittelalter viel näher als dem heutigen Leben.

Abb. 16:  Die neuen Gewerbegebiete nehmen inzwischen sehr große Flächen ein.

Abb. 17:  Windräder sind heute in großen Teilen des ländlichen Raumes präsent.

Abb. 18:  Neubaugebiete sind inzwischen sehr viel größer als die alten Ortskerne.

Abb. 19: Die modernen Verkehrsflächen benötigen sehr viel Platz.

Abb. 20:  Ehemalige Kalkmagerrasen, die heute vollständig verbuscht sind.

Abb. 21: Große Artenvielfalt auf einer traditionell genutzten Weide.

Abb. 22:  Der Rückzug der Landwirtschaft führt zur Verwaldung der Landschaft.

Abb. 23:  «Schaufelbuchen» im Steigerwald als Relikt traditioneller Waldnutzung.

Abb. 24:  Auf vielen kleineren Flächen gibt es noch kleinräumige Kulturlandschaften.

Abb. 25:  Streuobstwiesen sind für die Vielfalt von Insekten und Vögeln sehr wichtig.

Abb. 26: Wandel der Landnutzung von Intensivierungen bis zu Nutzungseinstellungen.

1. Einführung: Landleben – was bedeutet das?

1.1 Aufgabe und Zielsetzung

Das Leben auf dem Land galt noch bis vor kurzer Zeit als beschränkt, borniert und rückständig. Seit dem Jahr 2005 jedoch – als die Zeitschrift «Landlust» auf den Markt kam und in kurzer Zeit sehr erfolgreich wurde – sind alle Zeitschriften voll von diesem Thema: Das Landleben wird auf einmal schick und modern und steht für eine neue und naturnahe Zukunft. Und die jüngsten Diskussionen über die Mieten in den Großstädten, die für immer mehr Menschen unbezahlbar werden, führen dazu, dass nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Politik intensiv darüber nachgedacht wird, auf welche Weise das Landleben wieder attraktiver gemacht werden könnte.

Sieht man sich jedoch die Situation auf dem Land oder im ländlichen Raum näher an, stellt man fest, dass die Diskussionen über das neue Landleben das Land bislang nicht wirklich verändert haben. Ist es dafür noch zu früh, oder haben diese Diskussionen vielleicht mit dem realen Landleben gar nichts zu tun?

Auffällig ist auch noch ein Zweites: Viele Jahre lang wurde immer wieder davon gesprochen, dass die Verstädterung via Straßenausbau, Zuwanderung und Massenmedien inzwischen auch die abgelegensten Dörfer und Weiler erreicht habe, so dass der alte Unterschied zwischen Stadt und Land längst verschwunden sei.

Wie aber passt diese Sichtweise mit der aktuellen Begeisterung für das Landleben zusammen? Gibt es heute überhaupt noch ein Leben auf dem Land, das nicht städtisch geprägt ist? Und brauchen wir in der modernen Welt noch ein Landleben? Ist es nur noch ein romantisches Relikt aus vergangenen Zeiten oder vielleicht im Gegenteil sogar eine ganz besonders moderne Lebensform?

Alle diese Fragen sind derzeit sehr umstritten. Es handelt sich dabei um Fragen, die das Alltagsleben vieler Menschen direkt betreffen: Stellt das Landleben eine heimatverbundene Alternative zur rasant fortschreitenden Globalisierung dar, und ist ein «gutes Leben» heute vielleicht nur noch auf dem Land und nicht mehr in der Großstadt zu finden? Aber bedeutet denn Landleben nicht gleichzeitig auch geistige Enge und soziale Kontrolle? Kann man heute im Zeitalter globaler Arbeitsteilungen auf dem Land überhaupt noch sinnvoll wirtschaften, oder brauchen wir dafür nicht die Vernetzungspotenziale der Großstadt? Was passiert, wenn man auf dem Land krank wird und das nächste Krankenhaus weit entfernt ist? Was geschieht mit den traditionellen kleinräumigen Kulturlandschaften, wenn die Landwirtschaft nicht mehr aus bäuerlichen Familienbetrieben, sondern aus agroindustriellen Betrieben besteht oder wenn die Bewirtschaftung größerer Flächen vollständig eingestellt wird?

Alle diese Fragen lassen sich zu folgender Grundsatzfrage zusammenfassen: Kann das Landleben unter den heutigen Rahmenbedingungen wirtschaftlich tragfähig, kulturell bereichernd, sozial vielfältig sein, und kann es eine qualitativ gute Versorgung und eine vielfältige und gesunde Umwelt bieten?

Dieses Buch möchte auf diese Fragen konkrete Antworten geben, indem es sich damit beschäftigt, was Landleben eigentlich bedeutet, wodurch es sich vom Leben in der Stadt unterscheidet, und ob es in der heutigen globalisierten Welt überhaupt noch eine Zukunft besitzt. Dazu muss man sich natürlich mit den Bereichen bäuerliche Kulturlandschaften, Landwirtschaft, Handwerk, Dorfleben, Traditionen sowie mit den engen Verflechtungen zwischen ihnen beschäftigen. Da das Land aber stets in einem engen Austausch mit der Stadt steht, muss man auch verstehen, warum überhaupt Städte entstanden sind und welche Auswirkungen die Industrielle Revolution, die Entdeckung des Landes als «schöner Landschaft», der wirtschaftliche, demographische und ökologische Wandel, die Gebietsreform, die Zentrale-Orte-Politik, die Entstehung der Konsumgesellschaft und das Erstarken des Neoliberalismus auf das Landleben besitzen – andernfalls bestünde die Gefahr, das Land in zu hohen Ausmaß als Idylle wahrzunehmen.

