Cover

Roman Deininger

Die CSU

Bildnis einer
speziellen Partei

C.H.Beck

Zum Buch

Die CSU war schon immer etwas anders als die anderen Parteien. Provinziell und weltläufig, kleingeistig und großkotzig, kraftstrotzend und verletzlich – so und nicht anders hat sie es zur gefühlten bayerischen Staatspartei gebracht. Doch die CSU-Herrlichkeit wankt, und es ist ungewiss, ob sie ihre Machtpositionen im Freistaat und in Berlin behaupten kann. Roman Deininger nimmt seit vielen Jahr en für die «Süddeutsche Zeitung» die CSU unter die Lupe. Sein feinsinniges Portrait dieser «speziellen» Partei ist bestens informiert, kritisch, fair und nicht zuletzt – wie die CSU selbst – von hohem Unterhaltungswert.

Wovon andere Parteien nur noch träumen können, das ist für die CSU geradezu ein Höllensturz: Nur noch magere 37,2 Prozent erzielte sie bei der Landtagswahl 2018 in Bayern, nachdem sie jahrzehntelang beinahe ununterbrochen mit absoluter Mehrheit regiert hat. Wie erklärt sich ihr enormer Erfolg, und warum jetzt diese Krise? Wie «tickt» eigentlich diese Partei? Vom «Ochsensepp» über Franz Josef Strauß bis zu Markus Söder verfolgt Roman Deininger den Weg der CSU, aber sein Buch ist weit mehr als eine Geschichtsstunde – eine politische Reportage, die den Leser mitnimmt in den Bierdunst des Politischen Aschermittwoch und hinter die Kulissen der Macht.

Über den Autor

Roman Deininger ist politischer Reporter bei der «Süddeutschen Zeitung» und begleitet in dieser Funktion seit vielen Jahren Höhen und Tiefen der CSU. Für sein Portrait von Markus Söder in der SZ wurde er für den Theodor-Wolff-Preis nominiert.

Inhalt

Prolog: Leben mit der CSU: Erfahrungen eines gern geplagten Journalisten

Einleitung: Bayerische Götterdämmerung: Aufstieg und Fall der letzten Volkspartei

Erstes Kapitel: Die Gegenwart der CSU

1. Am Abgrund: Der Asylstreit und der Abschied von Horst Seehofer

2. Höllenritt: Markus Söder und der Landtagswahlkampf 2018

3. Überleben: Ein historisches Debakel und Söders zweite Chance

Zweites Kapitel: Die Geschichte der CSU

1. Der Staat macht Staat: Die Partei, die das schöne Bayern erfunden hat

2. Bruderkampf: Wie die CSU die Bayernpartei niederrang

3. Laptop und Lederhose: Der Fortschritt Bayerns und der Beitrag der CSU

4. Das schönste Amt der Welt: Über die Prägekraft der Ministerpräsidenten

5. Schicksalsstunden: Wie die CSU ihre Macht erhält

6. «Hund san’s scho»: Affären, Skandale und fast keine Folgen

7. Das Schauspiel vom Königsmord: Machtkämpfe in der CSU

Drittes Kapitel: Die CSU in Bayern

1. König Landrat: Der Meyer Franze und die Grasverwurzelung der CSU

2. Hochamt und Krönungsmesse: Der Politische Aschermittwoch im Wandel

3. Flimmern in der Herzkammer: Thomas Kreuzer und die Landtagsfraktion

4. Die Teilzeit-Tuntenhausener: Die CSU und die Kirchen

5. Gott mit dir, du Land der BayWa: Der kabarettistische Widerstand

6. Volkspartei ohne Volk? Protest von Wackersdorf bis «Ausgehetzt»

7. Anleitung zum Unglücklichsein: Die SPD macht Opposition

8. Allein unter Männern: Barbara Stamm und die Frauen in der CSU

9. Eine Liebesgeschichte: Erwin Huber und seine Partei

Viertes Kapitel: Die CSU in Berlin, Brüssel und in der Welt

1. Der Geist von Kreuth: Der ewige Schwesternstreit mit der CDU

2. Die Kosmopoliten: Alexander Dobrindt und die Landesgruppe im Bundestag

3. Beute für Bayern: Die «Ausländermaut» und die Politik der Erpressung

4. Der Generalsekretär: Anatomie eines legendenumwehten Amtes

5. «Europa, unsere Zukunft»: Der lange Weg von Strauß zu Weber

6. Idi Alpin und Spezl Mao: Wie die CSU Weltpolitik macht

Fünftes Kapitel: Die Zukunft der CSU

1. Neuerfindung: Die wundersame Verwandlung des Markus Söder

2. Von Bienenrettern und Baumpflanzern: Die Ergrünung der CSU

3. In der Wohlfühlkoalition: Hubert Aiwanger und die Freien Wähler

4. Rechts von der CSU: Die anhaltende Bedrohung durch die AfD

5. Die Heimat, die sie meinen: Die Grünen als neuer Hauptgegner

6. Ortsverband Internet: Wie die CSU den Stammtisch digitalisiert

Schluss: Bayerische Sonderwege: Die CSU auf der Suche nach der verlorenen Mitte

Anhang

Dank

Literatur

Zeitungen und Magazine

Bildnachweis

Personenregister

Prolog

Leben mit der CSU: Erfahrungen eines gern geplagten Journalisten

Es gibt viele gute Orte für einen glühenden Fußballfan, um an einem späten Sonntagabend das Elfmeterschießen zwischen Kroatien und Dänemark bei der Weltmeisterschaft zu schauen. Ein Biergarten wäre schön, auch die heimische Couch. Nicht ganz so schön ist das Foyer der Münchner CSU-Zentrale an der Autobahn, wo ein kleiner Fernseher etwas schief an der Wand hängt. Es ist ein heißer Sommertag, der 1. Juli 2018, und die CSU bringt wieder mal die ganze Republik ins Schwitzen. Bis aufs Blut hat sie sich in der Flüchtlingspolitik mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zerstritten. Der Parteivorstand um Horst Seehofer ist zur Krisensitzung zusammengekommen, natürlich hinter verschlossenen Türen. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob Deutschland vollends in eine Staatskrise schlittert.

