Über das Buch:
Seit acht Jahren sucht Kelly Maines bereits verzweifelt nach ihrer Tochter Emily, die als Baby entführt wurde. Nun gibt es eine letzte heiße Spur. Nur wenige Kilometer von Kelly entfernt lebt ein kleines Mädchen, das genau ins Profil passt. Kann es sein, dass Kelly ihre geliebte Tochter endlich gefunden hat?
Unter falschem Vorwand nimmt sie Kontakt zu Nattie
Livingston und ihrem Adoptivvater Jack auf. Die Begegnung mit den beiden verändert Kellys Leben. Doch darf sie wirklich auf ein Happy End hoffen?

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Amisch-Land in Lancaster/Pennsylvania geboren. Ihre Großmutter wuchs in einer Mennonitengemeinde alter Ordnung auf. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann David in Colorado.

Kapitel 8

Licht kroch durch die Jalousien in ihr Schlafzimmer. Kelly schob ihre Bettdecke zurück. Irgendetwas ist falsch. Sie stand auf und zog sich ihren Morgenmantel an, dann wankte sie hinüber in das kleine Kinderzimmer, wo Emilys Bettchen stand, und blickte hinein.

Sie fröstelte und spürte, wie die Panik in ihr aufstieg, dann eilte sie die Stufen hinab in die Küche und ins Wohnzimmer. Mit rasendem Herzen taumelte sie zurück ins Kinderzimmer und entdeckte dort, dass neben dem leeren Bettchen auch Emilys Wickeltasche fehlte. Vollkommen aufgelöst und hysterisch konnte Kelly kaum einen klaren Gedanken fassen.

Sie wandte sich zu dem weißen Schrank im Arbeitszimmer und zog mit heftig zitternden Händen eine Schublade nach der anderen heraus – alle vollkommen leer.

Schlagartig wurde ihr alles klar.

Bobby. Nein! Oh Gott, bitte nicht!

Wieder rannte Kelly die Treppe hinunter zur Eingangstür und sah, dass sie unverschlossen war, obwohl sie genau wusste, dass sie die Tür vor dem Schlafengehen abgeschlossen hatte.

Sie griff nach ihrem Handy, das auf der Küchenanrichte lag, flehte Gott um Hilfe an und wählte mit zitternden Händen die Nummer der Polizei. Als ihr Notruf entgegengenommen wurde, brach sie in angsterfülltes Schluchzen aus.

Kurze Zeit darauf stand Kelly draußen an der Straße und suchte mit ihren Augen wieder und wieder die Straße ab, als könne sie ihr vermisstes Kind wiederfinden.

Er muss sie mitgenommen haben. Sie wusste es mit absoluter Sicherheit. Das Grauen dieses Gedankens überwältigte sie.

Das weit entfernte Heulen einer Sirene kam näher und wurde immer lauter, während sie die Nummer ihres fremd gewordenen Ehemannes in das Handy hämmerte und wartete. Es klingelte einmal … zweimal … und dann vernahm sie die Worte, die sie gefürchtet hatte. „Sie hat eine hübsche Stange Geld gebracht, Kel.“

* * *

Kelly schreckte aus dem Schlaf hoch, schweißgebadet und noch genauso angezogen wie bei ihrem Besuch bei Chet und Eloise. Als sie nach unten blickte, entdeckte sie Emilys Babyschuhe, die sie fest mit ihren Händen umklammerte. Ich hätte es besser wissen müssen und sie nicht herausholen sollen. Kelly atmete ihren Duft ein, dann verstaute sie die Schühchen vorsichtig in ihrem Schrank, während sie versuchte, die letzten Bilder ihres Albtraums abzuschütteln.

Obwohl das Mittagessen schon eine ganze Weile zurücklag, war sie nicht wirklich hungrig. Sie stellte das Radio an und machte das Bett, schüttelte die Kissen auf und summte die Melodien mit.

In der Küche wischte sie den Esstisch ab, stellte ihren Laptop auf dem Sofa direkt daneben ab und bemerkte mit großer Erleichterung, dass ihr noch vier weitere Stunden blieben, bis ihre Nachtschicht begann.

Als sie ein leises Kratzen an der Tür hörte, stand Kelly auf und entdeckte Felix, der miauend nach einem Abendessen verlangte. „Na, ist dein Frauchen mal wieder unterwegs?“

Felix miaute als Bestätigung.

„Na komm, du Knirps“, lockte Kelly und nahm den Kater hoch. „Dann lass uns mal gucken, ob wir etwas für dich finden.“

Während Felix sein Wasser schlabberte und das Katzenfutter vertilgte, saugte Kelly den Fußboden. Sie versuchte, alles blitzsauber und aufgeräumt zu halten, vor allem, seit Agnes ihre Miete drastisch gesenkt hatte. Weil ihre Vermieterin nur wenige Anforderungen stellte und es zu begrüßen schien, Kelly in ihrer Nähe zu haben, machte ihr auch die nüchterne Studio-Atmosphäre des Apartments nichts aus. Insgesamt war es ein faires Arrangement. Bezahl wenig, erwarte wenig.