Aus diesem Grund entwirft dieses Buch ein umfassendes Bild des Landlebens, das mit der Entstehung der Landwirtschaft vor 12.000 Jahren beginnt, seine Veränderungen in Altertum, Mittelalter und Neuzeit kurz skizziert und dann den Schwerpunkt auf die heutige Situation legt. Da das Landleben trotz gewisser Aufwertungen derzeit stark entwertet wird, es aber zugleich für die zukünftige Entwicklung unverzichtbar ist, endet dieses Buch mit Leitideen für seine gezielte Aufwertung.

Eine solche breite Darstellung des Landlebens ermöglicht einen völlig neuen Blick auf das Landleben, der quer zu den üblichen Sichtweisen steht und der das Land in einem neuen Licht erscheinen lässt. Ein solcher neuer Blick ist aber heute auch dringend erforderlich, da die bisherigen Sichtweisen meines Erachtens wenig geeignet sind, um das Phänomen Landleben angemessen zu verstehen.

Dieser neue Blick ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Landleben: Zum einen beschäftige ich mich seit über vierzig Jahren mit den Veränderungen und Problemen im Alpenraum, wobei ich mich auf der Grundlage wissenschaftlicher Analysen immer auch für konkrete, umsetzbare Problemlösungen engagiere;[1] und da die Alpen eine ländliche Großregion in Europa sind, habe ich dadurch sehr direkt erfahren, wie man in den sieben Staaten mit Alpenanteil – also in einem relevanten Teil Europas – mit dem ländlichen Raum jeweils unterschiedlich umgeht.

Zum anderen habe ich mich seit 1995 intensiv mit dem ländlichen Raum in Franken (Nordbayern) auseinandergesetzt: Als Professor für Kulturgeographie an der Universität Erlangen-Nürnberg bin ich stets davon ausgegangen, dass die Universität eine Verantwortung für «ihre» Standortregion besitzt. Deshalb habe ich mich systematisch mit dem ländlichen Raum innerhalb der «(Metropol-)Region Nürnberg» – sie umfasst große Teile Frankens – beschäftigt und hier neben wissenschaftlichen Untersuchungen gezielt solche Entwicklungen unterstützt, die ländliche Regionen auf dezentrale Weise kulturell und ökonomisch stärken und zugleich ökologisch aufwerten. Daran waren im Rahmen von Projektseminaren, Examensarbeiten und Dissertationen viele Studenten beteiligt, die häufig aus diesem Raum stammten und dabei ihre persönlichen Erfahrungen einbrachten, wodurch ich selbst viel gelernt habe.[2]

Zusammen mit den Erfahrungen meiner Kindheit und Jugend – ich bin im ländlichen Raum Nordhessens aufgewachsen, zuerst im Dorf Istha, später in der Kleinstadt Fritzlar – prägen die Auseinandersetzungen mit den Alpen und dem ländlichen Raum in Franken meine Sichtweise des Landlebens, und ich greife gern auf diese Räume zurück, wenn ich grundsätzliche Aussagen zum Landleben anhand konkreter Beispiele anschaulich mache.

Weil der neue Blick auf das Landleben, der in diesem Buch entwickelt wird, quer zu den üblichen Sichtweisen steht, fällt das Kapitel «Einführung» in diesem Buch etwas umfangreicher aus, denn es will die verschiedenen Voraussetzungen, die mit dem Thema Landleben verbunden sind, ansprechen und nachvollziehbar machen. Die Leser werden dabei gebeten, bei der Lektüre stets ihre eigenen Erfahrungen mit dem Landleben zu reflektieren und jeweils genau zu überlegen, an welchen Stellen sie dem Autor folgen und an welchen Stellen sie andere Bewertungen vornehmen.

1.2 Der doppelte Blick auf das Landleben

Ausgangspunkt dieses Buches ist das heute verbreitete Bild des Landes. Um dieses zu erfassen, habe ich jeweils zu Beginn meiner Vorlesung «Der ländliche Raum» (Pflichtvorlesung für alle Studienanfänger im Fach Geographie) die Teilnehmer gebeten, spontan und ohne großes Nachdenken die drei Begriffe aufzuschreiben, die ihnen beim Thema Land oder ländlicher Raum einfallen. Zusätzlich sollten sie die drei Begriffe mit Symbolen bewerten (+ für positiv, – für negativ, 0 für neutral), und sie sollten angeben, wo sie aufgewachsen sind (L = Land, S = Stadt,? = unklar).

Natürlich ist diese Umfrage in keiner Weise repräsentativ, aber da gut eintausend Studenten in sechs Vorlesungen zwischen 2003 und 2014 diese Fragen beantworteten und die Ergebnisse fast immer sehr ähnlich waren und eindeutig ausfielen, kann man sie als Einstieg sehr gut benutzen.

