Helwig Schmidt-Glintzer
DAS NEUE CHINA
Vom Untergang des Kaiserreichs
bis zur Gegenwart
C.H.Beck
Das heutige China blickt auf eine jahrtausendealte Geschichte zurück. Doch der Aufstieg dieser «neuen Weltmacht» wird nur verständlich vor dem Hintergrund der letzten Jahrhunderte. Nach chinesischer Auffassung beginnt das neuzeitliche China mit den Opiumkriegen, und die Gegenwart setzt mit der Bewegung für Neue Kultur (1915–1925) bzw. mit der 4.-Mai-Bewegung 1919 ein. In dem vorliegenden, nach mehreren Auflagen nunmehr vollständig überarbeiteten Buch werden, eingebettet in die Darstellung der wichtigsten Ereignisse der letzten nahezu 200 Jahre, die Entwicklungsrichtungen und die inneren Konflikte Chinas in ihren Grundzügen sowie im Lichte inzwischen gefundener Deutungen dargestellt. Die Kombination von chinesischen Geschichtsdarstellungen und Außenperspektiven gibt dem Leser ein komplettes Bild, das auch die jüngsten Initiativen wie die «Neuen Seidenstraßen» und die Veränderungen im politischen System Chinas berücksichtigt. Helwig Schmidt-Glintzer vermittelt das wichtigste Wissen, um das heutige China und seine Stellung in der Welt verstehen zu können.
Helwig Schmidt-Glintzer lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen (CCT). In C.H.Beck Wissen erschienen von ihm außerdem «Das alte China» (6. Aufl. 2018) sowie «Der Buddhismus» (4. Aufl. 2019).
Abkürzungen
Vorwort
Einleitung
I. Das Ende des Kaiserreiches (1839–1911)
1. Der erste Opiumkrieg (1839–1842) und das «Reich des Himmlischen Friedens» (1851–1864)
Bürgerkriege und Bedrohung von außen
Der Opiumkrieg
Der Taiping-Aufstand
«Selbststärkung» und äußere Bedrängnis
Anfänge einer Industrialisierung
2. Konstitutionalismus und politische Neuansätze
3. Soziale Veränderungen und neue Öffentlichkeiten
Nationalismus
Westorientierung der Intellektuellen
Die Hundert-Tage-Reform von 1898
Interessen der Kolonialmächte
4. Der Boxeraufstand und die Revolution von 1911
Der Boxeraufstand
Sun Yatsen – der «Vater der Nation»
Die Krise von 1911
II. Die Suche nach einem Neuanfang (1912–1927)
1. Das Scheitern der Republik und die Zeit der Kriegsherren
Reaktionäre Kräfte
Die Zeit der Kriegsherren
2. Geistige Vielfalt und Suche nach Einheit
Mr. Science and Mr. Democracy
Die Fiktion einer Han-Nationalität
Die 4.-Mai-Bewegung
3. Die republikanische und die kommunistische Bewegung
Fremde und einheimische Unternehmer
Die Gründung der KPCh
Die erste Einheitsfront
III. Revolutionsmodelle im Widerstreit (1927–1937) und anti-japanische Einheitsfront (1937–1945)
1. Der Bruch zwischen Kommunisten und Republikanern
Das Blutbad von Shanghai
2. Nordfeldzug, Jiangxi-Sowjet und Langer Marsch
Jiangxi-Sowjet
Der Lange Marsch
3. Die Bedrohung durch Japan
Mandschukuo – Marionettenstaat Japans
Die Bildung einer Einheitsfront
4. Der Widerstandskrieg
Chinas Ringen um Rückgewinnung der Souveränität
Der offene Krieg und das Massaker von Nanking
IV. Jahre des Übergangs und das Ende des sowjetischen Vorbilds (1945–1960)
1. Bürgerkrieg, Staatsgründung und die Republik auf Taiwan
Vermittlungsversuche
Der Siegeszug der Roten Armee
Die Staatsgründung 1949
Die Besetzung Taiwans
2. «Neue Demokratie» und Proletarische Revolution
Von der Stadt aus das Land anleiten
Kampf zweier Linien und nationale Neuordnung
3. Großer Sprung und große Hungersnot
Hundert-Blumen-Bewegung und Kampagne gegen Rechtsabweichler
Einrichtung der Volkskommunen
Konsolidierung
4. Chinas Grenzen nach Norden und Westen
Die Beziehungen zu Russland
Machtkonflikte um Tibet und die Rolle des Dalai Lama
Die Flucht des 14. Dalai Lama
V. Chinas wechselnde Identitäten und die fünfte Modernisierung (ab 1960)
1. Mao Zedong und die Kulturrevolution
Die Große Proletarische Kulturrevolution
Rote Garden und Permanente Revolution
Neuorientierung im Inneren und in der Außenpolitik
Das Ende der Kulturrevolution
2. Die Vier Modernisierungen und das Charisma Deng Xiaopings
Der gebremste Aufstieg des Deng Xiaoping
Der Ruf nach Demokratie und der «Pekinger Frühling»
