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Andreas Rödder

GESCHICHTE DER
DEUTSCHEN
WIEDERVEREINIGUNG

C.H.Beck


Zum Buch

Die deutsche Revolution von 1989/90 verlief in zwei Phasen. Nachdem die friedliche Revolution in der DDR die Herrschaft der SED zu Fall gebracht hatte, radikalisierte sie sich nicht, wie in Frankreich 1789 oder in Russland 1917, sondern ging statt dessen in die geregelten Bahnen der deutschen Wiedervereinigung über. Am Ende trat die DDR der Bundesrepublik bei, und die westdeutsche Ordnung wurde auf die neuen Länder übertragen.

Andreas Rödder schildert in diesem Band konzise und anschaulich die Etappen der Wiedervereinigung, analysiert die weltpolitischen Rahmenbedingungen und stellt die treibenden Kräfte und Akteure vor. Auch die Frage nach dem Ort der Wiedervereinigung in der deutschen Geschichte nimmt diese vorzügliche Einführung abschließend in den Blick.

Über den Autor

Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Er hat bei C.H.Beck die große Darstellung «Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung» (22009) sowie den Bestseller «21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart» (edition C.H.Beck Paperback 4503; 2017) vorgelegt. Zuletzt erschien: «Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland» (C.H.Beck Paperback 6344; 2019).

Inhalt

I. Vorabend der Revolution

1. Das Ende des sowjetischen Imperiums

2. Strukturprobleme der DDR

3. Oppositionsbewegung und Führungskrise

II. Friedliche Revolution

1. Flüchtlingskrise

2. Regimekrise

3. Staatskrise

III. Nationale Wende

1. Die Spaltung der Bürgerbewegung

2. Die Regierung in Bonn und Kohls Zehn-Punkte-Programm

3. Internationale Reaktionen

4. Die DDR am Ende

5. Weichenstellungen für die Einheit

IV. Wiedervereinigung und Weltpolitik

1. Zwei plus Vier und zwei plus eins: Der internationale Prozess

2. Die deutsch-polnische Grenze

3. Die Bündnisfrage

4. Deutsche Einheit und europäische Einigung

5. Das Ende der Nachkriegszeit

V. Einheit durch Beitritt

1. Der Weg zur Einheit

2. Währungsunion und Deindustrialisierungsschock

3. Gesellschaft im Umbruch

4. Die Kosten der Einheit

5. Alternativen?

Resümee: Die deutsche Einheit in der Geschichte

Abkürzungen

Anmerkungen zum Text

Kommentierte Auswahlbibliographie

Editionen

Selbstzeugnisse

Literatur

Zeittafel

Personenregister

I. Vorabend der Revolution

Die deutsche Revolution von 1989/90 verlief in zwei Phasen. Nachdem die friedliche Revolution in der DDR die Herrschaft der SED zu Fall gebracht hatte, radikalisierte sie sich nicht, wie es in Frankreich nach 1789 oder in Russland 1917 der Fall gewesen war. Stattdessen ging sie in die geregelten Bahnen der deutschen Wiedervereinigung über, indem die DDR der Bundesrepublik beitrat und die westdeutsche Ordnung auf die neuen Länder übertragen wurde. Dabei änderten sich im Übergang zwischen diesen beiden Phasen – darin wiederum anderen Revolutionen ähnlich – die treibenden Kräfte und Akteure.

Möglich wurde die deutsche Revolution, weil sich die weltpolitische Situation Ende der achtziger Jahre grundlegend änderte. Auch dies stand in einer historischen Tradition, war doch die deutsche Frage seit ihren Anfängen in den Napoleonischen Kriegen von den internationalen Rahmenbedingungen abhängig gewesen. Erst die politische Kräfteverschiebung in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Gefolge des Krimkriegs hatte die Handlungsspielräume für die Reichsgründung von 1871 eröffnet. Und so wie die deutsche Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Uneinigkeit der Siegermächte resultierte, die sich im Übergang zum Kalten Krieg nicht auf eine gemeinsame Lösung der deutschen Frage einigen konnten, so brachte erst der Zusammenbruch des Ostblocks wieder Bewegung in die deutsche Frage.