Obwohl es keinerlei Vorgaben gab und alle Begriffe völlig frei gewählt werden konnten, gab es doch stets drei Begriffe, die immer mit einem erheblichen Abstand vor allen anderen genannt wurden, nämlich Landwirtschaft, Landschaft/Natur und Dorf(leben). Gut die Hälfte derjenigen, die auf dem Land aufgewachsen waren, bewerteten ihre drei Begriffe positiv, und 20 % von ihnen negativ (Rest neutral oder diffus). 45 % derjenigen, die in der Stadt aufgewachsen waren, bewerteten ihre drei Begriffe positiv und knapp 30 % von ihnen negativ (Rest neutral oder diffus).

Daraus ergibt sich ein ziemlich klares Bild, wie das Land gesehen wird: Es wird bestimmt von großen grünen Landschaften (Natur- und Kulturlandschaften) mit kleinen Siedlungen, wobei Orte und Landschaften stark durch die Landwirtschaft geprägt werden (Abbildung 1). Dieses Bild kann positiv geprägt sein (Ruhe, saubere Umwelt, soziale Nähe als Vertrauen, regional geprägtes Wirtschaften) oder negativ (schlecht erreichbar, langweilig, soziale Nähe als Kontrolle, wirtschaftliche Probleme), wobei auffällt, dass zwar Menschen vom Land das Land etwas positiver bewerten als Städter, dass aber bei beiden Gruppen positive und negative Bilder vorhanden sind, während neutrale Bewertungen eher zurücktreten.

Dieses Bild des Landes gründet zwar auf den persönlichen Erfahrungen der befragten Personen, aber es ist kein individuelles Bild, sondern ein Bild, in dem sich gesellschaftliche Erfahrungen niedergeschlagen haben, die das individuelle Erleben mitprägen. Und ein Blick in die Kulturgeschichte zeigt, dass es jeweils gesellschaftliche Umbruchsituationen waren, in denen das Land entweder deutlich positiv oder deutlich negativ gesehen wurde.

Dies betrifft einmal die Zeit zwischen 1880 und 1914, als die Auswirkungen der Industriellen Revolution die gesamte vertraute europäische Welt zerstören und eine andere, völlig neue Welt entstehen lassen. Wenn man in dieser Situation das Neue positiv, als «Fortschritt» sieht und sich davon bessere Lebensmöglichkeiten erhofft, dann bewertet man die Stadt positiv und das Land negativ. Wenn man in dieser Situation aber das Neue negativ, also als Rückschritt sieht, damit schlechtere Lebensmöglichkeiten verbindet und die Zerstörung von Traditionen als Verlust bewertet, dann sieht man die Stadt negativ und das Land positiv.

Diese zugespitzte Bewertung wiederholt sich in unserer Gegenwart: Mit der Epochenwende der Jahre 1989/90 erhalten die globale Marktwirtschaft und der Neoliberalismus eine völlig neue Dynamik, und etwa ab dem Jahr 2000 werden die Auswirkungen der forcierten Globalisierung für alle Menschen sehr deutlich spürbar. Der große Boom der «Land»-Zeitschriften, der im Jahr 2005 einsetzt und ein sehr breites mediales Echo findet, ist m. E. nur vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Das bedeutet zweierlei: Erstens spiegelt sich im Bild des Landes immer der aktuelle gesamtgesellschaftliche Wandel, so dass es eine neutrale, davon unabhängige Sichtweise gar nicht gibt! Und zweitens kann man über das Land nur dann sprechen, wenn man zugleich auch die Stadt thematisiert, denn Stadt und Land sind zwei komplementäre, wechselseitig aufeinander bezogene und voneinander abhängige Sachverhalte.

Für den Blick dieses Buches auf das Landleben folgt daraus eine Doppelstruktur: Einmal geht es darum, wie das Land konkret geprägt ist, welche wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Kräfte hier im Einzelnen wirken und welche Veränderungen hier ablaufen. Zum anderen geht es darum, wie das Land – von seinen Bewohnern, aber auch von der gesamten Öffentlichkeit – gesehen und bewertet wird; dies hat jedoch nur bedingt mit der Situation des Landes selbst zu tun, weil diese Bewertung in erheblichem Maße durch gesamtgesellschaftliche Erfahrungen mitgeprägt wird.

Diese Doppelstruktur – der konkrete Wandel und die gesellschaftliche Bewertung dieses Wandels – wird sich durch das gesamte Buch durchziehen, und für Sie als Leser ist es wichtig, sich zu überlegen, wie Sie diese beiden Aspekte sehen.

Damit Sie gleich zu Beginn nachvollziehen können, wo ich selbst in diesem Kontext stehe, möchte ich vorab ganz kurz meine eigene normative Position skizzieren: Für mich sind Stadt und Land zwei unterschiedliche, jedoch gleichwertige Lebens- und Wirtschaftsräume, die jeweils unterschiedliche Vor- und Nachteile besitzen, die voneinander abhängig sind und sich wechselseitig ergänzen und die nur gemeinsam ein «gutes Leben» ermöglichen. Da der gegenwärtige Wandel das Landleben aber fundamental entwertet, engagiere ich mich dafür, dass das Land weder verstädtert noch als Ergänzungsraum der Stadt lediglich auf die Funktionen Naturschutz und Erholung reduziert wird, sondern dass es langfristig ein lebenswerter Lebens- und Wirtschaftsraum in dezentralen Strukturen bleibt. Wie das konkret aussehen könnte, wird im Verlauf des Buches Schritt für Schritt entwickelt werden.

