Zum Inhalt:
1893: Violet Hayes träumt vom großen Abenteuer, von der wahren Liebe, vom echten Leben. Die Weltausstellung in Chicago liefert der Tochter aus gutem Hause den perfekten Vorwand, der Obhut ihres Vaters zu entkommen und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Zumal sie gerade herausfinden musste, dass ihr gesamtes Leben auf einer Lüge basiert.
Doch gänzlich frei ist Violet auch in Chicago nicht. Sie wohnt bei ihrer tiefgläubigen Großmutter, die ganz eigene Vorstellungen davon hat, wie ihre Enkelin ihr Leben gestalten sollte. Und auch ihre drei Großtanten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, versuchen Violet für ihr jeweiliges Lebenskonzept zu begeistern. Violet hat die Qual der Wahl. Was möchte sie werden: Heilige, Suffragette, Dame der Gesellschaft? Oder doch lieber Detektivin? Und welchem ihrer Verehrer soll sie ihr Herz öffnen? Chicago eröffnet Violet eine Vielzahl an Möglichkeiten. Doch ihren eigenen Weg zu finden, erweist sich als das größte Abenteuer ...

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist Aufgabe und Inspiration für sie. Wenn ihr neben dem Tagesgeschäft Zeit bleibt, macht sie Vortragsreisen und schreibt Bücher. In Deutschland hat sie inzwischen eine riesige Fangemeinde und gilt als eine der meistgelesenen Autorinnen im christlichen Romanbereich. Ihre Bücher sind ausnahmslos Bestseller und haben dem Genre über die Grenzen des christlichen Buchmarkts hinaus zum Durchbruch verholfen.

Kapitel 8

Samstag, 10. Juni 1893

Madame Beauchamps hatte uns auf eine Vielzahl von Gelegenheiten und Umständen vorbereitet, darunter auch, wie man Schnecken aß und Kaviar knabberte, aber sie hatte uns nie davor gewarnt, dass das gesellschaftliche Leben so anstrengend sein konnte. Wie ermüdend es war, fand ich an dem Abend der Wohltätigkeitsveranstaltung für das Chicagoer Kunstinstitut heraus. Tante Agnes und Onkel Henry fuhren mit mir zu dem Ball und von dem Augenblick an, in dem ich durch die Tür trat, fühlte sich der Abend wie ein Ausdauertest an, kombiniert mit einer von Madames aufreibenden Abschlussprüfungen.

Ich lernte auch den extremen Schmerz kennen, den eine Dame der Gesellschaft ertragen muss. Meine Taille trug tiefe Furchen davon, weil ich mein Korsett zu eng geschnürt hatte, und meine Füße waren mit Blasen übersät, nachdem ich den ganzen Abend in feinen Seidenpumps getanzt hatte. Mein Kopf pochte schmerzhaft, weil ich ständig aufpassen, mir Dutzende Namen merken und den Gesprächsball in der Luft halten musste. Aber der Teil meines Körpers, der am meisten schmerzte, war mein Gesicht. Vier oder fünf Stunden lang ein geheimnisvolles Lächeln aufzusetzen, war Schwerstarbeit.

Mein Abend begann noch nicht einmal gut. Tante Matt stand zufällig im Foyer, als ich in meinem Ballkleid die Treppe hinunterkam, und an ihrem Stirnrunzeln erkannte ich, dass ich sie enttäuscht hatte.

„So. Wie ich sehe, läufst du immer noch mit Agnes herum.“

„Es tut mir leid, Tante Matt.“ Ich verspürte das Bedürfnis, mich zu entschuldigen, ohne genau zu wissen, warum. „Sie und Onkel Henry nehmen mich zu einem Wohltätigkeitsball für das Kunstinstitut mit. Tante Agnes sagte, sie hätten vor Kurzem ein neues Gebäude in der Michigan Avenue eröffnet, und jetzt bräuchten sie Geld, um ihre Kunstsammlung zu erweitern.“

Tante Matt schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Das ist doch nur eine Ausrede für Agnes, dir einen reichen Mann zu verschaffen. Hör mir zu, Violet. Agnes hat Henry Paine seines Geldes wegen geheiratet. Bevor du ihr also blindlings auf ihrem Weg folgst, solltest du sie fragen, wie glücklich ihre Ehe ist.“

„Das ist aber eine sehr persönliche Frage, oder nicht? I-ich kann sie doch so etwas nicht fragen.“

„Dann werde ich es dir sagen. Henry hat eine Geliebte.“ Wenn Tante Matt mich hatte schockieren wollen, dann war ihr das gelungen. Und sie hatte mir mehr Informationen gegeben, als ich haben wollte.

„Oh … ich verstehe.“

„Die reichen Männer der Gesellschaft haben alle eine, darüber solltest du dir im Klaren sein. Sie heiraten eine passende Frau – die sie nicht lieben –, um den Schein zu wahren, und halten sich nebenbei eine Geliebte. Aber über dieses dreckige kleine Geheimnis spricht nie jemand, nicht wahr?“

„Nein“, sagte ich leise. Ich fühlte, dass meine Wangen glühten.

„Wenn du dich mit Agnes’ Leuten abgibst, musst du auch die Wahrheit über sie wissen.“

Ich wollte unbedingt das Thema wechseln. „Aber das Kunstinstitut ist doch eine gute Sache, oder? Kunst und Kultur sind doch nicht unseriös.“

„Nein, sie sind nicht unseriös. Aber ich würde wetten, dass nur sehr wenig von dem Geld, was sie sammeln, dazu eingesetzt wird, um Künstlerinnen zu unterstützen. Es ist in Ordnung, wenn eine Frau Gegenstand der Kunst ist, aber das ist auch alles, was sie sein darf – ein Objekt. Schade, denn es gibt einige sehr gute weibliche Künstler. Die amerikanische Malerin Mary Cassat hat zum Beispiel geholfen, das Innere des Frauenpavillons bei der Weltausstellung zu gestalten.“

„Ich freue mich schon darauf, wenn du mit mir dorthin gehst, Tante Matt. Aber jetzt muss ich los. Ich glaube, Tante Agnes ist mit ihrer Kutsche vorgefahren.“

„Sei sehr vorsichtig, Violet“, sagte sie unheilschwanger.

„Das bin ich.“ Rasch eilte ich zur Tür hinaus.

Nachdem ich erfahren hatte, dass Onkel Henry ein Ehebrecher war, hatte ich ihm gegenüber eine ganz andere Einstellung. Zum Glück war es in der Kutsche dunkel, sodass ich ihn nicht ansehen musste. Sobald sich die Pferde in Bewegung setzten, begann Tante Agnes, mich mit Ratschlägen zu überschütten.