Dramatische Runden, die sich bis in die Nacht ziehen, sind eine Spezialität der CSU, die jede sich bietende oder nicht bietende Gelegenheit nutzt, um dem bayerischen Welttheater eine neue Inszenierung hinzuzufügen. Den Journalisten bleibt dann nichts anderes übrig, als die Vorstandsmitglieder stundenlang vor den Türen des Sitzungssaals zu belagern. Einziger echter Profiteur dieser Zwangslage ist die Aral-Tankstelle gegenüber der CSU-Zentrale, in der sich die Reporter mit Wurstsemmeln und koffeinhaltigen Getränken eindecken. Ansonsten kann man nur im Presseraum herumlümmeln und warten, bis endlich irgendein mitteilsamer Teilnehmer eine SMS mit ersten Informationen aus der Sitzung schickt.

Am 1. Juli 2018 bietet zumindest das Achtelfinale zwischen Kroaten und Dänen ein wenig Unterhaltung, wobei die CSU einem am Ende nicht mal diesen Spaß gönnt. Genau in dem Moment, in dem der Kroate Ivan Rakitic sich den Ball hinlegt zum vielleicht finalen Schuss, brummen überall die Handys. Nachricht aus der Sitzung: Horst Seehofer will als Parteichef zurücktreten! Rakitic läuft an – und gut dreißig Journalisten, die gerade noch gebannt vor dem Fernseher standen, rennen zu ihren Laptops. Ivan Rakitic, das muss man einige Stunden später nachlesen, bringt die Sache zu Ende, was man von Horst Seehofer an jenem Tag nicht behaupten kann.

Die CSU war immer eine Partei, die intensive journalistische Betreuung erforderte. Aber so viel Zuwendung wie in den vergangenen Jahren hat sie selten gebraucht – all die Abende und manche Nacht. Erst brachte die CSU mal wieder ihren Klassiker auf die Bühne, das große Schauspiel vom Königsmord, das sich im Fall des Machtduells zwischen Seehofer und dem ehrgeizigen Markus Söder über Jahre hinzog. Erst nach dem Debakel der CSU bei der Bundestagswahl 2017 konnte der Junge den Alten als Ministerpräsident ablösen. Es folgte das Drama des Asylstreits, das wiederum fließend überging in den politischen Überlebenskampf Söders bei der Landtagswahl 2018. Nach seiner wundersamen Rettung und seinem Aufstieg zum Parteichef begann jener, sich als Bienen-, Baum- und Menschenfreund neu zu erfinden. Die CSU verschlägt einem manchmal die Sprache, was für einen Journalisten ein eher misslicher Zustand ist. Und nicht selten beschert sie einem Arbeitswochen, an deren Ende man mehr Zeit mit Söder oder Seehofer verbracht hat als mit der eigenen Frau.

Von ganz normalen Menschen, den neuen Nachbarn zum Beispiel, wird man bisweilen gefragt, ob man denn als CSU-Reporter eine besondere «Affinität» für das Objekt der Berichterstattung mitbringen müsse. «Affinität» wird dann auf Rückfrage meistens mit Wohlwollen übersetzt. Nein, muss man nicht. Darf man nicht. Man sollte allerdings auch keine allzu ausgeprägte Antipathie haben. Das wäre weder einer sachlichen Berichterstattung zuträglich noch dem eigenen Seelenheil.

Von Journalistenkollegen aus Berlin oder gar aus Schleswig-Holstein wird man als Münchner CSU-Reporter in gleichem Maß bemitleidet wie beneidet, wobei das Mitleid meistens deutlich bekundet wird und der Neid eher nicht. «Ihr armen Teufel, die ihr täglich diese unverschämten, peinlichen Alpenseppeln ertragen müsst, die ständig versuchen, die Republik politisch in Brand zu stecken!» Manchmal erkundigt sich auch jemand, was «Dein Söder» hier wieder gesagt oder «Dein Seehofer» dort wieder getan habe. Jedes Mal muss man sich aufs Neue gegen diese Art von bayerischer Kollektivschuld verwahren.

Richtig ist: Journalisten und Politiker hocken ständig aufeinander, sie leben in einer kleinen Welt, und im Fall der CSU ist diese Welt besonders klein, was ihre große Strahlkraft im Übrigen noch bemerkenswerter macht. Man trifft sich im Foyer der CSU-Zentrale, im Steinernen Saal des Landtags, bei diversen Sommerfesten und «Parlamentarischen Abenden», beim Starkbieranstich am Nockherberg und beim Frankenfasching in Veitshöchheim. Für Journalisten ist die Beziehung zu Politikern immer ein Grenzgang zwischen Nähe und Distanz: ohne Nähe keine Information, ohne Distanz keine Objektivität. Bei der CSU ist die Sache besonders komplex, weil sowohl Anziehung als auch Abstoßung ziemlich ausgeprägt sind.

Journalisten und Politiker brauchen sich. Markus Söder braucht Journalisten, damit sie von seiner geilen Romreise zu gleich zwei Päpsten berichten, Franziskus und Benedikt. Die Journalisten brauchen Söder, um ihm in geilen Texten vorwerfen zu können, wie durchschaubar die Nummer mit den Päpsten ist. Als Reporter braucht man eine gewisse Nähe zur Macht schlichtweg für seine Arbeit, und man muss festhalten, dass die Spitzenleute der CSU viel freimütiger Nähe gewähren als die anderer Parteien.

Söder und Seehofer etwa lassen keine Möglichkeit ungenutzt, Journalisten noch schnell ein paar Botschaften einzuimpfen. Söder, früher selbst Redakteur des Bayerischen Rundfunks, hat im Gespräch gewöhnlich ein paar kunstvoll vorgefertigte Wortschnitzereien parat, sagen wir: «Die Bauchdemoskopie sagt mir, dass die Bevölkerung da auf unserer Seite ist.» Er wiederholt das Schlüsselwort, das er in der Zeitung wiederfinden will, dann so lange, Bauchdemoskopie, Bauchdemoskopie, bis der Journalist, Bauchdemoskopie, das Wort in seinen Block schreibt. Erst dann lässt Söder von seinem Opfer ab. Seehofer leitete einen Plausch schon mal mit der Warnung ein, er habe leider nur fünf Minuten Zeit, daheim in Ingolstadt warte seine Frau. Als der Reporter dann nach einer halben Stunde einwarf, dass seine wichtigsten Fragen jetzt wirklich beantwortet seien, sagt Seehofer, es gebe keinen Grund, ungemütlich zu werden.