1.3 Definitionen von Land und ländlichem Raum

Bislang sind wir vom verbreiteten Vorverständnis von «Land» ausgegangen, aber jetzt müssen wir diesen Begriff näher definieren, damit die Ausführungen dieses Buches nicht diffus werden.

Bevor wir jedoch mit möglichen Definitionen beginnen, muss zunächst ein Problem angesprochen werden, das dabei immer wieder auftritt: Wenn ich den ländlichen Raum mittels eines Indikators definiere, der ein Problem beinhaltet wie z.B. die Zahl der Arbeitsplätze pro Gemeinde (deutlich weniger als in der Stadt), das durchschnittliche Einkommen (deutlich geringer als in der Stadt) oder die Erreichbarkeit von Fachärzten (deutlich schlechter als in der Stadt) und ihn damit gegenüber dem städtischen Raum abgrenze, dann setze ich ein Problemkriterium als Grundlage der Definition an. Wenn ich anschließend behaupte, das Ergebnis würde beweisen, dass der ländliche Raum gegenüber der Stadt benachteiligt und ein Problemraum sei, dann habe ich jedoch einen klassischen Zirkelschluss begangen, indem ich das zu Beweisende bereits in meiner Ausgangsposition vorausgesetzt habe. Das bedeutet nicht, dass man den ländlichen Raum so nicht definieren darf, sondern es bedeutet lediglich, dass man auf diese Weise nicht «den» ländlichen Raum definiert, sondern lediglich ausgewählte Problemsituationen. Dieser enge Zusammenhang zwischen den in einer Definition enthaltenen normativen Voraussetzungen und dem späteren Ergebnis muss stets sehr genau beachtet werden.

Das bedeutet jedoch auch, dass man den ländlichen Raum erst dann angemessen definieren kann, wenn sein Inhalt wirklich klar umrissen ist – erst in dieser Situation kann ich diejenige Definition erarbeiten, die seinem Inhalt angemessen ist. Da aber das Ergebnis, wie der Inhalt des ländlichen Raumes konkret aussieht, erst am Ende dieses Buches vorliegen wird, können die folgenden Definitionen nicht mehr als eine erste Annäherung an die Definition des ländlichen Raumes sein.[3]

Aus der großen Fülle unterschiedlichster Definitionen nehme ich zu Beginn die einfachste heraus: Ein fester Schwellenwert wie z.B. 10.000 oder 20.000 Einwohner wird häufig verwendet, um ländliche von städtischen Gemeinden zu unterscheiden.[4] Diese Definition besitzt jedoch drei sehr große Schwierigkeiten: Erstens werden in der Geschichte der Menschheit die Städte im Verlauf der Geschichte immer größer; 4000 Einwohner bedeuten in vorgeschichtlichen Zeiten bereits eine richtige Stadt, heute jedoch nur eine ländliche Gemeinde. Zweitens besitzt eine städtische Siedlung zu allen Zeiten bestimmte Rechte und Privilegien, was aber nicht unbedingt mit einer bestimmten Einwohnerzahl verbunden ist; Zwergstädte mit einem Stadtrecht zum Beispiel sind von der Einwohnerzahl her einem größeren Dorf vergleichbar, sie besitzen aber eindeutig einen städtischen Charakter. Drittens kann in sehr dünn besiedelten, peripheren Gebieten wie in Island oder Nordskandinavien eine Stadt (ein zentraler Ort mit wichtigen Funktionen für sein Umland) sehr klein sein – der Schwellenwert für eine Stadt liegt hier bei nur 200 Einwohnern, und umgekehrt gibt es in sehr dicht besiedelten Regionen wie im Mittelmeerraum Siedlungen mit mehr als 10.000 Einwohnern, die keinerlei zentrale, also städtische Funktionen für ihr Umland besitzen und die deshalb trotz ihrer Größe doch nur ein Dorf sind. Den Extremfall stellt Japan dar, das auf seinen begrenzten besiedelbaren Flächen so dicht besiedelt ist, dass der Schwellenwert für Stadt erst bei 50.000 Einwohnern liegt.

Aus diesen drei Gründen ist ein fester Schwellenwert nicht geeignet, um den ländlichen Raum zu definieren, und er müsste je nach Epoche und je nach Bevölkerungsdichte des Umlandes modifiziert werden. Trotzdem wird diese Definition auf globaler Ebene immer wieder verwendet, weil andernfalls weltweite Aussagen über den Grad der globalen Verstädterung nicht möglich wären.