„Du brauchst nicht nervös zu sein, Violet. Ich bin mir sicher, du wirst alles richtig machen. Bis jetzt hast du eine hervorragende Figur gemacht. Die anderen Damen waren sehr beeindruckt von dir. Aber der heutige Abend ist ein wichtiges Ereignis für dich. Jeder, der irgendetwas darstellt, wird dort sein – und dazu gehören natürlich auch einige potenzielle Verehrer.“

So redete sie während der ganzen Fahrt auf mich ein und ich musste nicht viel mehr tun, als zu nicken und etwas Zustimmendes zu murmeln. Onkel Henry sagte überhaupt nichts.

Von dem Augenblick an, als wir auf dem Ball ankamen, wurde ich von der allgemeinen Fröhlichkeit und dem Glanz mitgerissen. Die Veranstaltung fand in einer privaten Residenz mit Blick auf den See statt, die wohl jeder als herrschaftlich bezeichnet hätte. Das Fest war bereits in vollem Gange und in dem herrlichen Ballsaal, der sich über den gesamten dritten Stock erstreckte, hallte die Musik und das Gelächter von Hunderten lebhafter Gäste wider. Ich entdeckte bald, dass Tante Matt recht gehabt hatte; die ganze Veranstaltung hatte sehr wenig mit Kunst zu tun, sondern drehte sich vorrangig um Kleider und Schmuck und die Beziehungspflege der gesellschaftlichen Elite. Für Tante Agnes war sie eine Gelegenheit, mir einen reichen Mann zu verschaffen.

Die Grant-Schwestern begrüßten mich wie eine alte Freundin. Obwohl mir bewusst war, dass sie eigentlich Hattie und Nettie hießen, nannte ich sie insgeheim Heuchel und Meuchel. Sie taten so, als wären sie nett zu mir, und machten viel Aufhebens um mein Kleid, aber ich merkte, dass ihre Bemerkungen unehrlich waren. Ich hatte in Madame Beauchamps’ Schule viele Stunden damit zugebracht zu lernen, wie man nichtssagenden, unaufrichtigen Smalltalk betrieb, also fiel es mir nicht schwer, ihn zu erkennen. Heuchel wedelte die ganze Zeit über so auffällig mit ihrem Fächer herum, wohl um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dass ich ihr das Ding am liebsten aus der Hand gerissen und es in den Kamin geworfen hätte.

Schließlich gesellte sich eine Gruppe vielversprechender Junggesellen zu uns, die mir einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit widmeten, da mein Gesicht zwischen diesen bemitleidenswerten gelangweilten Kreaturen neu war. Mehrere der Frauen, die ich während meiner Teenachmittage kennengelernt hatte, stellten mich eifrig ihren Neffen und Söhnen und Enkeln vor. Meuchels aufgesetztes Lächeln entglitt ihr und wich einem eifersüchtigen Funkeln ihrer Augen, als eine der Frauen mich mit ihrem Großneffen Edward bekannt machte. Man musste nicht Sherlock Holmes sein, um darauf zu kommen, dass Meuchel es auf ihn abgesehen hatte.

Das Orchester hielt die Gäste mit seinen zahllosen Walzervariationen bei Laune und ich tanzte mit Dutzenden jungen Männern. Nach einer Weile erschienen mir meine potenziellen Verehrer jedoch alle so gleich wie Erbsenschoten und so unecht wie ein falscher Fünfziger. Wir hätten genauso gut bei einem Maskenball sein können, bei dem alle Männer die gleiche Maske trugen, um ihre wahre Identität zu verbergen. Ich war enttäuscht, weil sich keiner von ihnen auf den ersten Blick in mich verliebte, so wie Tante Birdies Mann sich in sie verliebt hatte. Und ich selbst spürte auch bei keinem von ihnen das Fieber der wahren Liebe.

Nach unzähligen Tänzen, mehreren Gläsern Punsch und einigen Ausflügen zum Büfett mit meinen Erbsenpartnern war ich so erschöpft, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich befreite mich aus einer Unterhaltung mit einer der Erbsenschoten und versuchte gerade, mich für ein paar Minuten zurückzuziehen – vor allem, um meine angestrengten Gesichtsmuskeln auszuruhen –, als Nelson Kent neben mich trat.

„Das ist eine beachtliche Ausdauerleistung, nicht wahr, Miss Hayes? Wie geht es Ihnen?“ Sein Gesicht trug die erste ehrliche Miene, die ich an diesem Abend gesehen hatte. Ich ergriff die Gelegenheit, wischte das geheimnisvolle Lächeln von meinen Lippen und antwortete wahrheitsgemäß.

„Ehrlich gesagt bin ich völlig am Ende. Ich wollte mich gerade davonschleichen, um mich ein paar Minuten auszuruhen.“

„Gute Idee. Kommen Sie. Ich weiß, wo ein Balkon ist. Dort können wir ein bisschen frische Luft schnappen. Beziehungsweise das, was man hier in Chicago als frische Luft bezeichnet.“ Er hakte sich bei mir unter und führte mich zu einem großen Balkon im dritten Stock. Ein Dutzend anderer Leute liefen bereits dort umher, also wusste ich, dass wir nicht unbeaufsichtigt waren.

„Wie gefällt Ihnen der Ausblick?“, fragte er und zeigte auf den Nachthimmel über dem Lake Michigan. „Immer, wenn ich diese ganze Scharade leid bin, gehe ich hinaus und betrachte die Sterne. Sie erinnern mich an das, was wirklich und wahr ist.“

Der attraktive, elegante Nelson Kent faszinierte mich. Er bewegte sich mit einer solchen Leichtigkeit über das gesellschaftliche Parkett, und doch trug er seine Maske nicht so wie alle anderen. Von all den jungen Herren, mit denen ich bisher getanzt und Punsch getrunken hatte, schien nur er echt zu sein – und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich in seiner Gegenwart wohl, als wären wir alte Bekannte.

Wir unterhielten uns einige Minuten über echte Dinge und ich hatte nicht das Gefühl, mich verstellen zu müssen. Nelson setzte nur dann seine Maske auf, wenn jemand auf uns zukam. Zwar lächelte er freundlich, während er sein Gegenüber begrüßte, reichte ihm die Hand, wechselte ein, zwei persönliche Worte und stellte eine Frage, um sein Interesse zu zeigen – offensichtlich war er ebenso gut erzogen wie ich –, aber ich merkte, dass dieses Verhalten nicht von Herzen kam.

„Erzählen Sie mir, wer Sie wirklich sind, Nelson“, sagte ich deshalb zwischen zwei Unterbrechungen.