1. Das Ende des sowjetischen Imperiums

Das Ende des Ost-West-Konflikts ging auf Veränderungen in Moskau zurück, deren Auswirkungen freilich keineswegs geplant waren. Denn als Michail Gorbatschow am 11. März 1985 zum mächtigsten Mann der östlichen Welt bestimmt wurde, wollte er den Kommunismus retten. Tatsächlich setzte seine Politik aber einen Prozess in Gang, der binnen weniger Jahre den endgültigen Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft auslöste. Der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei war jünger als seine alten und kranken Vorgänger, gebildeter und weltläufiger als die typischen Vertreter der alten Riege, und er sah die schwere ökonomische Krise, in der sich die Sowjetunion befand. Daher verordnete er dem Land Reformen. Ihr Ziel war keineswegs, den Kommunismus abzuschaffen, sondern ihn zu retten und zu verbessern. Gorbatschow war weder ein ideologieentleerter Zyniker noch ein marktwirtschaftlicher Demokrat, sondern ein reformkommunistischer Idealist, dabei ebenso pragmatisch wie sprunghaft und in sich widersprüchlich.

«Perestroika» (Umgestaltung) war der zentrale Begriff der Reformpolitik, die freilich immer wieder unerwartete Folgewirkungen und Weiterungen zeitigte – wie im Falle der Kampagne gegen den Alkoholismus als Hauptverursacher des allgegenwärtigen Schlendrians am Arbeitsplatz. Nachdem die Herstellung und der Verkauf von Alkoholika eingeschränkt worden waren, nahm stattdessen die private Schwarzbrennerei sprunghaft zu, während die Zuckervorräte knapp wurden und das Defizit im Staatshaushalt wegen der ausbleibenden Steuereinnahmen anstieg.

Um Eigenverantwortung und individuelle Leistung zu stärken, wurde eine Flut von Gesetzen zur marktwirtschaftlichen Reform der sozialistischen Wirtschaftsordnung erlassen, die sich allerdings nicht zu einem zusammenhängenden Konzept verbanden. Vielmehr unterhöhlten die Reformmaßnahmen die Grundlagen der zentralen Planwirtschaft und des politischen Systems. Teilweise brach blankes Chaos aus: Versorgungsengpässe und Schwarzmarkt, galoppierende Inflation und Streiks deuteten darauf hin, dass die Reformen eine von Gorbatschow und den Reformern nicht erwartete Eigendynamik gewannen.

Dies blieb nicht auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt, denn anders als in China gingen die ökonomischen Reformen mit einer gesellschaftlich-politischen Öffnung einher. «Glasnost» – die Herstellung von Transparenz, Offenheit und Öffentlichkeit – lief auf Demokratisierungsmaßnahmen hinaus, die das Herrschaftsmonopol der Kommunistischen Partei aufweichten, und erfasste auch das staatlich verordnete Geschichtsbild. Als die Geschichtsdebatte auch auf Lenin und die Anfänge der Sowjetunion übersprang, war die Axt an die Wurzeln der sowjetischen Staatsideologie gelegt. Die Reformen gerieten außer Kontrolle.

Die Reformpolitik brauchte dringend Entlastung. Und überlastet war die Sowjetunion vor allem nach außen. Sie hatte sich im Ost-West-Konflikt mit ihrem militärisch-industriellen Komplex, mit der Herrschaft über ihre Satellitenstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa sowie mit dem Krieg in Afghanistan gigantische Kosten aufgeladen, die immer noch weiter zu wachsen drohten.