Die zweite Möglichkeit, den ländlichen Raum abzugrenzen und zu definieren, ist ebenfalls relativ einfach: Man definiert die städtischen Räume, Agglomerationen oder Verdichtungsräume mittels Bevölkerungs- und Arbeitsplatzdichte, Anteil der Siedlungs- und Verkehrsflächen und Pendlerverflechtungen sehr genau, und alles, was jenseits davon liegt, wird als ländlicher Raum definiert. Mit den Worten des Bayerischen Landesentwicklungsprogramms von 2003: «Als ländlicher Raum sind die Gebiete außerhalb der Verdichtungsräume bestimmt.»[5] Diese Abgrenzung ist eine Negativ-Definition: Nur die Stadt wird positiv bestimmt, und der Rest, der übrig bleibt, ist das Land, das deshalb auch «Rest-Kategorie» genannt wird. Diese Definition enthält die implizite Wertung, dass der Stadt die zentrale Aufmerksamkeit zukomme und das Land nur eine eingeschränkte Bedeutung besitze. Diese Definition war auf der politischen Ebene lange Zeit in ganz Europa sehr populär; seit einiger Zeit wird sie seltener verwendet, weil die darin enthaltene Bewertung kritisch gesehen wird.

Die dritte Möglichkeit, den ländlichen Raum zu definieren, ist bereits deutlich komplizierter und wird in der bundesdeutschen Raumordnung seit 1969 verwendet, wo man sich auf zahlreiche Indikatoren stützen kann, die bundesweit einheitlich vorliegen. Die «siedlungsstrukturellen Kreistypen» entwerfen auf der Ebene von Landkreisen und kreisfreien Städten für die gesamte Bundesrepublik Deutschland drei Raumtypen: «Agglomerationsräume mit ihrem Umland», «Regionen mit Verstädterungsansätzen» und «ländlich geprägte Regionen», die jeweils in zwei oder drei Untertypen weiter ausdifferenziert werden, wobei zur Abgrenzung die Bevölkerungsdichte und bestimmte Schwellenwerte bei Großstädten verwendet werden. Ländliche Kreise, also Kreise mit geringer Bevölkerungsdichte, gibt es nicht nur in den «ländlich geprägten Regionen», sondern auch in den «Agglomerationsräumen» und in den «Regionen mit Verstädterungsansätzen».[6] Damit sind die drei Haupttypen von vornherein gesetzt, und man geht normativ davon aus, dass es einen Unterschied macht, ob ein ländlicher Kreis in der Nähe einer großen Agglomeration, in der Nähe einer einzelnen Großstadt oder in der Peripherie liegt.

Diese Definition des ländlichen Raumes spielt in Deutschland eine große Rolle, weil sie vom «Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung» in Bonn im Auftrag der Bundesregierung für die «Laufende Raumbeobachtung» und für die Erarbeitung der «Raumordnungsberichte» genutzt wird.[7] Viele Medienberichte mit Aussagen über den ländlichen Raum in Deutschland gehen auf Analysen zurück, die auf dieser Definition aufbauen.

Auf einmal aber taucht im «Raumordnungsbericht 2005» eine völlig neue Raumtypisierung auf: Es wird zwischen «Zentralraum – Zwischenraum – Peripherraum» unterschieden, die durch die zwei Faktoren Bevölkerungsdichte und Zentrenerreichbarkeit bestimmt werden. Dabei löst man sich erstmals von den administrativen Einheiten (Gemeinden und Kreise) und wählt Kreisflächen mit einem 12-km-Radius (Bevölkerungsdichte) bzw. PKW-Fahrtzeiten mit 10-Minuten-Einheiten als kleinste Raumeinheiten.[8] Dies ist eine explizite Absage an die bisherige Zweigliederung des Raumes (städtische – ländliche Räume), die als nicht mehr realitätsnah angesehen wird, und die neue Dreigliederung setzt normativ voraus, dass nur die größten Zentren die Entwicklung des gesamten Raumes prägen und dass ein Gebiet umso größere Probleme erhalte, je weiter entfernt es von den großen Zentren liege.

Diese Typisierung bleibt jedoch ein Einzelfall, und die beiden Raumordnungsberichte 2011 und 2017 kehren wieder zu den siedlungsstrukturellen Kreistypen zurück, die jetzt jedoch erheblich verändert werden: Die neue Typisierung stützt sich ausschließlich auf die Siedlungsstruktur (Bevölkerungsdichte und Bevölkerungsanteile in Groß- und Mittelstädten[9]) und fasst die Lagegunst oder Zentrenerreichbarkeit als eine eigenständige Dimension auf, die damit nicht vermischt werden dürfe. Das bedeutet eine explizite Absage an die früheren siedlungsstrukturellen Kreistypen, aber auch an die Raumtypisierung von 2005. Die neuen siedlungsstrukturellen Kreistypen bilden jetzt zwei Haupttypen (Stadt und Land) mit je zwei Untertypen (siehe dazu Karte 1 auf Tafel II): Die städtischen Gebiete bestehen aus «kreisfreien Großstädten» und aus «städtischen Kreisen», die ländlichen Gebiete aus «Kreisen mit Verdichtungsansätzen» und aus «dünnbesiedelten ländlichen Kreisen».[10] Dabei können in ländlichen Kreisen sogar größere Städte existieren (z.B. Bamberg, Schweinfurt oder Coburg), die zum ländlichen Raum gerechnet werden, weil ihr Bevölkerungsanteil an der Gesamtbevölkerung bzw. die Bevölkerungsdichte einen gewissen Schwellenwert nicht überschreitet.