„Wie meinen Sie das?“

„Also … zuerst einmal: Arbeiten Sie hier in Chicago?“

„Ich habe vor einem Monat meinen Universitätsabschluss gemacht. Und jetzt genieße ich die freie Zeit, bevor ich anfange, in der Firma meines Vaters zu arbeiten.“

„Was macht Ihr Vater?“

„Verschiedene Dinge – er ist Bauunternehmer, Investor, Immobilienhändler. Er will, dass ich sein Geschäft von der Pike auf lerne, aber er hat mir einen führenden Posten an seiner Seite versprochen, wenn ich eine Familie gründe.“

„Und wollen Sie eine Familie gründen und in seiner Firma arbeiten?“

„Ich weiß es nicht“, gestand er achselzuckend. „Ich bin sein einziger Sohn, also wird es von mir erwartet.“

Er sah so unglücklich aus, dass ich ihn einfach fragen musste: „Wenn Sie wählen könnten, was Sie sein wollen, wofür würden Sie sich dann entscheiden?“

„Das ist eine gute Frage. Darüber müsste ich nachdenken …“ Seine Miene wurde noch düsterer und er blickte einen Augenblick auf den See hinaus, bevor er weitersprach. „Ich weiß, dass ich mir eine Herausforderung suchen würde – so viel steht fest. Ich habe einen Sinn fürs Geschäft, aber ich bezweifle, dass die Arbeit für meinen Vater besonders aufregend wird. Seine Firma ist etabliert. Sicher. Krisenfest … Aber wenn ich selbst wählen könnte, würde ich gerne mehr Risiken eingehen, mich auf etwas Neues und Modernes einlassen – vielleicht würde ich in eine der neuen pferdelosen Kutschen investieren oder in eine Flugmaschine oder irgendeine andere neue Erfindung.“

„Warum tun Sie es dann nicht?“

„Ich habe kein eigenes Geld“, erwiderte er und zeigte mir seine leeren Hände. „Und mein Vater ist ein sehr konservativer Investor. Er würde niemals sein Geld in etwas stecken, das nicht erprobt und bewährt ist ... Aber was ist mit Ihnen, Violet? Was würden Sie gerne tun, wenn Sie die Wahl hätten?“

„Die richtige Antwort auf diese Frage ist natürlich, dass ich heiraten und Kinder bekommen möchte“, sagte ich zu ihm. „Frauen sollen nicht von etwas anderem träumen.“

Er musste die Unzufriedenheit aus meiner Stimme herausgehört oder in meiner Miene gelesen haben, denn er sagte: „Ich habe das Gefühl, dass Sie anders sind. Dass Sie dieses Leben eher langweilig finden … Oh, keine Angst – ich finde es auch langweilig. Also sagen Sie mir die Wahrheit, Violet. Was möchten Sie wirklich tun?“

Ich ergriff die Gelegenheit und ließ meine Maske noch ein wenig mehr sinken. „Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist anstößig, also sagen Sie es bitte nicht weiter, aber ich habe vor ein paar Tagen mit meiner Tante Matilda an einer Demonstration für das Wahlrecht der Frauen teilgenommen.“

„Wirklich? Hut ab. Und wie fanden Sie es? Werden Sie sich den anderen anschließen und eine Suffragette werden?“

„Das würde ich nicht wagen“, lachte ich. „Mein Vater würde mich fesseln und in einem Sack nach Lockport zurücktragen, wenn er jemals davon erfahren sollte. Aber meine Tante und all die anderen in der Bewegung träumen von einer Zukunft, in der Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Sie glauben, dass es Frauen irgendwann gestattet wird, eine Ausbildung zu machen und einen richtigen Beruf auszuüben. Können Sie sich das vorstellen?“

„Ich wüsste nicht, was dagegenspricht.“ Er sah mir geradewegs in die Augen, als er das sagte, und da wusste ich, dass er einer von den wenigen guten Männern war, von denen Tante Matilda gesprochen hatte. „Wenn die Dinge also anders lägen und Frauen als ebenbürtig akzeptiert würden, was würden Sie dann werden wollen, Violet?“

„Detektivin.“

„Ach.“ Nelson lächelte. Und es war ein echtes Lächeln, keines, mit dem er über mich und meine Idee lachte. Und es schien ihm sehr zu gefallen, dass ich ihm die Wahrheit gesagt hatte.

„Ich würde liebend gerne Fälle aufklären und dabei helfen, berüchtigte Verbrecher zu fangen“, erzählte ich ihm, obwohl mir bewusst war, dass meine Karriere als Detektivin bislang nicht gerade erfolgreich verlaufen war. Ich war seit beinahe einer Woche in Chicago und hatte meine Mutter noch immer nicht gefunden.

„Wie kommt es, dass Sie sich für die Arbeit eines Detektivs interessieren?“, fragte Nelson. Aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, seine Frage zu beantworten. Wir wurden erneut von einer der Erbsenschoten gestört, mit denen ich vorher getanzt hatte.

„Hier bist du also, Nelson. Versteckst du dich etwa? Und das mit der hübschesten Frau dieses Balls. Die Grant-Schwestern suchen dich“, wandte er sich an Nelson. „Sie sagten, du hättest ihnen beiden einen Walzer versprochen, und viel Zeit bleibt nicht mehr.“

„Ich komme gleich.“ Er seufzte leise und drehte sich wieder zu mir um. Erst nachdem sich die Erbse aus dem Staub gemacht hatte und wir wieder allein waren, fragte er: „Haben Sie die Grant-Schwestern bereits kennengelernt?“

„Oh ja – Heuchel und Meuchel.“

Nelson grinste breit. „Wie haben Sie sie genannt?“

Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Wie konnte ich nur meine geheimen Namen derart unbedarft ausplappern?

„Kommen Sie“, sagte er lachend. „Verraten Sie mir, wie Sie sie genannt haben … bitte.“

„Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie es niemandem verraten.“

„Natürlich nicht. Das bleibt unser kleines Geheimnis.“

„Also, ich habe ein System entwickelt, mit dem ich mir Namen merken kann. Ich erfinde einen Spitznamen, der dem eigentlichen Namen ähnlich ist und der auf den Eigenschaften der Person beruht. Ich weiß, dass die Grant-Schwestern in Wirklichkeit Hattie und Nettie heißen – aber ich habe sie Heuchel und Meuchel genannt.“

Nelson lachte so laut, dass die anderen Gäste auf dem Balkon zu uns hinüberblickten. „Sie sind wirklich einmalig, Violet Hayes.“ Er nahm meine Hand und drückte sie. „Und Sie sehen übrigens ganz reizend aus, wenn Sie erröten.“

Wieder unterbrach uns jemand, der sich diesmal jedoch an mich wandte. „Ihre Tante Agnes möchte Sie sofort sprechen.“

„Wahrscheinlich hat sie noch einen Junggesellen aufgetrieben, den sie mir vorstellen will“, murmelte ich so laut, dass nur Nelson es hören konnte. „Ich gehe besser.“ Er umfasste meine Hand ein wenig fester, sodass ich nicht gehen konnte.