1988 ordnete Gorbatschow den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan an. Zugleich setzte er auf Entspannung mit dem Westen; eine abrüstungspolitische Offensive hatte bereits im Dezember 1987 zu einem Abkommen mit den USA über den vollständigen beiderseitigen Abbau der atomaren Mittelstreckenraketen geführt – über deren Stationierung Ost und West keine zehn Jahre zuvor in einen «zweiten Kalten Krieg» (Fred Halliday) geraten waren. Schließlich verkündete Gorbatschow anstelle des unüberbrückbaren Gegensatzes der Ideologien die Vision vom «Haus Europa», in dem verschiedene Systeme unter einem gemeinsamen Dach Platz finden sollten. Vor den Vereinten Nationen in New York sprach er Ende 1988 von einer «Entideologisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen», von der «Verbindlichkeit des Prinzips der freien Wahl» und vom Verzicht auf die «Anmaßungen auf unangefochtene Wahrheit» sowie auf Gewalt und Gewaltandrohung.

Dies war nicht weniger als ein epochaler Wandel des Sowjetkommunismus, der seit 1917 den weltrevolutionären Anspruch auf universelle Verbreitung und Gültigkeit erhoben hatte. Von schlechterdings grundstürzender Bedeutung war er vor allem für die ostmittel- und südosteuropäischen Staaten des Warschauer Pakts, denn gerade sie waren auf den sowjetischen Kommunismus im Innern und auf die sowjetische Vormacht nach außen verpflichtet worden. Und für den Fall des Abweichens hatte die Breschnew-Doktrin militärische Intervention angedroht, wie sie in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 auch vollzogen worden war.

Nun verkündete Gorbatschow Wahlfreiheit und Gewaltverzicht, und Anfang Juli 1989 beschlossen die Regierungschefs der Warschauer-Pakt-Staaten ganz formell, dass «jedes Volk selbst das Schicksal seines Landes bestimmt und das Recht hat, selbst das gesellschaftspolitische und ökonomische System, die staatliche Ordnung, die es für sich als geeignet betrachtet, zu wählen». Was dies konkret bedeutete, war für die Zeitgenossen freilich weniger klar, als es aus der Rückschau erscheint. Von «Selbstbestimmung» war auch schon früher die Rede gewesen, aber wie sie sich mit dem leninschen Geist vertragen sollte, von dem Gorbatschow ebenfalls sprach, war ebenso wenig klar wie die Antwort auf die Frage, ob sie nur für die kommunistischen Parteien oder für die gesamte Bevölkerung gelten solle. Angesichts der beinahe zwei Generationen währenden Erfahrungen mit der sowjetischen Herrschaft blieb bis weit in den Herbst des Jahres 1989 hinein ein großer Rest an Unsicherheit, wie der Kreml wirklich reagieren würde, wenn die Machtfrage gestellt wurde.

Die Antwort lautete schließlich: praktisch gar nicht, jedenfalls nicht außerhalb der sowjetischen Grenzen. Nachdem seine Reformpolitik den welthistorischen Umbruch erst möglich gemacht hatte, reagierte Gorbatschow in dem Moment, da ihm die Kontrolle über den Prozess entglitt und dieser auf das Gegenteil des Gewollten zusteuerte, mit einer zweiten Entscheidung von historischer Tragweite: dem «spektakulären Nicht-Gebrauch von Gewalt» (Vladislav Zubok). Nun spricht manches dagegen, dass eine militärische Intervention 1989 überhaupt eine realistische Option dargestellt hätte: Sie wäre höchst riskant gewesen, und was hätte Moskau gewinnen wollen? Dennoch war eine Entladung von Gewalt, zumal nach den historischen Erfahrungen und angesichts der gewaltsamen Niederschlagung der chinesischen Opposition im Juni 1989, keineswegs ausgeschlossen – im Gegenteil, der weitgehend friedliche Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums war das eigentliche Mirakel von 1989/90.

Gorbatschow war vollauf mit den ständig wachsenden Problemen innerhalb der Sowjetunion beschäftigt, und zugleich mangelte es ihm an einer realistischen Situationsanalyse ebenso wie an einer klaren Perspektive. Sein Berater Anatoli Tschernjajew notierte im Frühjahr 1989: «Er hat keine Vorstellung, wohin wir gehen. Seine Erklärungen über sozialistische Werte, die Ideale des Oktober, die er abzuhaken beginnt, klingen für die Experten wie Ironie. Hinter ihnen – Leere.» Offenkundig war die Reformpolitik mit frappierender Naivität im Hinblick auf ihre Folgewirkungen angegangen worden. Gorbatschow hatte erwartet, dass die Staaten des sowjetischen Machtbereichs ihre Freiheit nutzen würden, um seinem Beispiel kommunistischer Reformen zu folgen. Stattdessen schafften sie den Kommunismus ab und sagten sich von Moskau los.