Einen völlig anderen Ansatz entwickelt die «Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung/OECD» Mitte der 1990er Jahre: Um den ländlichen Raum in ihren Mitgliedsländern aufwerten und fördern zu können, muss die OECD erst einmal feststellen, wo es überhaupt ländliche Räume gibt und wie groß sie sind. Da die Abgrenzungen der einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich sind, kann sie nicht einfach die jeweiligen nationalen ländlichen Räume zusammenfassen – diese heterogene Grundlage hätte keine gemeinsame Strategie ermöglicht. Deshalb entwickelt die OECD eine eigene Definition, bei der kein Indikator verwendet wird, der Ausdruck eines Problems ist (keine normative Gleichsetzung: ländlicher Raum = Problemregion), und bei der möglichst wenige und einfache Indikatoren verwendet werden, die in allen Mitgliedsstaaten bereits vorliegen und nicht erst mühsam erhoben werden müssen.

Das Ergebnis fällt sehr überzeugend aus: Als einziger Indikator wird die Bevölkerungsdichte gewählt, weil diese den wichtigsten Unterschied zwischen Stadt und Land darstellt: Während in der Stadt sehr viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, sind die Siedlungen auf dem Lande jeweils klein und liegen weiter voneinander entfernt. Als zentraler Schwellenwert wird der Wert von 150 Einwohnern/km2 bestimmt: Gebiete mit einer höheren Bevölkerungsdichte werden als städtisch, mit einer geringeren als ländlich angesehen.[11]

Diese Methode erscheint auf den ersten Blick so simpel, dass man meint, damit keine realitätsnahen Ergebnisse erzielen zu können. Aber die Auswertung erfolgt auf zwei Maßstabsebenen und damit werden erstaunlich gute Resultate möglich: Auf einer unteren Ebene, dem «local community level» (in Deutschland: Gemeinden) wird eine Raumeinheit mit dem Schwellenwert von 150 E/km2 entweder als städtisch oder als ländlich bestimmt. Auf einer höheren Ebene, dem «regional level» (in Deutschland: Kreise) geht es nicht mehr um Stadt oder Land, weil es in diesen Raumeinheiten immer beides gibt, sondern hier ist die Frage, wie groß die Bevölkerungsanteile sind, die jeweils in den städtisch und in den ländlich geprägten Gemeinden wohnen: Leben mindestens 50 % der Menschen der Region in ländlichen Gemeinden, dann ist es eine «predominantly rural region» (eine überwiegend ländlich geprägte Region); leben 15–50 % der Menschen der Region in ländlichen Gemeinden, dann ist es eine «significantly rural region» (eine deutlich ländlich geprägte Region); und leben weniger als 15 % der Menschen einer Region in ländlichen Gemeinden, dann ist es eine «predominantly urbanised region» (eine vorwiegend städtisch geprägte Region).[12]

Diese vergleichsweise einfache Möglichkeit, städtische und ländliche Regionen zu unterscheiden, liefert realitätsnahe Ergebnisse.[13] Der große Vorteil dieser Methode besteht darin, dass die Erhebungen sehr einfach durchzuführen sind und dass das Vorgehen auch von Nichtfachleuten gut nachzuvollziehen ist. Dies ist angesichts vieler komplizierter Methoden zur Abgrenzung des ländlichen Raumes, die nur von Experten und Statistikern berechnet und verstanden werden können, sehr praxisrelevant, denn dadurch können die Betroffenen bei diesen wichtigen Definitionsfragen aktiv einbezogen werden.

Die Darstellung einiger ausgewählter Definitionen hat deutlich gemacht, dass es keine allumfassende, objektive oder wertneutrale Definition des ländlichen Raumes gibt, sondern dass in jeder Definition (unterschiedliche) normative Elemente enthalten sind.[14] Deshalb muss jeweils zuerst geklärt werden, für welchen Zweck man eine Definition verwenden möchte, damit in einem zweiten Schritt dann diejenige Definition ausgewählt werden kann, die für diesen Zweck am geeignetsten ist.

Da es die normative Voraussetzung dieses Buches ist, dass Stadt und Land zwei komplementäre Lebenswelten sind, die nur gemeinsam ein «gutes Leben» ermöglichen, wird der ländliche Raum hier in einem weiten Sinne verstanden – es geht nicht bloß um den peripheren oder um den wirtschaftsschwachen ländlichen Raum, sondern um den gesamten ländlichen Raum jenseits der städtischen Räume, zu dem auch die zahlreichen Kleinstädte gehören (Abbildung 2). Dafür stellt der Indikator «Bevölkerungsdichte» die geeignete Grundlage dar, und deshalb verwendet dieses Buch die OECD-Definition des ländlichen Raumes. Damit ist der ländliche Raum in diesem Buch deutlich größer als die ländlich-peripheren Räume oder der «Peripherraum» des Raumordnungsberichts 2005, und andererseits werden mit dieser Definition die suburbanen Räume, also die sogenannten «Speckgürtel» um die großen Städte herum, aufgrund ihrer hohen Bevölkerungsdichte und ihrer städtischen Prägung aus dem ländlichen Raum ausgeschlossen.