Nie dabei sein dürfen Journalisten blöderweise, wenn Politik tatsächlich entsteht – wenn es hinter verschlossenen Türen entscheidend oder intim wird. Tagt ein Kabinett oder – wie an jenem 1. Juli 2018 in der CSU-Zentrale – ein Parteivorstand, ist man auf Indiskretionen angewiesen. Schon ist man in der Zwickmühle: Man achtet still die, die nichts rauslassen. Aber man braucht die, die quatschen. Manche reden zur Eigen-PR, andere aus der ernsthaften Überzeugung, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf Information hat.

Und dann ist sofort wieder Distanz gefordert: Es empfiehlt sich, jede Information erst mal mit Skepsis zu betrachten – etwa wenn der Herr Staatsminister X kundtut, das hätte man erleben sollen, wie der Kollege Y eben beim Thema Z intellektuell völlig überfordert gewesen sei. Im Machtkampf zwischen Söder und Seehofer teilten einem serviceorientierte Christsoziale zu jeder Tag- und Nachtzeit mit, was der Söder wieder Niederträchtiges gesagt oder wo der Seehofer wieder blass und krank gewirkt habe. Mit Politikern in einem Boot zu sitzen ist nicht immer ein uneingeschränktes Vergnügen.

Zur Wahrheit gehört natürlich, dass die Nähe auch die Eitelkeit befriedigt. Die Gewährung von Nähe durch Politiker kennt viele Spielformen: Besonders beliebt ist die Mitfahrt des Journalisten in der Limousine eines Politikers; in Zeiten des Klimabewusstseins kommt aber auch die sportliche Ausfahrt auf E-Bikes in Mode. Im Auto vollzieht sich dann das immergleiche Ritual, der Politiker entledigt sich seines Sakkos, bevor – absolut überhaupt rein gar nichts passiert. Trotzdem sind Freunde und Verwandte immer schwer beeindruckt, wenn man mit dem Söder oder dem Dingsbums Schenkel an Schenkel auf der Rückbank saß. Am Ende ist man dann doch fast ein bisschen beeindruckt von sich selbst.

Okay, hin und wieder passiert dann doch mal was im Auto. Es kommt einem eine Fahrt mit Söder durch Nürnberg in den Sinn, da war er noch bayerischer Finanzminister. Ein paar Monate zuvor hatte Söder behauptet, er habe die Bibel nicht nur auf seinem Schreibtisch liegen, sondern auch immer als Hörbuch griffbereit in seiner Limousine – für Momente der Besinnlichkeit inmitten des Alltagsstresses. So ganz hatte der Reporter das nicht glauben können und fragte also Söder im Auto, ob man nicht nebenher ein paar Paulusbriefe hören wolle. Söder sagte kein Wort, er öffnete nur das Handschuhfach, nahm das Bibel-Hörbuch heraus und genoss seinen Triumph.

Angesichts von Profis wie Söder muss man sich als Journalist bewusstmachen, dass die Zuwendung, die man erfährt, vielleicht gar nicht dem eigenen überragenden persönlichen Charme geschuldet ist, sondern der Zeitung, für die man arbeitet. Argwöhnisch darf man auch werden, wenn ein CSU-Mann unablässig versichert, wie unglaublich geistreich er die Textbeiträge des Reporters findet. Dann stellt sich ja schon die Frage: Schreibt der Reporter beim nächsten Mal auch wirklich, wie unglaublich geistlos er die Reden des CSU-Mannes findet?

Die Audienzen, die Politiker mitreisenden Journalisten in Flugzeugen gewähren, verströmen Bedeutung und einen Hauch von Abenteuer; jedenfalls wenn der Journalist nicht gerade todmüde in seinem Sitz hängt und der Politiker ihm gnadenlos und detailliert die Chancen der Kooperation zwischen Bayern und Quebec bei der Wasserkraft erläutert. Überhaupt, Reisen: Abends an der Hotelbar stellen Staatsmänner gern mal ihre Lockerheit zur Schau, mit Ausnahme von Edmund Stoiber natürlich, der einst in Quebec auch nachts um eins noch über das dortige Schulsystem referierte, als hätte er zehn Jahre an einer Highschool in Montreal unterrichtet.

Mit der Zugewandtheit von Politikern muss man umgehen lernen. Ein besonderer CSU-Kandidat etwa lässt sich gern von seinen Sprechern zuflüstern, welchen Fußballverein ein Journalist mutmaßlich unterstützt, um dann drei Sekunden später eine Charmeattacke zu reiten: «Respekt, Ihr FC Ingolstadt, tolles Spiel, habe mitgefiebert.» Die Gefahr, dass sich in solchen Fällen unbotmäßige Nähe entwickelt, ist eher abstrakt. Manchmal kommt es auch auf andere Art knüppeldick. Man begleitet Andreas Scheuer zu einem Firmenjubiläum in Niederbayern, was ganz praktisch bedeutet, dass man ihm die meiste Zeit hinterherläuft. Irgendwann haut einem ein Unbekannter kumpelhaft auf die Schulter und sagt: «Und du bist der Assi vom Andi?»

Die Nähe zur Macht ist ein Privileg, aber manchmal auch eine Zumutung. Es ist wie immer, wenn man mit Menschen zusammen ist: Manche mag man mehr, manche mag man weniger. Die Herausforderung des Journalisten ist es, sich in seinen Urteilen in keinem Fall davon leiten zu lassen. Es gibt übrigens auch Politiker, die haben erfrischend wenig Lust auf seichte Kommunikation. Oft sind sie allerdings nicht bei der CSU. Der Reporter war für seine Zeitung auch mal Korrespondent in Baden-Württemberg. Beim dortigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann fällt der Small Talk oft arg small aus. So richtig in Fahrt kommt Kretschmann nur bei religionsphilosophischen Fragen, bei denen bloß mitreden kann, wer Thomas von Aquin im lateinischen Original gelesen hat.

Damit sich Journalisten und Politiker auch mal etwas zwangloser begegnen können, ist das sogenannte Hintergrundgespräch erfunden worden. Dieses ist sehr nützlich, aber auch ein Geschenk für Verschwörungstheoretiker. Ein Politiker lädt Journalisten ein, um bei Butterbrezen oder, bei der CSU sehr beliebt, Weißwürsten sein Denken zu erläutern – «im Hintergrund», also auf Basis der Abmachung, dass er nicht damit zitiert wird. Im «Hintergrund» können sich Politiker nicht so leicht hinter Posen und Worthülsen verstecken; die Beobachtungen, die man hier machen kann, sind unverzichtbar. Politiker reden dann manchmal wie ganz normale Leute, was man dann allerdings auf gar keinen Fall schreiben darf.