Den Anfang machten die Polen. Nachdem die gewerkschaftlich-katholische Oppositionsbewegung noch 1981 von den herrschenden Kommunisten gewaltsam unterdrückt worden war, erwachte Solidarność in der Ära von Glasnost und Perestroika alsbald wieder. Als die Warschauer Regierung Anfang 1988 zum wiederholten Male Preiserhöhungen verfügte, brachen wenig später wilde Streiks aus. Da die polnische Führung keine Rückendeckung aus Moskau zu erwarten hatte und nicht bereit war, erneut das Kriegsrecht zu riskieren, führte kein Weg mehr an der Opposition vorbei.

Die kommunistische Partei musste sich mit der Opposition an einen «Runden Tisch» setzen, und im Juni fanden Neuwahlen zum Sejm statt. Es waren zwar nur eingeschränkt freie Wahlen, weil die bisherige Staatspartei sich ein Kontingent der Sitze vorbehalten hatte. Im frei wählbaren Anteil jedoch erzielte die wieder zugelassene Solidarność überragende Erfolge, und in den tatsächlich freien Wahlen zum wieder eingeführten Senat gewann sie gar 99 von 100 Sitzen. Die Opposition verfügte wenn auch nicht über eine Parlamentsmehrheit, so doch über eine überwältigende Legitimation, die dem Regime vor aller Augen versagt worden war. Im August 1989 wurde Tadeusz Mazowiecki als erster nichtkommunistischer Ministerpräsident vereidigt, und als im Januar 1990 die kommunistische Partei aufgelöst wurde, war Polen bereits kein kommunistischer Staat mehr.

Neben Polen trieb auch Ungarn den Untergang des sowjetischen Imperiums voran. Hier allerdings erwuchs die Krise der kommunistischen Herrschaft aus der regierenden Partei selbst heraus. Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei hatte bereits im Januar 1989 auf ihre verfassungsmäßig garantierte Führungsrolle verzichtet. Bevor sie sich Anfang Oktober spaltete, hatte die ungarische Regierung etwas Unerhörtes getan: Am 11. September hatte sie die Grenze nach Österreich geöffnet und damit die Krise in der DDR erheblich verschärft. Als im November und Dezember auch die kommunistische Herrschaft in der Tschechoslowakei und in Rumänien zusammenbrach, war das SED-Regime in Ost-Berlin bereits am Ende.

2. Strukturprobleme der DDR

Das Ende der sowjetischen Herrschaft war die erste von drei Ursachen für den Untergang des SED-Regimes in der DDR, wenn man Ursachen als veränderliche Umstände versteht, ohne die ein Vorgang nicht möglich wäre. «Erich, ich sage dir offen, vergesse das nie», so hatte Leonid Breschnew im Juli 1970 zu Erich Honecker gesagt: «die DDR kann ohne uns, ohne die SU, ihre Macht und Stärke nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.» Freilich entstand daraus kein Automatismus, denn durch Gorbatschows Widerruf der Breschnew-Doktrin und die Abschaffung der sowjetischen Bestandsgarantie war die Herrschaft der SED noch nicht zusammengebrochen. Dafür bedurfte es zweitens der Oppositionsbewegung, die 1989 sprunghaft an Zahl und Stärke gewann. Sie traf – drittens – auf eine überalterte, in orthodoxem DDR-Sozialismus erstarrte Führung, die gar nicht verstand, was um sie herum geschah, und die darauf kaum zu reagieren vermochte.