Sonderzonen und das Schwanken zwischen Liberalisierung und Repression
Die Modernisierungspolitik der achtziger Jahre
3. Minderheiten und Spannungen am Rande
Neue und alte Unruhepotentiale
Der islamische Nordwesten und die neue Seidenstraßeninitiative
Zentralregierung und Provinzen
Die Armee
4. Neuorientierung der Intellektuellen?
Studentenproteste und Forderungen nach Reformen und Demokratie
VI. Chinas Aufbruch ins 21. Jahrhundert
1. Hongkong, Taiwan, Macau und «Großchina»
Neuordnung der Außenbeziehungen
Taiwan
2. Die neue Identität des Südens
Die Integrationskraft des Grenzdiskurses
3. Dörfer und Städte
Dorfdemokratie
4. Schlusswort
Zeittafel
Literaturhinweise
Register
EU |
Europäische Union |
GMD |
Guomindang (Var.: Kuo-min tang), Nationalistische Partei |
KPCh |
Kommunistische Partei Chinas |
UdSSR |
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz: Sowjetunion |
USA |
Vereinigte Staaten von Amerika |
VR China |
Volksrepublik China, offizieller Name: Zhonghua Renmin Gongheguo |
Nach einer Phase beschleunigter Transformation seit der Öffnung des Landes Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts bemüht sich China um eine neue Stabilität. Die Bevölkerung sieht sich zunehmend als Teil der Weltgesellschaft und sucht ihren Anteil an der internationalen Wohlstandsentwicklung. Die Mehrheit versteht sich als Mitspielerin heutiger Kommunikationsstrukturen – von den 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen verfügen zwei Drittel über Internetzugang, und fast 90 Prozent verwenden Handys. Die Kehrseite dieser Entwicklung sind eine fast lückenlose digitale Vernetzung und eine damit mögliche staatliche Überwachung. Während über viele Jahre die Vergangenheit angesichts der Gegenwart zu verblassen schien, wird zunehmend deutlich, dass die Geschichte als Sinnressource an Bedeutung gewinnt. Und doch ist dieses heutige China das Ergebnis eines seit etwa 200 Jahren andauernden Veränderungsprozesses, in dem die westlichen Mächte einschließlich Russland sowie Japan treibende Kräfte waren. An sie wird ebenso erinnert wie an die Volksaufstände und Bürgerkriege, die seit dem 19. Jahrhundert stattfanden, und an die jüngsten innerparteilichen Richtungskämpfe. Insofern ist die Geschichte des neuen China eine in mehrfachem Sinne geteilte Geschichte. Neben der offiziell erinnerten Geschichte gibt es Verdrängtes und Tabuisiertes, und aufgrund der Größe und kulturellen Vielfalt des Landes gibt es sogar viele Geschichten mit zahllosen Facetten und Widersprüchen. Die Erfahrungen der Vergangenheit, die Erinnerungen und Traumatisierungen, die nach wie vor auf der chinesischen Gesellschaft lasten, werden immer wieder neu gedeutet. Galten etwa lange Zeit die Bauernaufstände und Unruhen der Kaiserzeit als Vorboten der neuen Herrschaft unter Führung der Kommunistischen Partei, werden diese Aufstände heute eher als rückwärtsgewandt charakterisiert. Dagegen werden Jubiläen von Institutionen inszeniert, die in der Gründerzeit der Republik China vor hundert Jahren errichtet wurden. Die lange als Rückfälle und Verzögerungen verstandenen Kampagnen der kommunistischen Parteiführung, wie etwa der «Große Sprung nach vorn» und die Kulturrevolution, sind inzwischen detaillierter erforscht worden. Auch deswegen schrumpfen sie zu einer Vorgeschichte der beschleunigten Entwicklung seit dem Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als deren Folge neue Herausforderungen drohen: die prekären Arbeitsverhältnisse vor allem der Wanderarbeiter, die Alterung der Gesellschaft und damit verbundenes neues Elend und neue soziale Spannungen sowie nicht zuletzt ökologische Herausforderungen. Und doch sind Ereignisse