Was man wann schreiben darf, kapiert man vollends erst nach einem Mathematikstudium. Ist eine Aussage als «unter eins» gekennzeichnet, darf sie der genauen Quelle zugeordnet werden, etwa: «Markus Söder sagte …». Bei «unter zwei» wird es viel vager, der Name darf nicht fallen: «In der CSU-Spitze heißt es …». Und bei «unter drei» darf man gar nichts schreiben. Wenn es doch jemand tut, wird alles von Söder und der CSU-Spitze wütend dementiert – und der Journalist wird nie wieder zu Weißwürsten eingeladen. CSU-spezifisch ist eine seltene vierte Variante, eine Art sich selbst zerstörender Hintergrund, nennen wir sie mal «unter vier». Beispiel: Seehofer sagt streng «unter drei», dass CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen die NRW-Wahl ganz allein vermasselt habe – ein Satz, der anderen schon zu denken zu brenzlig wäre. Plötzlich sagt Seehofer: «Sie können das alles senden.»

Es gibt natürlich auch Politiker, die sich selbst im Hintergrund nicht anhören wie ganz normale Menschen – da müssen dann schon ganz außergewöhnlich schmackhafte Weißwürste den Besuch rechtfertigen. Und damit zu einem schlimmen ethischen Dauerkonflikt für Reporter: Essen. Darf man sich auf einem Parteitag kostenlos Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat reichen lassen? Und wenn ja, darf man hinterher in seiner Reportage schreiben, die Fleischpflanzerl bei der CSU seien wieder hart gewesen wie Eishockeypucks? Man will unbestechlich sein, aber auch nicht komplett undankbar.

Im besten Fall ist das Verhältnis von Journalisten und Politikern sportlich. Man muss der CSU zugutehalten, dass sie diese Regel stärker verinnerlicht hat als andere Parteien. Es muss schon viel passieren, dass ein Söder oder ein Seehofer ernsthaft beleidigt sind. Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt hat Journalisten einst «Wegelagerer» genannt, dem Grünen Joschka Fischer wird der Fachterminus «Fünf-Mark-Nutten» zugeschrieben, allerdings nur von bösartigen Fünf-Mark-Nutten. Söder hat früher abschätzig von «Feuilletonisten» gesprochen, deren Stimmen er eh nicht brauche, doch das hat weitgehend aufgehört, als er merkte, dass er die Stimmen von Feuilletonisten braucht. Ein ziemlich guter Zustand ist es, wenn einen manche in der CSU für einen gefährlichen Kommunisten halten und zugleich manche in der SPD für einen menschgewordenen Anschlag auf die bayerische Sozialdemokratie.

Viele AfD-Fans sind ja überzeugt, dass Journalisten allmorgendlich von Merkel oder Söder in den Block diktiert bekommen, was sie gefälligst schreiben sollen. CSU-Leute würden so etwas nie glauben. CSU-Leute glauben höchstens, dass Redakteure der «Süddeutschen Zeitung» allmorgendlich vom Chefredakteur in den Block diktiert bekommen, was sie gefälligst schreiben sollen.

Gelegentlich hatte man sogar den Eindruck, als würden einige CSUler das Diktieren am liebsten selbst übernehmen. Als der Reporter vor fast zwanzig Jahren in seiner Ingolstädter Heimat erstmals über eine CSU-Veranstaltung berichtete, freute er sich über die herzliche Begrüßung gleich nach dem Pfarrer und über das ehrliche, aber erfolglose Bemühen des Ortsvorsitzenden, den Reporter zu siezen. Mit auf den Weg bekam man die aktuelle Ausgabe des «Bayernkurier» und den Zuruf, man solle «was Gscheits schreiben» – eine Herausforderung, der man sich bis heute mit ehrlichem, aber erfolglosem Bemühen stellt.

Was ist was Gscheits? Da gehen die Meinungen auseinander. Das zumindest bleibt überall gleich, egal, wo man in so einem Journalistenleben auf die CSU trifft: im Gemeinderat in Moorenweis, im Stadtrat in Ingolstadt, im Landtag in München. Manchmal wird der sportliche Umgang natürlich getestet. In der Nacht nach der Landtagswahl 2008, bei der die CSU erstmals seit 1957 die absolute Mehrheit verlor, stand der Reporter um zwei Uhr morgens am Pissoir einer Kneipe am Sendlinger Tor in München, als ein CSU-Mann ihn von der Seite anblaffte: «Habt’s es jetzt endlich gschafft? Habt’s uns endlich runtergschrieben?»

Die CSU geriert sich als bayerische Staatspartei, das ist eine Anmaßung, aber auch eine Einladung an Journalisten, sich an ihr abzuarbeiten. Diesen Punkt kann man selbst am Pissoir um zwei in der Früh begreiflich machen: dass man einer Partei, die ein Land so lange so sehr dominiert, besonders genau auf die Finger schauen muss. Recht machen kann man es unterm Strich dann eh nie allen, auch den Lesern nicht. Der eine Leserbriefschreiber wirft einem vor, einen «publizistischen Feldzug gegen die CSU» zu führen; der nächste fordert ohne Aufschub, man möge «endlich aufhören, die CSU in Watte zu packen». Vielleicht kann man sich ja auf einen Minimalkonsens einigen: Die CSU verdient weder Heiligsprechung noch Verteufelung, aber unbedingt Betrachtung.

Von der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer stammt die Beobachtung, dass Politiker sich zu sehr «um sich selbst drehen». Man muss natürlich zugeben, dass Journalisten da oft kräftig anschieben. Zumal im Fall der CSU mit ihrem Faible für Theatralik, im Fall einer Partei, die niemanden kaltlässt, die unwiderstehlich anzieht und unvermeidlich abstößt, die das Publikum von Garmisch bis Flensburg fesselt. Wie eine dieser Doku-Soaps im Fernsehen, deren Figuren so unglaublich sind, dass sie eigentlich nicht echt sein können. Die Aufmerksamkeit, die die CSU in den Medien bekommt, ist vermutlich noch größer als ihre eh schon bemerkenswert große politische Bedeutung.

Eines zumindest weiß man sicher nach zwei Jahrzehnten: Die CSU versteht sich als bayerische Dynastie, und die größte Beleidigung für sie ist es, wenn man sie als ganz normale Partei beschreibt. Nun muss man fragen: Ist das nicht ihr Schicksal in diesen Umbruchzeiten – eine ganz normale Partei zu werden? Früher redeten CSU-Leute allzeit so, als gehöre ihnen die Welt oder wenigstens dieser kleine Flecken, der sich Bayern nennt. Heute hören sich manche CSUler so verzagt an, dass man sie beinahe in den Arm nehmen möchte.