Diese variablen Umstände trafen auf drei strukturelle Voraussetzungen, die für die SED mit sowjetischer Unterstützung beherrschbar gewesen waren, unter den neuen Umständen nun aber virulent wurden: erstens die mangelnde Legitimität des SED-Regimes und mithin des gesamten Staates bei der Mehrheit der Bevölkerung, zweitens die permanente Präsenz der Bundesrepublik als eines freiheitlich-demokratischen und wohlhabenden Gegenbildes in der DDR und drittens die Probleme einer dysfunktionalen Planwirtschaft und die Versorgungsmängel, die im Laufe der achtziger Jahre deutlich zunahmen.

Zu den indigenen Funktionsschwächen der zentralen Planwirtschaft kamen seit dem Amtsantritt Erich Honeckers als Generalsekretär der SED 1971 die wachsenden Lasten aus dem Vorrang der Sozial- vor der Wirtschaftspolitik hinzu, mit der die SED unter der Parole «Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik» hoffte, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen, und von der Egon Krenz, Mitglied des Politbüros und Honeckers Kronprinz, im Mai 1989 sagte: «Sie muss fortgeführt werden, denn sie ist ja der Sozialismus in der DDR!» Sie umfasste ein Bündel von Sozialleistungen, vom Wohnungsbau über die Subventionierung von Lebensmitteln und öffentlichen Verkehrsmitteln bis zum Erholungswesen, einschließlich der Finanzierung des Rechts auf Arbeit durch unproduktive Beschäftigungsstrukturen. Ihr Problem war freilich von Anfang an die Finanzierbarkeit, denn die Wirtschaftskraft der DDR blieb stets hinter den hohen Erwartungen und vor allem weit hinter derjenigen der Bundesrepublik zurück – die Arbeitsproduktivität betrug, wie sich im Nachhinein herausstellte, weniger als 30 Prozent der westdeutschen.

Anfang der achtziger Jahre mehrten sich zudem die ökonomischen Schwierigkeiten innerhalb des sowjetischen Machtbereichs, als Moskau die Öllieferungen an die Verbündeten drosselte, während die Rohölpreise auf dem Weltmarkt stiegen und obendrein die Kreditzinsen hoch waren. Dadurch geriet die DDR in eine akute Liquiditätskrise, die nur durch zwei bundesdeutsche Kredite in Höhe von 1,95 Milliarden D-Mark überwunden werden konnte. Zugleich stieg die Auslandsverschuldung steil an. Um die dringend benötigten Devisen zu beschaffen, beschritt die DDR-Führung immer verstiegenere Wege: sei es durch Verkäufe von Blutkonserven in den Westen, durch Import von Müll aus der Bundesrepublik, durch Abschöpfung der privaten Devisenbestände über die Intershop-Läden in der DDR oder durch den regelrechten «Verkauf» von politischen Häftlingen an die Bundesrepublik.

Darüber hinaus sah sich die DDR gezwungen, um jeden Preis, selbst unter Herstellungskosten, in den Westen zu exportieren. Die Devise «Liquidität vor Rentabilität» führte in einen Teufelskreis, denn darüber wurden Investitionen vernachlässigt und der Kapitalstock wurde verschlissen. Am Vorabend der Revolution waren die Produktionsanlagen völlig veraltet und die Bausubstanz verfiel, das Straßen- und das Schienennetz, auf dem technisch rückständige Autos und vernachlässigte Züge verkehrten, und die Kommunikationsnetze befanden sich auf dem Niveau der Vorkriegszeit, und die Umwelt litt unter schwersten Belastungen, vor allem durch die allenthalben riechbare Verfeuerung von Braunkohle.