wie die Niederschlagung der Studentenproteste im Juni 1989 in Erinnerung geblieben und könnten – einmal der offiziell verordneten Vergessenheit entrissen – neue Bedeutung erlangen. Das Vertrauen auf eine Fortsetzung des eingeschlagenen Modernisierungsweges erweist sich als fragil. Nicht nur die Frage nach den Menschenrechten und den Bedingungen von Rechtsstaatlichkeit, sondern vor allem die Themen Gerechtigkeit, Korruption und Willkür staatlichen Handelns behalten ihre Brisanz. Im Ringen um die Fortsetzung der Modernisierung werden Anleihen nicht nur bei den Vorbildern der fortgeschrittenen westlichen Industriegesellschaften gemacht, sondern auch ureigene chinesische Lösungswege angestrebt. Die seit der Jahrtausendwende verstärkte Beschwörung einer «Harmonischen Gesellschaft» ist nur Ausdruck einer tiefgreifenden Verunsicherung, zumal inzwischen durch die internationalen Verflechtungen Abhängigkeiten entstanden sind, deren Auswirkungen auf den sozialen Frieden im Inneren zur größten Herausforderung zu werden drohen. Erst die Zukunft wird zeigen, wie dauerhaft sich China in seiner heutigen Gestalt wird behaupten können. Die Erfahrungen der dramatischen Veränderungen in der Vergangenheit werden auf absehbare Zeit das Selbstverständnis der Akteure prägen. So bleibt in einem für Mitglieder der westlichen Gesellschaften zunächst nur sehr schwer nachzuvollziehenden Ausmaß weiterhin gänzlich offen, in welcher Weise in China und vor allem von den Chinesen selbst ein «Neues China» konzipiert wird. Dem Diskurs über die zukünftige Rolle dieses «Reichs der Mitte» haben sich nicht erst neuerdings nationalistische Töne hinzugesellt, doch haben sie inzwischen einen neuen Charakter bekommen, und die Abwehrhaltung gegenüber Chinas Aufstieg durch die ihren Abstieg erlebenden USA befeuert nationale Narrative.
Die Geschichte Chinas seit den Opiumkriegen auf wenigen Seiten Revue passieren zu lassen, ist wie ein erstes Atemholen, um sich mit informiertem Blick den Diskursen der Gegenwart zu stellen, in denen Chinas Rolle größer geworden ist. Es gilt, die gegenwärtigen Dynamiken und krisenhaften Entwicklungen besser zu verstehen. Die vorliegende, vollständig überarbeitete Darstellung soll das Wissen um die wechselhafte Geschichte des neuen China mit seinen aus einer reichen frühen Hochkultur gespeisten Traditionen verbreiten und so zu einem vertrauteren Umgang beitragen.
Diese Neubearbeitung widme ich Karl Schlecht, dem Unternehmer, Philanthropen und Stifter von Vertrauen, das ihn mit China verbindet.
Tübingen, 27. September 2019 |
HSG |
«Was wir der Welt beweisen müssen, ist nicht, dass das alte China nicht tot ist, sondern dass ein neues China im Entstehen ist.»
Li Dazhao (1888–1927)
Nach den ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts wird eine Geschichte Chinas der letzten zweihundert Jahre vieles, was über Jahrzehnte die Aufmerksamkeit gefesselt hat, in ein neues Licht rücken müssen. Gleichwohl gibt es Konstanten. Dazu gehört die aus dem Kaiserreich herkommende Vorstellung von einem Einheitsreich. Nicht alle Reformer der frühen Republik verfolgten dieses Ziel, doch ein chinesischer Selbstbehauptungswille in Verbindung mit einer insbesondere von den USA und Russland beförderten Bestrebung, China in seinen alten Grenzen zu erhalten, zeichneten den Weg zur Neuetablierung eines chinesischen Einheitsreiches vor. Ein schwieriger Übergang scheint abgeschlossen, der für China ein doppelter Übergang war: die Überwindung der alten Reichsverfassung und die Behauptung gegenüber den Kolonialmächten und den Territorialinteressen Japans und Russlands. Doch die Unsicherheit in einigen Randzonen ist geblieben.