Für sich selbst hat der Reporter irgendwann beschlossen: Die CSU ist eine Partei, der man nur mit einer guten Mischung aus Ernst und Witz beikommt. Häufig kann man bloß den Kopf schütteln über sie, und dann muss man auch mal anerkennend nicken. Immer fühlt man sich bestens unterhalten. Klar: Unterhaltung ist keine Kategorie der Politik und sollte es auch nicht sein. Unterhaltung ist aber eine Kategorie des Berufslebens. Mit der CSU wird es einem Journalisten nicht langweilig, man blickt von einem Logenplatz aufs bayerische Welttheater. Ein ganzes Buch kann man vollschreiben über die CSU. Was Gscheits wird halt vermutlich nicht drinstehen.

Einleitung:

Bayerische Götterdämmerung: Aufstieg und Fall der letzten Volkspartei

Eine Bierzeltrede ist eine persönliche Prüfung für einen Politiker, man muss es ja überhaupt erst mal schaffen, eine Stunde in einem Dunst aus Bier, Schweiß und Bratfett zu sprechen, ohne heiser zu werden. Vor allem ist eine Bierzeltrede ein ständiges Ringen um die Aufmerksamkeit von Hunderten oder Tausenden Menschen, die sich an ihrem Tisch auch ganz gut selbst beschäftigen könnten mit ihrer Maß oder ihrem Hendl. Hier stellt sich der Redner dem Urteil des Volkes, und das Volk ist gnadenlos in seinem Rauschzustand, der ein bisschen mit Politik und ein bisschen mehr mit Alkohol zu tun hat. Zustimmung fühlt sich nirgends so gut an. Und Ablehnung nirgends so furchtbar.

Das Bierzelt war für die CSU immer ein mythischer Ort, an dem sie sich selbst ihrer Verwurzelung in der Gesellschaft vergewisserte. Die «Lufthoheit über die Stammtische» hat sie stets für den Schlüssel ihres Erfolgs gehalten – und was ist so ein Bierzelt schon anderes als ein riesiger Stammtisch, an dem geredet, gestritten und auch mal gerauft wird. Von «unserem Politiktempel» spricht Markus Söder gern, der Ministerpräsident und Parteivorsitzende. Im für ihn unglückseligen Landtagswahlkampf 2018 hatte man den Eindruck, dass der gebeutelte Spitzenkandidat Söder regelrecht Zuflucht suchte in seinem Tempel, diesem einen Ort, an dem die Welt der CSU wenigstens für ein paar Stunden noch heil wirkte. Die Leute klatschten für Söder, ein paar jubelten sogar, und hinterher postete er alles bei Instagram.

Eine alte CSU-Regel besagt, dass sich im Bierzelt der Querschnitt der Gesellschaft versammele. Das Bierzelt sei demnach der Ort, an dem die politische Wahrheit liegt. An diesen Glauben klammerte sich die CSU, bis der schwarze Ergebnisbalken am Abend der Wahl bei 37,2 Prozent jäh zu wachsen aufhörte. Das Bierzelt mag immer noch eine politische Wahrheit bergen; es ist allerdings die Wahrheit einer 37,2-Prozent-Blase.

Bayern ist ein schönes und wohlhabendes Land, das viele Menschen anlockt, denen kein CSU-Parteibuch in die Wiege gelegt war. Das ist misslich für die CSU: Bei den Zugezogenen erreicht sie bei Wahlen im Schnitt nur etwa 25 Prozent. Aber auch viele Ur-Bayern emanzipieren sich von ihrer selbsternannten Staatspartei, unter anderem, weil deren Vorstellung von Heimat nicht mehr ihrer eigenen entspricht. Der Freistaat wird von Jahr zu Jahr bunter – so bunt, dass Menschen gern hier leben und trotzdem nicht ins Bierzelt gehen, jedenfalls nicht in eines der CSU. Das Land verändert sich, und die Frage, ist, ob die CSU da hinterherkommt.

Es sind Schicksalsjahre für die Christlich-Soziale Union. Die 37,2 Prozent bei der Landtagswahl waren ein Höllensturz für die nüchtern betrachtet erfolgreichste Partei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, mit deren Wahlbilanz auch in Europa allenfalls die Südtiroler Volkspartei vergleichbar ist. 2020 wird die CSU 75 Jahre alt – und nur in vier dieser 75 Jahre hat sie den Freistaat nicht regiert. Es ist noch nicht lange her, dass das oberbayerische Leben für ein aus dem Norden zugezogenes Pädagogen-Ehepaar ungemütlich wurde, weil in ihrem 200-Seelen-Dorf genau zwei Stimmen auf die SPD entfallen waren. Heute brauchen die christsozialen Ortschefs mit der Fahndung nach den Abweichlern gar nicht mehr anzufangen. Der CSU setzen in der Mitte die Grünen zu, rechts der Mitte die AfD und irgendwo zwischendrin die Freien Wähler.

Trotzdem sind die 37,2 Prozent der Landtagswahl ein Ergebnis, von dem andere Parteien in Deutschland und Europa nur träumen können, die Schwesterpartei CDU eingeschlossen. Bei der Bundestagswahl 2017 kam die CSU in Bayern auf 38,8 Prozent, die CDU in den 15 anderen Ländern auf 26,8. Selbst in der vielleicht schwersten Krise ihrer Geschichte darf sich die CSU noch als Volkspartei rühmen. Aber kann sie das auch bleiben? Oder wird auch sie vollends von der großen Vertrauenserosion erfasst, die anderswo die Parteienlandschaft längst umgegraben hat?