Mit den Innovationen blieb auch der gesamtwirtschaftliche Strukturwandel zurück, der in den westlichen Industrienationen seit den fünfziger Jahren stattgefunden hatte. Stattdessen blieb die DDR weitgehend auf einer verfallenden Stufe der ökonomischen Entwicklung stehen, geprägt durch Schwerindustrie und Landwirtschaft mit hohem Beschäftigungsgrad – Branchen, die in der Bundesrepublik wie im gesamten Westen durch den Strukturwandel hin zu einem größeren Dienstleistungssektor über Jahrzehnte erheblich reduziert worden waren. In den achtziger Jahren verlor die DDR endgültig den Anschluss an die technologisch-ökonomische Entwicklung, wobei die Führung der DDR die Bedeutung der mikroelektronischen Revolution durchaus erkannt hatte. So legte die DDR ein staatliches Programm auf, das der stürmischen Entwicklung in den westlichen Industrienationen allerdings nicht folgen konnte. Das mikroelektronische Projekt der DDR endete als gigantische Investitionsruine und verschärfte die Probleme abermals. Und die Mikroelektronik war nur ein Beispiel dafür, dass es der DDR-Wirtschaft grundsätzlich und mehr denn je an weltmarktfähigen Produkten und dem zugehörigen ökonomischen und technologischen Wissen mangelte.

Lag im Verschleiß des Kapitalstocks das strukturelle Hauptproblem der DDR-Wirtschaft, so stand akut die Auslandsverschuldung im Mittelpunkt. Dabei war die Verschuldungssituation weniger bedrohlich als Anfang der achtziger Jahre. Hinter der Überschuldung der DDR jedoch zeichnete sich die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit ab, und die wollte die DDR-Führung um jeden Preis vermeiden, um nicht unter das für den Sozialismus tödliche Diktat westlicher Finanzaufsicht zu geraten. Umso niederschmetternder wirkte daher der Satz, den Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, in einer zunächst vertraulichen «Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen» Ende Oktober 1989 schrieb: «Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25–30 % erfordern und die DDR unregierbar machen.»

Schon vorher freilich wuchs der Unmut über die Versorgungslage in der ostdeutschen Gesellschaft und verband sich mit einer wachsenden allgemeinen Unzufriedenheit. Da seit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 der Weg versperrt war, die DDR zu verlassen, hatte sich die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Vorgegebenen arrangiert, allerdings in einer eigentümlichen Spaltung der Lebensführung. Im öffentlichen Raum praktizierten die meisten Ostdeutschen Konformität, während sie sich getrennt davon Parallelwelten privater Rückzugsräume und begrenzter Autonomie schufen.

Mit der Verschlechterung der Versorgungslage zerfiel diese Form von «Normalisierung» (Mary Fulbrook). Während sich einerseits zunehmende Resignation breitmachte, hielt der Direktor des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung 1988 in einer internen Expertise fest: Die Menschen forderten zunehmend «Anerkennung ihrer Ansprüche und Persönlichkeit», ihrer Individualität und Selbstbestimmung und auch «Lebensgenuss» ein und wendeten sich gegen entmündigende «Bevormundung». Dies war dem Wertewandel nicht unähnlich, der sich in den westlichen Gesellschaften seit den sechziger Jahren vollzogen hatte, und er war auch, so Walter Friedrich, aus dem Westen über die Grenzen geschwappt.

Darin wiederum lag, wie bereits erwähnt, ein weiteres Strukturproblem der DDR: die ständige Präsenz der Bundesrepublik als Gegenbild zur DDR, vor allem durch das Westfernsehen. Vergleichsmaßstab für die Ostdeutschen waren daher nicht die anderen Staaten des Warschauer Paktes, unter denen die DDR das wohlhabendste Land war, sondern die reiche und gerade am Ende der achtziger Jahre boomende Bundesrepublik, der gegenüber die Versorgungsmängel und der niedrige Lebensstandard scharf ins Auge stachen.

Westliche Lebensformen infiltrierten die DDR, vor allem als unerfüllte Verheißung. So stieg die Zahl der Ausreiseanträge, trotz der für den Einzelnen zu erwartenden Repressionen, in den achtziger Jahren sprunghaft an: von 21.500 im Jahr 1980 auf über 110.000 acht Jahre später. Dass die DDR-Führung in höherer Zahl Ausreisen genehmigte, verstärkte den Druck, anstatt ihn abzulassen.

Die Herrschaft der SED war nie durch freie Wahlen legitimiert worden – wozu auch: die Partei erhob den Anspruch, immer Recht zu haben. Darin lag ihr antipluralistischer, totalitärer Kern, und daher wurde Dissens nicht als Opposition geduldet, sondern als Abweichung unterdrückt: «Feind ist, wer anders denkt», lautete die Devise des Ministeriums für Staatssicherheit, das zu diesem Zweck immer weiter ausgebaut worden war.