„Warten Sie. Ich möchte Sie zuerst etwas fragen.“ Bestimmt wandte er sich an den Boten und sagte: „Bitte geben Sie Mrs Paine Bescheid, dass Miss Hayes gleich bei ihr sein wird.“ Ohne meine Hand loszulassen, fragte er schließlich: „Darf ich Sie nächste Woche zu dem albernen Fest begleiten, das meine Großmutter unbedingt geben will? Ich mag Sie, Violet. Sie sind anders als die anderen. Sie spielen keine Rolle, wenn Sie mit mir zusammen sind. Ich glaube, wir könnten Freunde werden. Außerdem glaube ich nicht, dass ich die Kraft habe, nächsten Samstag wieder diese aufgesetzten Verkupplungsrituale zu ertragen. Und Sie?“

Ich wollte mich nicht kokett geben. Und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt einen reichen Mann wollte, wenn dieser sich letztlich als ebenso untreu erweisen würde wie Onkel Henry. Ich war das Flirten leid und vor allem war ich es leid, geheimnisvoll zu lächeln. Gut, mein Herz flatterte nicht unkontrolliert, wenn ich mit Nelson zusammen war, aber er kam mir schon jetzt wie ein guter Freund vor, obwohl ich ihn kaum kannte.

„Ich sehe das genauso wie Sie“, sagte ich deshalb zu ihm. „Das Ganze ist sehr ermüdend. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich am Samstag begleiten würden.“

„Gut. Dann hole ich Sie um sieben Uhr ab. Und im Verlauf dieses Abends müssen Sie mir unbedingt erzählen, welche Namen Sie sich für die anderen Leute ausgedacht haben … und wie Sie mich nennen.“

„Hm, für Sie habe ich gar keinen Namen erfunden.“ Ich lächelte – ein ernst gemeintes Lächeln – und eilte davon, um Tante Agnes zu suchen. Es würde sie mit Sicherheit enttäuschen zu erfahren, dass ich Nelsons Angebot angenommen hatte und nicht noch eine Weile ihr Spielchen spielen würde, aber ich glaubte, dass Tante Matt meine Entscheidung gutheißen würde. Natürlich würde Tante Birdie mich daran erinnern, dass ich auf jeden Fall aus Liebe heiraten sollte, und meine Großmutter … ich hatte keine Ahnung, was sie sagen würde. Ich hatte sie schrecklich vernachlässigt, während ich mit ihren beiden Schwestern die Stadt unsicher gemacht hatte.

Als ich Tante Agnes entdeckte, lag ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie hatte einen weiteren Junggesellen in ihren Fängen. Es gelang mir, Haltung zu bewahren und den Rest des Abends zu lächeln, aber ich war unendlich erleichtert, als es an der Zeit war, nach Hause zu fahren.

Onkel Henry stieg mit uns in die Kutsche, lehnte sich auf seinem Sitz zurück und schlief auf der Stelle ein. Ich hatte mich vor der Unterhaltung mit ihm gefürchtet, vor allem, nachdem ich gesehen hatte, wie er den ganzen Abend lang mit jeder attraktiven älteren Dame geflirtet hatte. Ich wünschte, Tante Matt hätte mir nie etwas von seiner Geliebten erzählt. Nur zu gerne wäre ich schweigend nach Hause gefahren, aber Tante Agnes wollte den Abend in allen Einzelheiten analysieren.

„Du hast heute Abend auf jeden Fall die Aufmerksamkeit vieler Junggesellen auf dich gezogen. Ich glaube, du hast mit allen getanzt. Hast du dich amüsiert?“

„Ja, sehr. Danke für die Einladung.“ Ich versuchte, nicht so müde zu klingen, wie ich war. „Ich habe viele nette Leute kennengelernt. Und das Essen war auch köstlich.“

„Irgendjemand, der dir besonders gefallen hat?“

„Nein – eigentlich nicht.“

„Ich habe bemerkt, dass du eine ganze Weile auf dem Balkon warst, in Gesellschaft des jungen Nelson Kent.“ Wenn Tante Agnes das bemerkt hatte, war es den anderen Gästen sicherlich auch nicht entgangen.

„Er ist anders als die anderen.“

„Ich glaube, ich weiß, warum er so begierig darauf ist, dir den Hof zu machen. Seine Großmutter hat mir erzählt, dass Nelsons Vater ihm einen Posten in seiner Firma versprochen hat, wenn er sesshaft wird.“

„Ja, das hat Nelson mir auch erzählt.“

„Du weißt doch, was das bedeutet, nicht wahr? Er kommt im Leben nicht weiter, bevor er die richtige Frau gefunden hat. Und je schneller er sie findet, desto eher kommt er an das Geld seines Vaters.“

War das der Grund, aus dem er so nett zu mir gewesen war? Hatte ich ihn völlig falsch eingeschätzt? Falls Tante Agnes recht hatte, war Nelson mir gegenüber kein bisschen ehrlich gewesen; dann suchte er jemanden, den er schnell umwerben und heiraten konnte. Da ich neu war und noch keine Verehrer hatte, vermutete er wahrscheinlich, dass ich leicht zu erobern sei. Immerhin hatte ich zugegeben, dass mir das Katz-und-Maus-Spiel des Flirtens kein Vergnügen bereitete.

„Ich mag Nelson, Tante Agnes, aber ich habe es nicht eilig, mit ihm vor den Traualtar zu treten.“

„Ein bisschen eilig solltest du es in deinem Alter aber schon haben. Die Schönheit einer Frau lässt schon bald nach ihrem zwanzigsten Geburtstag nach, das ist dir doch sicherlich bewusst. Und die Anzahl der Verehrer nimmt auch merklich ab.“

Es war mir egal, ob meine Schönheit nachließ – ich war noch nicht bereit für eine eigene Familie. Lieber wollte ich erst ein wenig meine Freiheit genießen, als unmittelbar von der Vormundschaft meines Vaters in den Herrschaftsbereich meines Ehemannes wechseln. Nach dem zu urteilen, was Tante Matt sagte, würde ich durch die Heirat zum Besitz meines Mannes, und ich würde den Rest meines Lebens die Rolle spielen müssen, die er von mir erwartete. War es naiv von mir, mich nach Liebe zu sehnen? Gab es Liebesheiraten nur in Romanen oder in der Fantasie meiner verwirrten Tante Birdie?