Wirtschaftlich ist China heute mit seinen wachsenden Märkten in Südostasien und weit darüber hinaus wieder – wie während der längsten Zeit des chinesischen Kaiserreiches – das Gravitationszentrum in der Region. Angesichts der großen Ausfuhrüberschüsse verlagern sich die internationalen Finanzmärkte zunehmend dorthin. Zugleich hat sich China seit der Öffnungspolitik dermaßen stark international eingebunden, dass es sowohl hinsichtlich seiner Rohstoff- und insbesondere Energieversorgung, aber auch bezogen auf Technologieabhängigkeit und Außenhandel zu einem Motor der Weltkonjunktur geworden ist; daraus resultiert ein hohes Maß an Abhängigkeit. Zugleich entfaltet der Zwang, für China einen Platz in der Welt zu finden, ungeahnte Dynamiken. Seit die Erinnerungen an den Zusammenbruch der Mandschu-Dynastie im Jahre 1912, an die erlittenen Demütigungen bei der Besetzung durch die Japaner und an den Bürgerkrieg langsam verblassen, werden nunmehr die zum Teil traumatischen Erfahrungen der Zeit der Kulturrevolution in einem neuen Licht gesehen.
Im Rahmen der Wirtschaftsentwicklung in Ost- und Südostasien, an der auch Auslandschinesen maßgeblichen Anteil haben, kommt China die wichtigste Rolle zu, die es politisch sowie militärisch anzunehmen und auszufüllen längst begonnen hat. Nachdem die USA unter ihrem Präsidenten Barack Obama erklärt hatten, ein neues Augenmerk auf den Pazifik zu werfen («Pivot to Asia»), hat Donald Trump mit seiner «America First»-Strategie eine neue Verunsicherung in die Welt gebracht. Dadurch ist China in einer neuen Weise Teil der Weltgesellschaft geworden. Die Geschichte Chinas muss deshalb heute, nach dem Ende des Kolonialzeitalters, neu geschrieben werden, genauso wie die Geschichte Europas und die der beiden Amerikas angesichts der globalen Entwicklungen und der Neujustierung von Bündnissystemen aus zumindest bisher ungewohnten Perspektiven zu sehen ist.
Zugleich bleibt die Geschichte Chinas der letzten zweihundert Jahre von Konstanten geprägt. Zunächst ist sie ein Teil der Geschichte Ostasiens. Aus der reflexiven Betrachtung eines Europäers bleibt China ein Teil des seit Menschengedenken bestehenden eurasischen Kulturaustauschs. Nur vor diesem Hintergrund sehen wir die großen Linien, die immer wieder aufflammenden Debatten um die Wahrung der Identität Chinas angesichts der vor allem mit dem Westen assoziierten Modernisierungsbestrebungen. Nach innen ging es China neben dem kulturellen Selbstverständnis immer auch um die Wahrung bzw. Wiederherstellung der Einheit Chinas in den Grenzen des letzten Kaiserreiches – einschließlich strittiger Randzonen und Grenzgebiete. Eine besondere Rolle kommt auch nach allen kulturellen Umbrüchen den Trägern der politischen Meinungen zu, im 20. Jahrhundert den Parteieliten und den Angehörigen der Bildungselite, nicht zuletzt aber auch den militärischen Eliten. Dass Chinas politische Einheit von Vertretern von Minderheitenvölkern vor allem in den westlichen Regionen infrage gestellt wird, erinnert an die Möglichkeit, dass sich einige Teile Chinas nicht leicht – oder in Zukunft vielleicht überhaupt nicht – integrieren lassen werden.