Die CSU ist eine bayerische Dynastie, und wie bei den Wittelsbachern ist das Drama nie weit. Die Christsozialen sind die Hauptdarsteller im bayerischen Welttheater unserer Tage, das seit jeher das Publikum in der ganzen Republik fesselt. Die CSU ist eine spezielle Partei, faszinierend in ihren Widersprüchen: provinziell und weltläufig, piefig und innovativ, konservativ und liberal, kleingeistig und großkotzig, kraftstrotzend und verletzlich. In einem Moment ist sie zu größter Hybris fähig und im nächsten zu schlimmstem Selbstzweifel. Ihr Selbstverständnis als bayerische Staatspartei ist allzeit prekär: Die CSU braucht die absolute Mehrheit im Bayerischen Landtag, um ihrem Anspruch Glaubwürdigkeit zu verleihen. Sie steht auf dem Gipfel, aber sie ist bei jedem Schritt vom Absturz bedroht. Es ist ein Indiz für ihre Beharrungskraft, dass sie sich vom Schock der Landtagswahl 2008, bei der sie auf 43,4 Prozent der Stimmen fiel, erholt hat. 2013 eroberte sie die absolute Mehrheit der Mandate zurück. Aber schafft sie das ein zweites Mal? Unter schwierigeren Bedingungen? Es spricht viel dafür, dass in Bayern die politische Götterdämmerung begonnen hat.

Die Krise hat die CSU zunächst keineswegs demütig gemacht. So ist es eigentlich immer bei ihr: Wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht, schlägt sie um sich. Sie hat auf – selbst für ihre gehobenen Standards – brachiale Weise ihren Anführer gewechselt, von Horst Seehofer zu Söder; nach außen ein bayerisches «House of Cards», nach innen der Beweis, dass die CSU weiterhin zur Selbsterneuerung fähig ist. Und sie hat im selbstzerstörerischen Flüchtlingsstreit mit der CDU die Fraktionsgemeinschaft der Union im Bundestag aufs Spiel gesetzt, die seit 1949 das Fundament ihres Erfolgs bildet. Oder präziser: die erste Schicht des Fundaments. Die CSU profitiert massiv von ihrer Doppelrolle als Landes- und Bundespartei, die in Berlin politische Beute machen kann, um in München ihre Herrschaft zu sichern. Die Macht im Land wiederum braucht sie zwingend, um sich im Bund durchsetzen zu können. Es ist ein einzigartiger institutioneller Vorteil, den man, wäre er nicht historisch ins Regelbuch gewachsen, für Wettbewerbsverzerrung halten müsste.

Die CSU ist ein Sonderfall der deutschen Politik, sie lässt niemanden kalt. Ihre Freunde stilisieren sie zur strahlenden Schöpferin und Hüterin aller Bayernherrlichkeit, womit sie der Sache ebenso wenig gerecht werden wie die Gegner, die nur ein dunkles Zerrbild von reaktionären Separatisten zeichnen. Fest steht: Die CSU erhält nicht nur in Garmisch, sondern eben auch in Flensburg eine Aufmerksamkeit, die man gemessen an ihrer Größe für absurd halten könnte. Und selten zuvor hat Deutschland so fassungslos nach Bayern geschaut wie in den vergangenen Jahren. Ob «Obergrenze» für Flüchtlinge oder «Ausländermaut»: Mit ihrem aufreizenden Selbstbewusstsein und ihrer unverhohlenen Rauflust ist die CSU eine stete Provokation. Über Grandiosität oder Lächerlichkeit entscheidet oft nur der Wahlerfolg.

Aber so wie Bayern kein ganz normales Land ist, ist die CSU auch keine ganz normale Partei – mit ihrem Sinn für Theatralik, ihrer Neigung zum Größenwahn und ihrer periodisch aufflammenden Lust an der Anarchie. Bayern, hat die Augsburger Historikerin Marita Krauss mal erklärt, sei immer so groß gewesen, dass seine Herrscher glaubten, «mit den Großmächten mitspielen zu können» – aber doch zu klein, als dass es richtig geklappt hätte. Krauss zieht den Bogen von Herzog Tassilo im achten Jahrhundert über Heinrich den Löwen im zwölften und Kurfürst Max Emanuel im 17., bevor sie in der Gegenwart bei den Herren Seehofer und Söder landet. Ein Buch über die CSU ist auch ein Buch über Bayern.

Die Bayern gelten in der ganzen Welt als beneidenswert glückliches Alpenvolk, ein Sehnsuchtsbild, in das sich jedoch vor allem im Rest Deutschlands schon immer Vorurteile über zivilisatorisch zurückgebliebene Schuhplattler mischten. Das präpotente Gebaren der CSU lädt im Besonderen zu Missverständnissen ein, es nährt geradezu die eh schon ausgeprägte Bereitschaft vieler Menschen, die CSU schrecklich zu finden. Es ist dennoch das wohl größte aller Missverständnisse, dass die CSU eine konservative Partei ist. Selbst wenn sich viele ihrer Vertreter konservativ nennen, ist sie als Ganze damit nicht umfassend beschrieben.

Nach dem Krieg war die CSU sogar eine revolutionäre Schöpfung, eine Partei neuen Typs – nicht die einzige, aber die erfolgreichste. Sie gründete sich 1946 als Sammlungsbewegung, die zusammenführte, was bis dahin keineswegs zusammengehörte: die Katholiken und die Protestanten, die kleinen Leute und die Unternehmer, die Landbevölkerung und die Städter. Einst hat die CSU sie alle im Bierzelt versammelt. Sie hat manchen Spagat hinbekommen, den andere lieber gar nicht versucht haben, sie gab sich traditionell und fortschrittsgläubig, heimatverbunden und weltoffen, christlich und säkular. Dass sie auch Wähler rechts der Mitte integrierte, wurde ihr zuweilen vorgeworfen, war aber auch immer eine Leistung im Sinne der Demokratie. Diese Breite: Das ist die zweite Schicht des Fundaments, auf das sie ihren Erfolg gebaut hat.

Die CSU musste nie Koalitionen schließen, weil sie in sich eine Koalition war, die sehr unterschiedliche Interessen im Sinne des gesellschaftlichen Gleichgewichts austarierte.

Gelegentlich hört man, die CSU sei eben eine Projektionsfläche für beinahe alles und jeden gewesen; das ist nur bedingt richtig. Die CSU bot reale Andockpunkte für beinahe alles und jeden. Einerseits weltanschaulich: die christliche Soziallehre hier, die strenge Leistungsorientierung da, das in Teilen tatsächlich reaktionäre Gesellschaftsbild dort. Andererseits personell: Wo sich ein Edmund Stoiber für die Konservativen fand, fand sich auch ein Theo Waigel für die Liberalen. Im «Spiegel» stand mal ein Satz über das Land, den man auch als Satz über die Partei lesen kann: Bayern sei zu widersprüchlich, um sich selbst zu verstehen, geschweige denn, um von anderen verstanden zu werden.