Die Kutsche fuhr in ein Schlagloch und Onkel Henry verlagerte im Schlaf seine Position, ohne dass dies seinem lauten Schnarchen einen Abbruch getan hätte. Zufällig kamen wir genau in diesem Moment an einer Gaslaterne vorbei und ich konnte den Blick sehen, den Tante Agnes ihrem Mann zuwarf, bevor sie sich wieder von ihm abwandte; es war kein liebevoller Blick. Abgesehen von der Fahrt in der Kutsche hatte ich meine Tante und meinen Onkel den ganzen Abend nicht zusammen gesehen. Tante Matt hatte mich neugierig gemacht, aber ich hätte es nie gewagt, jemanden nach seiner Ehe zu fragen.

„Ich schicke dir am Montagmorgen meine Schneiderin vorbei, Violet. Du brauchst ein neues Kleid für das Fest bei den Kents am nächsten Samstag.“

„Danke, das ist sehr großzügig von dir.“ Aber ich wusste, dass das Angebot meiner Tante keineswegs selbstlos war. Sie würde zusammen mit mir auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben steigen, wenn ich gut heiratete.

In unserem Salon brannte noch Licht, als ich nach Hause kam, und ich stellte überrascht fest, dass Großmutter auf mich gewartet hatte. Sie strickte ein Paar Socken und sah müde aus. Der Uhr in der Diele zufolge war es beinahe ein Uhr morgens.

„Es tut mir leid, dass es so spät geworden ist.“

„Das macht nichts, Liebes. Wie war der Ball? Hast du dich amüsiert?“

„Ich glaube schon.“

„Das klingt nicht gerade begeistert.“

Schweigend beobachtete ich, wie sie ihr Strickzeug weglegte und sich langsam erhob, wobei sie sich auf den Armlehnen ihres Sessels abstützte. Ich fragte mich, ob sie genauso enttäuscht von mir war wie Tante Matt, weil ich mich in die feine Gesellschaft hatte hineinziehen lassen. Großmutter arbeitete für mehrere Wohltätigkeitsorganisationen, aber ich hatte mich bisher überhaupt nicht für das interessiert, was sie tat. Sie hatte mich gebeten, ihr beim Sockenstricken zu helfen, aber auch dazu hatte ich mir nicht die Zeit genommen.

„Um ehrlich zu sein, Großmutter … eine Menge von dem, was bei diesen Feiern der feinen Gesellschaft passiert, erscheint mir ein bisschen gekünstelt. Ich will einen guten Ehemann finden, aber …“ Ich zuckte mit den Schultern und ließ den Satz unvollendet. Sie legte mir eine Hand auf den Arm.

„Was ist deine Definition von gut? Ein reicher Mann?“

„Ich weiß es nicht mehr. Tante Agnes hat gesagt, Vater habe mich nach Chicago geschickt, damit ich einen anständigen Mann finde. Heißt das, er will, dass ich in die feinen Kreise einheirate?“

Großmutter zog ihre Hand weg und wandte sich ab. „Ich weiß es nicht, Liebes. Dein Vater sagt mir nicht, was er denkt.“ Ihre Stimme klang traurig.

„Aber du bist doch seine Mutter. Warum sagt er nicht –“

„Es ist sehr spät“, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. „Wir gehen besser schlafen. Begleitest du mich morgen in die Kirche?“

Den wöchentlichen Gottesdienst zu besuchen, war für mich eine lästige Pflicht, und ich hätte den Sonntag zu gerne bis mittags im Bett verbracht. Aber ich wollte die Gefühle meiner Großmutter nicht verletzen – vor allem, nachdem sie heute Abend für mich aufgeblieben war.

„Ja“, erwiderte ich deshalb. „Ich gehe gerne mit dir in die Kirche.“

Kapitel 9

Sonntag, 11. Juni 1893

Der Sonntagmorgen brach viel zu früh über uns herein. Ich bereute mein Versprechen, mit meiner Großmutter in den Gottesdienst zu gehen, sobald sie an meine Zimmertür klopfte, um mich zu wecken.

„Violet Rose? Wenn du immer noch mit mir in die Kirche gehen willst, musst du bald aufstehen.“

„In Ordnung“, murmelte ich. „Ich bin schon auf.“ Aber ich wartete bis zum letztmöglichen Augenblick, um aufzustehen, so wie ich es im Internat immer getan hatte. Ich hatte mich schneller ankleiden können als alle anderen Mädchen und es war natürlich hilfreich gewesen, dass ich immer aufs Frühstück verzichtet hatte – so wie ich es heute auch tun würde.

Großmutter wartete bereits im Foyer auf mich, als ich schließlich herunterkam. Meine Haare waren noch vom Vorabend hochgesteckt – ein Trick, den ich ebenfalls im Internat gelernt hatte und der mir half, schneller fertig zu werden –, aber sie sahen ziemlich mitgenommen aus. Ich hatte jedoch außerdem gelernt, dass ich mir weniger Mühe damit geben musste, wenn ich einen sehr großen Hut trug.

„Fertig?“, fragte Großmutter.

Es gelang mir zu nicken. Ich konnte kaum mit ihr Schritt halten, als sie die Straße hinunterlief. Vielleicht könnte ich während der Predigt ein Nickerchen einlegen.

„Wie weit ist es bis zu deiner Kirche?“, fragte ich in der Hoffnung, dass der Turm, den ich einen Häuserblock weiter sah, bereits dazugehörte.

„Wir müssen die Straßenbahn nehmen. Zum Laufen ist es zu weit. Die Kirche ist in der Innenstadt, an der Ecke Chicago und LaSalle Street.“ Der Name LaSalle ließ mich aufhorchen, schließlich wohnte dort meine Mutter. Wenn ich doch nur daran gedacht hätte, die genaue Adresse mitzunehmen.

Wir fuhren mit der gleichen Straßenbahn, die Tante Matt und ich genommen hatten, bis zur LaSalle Street. Dort stiegen wir in eine andere Linie um, die entlang dieser Straße weiterfuhr. Ich musterte alle Gebäude, an denen wir vorbeikamen, und fragte mich, ob meine Mutter sich in diesem Augenblick in einem von ihnen befand. War sie vielleicht nur einen Steinwurf von mir entfernt? Die meisten Häuser sahen eher wie Bürogebäude aus als wie Privathäuser.

Sobald wir ausgestiegen waren, packte meine Großmutter mich am Arm und zog mich hinter sich sich her wie ein Schlepper, der eine zu schwer beladene Barkasse hinter sich herzieht. Sie wirkte etwas aufgeregt und schien es sehr eilig zu haben, zur Kirche zu gelangen.