Auf der Suche nach der Moderne befand sich China nicht erst seit dem ersten Opiumkrieg (1839–1842) und seit den folgenden Konflikten mit dem Westen, sondern es kann auf eine lange Tradition von Innovation und technisch-wissenschaftlicher Kenntnis zurückblicken sowie vor allem auf eine Reformtradition, die sich bis in die Zeit des Konfuzius zurückverfolgen lässt. Freilich sind diese Traditionen immer wieder neu bewertet worden, sodass jede Rekonstruktion der Geschichte Chinas – wie auch die vorliegende – aus ihrer jeweiligen Gegenwart zu verstehen ist. Aufgrund bestimmter sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Indikatoren haben manche China seit dem 11. Jahrhundert als bereits «modern» bezeichnen wollen. Auch wenn solche Periodisierungsbemühungen sehr zeitverhaftet sind, so hat sich doch herausgestellt, dass es in China seit dem 16. Jahrhundert einen Reform- und Erneuerungsschub gegeben hat. Von «Sprossen des Kapitalismus» ist daher die Rede und für das 19. Jahrhundert dann auch von Chinas «früher Industrialisierung». Vor allem auf politisch-intellektuellem Gebiet sind die zahlreichen intensiven Reformbestrebungen und -debatten der vergangenen Jahrhunderte bisher noch kaum aufgearbeitet und erforscht. Dabei wirken diese Ideen und Vorstellungen, die von einzelnen Personen und kleinen Gruppen vorgetragen wurden und nicht nur in ihrer jeweiligen Zeit die Gemüter bewegten, bis in die Gegenwart.
Wieweit die intellektuellen Strömungen mit sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht werden können, ist eine offene Frage. Auffällig ist jedoch, dass bei einer rapiden Zunahme des Bevölkerungswachstums – von etwa zwischen 100 und 150 Millionen im Jahr 1650 auf 200 bis 250 Millionen im Jahr 1750, 410 Millionen im Jahr 1850 und 520 Millionen im Jahr 1950 – einerseits und bei der Konsolidierung der äußeren Reichsgrenzen des Mandschu-Reiches andererseits die Zahl der Aufstandsbewegungen und Bauernrebellionen derart zunahm, dass China bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts sozialpolitisch äußerst fragil war. Daher ist es heute kaum mehr möglich, die äußeren und die inneren Gründe für den Zerfall und den endgültigen Zusammenbruch des Kaiserreiches voneinander abzugrenzen.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – man kann den Besuch der britischen Gesandtschaft unter Leitung von Earl George Macartney am chinesischen Kaiserhof im Jahre 1793 als Schlüsseldatum nehmen – war China erneut und vollends in die Dynamik der Weltgesellschaft einbezogen. Zugleich hatte sich die innere Entwicklung derart beschleunigt, dass das Mandschu-Reich im 19. Jahrhundert vor internen und externen Herausforderungen stand, denen es am Ende nicht mehr gewachsen war. Es zeigte sich aber auch hier die Besonderheit, dass trotz großer interner Spannungen und trotz erheblicher Bedrohungen und großer Verlockungen von außen die Eliten Chinas an einem gesamtchinesischen Konzept festhielten und sich nicht aufspalten ließen. Diese Einheit der Eliten hat China gerettet; andererseits aber war der Preis für diese Einheit der Verzicht auf das, was in Europa als Individualismus und Bürgerstaat bis heute dessen politisches Selbstverständnis prägt. So konnte die Ausgangslage für das China des 20. Jahrhunderts das Großreich der Mandschuren mit seiner geographischen und ethnischen Vielfalt werden. Diese Vielfalt kennzeichnet jedoch bis heute die inneren Spannungen Chinas, und sie wird zur Schicksalsfrage der gesamten Region im 21. Jahrhundert. Heute leben in China 1,4 Milliarden Menschen, und auch wenn es keine Hungerkatastrophen gibt und mancherorts sogar ein kleiner Wohlstand aufblüht, so sind die zu lösenden Aufgaben zum Teil von – für Europäer – unvorstellbarer Größe.
Kann man das heutige China nur aus der Geschichte verstehen? Dem Selbstverständnis der Akteure nach ist die Geschichte Teil der Identität Chinas; zugleich hat es immer wieder die These gegeben, das Land müsse sich von Grund auf erneuern. Sun Yatsen fasste dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Bemerkung, China sei ein «unbeschriebenes Blatt» – und viele folgten ihm in dieser Überzeugung. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es kein Entrinnen aus der Geschichte und auch keine Determination gibt. Die ganze chinesische Geschichte, die neuere wie die ältere, fordert schon allein deswegen stets von neuem ihre Rekonstruktion, weil sich nur auf diese Weise die politische wie die kulturelle Identität dieses riesigen Flächenstaates wird bekräftigen lassen. Diese Identität bleibt aber fragil, und die Verknüpfung von erheblichen Wohlstandsunterschieden zwischen einzelnen Regionen mit ethnischen Konflikten führt immer wieder zu Unruhen.