Weil die letzten Geheimnisse als unerforscht gelten müssen, hieß die offizielle Landesausstellung zum hundertsten Geburtstag des Freistaats sehr zu Recht «Mythos Bayern», und es ist bezeichnend für das Selbstverständnis der CSU, dass sie Glanz und Gloria dieses Anlasses mit niemandem teilen wollte, schon gar nicht mit einem Sozialisten. Der Ministerpräsident Söder brachte es also allen Ernstes fertig, beim Festakt zum Jubiläum des Freistaats den Gründer des Freistaats, Kurt Eisner, mit keinem Wort zu erwähnen. Die hemmungslose Vereinnahmung und konsequente Verkörperung bayerischer Geschichte, Identität und Folklore: Das ist die dritte Schicht des Fundaments ihres Erfolgs. Herbert Riehl-Heyse von der «Süddeutschen Zeitung» hat dafür eine unübertreffliche Formulierung geprägt: «die Partei, die das schöne Bayern erfunden hat».

Häufig ist auch von einer «Symbiose» der CSU mit Bayern zu lesen, der Begriff impliziert einen gegenseitigen Nutzen, was zumindest insofern nicht falsch ist, als das Land unter der Regierung der CSU einen spektakulären ökonomischen Aufstieg vom Agrar- zum High-Tech-Staat erlebt hat. Die von der CSU beschworenen Traditionen waren für die Menschen Haltegriffe im Sturm der Veränderung. Die CSU selbst war in Organisation und Kommunikation schon Ende der Fünfzigerjahre eine sehr moderne Partei – das wiederum war die Grundlage für ihre flächendeckende Durchdringung des Landes und ihre Dominanz im vorpolitischen Raum, vom kleinen Schützenverein bis zum großen Wirtschaftsverband. Es hat der CSU freilich auch nicht geschadet, dass die bayerischen Spitzenbeamten seit Montgelas das Land am Laufen halten, egal, wer unter ihnen Minister ist.

Die CSU-Hegemonie in Bayern ist nicht vom weiß-blauen Himmel gefallen, sie gründet auf Glück und Geschick, und vor allem auf dem Fundament mit den drei Schichten: der Doppelrolle in Land und Bund, der Monopolisierung des Bayerntums und der breiten Anlage als echte Volkspartei. Nach einer Weile hat der CSU-Erfolg auch begonnen, sich selbst zu verstärken. In der Soziologie nennt man das den Matthäus-Effekt: «Denn wer hat, dem wird gegeben.» Bayern ist heute das deutsche Vorzeigeland, und genauere Betrachtung verdient sicher die Frage, ob dies wirklich nur wegen der CSU so ist. Lange konnte sie sich jedenfalls auf eine simple Gleichung verlassen: Wenn es Bayern gut geht, wird die Regierungspartei vom Wähler dafür belohnt. Doch genau diese stille Abmachung scheint nun nicht mehr zu gelten.

Die CSU hat ihre Politik immer auch an den Gefühlen der Menschen ausgerichtet. Das war keine Tugend, aber eine Stärke. Sie hat die stolzen Bayern unterhalten, berührt, umschmeichelt und, wenn sie es für nötig hielt, aufgewiegelt. Wenn Kritiker aus Hamburg oder Berlin die CSU angriffen, dann hat ihr das daheim gewöhnlich mehr genützt als geschadet: Von Fischköpfen und Saupreißen wollten sich die Einheimischen nicht sagen lassen, wen sie wählen sollten. Die CSU hat die Bedürfnisse der Leute schneller erkannt und bedient als die politische Konkurrenz – auch mal ohne übertriebene Berücksichtigung von Sachargumenten. Die Region um Hof im letzten Eck des Landes fühlt sich abgehängt? Dann bekommt sie einen Flughafen, auch wenn es eklatant an Menschen mangelt, die dorthin oder von dort fliegen wollen. Die CSU hat Bedürfnisse bedient, aber in unschöner Regelmäßigkeit und mit verstörender Selbstverständlichkeit auch Ressentiments, wie zuletzt im Asylstreit 2018. Sie hat nicht differenziert, wo Differenzierung geboten gewesen wäre: das Bierzelt-Prinzip.

Über viele Jahrzehnte hat die CSU so unterm Strich das Lebensgefühl einer Mehrheit der Bayern getroffen. Aber dieses eine Lebensgefühl gibt es nicht mehr. Das Volk, das die Volkspartei CSU einst hinter sich versammelt hat, ist in kleinere Völkchen zerfallen. Säkularisierung und Individualisierung haben auch Bayern grundlegend verändert – weder Kirche noch Wirtshaus halten die alte Kernklientel der CSU zusammen. Die Teilung der Gesellschaft ist von Soziologen wie Heinz Bude, Andreas Reckwitz oder Cornelia Koppetsch erhellend beschrieben worden. Die zentrale Bruchlinie, die in Bayern von besonderer Relevanz ist, ist kein Wohlstandsgefälle. Sie verläuft am ehesten zwischen Stadt und Land, sie prägt den Blick auf die großen Debatten der Zeit, auf Migration und Klimaschutz. Diese Bruchlinie erwächst aus einem diametral gegensätzlichen Blick auf Globalisierung und Digitalisierung: Die einen sehen zuversichtlich die Chance, die anderen ängstlich das Risiko. Die einen umarmen die Veränderung, den anderen wäre es am liebsten, wenn sich gar nichts ändert. Für die einen tun sich neue Welten auf, die anderen fürchten den Verlust der alten Heimat. Die CSU muss mitansehen, wie beide Gefühle plötzlich für andere Parteien arbeiten: hier für die Grünen, dort für die AfD.

Die CSU hat sich schon immer über ihren Anspruch definiert, die absolute Mehrheit der Wähler für sich zu gewinnen. Nicht nur in Bayern übrigens, sondern lange auch im Bund, wo genau das der große strategische Dissens zwischen CSU und CDU war, zwischen Franz Josef Strauß und Helmut Kohl: Strauß wollte allein regieren, Kohl mit der FDP. Noch vor wenigen Jahren gab auch der aufstrebende Söder die Parole aus, die CSU wolle sich keine Mehrheit von Demoskopen herbeikonstruieren lassen wie Angela Merkel. Sie wolle die Wähler nicht einschläfern, sondern aufwecken. Das Ziel war eine bürgerliche Mehrheit; Rote oder Grüne, von Söder gern als «Feuilletonisten» zusammengefasst, interessierten nicht. Der Spruch dazu lautete: «Stammkundschaft geht vor Laufkundschaft.» Aber ist die alte Stammkundschaft der CSU überhaupt noch groß genug, um sie zu Mehrheiten zu tragen, absoluten oder auch nur einfachen?