„Warum beeilen wir uns denn so?“, fragte ich, während ich hinter ihr herstolperte. „Sind wir zu spät dran?“

„Noch nicht. Aber es gibt jemanden, den ich dir vorstellen möchte, bevor der Gottesdienst beginnt.“ Sie führte mich zu einem riesigen mehrstöckigen Backsteingebäude mit einem noch höheren schlossartigen Turm.

„Das soll eine Kirche sein?“ Skeptisch blickte ich an dem imposanten Gebäude hinauf.

„Die erste Gemeinde, die Dwight Moody gründete, war in der Illinois Street, aber sie wurde beim Großen Brand zerstört. Dieses Gebäude hat er fünf Jahre später eingeweiht.“

Jetzt war ich hellwach. Meine Eltern hatten sich während des Großen Brandes kennengelernt. Vielleicht konnte ich hier einen weiteren Hinweis finden, der mir das Rätsel zu lösen half.

„Hat mein Großvater in dieser anderen Kirche gepredigt?“, fragte ich. „Habt ihr hier in Chicago gelebt, als der Brand gewütet hat?“

„Nein, die Kirche deines Großvaters war in Lockport – das weißt du doch.“

Ich befürchtete, dass sie mir den Arm ausrenken würde, als sie mich erst die Treppe hinauf und dann in das Gebäude zog. In der dämmrigen Eingangshalle blieb sie stehen und reckte den Hals, um sich in der Menschenmenge umzusehen. Offensichtlich suchte sie jemanden.

„Ah, da ist er!“, sagte sie mit einem Lächeln der Erleichterung. „Huhu! Louis! Hier sind wir!“ Sie zog mich zu einem jungen Mann hinunter, der ungefähr Mitte zwanzig war und seinen Hut in den Händen knetete.

„Louis, dies ist meine Enkelin, Violet Rose.“ Sie strahlte, als hätte sie ihm den Hauptgewinn in einem hoch dotierten Wettbewerb überreicht. „Und dir, Violet, darf ich einen guten Freund vorstellen, Louis Decker.“

„Wie geht es Ihnen, Miss Hayes? Ihre Großmutter hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie kennenzulernen.“

„Äh … es ist mir ein Vergnügen, Mr Decker.“

Ich muss gestehen, dass ich zu überrascht war, um etwas anderes zu sagen. War meine Großmutter seinetwegen so begierig darauf gewesen, dass ich sie begleitete? Wollte sie mir auch einen Ehemann organisieren? Im Prinzip war das ja nur gerecht, da Tante Agnes dasselbe tat, aber von meiner Großmutter hatte ich keine Verkupplungsversuche erwartet.

Louis Decker war ein kräftiger, lebhaft wirkender junger Mann mit dunklen intelligenten Augen, die sich hinter einer verschmierten Brille aus Draht versteckten. Er war der erste Mann, der mir in Chicago begegnete, der in der Lage schien, mich als Person zu sehen und nicht nur meine hübsche Fassade. Trotzdem wünschte ich, ich hätte mir mehr Mühe mit meinem Aussehen gegeben.

„Louis studiert am Chicagoer Bibelinstitut, das von der Gesellschaft für Evangelisation gegründet wurde“, erklärte Großmutter. „Wir haben uns beide an Mr Moodys Kampagne beteiligt, Seelen für den Herrn zu gewinnen, während die Weltausstellung stattfindet.“

„Interessieren Sie sich auch für Mr Moodys Arbeit, Miss Hayes?“, fragte mich Louis.

„Es tut mir leid, aber ich habe noch nie von ihm gehört.“

Er blinzelte und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen.

„Ich war in den letzten drei Jahren im Internat“, erklärte ich schnell, „und bin erst seit einer Woche in Chicago.“

„Ich verstehe. Dwight L. Moody ist ein sehr bekannter Evangelist, der in den ganzen Vereinigten Staaten und in England herumgereist ist und Menschen zu Jesus geführt hat. Und jetzt, wo die ganze Welt zur Ausstellung nach Chicago kommt, hat er hier eine besondere Kampagne organisiert, in deren Rahmen in der ganzen Stadt das Evangelium gepredigt wird.“

„Louis engagiert sich sehr für Mr Moodys Arbeit“, fügte meine Großmutter hinzu und tätschelte seine Schulter. „Und außerdem hilft er mir bei meiner Arbeit mit den Armen.“

Louis hielt die Hände hoch, als wolle er protestieren. „Das ist alles zur Ehre Gottes. Schließlich hat er sehr viel für mich getan.“ Sie hätten genauso gut eine fremde Sprache sprechen können.

Das beste Wort, um Louis Decker zu beschreiben, war wohl ernsthaft. Er hatte etwas Drängendes an sich, als zähle eine himmlische Uhr die Sekunden und er müsse bald vor dem Allmächtigen Rechenschaft über sein Leben ablegen. Louis hatte schulterlanges Haar und trug einen zerknitterten Anzug, aber im Gegensatz zu meinem unordentlichen Zustand, der eine Folge meiner eigenen Faulheit war, schien Mr Deckers Zerzaustheit daher zu rühren, dass er Wichtigeres zu tun hatte, als sich um sein Äußeres zu kümmern.

„Warum zeigen Sie Violet Rose nicht die Sonntagsschulräume?“, schlug Großmutter vor. „Ihr habt noch genug Zeit, bevor der Gottesdienst anfängt. Wir treffen uns dann in ein paar Minuten wieder hier.“

Louis nickte, ging voraus und bahnte mir einen Weg durch die Menge. Entweder war er zu schüchtern, um mir seinen Arm anzubieten, oder er hatte nur seine Mission im Blick. Ich folgte ihm, so gut es ging. Nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was ich dann sah.

Die Sonntagsschulkinder – und es waren mehrere Hundert – waren die ärmsten, abgerissensten Geschöpfe, die ich je gesehen hatte. Nicht eines von ihnen trug ordentliche Kleidung. Ich sah Hemden, die viel zu groß oder zu klein oder zerschlissen waren, und dasselbe galt für die Hosen. Die meisten Kinder trugen keine Schuhe und die wenigen Schuhe, die ich sah, passten offensichtlich nicht – oder fielen förmlich auseinander. Ich dachte an die kalten Winter in Illinois und wusste, dass Großmutter und ich selbst dann, wenn wir von jetzt bis Weihnachten pausenlos Socken strickten, niemals in der Lage wären, genügend warme Socken für all diese schmutzigen, schwieligen kleinen Füße zu produzieren.