Die endgültige Durchsetzung der Kommunistischen Partei Chinas und ihrer Truppen im Jahre 1949 begründete mit der Proklamation der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 die Konsolidierung der Reichseinheit, ohne bis heute die inneren Unruhepotentiale auflösen zu können.
Im 21. Jahrhundert sucht sich China mehr und mehr mit seinen Nachbarn zu arrangieren. Dazu gehört auch ein stärkeres Engagement zur Überwindung der isolationistischen Politik Nordkoreas. Andererseits kommt es hier ebenso wie bei den Gebietsansprüchen Chinas im Südchinesischen Meer immer wieder zu Konflikten. Im Vordergrund stehen die Bemühungen, die äußere Sicherheit zu gewährleisten, verbunden mit dem Interesse, die wachsende Rohstoffnachfrage zu befriedigen. Deswegen bemüht sich die Regierung nicht nur, Verbindungswege einschließlich Ölpipelines im Indischen Ozean durch Myanmar (Birma) sicherzustellen, sondern beharrt auch weiter auf historischen Ansprüchen an Inseln im Pazifik sowie im Südchinesischen Meer. Hinzugekommen ist mit der «Neue Seidenstraße-Initiative» seit 2013 der Versuch, eine nach Westen gerichtete und den Nahen Osten einschließende Vernetzung der Handelswege nach Europa und Afrika unter Chinas Regie zu etablieren.
Die Auffassung, die Geschichte des neuzeitlichen China beginne mit dem Opiumkrieg und die Zeitgeschichte beginne mit der 4.-Mai-Bewegung 1919, ist eine verständliche und doch zugleich höchst problematische Setzung. Denn auf die 4.-Mai-Bewegung, welche heute meist als Bewegung für Neue Kultur bezeichnet wird und sich über die Zeit von 1915 bis 1925 erstreckt, berufen sich auch solche Kräfte, die eine stärkere demokratische Teilhabe der Bürger oder auch der einzelnen Regionen ablehnen und an der Lenkung des Staates durch eine zentralistisch geführte Partei festhalten wollen. Doch auch wenn dem Opiumkrieg längst nicht die gleiche traumatisierende Wirkung zukommt wie der Niederlage gegen Japan im Chinesisch-japanischen Krieg (1894/95), und auch wenn andererseits die Schilderung des Aufbruchs in die Moderne bereits im 16. Jahrhundert einsetzen könnte, wie Jonathan Spence in seinem Werk «Chinas Weg in die Moderne» vorgeschlagen hat, so ist es doch aus pragmatischen Gründen vertretbar, eine Geschichte des modernen China im 19. Jahrhundert einzusetzen zu lassen. Seit jener Zeit sucht das Land sich neu zu formieren und organisiert sich im Dialog und im Austausch mit den Standards anderer Kulturen – und bewahrt doch einige Grundzüge und Eigenheiten, die es nach wie vor so faszinierend sein lassen. Gleichzeitig erlebte China eine Vielzahl von Traumatisierungen, die in Zukunft zu vermeiden für die Gestaltung der Politik maßgeblich ist: den Taiping-Aufstand, Japans Versuch, China zu kolonisieren, die katastrophale Hungersnot in der Folge des Großen Sprungs, die Selbstermächtigung der Jugend gegen die verkrusteten Strukturen der Kaderpartei in der Zeit der Kulturrevolution und den sich abzeichnenden Staatsstreich von Teilen der Armee unter Lin Biao.
Die Erfahrungen der Revolutionszeit und insbesondere die taktischen Erfolge des für die KP China schließlich erfolgreichen Bürgerkriegs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch die Erfahrungen von Misswirtschaft und Scheitern prägen bis in die Gegenwart den Politikstil und tragen nicht unwesentlich dazu bei, dass der Modernisierungsprozess weniger durch Prinzipien geleitet wird, als vielmehr experimentellen und suchenden Charakter hat, verbunden mit einem hohen Maß an Lernbereitschaft. Als Ziel allerdings steht fest, den Wohlstand Chinas und seiner Bürger bis zum Jahr 2030 demjenigen Europas anzunähern.