Zum Schluss muss beim Thema Definition des ländlichen Raumes noch angesprochen werden, ob dieser Begriff im Singular oder im Plural verwendet werden soll. Lange Zeit war es in Wissenschaft und Politik völlig selbstverständlich, dass man vom ländlichen Raum in der Einzahl sprach, weil man damit einen relativ homogenen Raum meinte, der überall durch geringe Bevölkerungsdichte, schlechte Zentrenerreichbarkeit, einen hohen Stellenwert der Landwirtschaft und eine allgemeine Wirtschaftsschwäche geprägt war. In den 1990er Jahren setzt sich dann eine neue Sichtweise durch: Man spricht jetzt von den ländlichen Räumen in der Mehrzahl und unterscheidet dabei fünf Typen: 1. Ländliche Räume in der Nähe von Agglomerationsräumen; 2. Attraktive ländliche Räume für den Tourismus; 3. Ländliche Räume mit günstigen Produktionsbedingungen für die Landwirtschaft; 4. Gering verdichtete ländliche Räume mit wirtschaftlicher Entwicklungsdynamik; und 5. Strukturschwache ländliche Räume.[15] Dabei handelt es sich eigentlich nur um drei Haupttypen, nämlich um ländliche Räume in der Nähe von Agglomerationen (positive Entwicklung durch Zentrennähe), um ländliche Räume mit positiver Wirtschaftsentwicklung (durch Tourismus, durch Landwirtschaft oder durch Gewerbe/Industrie/Dienstleistungen) und um ländliche Räume mit Wirtschafts- und Strukturproblemen (negative Entwicklung durch periphere Lage).

Bei dieser Untergliederung geht man erstens davon aus, dass die Unterschiede zwischen den ländlichen Räumen so groß geworden sind, dass man nicht mehr von dem (homogenen) ländlichen Raum sprechen kann und dass zweitens die Unterschiede im ländlichen Raum genauso groß oder größer geworden sind wie die Unterschiede zum städtischen Raum.

Auch wenn ich die Position vertrete, dass es den homogenen ländlichen Raum wie früher nicht mehr gibt und dass die Unterschiede im ländlichen Raum erheblich zugenommen haben, so spreche ich in diesem Buch weiterhin vom ländlichen Raum im Singular und nicht im Plural: Ich bin der Meinung, dass zwischen städtischen und ländlichen Räumen nach wie vor fundamentale Unterschiede bestehen und dass dies weiterhin der Hauptunterschied im Raum ist, der auch sprachlich klar herausgestellt werden muss und nicht durch Pluralbegriffe weder auf der Seite des Landes noch der Stadt verwässert werden darf. Und für die Zukunft des ländlichen Raumes bedarf es einer gemeinsamen und einheitlichen Strategie für alle ländlichen Räume (andernfalls würde das Land im Gegensatz zur Stadt schwach dastehen). In einem zweiten Schritt muss diese Strategie dann nach unterschiedlichen Typen im ländlichen Raum weiter ausdifferenziert werden, um angesichts der heutigen Situation im ländlichen Raum eine realitätsnahe Strategie entwickeln zu können (siehe Seite 246 ff.). Deshalb verwende ich in diesem Buch – im Unterschied zum Stand der Forschung – bewusst den Begriff ländlicher Raum im Singular.

1.4 Zur Konzeption und Gliederung

Nachdem geklärt ist, welche Zielsetzung dieses Buch verfolgt, welchen Blick es auf das Landleben wirft und welche Definition von Land es benutzt, kann jetzt der letzte Abschnitt dieser Einführung angegangen werden: Welche Konzeption von Landleben verwendet diese Darstellung, und welche Gliederung folgt daraus für dieses Buch?

Der erste Punkt betrifft die «zuständige» Wissenschaftsdisziplin: Zahlreiche Wissenschaften beschäftigen sich mit dem ländlichen Raum wie Biologie (Geobotanik), Geographie, Geschichte, Volkskunde (oder Europäische Ethnologie), Kulturanthropologie, Agrarsoziologie (oder Soziologie der ländlichen Gesellschaft), Wirtschaftswissenschaften, Demographie, Politologie oder Planungswissenschaften.[16] Jede Wissenschaftsdisziplin verfolgt dabei ihre eigene fachliche Perspektive, so dass Darstellungen des ländlichen Raumes inhaltlich jeweils sehr unterschiedlich ausfallen.

Da dieses Buch das Land als komplementäre Lebensform zur Stadt sieht und sich für seinen langfristigen Erhalt engagiert, würde eine Konzeption, die sich allein auf wenige fachliche Aspekte konzentriert, zu kurz greifen – das Leben auf dem Lande umfasst eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Aspekte, die dabei berücksichtigt werden müssen. Die einzige Wissenschaftsdisziplin, die systematisch die drei zentralen Bereiche des Landlebens, nämlich Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken analysiert, ist die Geographie, und deshalb stellt sie die Leitwissenschaft für dieses Buch dar. Sie wird von Fall zu Fall durch wichtige Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsdisziplinen ergänzt.