„Ach, du meine Güte!“ Hilflos hob ich die Hände. „Die armen Kleinen!“ Ich betrachtete ihre verfilzten Haare und schorfigen Gesichter und verglich sie unwillkürlich mit denen von Horace und Harriet, die plump und sauber geschrubbt waren und die wahrscheinlich keinen einzigen Tag lang irgendeinen Mangel gelitten hatten. Louis Decker musste bemerkt haben, dass mir Tränen in den Augen standen.

„Wir können hier immer ein Paar helfende Hände gebrauchen“, sagte er freundlich.

„Ja … d-das kann ich mir vorstellen.“

„Das Evangelium gibt ihnen Hoffnung, Miss Hayes. Jesus ist auch arm geboren worden, genau wie sie. Und er hat diese Kleinen geliebt. Er sagte: ‚Lasst die Kindlein zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solchen gehört das Himmelreich.‘ Darum geht es bei unserer Arbeit – das Himmelreich zu bauen.“

„Sie scheinen hier glücklich zu sein.“ Es stimmte. Ich sah beinahe in jedem Gesicht ein Lächeln, trotz der offensichtlichen Armut.

„Mr Moody hat als Schuhverkäufer angefangen“, erklärte Louis mir. „Er sah Kinder wie diese auf den Straßen von Chicago herumlaufen und beschloss daraufhin, eine Sonntagsschule für sie zu gründen.

Mr Moodys Vater war gestorben, als er selbst noch klein war, und so wusste er, wie es ist, in Armut aufzuwachsen. Aber er wusste auch, dass Gott verspricht, den Vaterlosen ein Vater zu sein.“

„Und was ist mit den Mutterlosen?“, murmelte ich.

Louis beugte sich zu mir herunter und hielt eine Hand an sein Ohr. „Es tut mir leid, ich habe bei dem Lärm nicht gehört, was Sie gesagt haben.“

„Nichts. Bitte fahren Sie fort.“

„Mr Moodys erste Sonntagsschultreffen fanden in einem umgebauten Saloon statt, aber als dieser zu eng wurde, sammelte er Geld, um seine erste Kirche drüben in der Illinois Street zu bauen. Irgendwann hatte er anderthalbtausend Kinder in seinen Klassen. Präsident Lincoln hörte davon und besuchte die Sonntagsschule. Mr Moody ist immer noch Verkäufer – und ich meine das im besten Sinne des Wortes. Nur stellt er sein Verkaufstalent jetzt in den Dienst des Evangeliums und nicht mehr in den der Schuhindustrie.“

Ich konnte nur nicken, weil ich vom Anblick all der zerlumpten, überschwänglichen Kindern so berührt war, dass ich nicht sprechen konnte. Unweigerlich erinnerte ich mich daran, mit welchem Eifer Mr McClure im Zug Dr. Deans Blutkräftiger angepriesen hatte, und ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn jemand den gleichen Eifer dazu benutzte, um den Glauben anzupreisen. Louis Decker erinnerte mich an Silas McClure und Herman Beckett in einer Person; er hatte die gleiche rastlose Energie, die ich bei dem Tonikum-Vertreter gesehen hatte, kombiniert mit Hermans Ernsthaftigkeit. Wenn er Nelson Kents Reichtum gehabt hätte, hätte er die Welt verändern können.

„Wir suchen besser Ihre Großmutter“, sagte Louis schließlich. Er führte mich von den bemitleidenswerten Kindern fort und den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich muss gestehen, dass ich mich von alleine nicht hätte abwenden können.

„Genießen Sie Ihren Besuch in Chicago bis jetzt, Miss Hayes? Womit haben Sie sich die Zeit vertrieben?“

Seine Frage ließ die Tränen in meinen Augen überfließen. Ich war nicht in der Lage zu antworten, da mich meine eigene Oberflächlichkeit viel zu sehr entsetzte. Ich hatte meine Zeit damit verbracht, Tee zu trinken und Pläne zu schmieden, um mir einen reichen Mann zu angeln. Bei dem Gedanken an all die verschwendeten Lebensmittel, die ich bei Tante Agnes’ Feiern gesehen hatte, und an all das Geld, das ihre feinen Freundinnen für Kleider und Schmuck ausgaben, und an die Seichtheit meiner erbsenähnlichen Tanzpartner lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Louis Decker führte ein Leben, das einen Sinn hatte, und meins fühlte sich im Vergleich dazu banal und oberflächlich an. Was nützten all die guten Manieren, die ich in Madame Beauchamps’ Schule für junge Damen gelernt hatte, wenn Kinder froren und hungerten?

„Ich möchte Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen“, sagte ich und wischte mir die Tränen von der Wange.

Zum ersten Mal lächelte er. „Es wäre mir eine Ehre, Miss Hayes. Spielen Sie vielleicht Klavier?“

„Ja, ein bisschen. Ich habe aber seit Wochen nicht mehr geübt. Warum fragen Sie?“

„Wir brauchen dringend einen Pianisten für unsere evangelistischen Gottesdienste. Mr Moody mietet Theater in verschiedenen Stadtteilen an und stellt Zelte auf, um den Menschen dort zu predigen, wo sie leben. Sie wären von sehr großer Hilfe, wenn Sie uns bei unseren musikalischen Gottesdiensten auf dem Klavier begleiten könnten.“

„Aber ich bin keine professionelle Pianistin.“

„Das macht nichts. Die Musik ist recht einfach – überwiegend vierstimmige Choräle. Ich könnte Ihnen ein Exemplar von Mr Sankeys Liederbuch mitgeben, damit Sie vorher üben können.“

„I-ich könnte es versuchen.“ Ich war froh, dass es neben dem geheimnisvollen Lächeln noch eine weitere Sache gab, die ich bei Madame B. gelernt hatte, die etwas nutzte.

„Ich habe gehört, dass Ihr Großvater ein begnadeter Prediger war – und dass Ihr Vater zur Zeit des Großen Brandes für Mr Moody gearbeitet hat.“

„Wie bitte? Nicht mein Vater. Da müssen Sie sich irren. Er besitzt eine Reihe Getreidespeicher in Lockport.“

„Es tut mir leid, wenn ich mich irre. Ich muss Ihre Großmutter falsch verstanden haben.“

Was hatte sie Louis erzählt? In mir stieg eine beinahe ebenso große Wut auf wie an dem Abend, an dem ich die Wahrheit über meine Mutter erfahren hatte. Ich versuchte mühsam, meine Gefühle zu beherrschen, als Louis erneut das Wort ergriff.