Unter dem breiten Dach der CSU versammelten sich früher Bauern und Beamte, Bandarbeiter und Professoren, Flüchtlingshelfer und Grenzzaunfans. Viele von ihnen sind auch noch da, aber das Dach wackelt bedrohlich, weil die große Klammer bayerischer Identität und Erfahrung sie nicht mehr so stark aneinanderbindet. Es allen gleichzeitig einigermaßen recht zu machen: Das scheint in polarisierten Zeiten beinahe unmöglich geworden zu sein. Die einzige gesellschaftliche Klammer, der man im Jahr 2019 beim Wirken zusehen kann, ist das Bewusstsein für die ökologische Frage. Die CSU war die Partei des kleinen Mannes, sie war die Partei der Wirtschaft. Sie war nie die Partei der Umwelt. Durch dieses Tor gehen nun die Grünen.

Die Söder-CSU hat zuerst versucht, gegen den Wandel der Gesellschaft anzuarbeiten, sie hat Kreuze in Behörden aufhängen lassen, als könnte sie damit die Zeit darin hindern, zu vergehen. Sie hat sich auf ihre Stammkundschaft konzentriert, sie hat sich auf das Bierzelt verlassen als den Ort, an dem die politische Wahrheit liegt. Irgendwann ist Söder wohl aufgegangen, dass das so nicht mehr stimmt. Seitdem erlebt die CSU eine spektakuläre Ergrünung, sie ist jetzt selbst eine Gesellschaft im Wandel, und der Ausgang ist ungewiss. Bis zur nächsten Landtagswahl 2023 wird sich erweisen, ob sie ihre alten Stärken in ein neues politisches Zeitalter retten kann.

Wie lange kann eine Partei in einer Demokratie eigentlich ein Land regieren? Haben die Leute nicht irgendwann genug? 2008 gab es eine legendäre Umfrage, in der sich sogar eine Mehrheit der CSU-Anhänger das Ende der schwarzen Alleinregierung wünschte. Die Arroganz der Macht hat dazu beigetragen, dass es viele Menschen in und noch mehr außerhalb Bayerns narrisch freuen würde, wenn es die CSU mal so richtig zerlegt.

Die Prognosen über den Niedergang der CSU waren indes schon oft voreilige. Sie wird gewiss nicht so rasend schnell dahinschmelzen und verschwinden wie andere ehemalige Volksparteien in Europa. Aber es wäre für die CSU ja schon schlimm genug, wenn sie irgendwann mal nur noch eine ganz normale Partei sein sollte – eine Partei, die mal regiert und mal nicht.

Erstes Kapitel

Die Gegenwart der CSU

1. Am Abgrund: Der Asylstreit und der Abschied von Horst Seehofer

Bundesinnenminister hatte Horst Seehofer eigentlich gar nicht werden wollen. Man könnte fast sagen: Den Job hat ihm die SPD eingebrockt. Finanzen, das war das Ressort seiner Wahl. Vielleicht Soziales. Doch in der letzten Nacht der Koalitionsverhandlungen von Union und SPD im Februar 2018 musste er das Innenministerium akzeptieren. Natürlich hatte die Personalie auch einen gewissen Charme für die CSU: Als Innenminister würde Seehofer von Berlin aus über die deutsche Flüchtlingspolitik wachen können. Er sollte die fleischgewordene Garantie sein, dass die CSU im bayerischen Landtagswahlkampf die AfD im Zaum halten kann. Es war eine Versuchsanordnung, die katastrophale Ergebnisse zeitigte.

Seehofer hatte Angela Merkels Flüchtlingspolitik seit dem Herbst 2015 mit Überzeugung, aber nicht mit Vornehmheit bekämpft. Für die einen war er der Aufrechte, der sich mit Realismus dem «Wir schaffen das» der Kanzlerin entgegenstellte. Für die anderen war er der Finsterling, der gut mit Viktor Orbán konnte und von einer «Herrschaft des Unrechts» fabulierte. So oder so, die Flüchtlingsdebatte gab Seehofer, den viele Parteifreunde nach der miserablen Europawahl 2014 schon aufs Altenteil geleiten wollten, noch einmal eine Hauptrolle in der deutschen Politik. Er stieß in ein Vakuum, das Merkel hatte entstehen lassen, er war jetzt, was CSU-Chefs am liebsten sind. Die konservative Stimme der Union.

Doch statt lange Linien zu ziehen, schlug Seehofer Haken. Das Desaster der CSU bei der Bundestagswahl 2017, die Vertreibung als Ministerpräsident durch den missliebigen Markus Söder – das schien ja schon der Tiefpunkt für Seehofer zu sein. Es ging weiter bergab. 2018 wird erinnert werden als das Jahr, in dem die CSU und ihr Vorsitzender Seehofer die Republik an den Rand einer Staatskrise rückten. In dem Seehofer in einer dramatischen Nachtsitzung in der CSU-Zentrale seinen Rücktritt antäuschte und dann nicht vollzog. In dem viele Menschen in Deutschland kopfschüttelnd nach Süden blickten: Jetzt spinnen sie endgültig, die Bayern. Horst Seehofer wurde in diesem Jahr zum Watschenmann der deutschen Politik, dem jeder mal unter Applaus eine runterhauen konnte.

Wenn man heute zurückblickt auf das Geschehen von 2018, schält sich deutlicher denn je heraus, dass die CSU ihren strukturellen Vorteil durch Maßlosigkeit überreizte: das faktische Vetorecht in der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU. All das stand an einigen glühend heißen Tagen im Juni und Juli auf dem Spiel, weil die Selbstgewissheit der CSU sich in Hochmut auswuchs. Die Christsozialen waren schon immer gut darin, kleine Sachfragen zu großen Schlachten zu erheben: Beim Betreuungsgeld oder der Pkw-Maut erstritten sie so in Berlin spektakuläre, symbolische Siege – na ja, zumindest vorläufig. Den spektakulärsten, symbolischsten aller Siege hatte Seehofer für den Sommer 2018 eingeplant. Es war das Endspiel eines Streits, in den er und Merkel sich in fast drei Jahren verrannt hatten.

Die kleine Sachfrage, an der sich die große Schlacht Mitte Juni entzündet, ist die Zurückweisung von Asylbewerbern, die schon in anderen EUEU