Analysen des ländlichen Raumes hatten in der traditionellen Geographie der «Länderkunde» zwar stets einen großen Stellenwert,[17] aber trotzdem gab es in der Allgemeinen Geographie kein Teilgebiet «Geographie des ländlichen Raumes», sondern die Teilgebiete waren Bevölkerungs-, Siedlungs-, Wirtschafts- und Politische Geographie. Dabei war die Siedlungsgeographie, die ländliche und städtische Siedlungen zum Gegenstand hatte, für den ländlichen Raum von zentraler Bedeutung: Sie bestand aus der Erarbeitung der Haus-, Orts- und Flurformen, ihrer Klassifizierung und Typisierung nach Form und Lage und ihrer hierarchischen Gliederung in einer weltweiten Perspektive,[18] und sie wurde für Aussagen zum ländlichen Raum durch Ergebnisse der Agrargeographie, einem Teilgebiet der Wirtschaftsgeographie, ergänzt.[19]

Mit dem Wandel der Geographie von einer «Länderkunde» hin zu einer «Raumwissenschaft» entsteht ab den 1970er Jahren das neue Teilgebiet der «Stadtgeographie», das die Wechselwirkungen aller relevanten Faktoren im städtischen Raum zum Inhalt hat. Eigentlich hätte man erwartet, dass analog zur «Stadtgeographie» auch eine «Geographie des ländlichen Raumes» neu entsteht, aber dies passiert erstaunlicherweise nicht: Entweder wird der ländliche Raum weiterhin auf die traditionelle Weise gesehen (Haus-/Orts-/Flurformen plus Landwirtschaft), oder er wird im Rahmen der Verstädterung der Erde überhaupt nicht mehr gesondert thematisiert.[20]

Wenn dieses Buch also den ländlichen Raum auf der Grundlage der Wechselwirkungen seiner zentralen ökonomischen, soziokulturellen und ökologischen Faktoren zu verstehen versucht, dann verfolgt es die Konzeption einer neuen Geographie des ländlichen Raumes, die heute im Fach Geographie erst in Ansätzen existiert.[21] Aber diese Konzeption erscheint notwendig, um den ländlichen Raum angemessen analysieren und verstehen zu können.

Zusätzlich spielt in dieser Konzeption die Geschichte eine relevante Rolle, weil viele heutige Bewertungen des Landes (siehe Seite 14) nicht allein aus der Gegenwart heraus zu erklären sind, sondern weil dabei kollektive Erinnerungen an zentrale Erfahrungen der Vergangenheit eine wichtige Rolle besitzen. Deshalb erhält die geschichtliche Dimension in diesem Buch ein erhebliches Gewicht, und sie wird als zentrales Gliederungselement verwendet. Im Unterschied zu den Darstellungen der Geschichtswissenschaften geht es mir jedoch nicht um die wichtigen geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen – dies würde unübersichtlich werden und auch von der Fragestellung dieses Buches wegführen –, sondern lediglich um diejenigen Aspekte der Vergangenheit, die für das heutige Landleben immer noch eine große Relevanz besitzen. Am Ende der geschichtlichen Darstellung steht dann eine Bilanz des Landlebens, in der die relevanten geschichtlichen Erfahrungen enthalten sind. Diese Bilanz ist der Ausgangspunkt, um zum Schluss über die Zukunft des Landlebens nachzudenken und Perspektiven für seine Aufwertung zu entwickeln.

Aus dieser Konzeption erwächst folgende Gliederung:

Kapitel 2 stellt die Entstehung von Landwirtschaft und Landleben und die damit verbundenen fundamentalen Naturveränderungen dar, und es fragt, wie die Menschen damit umgehen und welche Lebensformen sie dabei entwickeln.

Kapitel 3 thematisiert, wie durch die Entstehung von Städten und Hochkulturen der «Fortschritt» in die Welt kommt und wie das Land dadurch grundsätzlich entwertet wird, obwohl es die Grundlage allen städtischen Lebens darstellt.

Kapitel 4 widmet sich der europäischen Sonderentwicklung im Mittelalter, bei der städtische und ländliche Territorien – im Unterschied zu allen anderen Teilen der Erde – vergleichsweise gleichwertig nebeneinanderstehen, wodurch das Landleben deutlich aufgewertet wird.

Kapitel 5 beschreibt die negativen Auswirkungen der Industriellen Revolution auf das Landleben durch das «Verschwinden der Fläche». In dieser Zeit bildet sich darüber hinaus auch der Gegensatz zwischen Industrie- und Entwicklungsländern aus, der dazu führt, dass die ländlichen Räume in den Entwicklungsländern mit völlig neuen und anderen Problemstellungen als bisher konfrontiert werden. Da der Einbezug dieser Thematik das vorliegende Buch wesentlich umfangreicher gemacht hätte und da der Autor damit keine persönlichen Erfahrungen besitzt, konzentriert sich Kapitel 5 weiterhin auf den ländlichen Raum in Europa.

Kapitel 6 ist der Entwicklung des ländlichen Raumes in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet, wobei seine forcierte Modernisierung (Verstädterung) im Zentrum steht. Diese Entwicklung läuft zwar europaweit auf eine ähnliche Weise ab,[22