„Ich würde gerne Ihr Zeugnis hören, Miss Hayes.“

„Mein was?“

„Ihr Zeugnis – Ihre Glaubensgeschichte.“

Ich holte tief Luft, da ich mir nicht sicher war, was er meinte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Vater und ich gehen normalerweise in eine kleine Kirche in Lockport, aber er scheint sich nicht sehr für Religion zu interessieren – deshalb bin ich mir auch ganz sicher, dass er nicht für Mr Moody gearbeitet hat. Als ich im Internat war, achtete unsere Direktorin darauf, dass wir alle sonntags zum Gottesdienst gingen. Es sei unsere Pflicht, sagte Madame B. Sie nannte es unsere ‚wöchentliche Verpflichtung‘. Meine Großmutter ist viel religiöser, als Vater und ich es sind. Sie verwendet all ihre Energie auf wohltätige Zwecke, wie Sie ja sicherlich wissen. Mein Großvater war Prediger, das wissen Sie auch, aber mein Vater scheint wie gesagt ziemlich gleichgültig zu sein, wenn es um Religion geht.“

„Und was ist mit Ihnen, Violet? Mich interessiert nicht der Glaube Ihres Vaters oder der Ihrer Großmutter. Ich möchte etwas über Ihren Glauben erfahren.“

Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. In die Kirche zu gehen, war lediglich etwas, das man sonntags tat. Die religiösen Traditionen waren vor allem an den Feiertagen schön. Aber Louis Decker schien zu glauben, dass da mehr sein sollte als das.

„Es war nicht meine Absicht, Sie in Verlegenheit zu bringen“, sagte er, als ich nicht antwortete. „Ich möchte Sie einfach nur besser kennenlernen.“ Er nahm seine verschmierte Brille von der Nase und zog ein Taschentuch aus seiner Tasche, um sie zu putzen. Nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte, konnte ich keinen Unterschied erkennen.

„Ich würde Sie auch gerne besser kennenlernen“, sagte ich.

Zu gerne hätte ich ihm eine von meinen „Wenn Sie wählen könnten“-Fragen gestellt, aber das traute ich mich nicht. Ich wollte nicht, dass er merkte, wie leichtfertig und oberflächlich ich in Wirklichkeit war. Meine wilden Fantasien erschienen mir im Vergleich zu der wichtigen Arbeit, die er jeden Tag tat, ganz und gar unreif. Aus irgendeinem Grund wollte ich, dass Louis mich mochte, mich akzeptierte – und ich hatte das Gefühl, dass es ihn schockieren würde zu erfahren, wie gerne ich Kriminalgeschichten und Groschenromane las. Ich hatte Louis Decker erst vor wenigen Minuten kennengelernt, und trotzdem war es mir wichtig, was er von mir hielt. Lag das daran, dass er ein so guter Bekannter meiner Großmutter war, oder tat ich es meinetwegen?

Als wir zu meiner Großmutter zurückkamen, sah sie so hoffnungsvoll in unsere Gesichter, dass ich mir sicher war: Sie wollte Ehevermittlerin spielen. Das hätte ich nie von ihr erwartet.

„Ich freue mich darauf, Sie wiederzusehen, Miss Hayes“, sagte Louis zur Verabschiedung.

„Ja, ich auch“, erwiderte ich und ich meinte es ernst.

Der Sonntagsgottesdienst in der Kirche meiner Großmutter war ganz anders als der zu Hause in Lockport. Die Musik war lebhafter, die Predigt leidenschaftlicher und ausnahmsweise hatte ich keine Probleme damit, während der Predigt wach zu bleiben.

„Kommst du hier jeden Tag her, um für deine wohltätigen Zwecke zu arbeiten?“, fragte ich meine Großmutter später, als wir mit der Straßenbahn nach Hause fuhren.

„Dies ist nur einer der Orte, an denen ich gebraucht werde. Warum fragst du?“

„Mr Decker hat mich gefragt, ob ich irgendwann mit dir wiederkommen und bei einem der Musikgottesdienste Klavier spielen möchte.“

„Und was hast du geantwortet?“

„Ich habe gesagt, ich würde es versuchen. Ich bin keine besonders gute Pianistin. Und schrecklich aus der Übung.“

„Louis ist ein sehr netter junger Mann. Er arbeitet unermüdlich für den Herrn.“

„Er hat mich gefragt, ob er mich wiedersehen kann. Er möchte mich besser kennenlernen.“

„Das freut mich wirklich.“ Großmutter legte eine Hand auf die meine. „Mir ist klar, dass Louis Decker mit all den reichen Verehrern, die Agnes antreten lässt, nicht mithalten kann. Aber ich glaube, auf lange Sicht erschiene dir das Leben mit einem Mann wie Louis viel sinnvoller als ein Leben, das aus endlosen Festen und Teenachmittagen besteht.“

Ich hatte den Verdacht, dass sie recht haben könnte. Zumal ich mir ziemlich sicher war, dass ein Mann wie Louis Decker niemals Ehebruch begehen würde.

Plötzlich hörte er verzweifelte Schreie. Er blickte hinauf und sah die schönste Frau, auf die sein Auge je gefallen war, an einem weit geöffneten Fenster im zweiten Stock. Sie war in dem brennenden Gebäude gefangen und die dicken Rauchwolken riefen einen heftigen Hustenanfall hervor. Er ließ die Bibeln fallen, weil er wusste, dass Gott sicher Verständnis dafür haben würde, und drängte die holde Maid – nein, flehte sie an – aus dem Fenster zu springen. Er versprach ihr, sie aufzufangen …

Oder vielleicht war meine Mutter auch durch die mit Flammen und Rauch erfüllten Straßen gerannt – barfuß, in Todesangst, während überall um sie herum brennende Gebäude einstürzten. Plötzlich knickte sie um und fiel zu Boden. Niemand half ihr. Die Leute trampelten sie noch nieder. Die Flammen rasten bereits mit ihren heißen, wabernden Rauchwolken auf sie zu, als mein Vater plötzlich ihre verzweifelten Hilferufe hörte. Er ließ die Bibeln fallen, die er hatte retten wollen – in der sicheren Gewissheit, dass Gott ein Leben wichtiger war als bloßes Papier, egal, wie heilig es war. Ohne an seine eigene Sicherheit zu denken, rannte er durch die brennenden Trümmer zurück, um sie zu retten, ungeachtet all der Hitze und der Rauchwolken. Er hob sie auf seine Arme und trug sie in Sicherheit, wobei er sich unsterblich verliebte, als er in ihre angsterfüllten Augen blickte. Eigentlich verliebten sie sich beide unsterblich …

Wie es sich wohl anfühlte, wenn man sich unsterblich verliebte?

Ich schlief mit dem Gedanken an Louis Decker und Herman Beckett und Nelson Kent ein und fragte mich, ob ich jemals die wahre Liebe erleben würde.