Repression war die eine Seite des SED-Regimes; zugleich aber suchte es auch die Zustimmung der Bevölkerung, und daher wurde Konformität belohnt: durch gesellschaftliche Aufstiegschancen und vor allem durch eine allumfassende soziale Sicherung, wenn auch auf – im Vergleich zur Bundesrepublik – niedrigem Niveau. Daher stellte die Verschlechterung der Versorgungslage ein echtes Legitimationsproblem dar. Vor diesem Hintergrund heischte die SED-Führung nach Bestätigung, und so wurden die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 zu einem Legitimationsbeweis hochstilisiert. Die Ergebnisse waren dann wie üblich gefälscht. Blieben schon die offiziell verkündeten 98,85 Prozent unter der sonst üblichen 99-Prozent-Marke, so lag der tatsächliche Anteil der Gegenstimmen – bei nicht geheimer Wahl – zwischen 10 und 20 Prozent. Dies war die Initialzündung für die Opposition, die sich im Gefolge der Kommunalwahlen neu und breiter formierte als je zuvor.

3. Oppositionsbewegung und Führungskrise

Oppositionelle sammelten sich in den achtziger Jahren vor allem im Umfeld der evangelischen Kirchen, zunächst als Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts dann, unter dem Eindruck von Gorbatschows Reformpolitik, als Demokratiebewegung. Mit einem Mobilisierungspotential von höchstens 5000 Personen war sie vorderhand keine wirkungsvolle politische Kraft. Nichtsdestoweniger fürchtete das Regime, so der stellvertretende Minister für Staatssicherheit im Jahr 1985, einen «Durchbruch im Sinne des politischen Pluralismus nach bürgerlichem Muster im Sinne der sogenannten Liberalisierung und Destabilisierung der politischen Machtverhältnisse», wenn es «auch nur einer dieser Gruppierungen» gelänge, «sich als legale Einrichtung zu etablieren». Daher versuchte die Staatsmacht, die oppositionellen Gruppen von innen her zu zersetzen, und griff spätestens angesichts der wachsenden Präsenz oppositioneller Kräfte seit Ende 1987 zu verschärfter Unterdrückung.

Diese ließen sich allerdings je länger, je weniger entmutigen – im Gegenteil. Am Tag der Kommunalwahlen zogen kritische Bürger in den Wahllokalen auf, um den Wahlvorgang und vor allem die Stimmenauszählung systematisch zu beobachten. Nach Verkündung des offiziellen Ergebnisses monierten die Bürgerrechtler Abweichungen von den Zahlen, die in den Wahllokalen verkündet worden waren. Einsicht in die Protokolle des Wahlverlaufs gewährten amtliche Stellen nicht: «Das ist allein unsere Sache, das geht nun wirklich nicht. Ein Fünkchen Vertrauen müssen Sie schon in uns haben!»

Davon freilich konnte keine Rede sein. Die Bürgerrechtler reagierten mit neuen Methoden: mit Protestresolutionen, Strafanzeigen wegen Wahlfälschung und kleineren Demonstrationen. Altbekannt hingegen waren die Maßnahmen der Staatsmacht: «Anzeigen, die nach §211 Strafgesetzbuch erstattet werden, sind ohne Kommentar entgegenzunehmen. Nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung ist von den jeweils zuständigen Organen zu antworten, dass keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen. […] Beschwerden gegen die getroffenen Entscheidungen sind […] abschlägig zu entscheiden.» Vielmehr sei für «die gründliche operative Durchdringung feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Personenkreise» zu sorgen, um bei «Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen […] operative Personenkontrollen durchzuführen bzw. diese Personen in operativen Vorgängen zu bearbeiten». Neu war wiederum, dass es damit nicht getan war.

Die Kommunalwahlen wirkten als Initialzündung für eine neue und breitere Formierung der Opposition in der DDR