Auf der Küchenanrichte lag ein Stapel Papiere, den Kelly flüchtig durchblätterte, wobei ihr Blick an einem Foto der niedlichen Sydney Moore hängen blieb. Kelly sank auf den Stuhl und starrte auf das Bild. Sie erinnerte sich genau an den Moment, als Ernie es ihr geschickt hatte – wie hoffnungsvoll sie sich bei dem Anblick gefühlt hatte.

Kelly schauderte und zerriss das Bild in kleine Schnipsel. Vorbei. Felix drückte sich an ihr Bein und Kelly strich über seinen Rücken. Aber ich bin immer noch dabei, sagte sie sich selbst und dachte an Ernies neuste Spur, während sie Felix in die Arme nahm, ihn knuddelte und durch sein Fell kraulte. Flüchtig überlegte sie, wo Agnes wohl war. Vielleicht spielt sie wieder eine Runde Bingo in der Gemeinde.

Sie beschloss, zu dem Café die Straße runterzugehen und sich irgendetwas Günstiges zu bestellen, einfach um unter Menschen zu sein. Vielleicht einen Donut?

Zu viel Zucker, überlegte sie.

Dann erinnerte sie sich an Chets und Eloises Besorgnis über ihr geringes Gewicht, weshalb sie den Kater absetzte und zum Kühlschrank ging. Sie warf einen Blick hinein und entdeckte einen Karton Erdbeerjoghurt, normalerweise ihre Lieblingssorte, aber in diesem Moment protestierte ihr Magen hörbar. Also griff Kelly nach der halben Packung Brot und steckte eine Scheibe in ihren alten Toaster, den sie einmal bei einem Garagenverkauf für weniger Geld bekommen hatte, als sie bei Starbucks für eine Tasse Kaffee hätte ausgeben müssen.

Als das Toastbrot fertig war, strich sie Butter darauf und nahm einen Bissen. Es war nicht besonders schmackhaft, aber sie zwang es sich dennoch zusammen mit einem halben Glas Milch hinunter. Ich bemühe mich, dachte sie und erinnerte sich an die Sorge, die sie auch in Melodys Blick entdeckt hatte.

Mel und Kel für immer. Kelly hatte ihr gemeinsames Motto nicht vergessen. Sie hatten den Spruch sogar auf passende T-Shirts drucken lassen, zusätzlich versehen mit einem Foto, auf dem sie beide Wange an Wange vollkommen sorglos in die Kamera lächelten.

Von ihrem Küchenschrank holte Kelly das abgegriffene Fotoalbum aus ihren Jahren in der Schule und im College und der ersten Zeit mit Emily herunter. In der Zwischenzeit hatte sich Felix häuslich eingerichtet und räkelte sich zufrieden auf dem Sofa.

Kelly lächelte. „Dann ist am Ende wenigstens einer glücklich.“

Die Augen der Katze schlossen sich langsam. Selbstverständlich bin ich glücklich. Was denkst du denn?

Kelly blätterte durch die Seiten des Albums. Verschiedene Fotos zierten die Seiten – Kelly mit Melody, neun Jahre alt und verkleidet und geschminkt bei einem Kindergeburtstag. Es gab auch ein Foto von ihrem Abschlussball: Kelly mit Bobby Maines und Melody mit ihrem eigenen zukünftigen Ehemann, Trey Cunningham. Und dann das nächste Bild: der Tag ihres College-Abschlusses, natürlich mit dem leuchtend blauen Kleid und den Kappen mit der Troddel daran. Auf dem Foto waren auch die Eltern der Mädchen vor dem Studentenwohnheim zu sehen, nur ein paar Wochen vor Kellys und Melodys jeweiligen Hochzeiten.

Selbst in diesem Moment war Kelly versucht, Melody eine SMS zu schreiben.

„Immer noch dieselbe Nummer, Kel?“, hatte Melody gefragt.

Es ist sechs Jahre her, dachte Kelly. Sechs lange Jahre, seit sie Melody aus ihrem Leben gestoßen hatte. Man musste es ihrer ehemaligen Freundin zugutehalten, dass sie nie besonders viel für Bobby übrig gehabt hatte, auch schon lange, bevor er Emily entführt hatte.

Robert „Bobby“ Maines war ein Charmeur gewesen, der reihenweise Mädchenherzen erobert hatte. Kellys Mutter hatte ihn zuerst in der Kirche entdeckt, sehr beeindruckt von dem „höflichen jungen Mann. Sie war wild entschlossen, dass ihre Tochter genau wie sie heiraten und eine „Und-sie-lebten-glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage“-Ehe führen würde, die sie selbst bis zu dem unerwarteten Tod ihres Mannes erlebt hatte. Und so trieb sie Kelly in Bobbys Arme.

Ach Bobby.

Bobby Maines war der geborene Verkäufer; er spielte Football in der Auswahlmannschaft der Universität und war Oberstufensprecher. An seinem achtzehnten Geburtstag unterschrieb Bobby einen Vertrag für eine Ausbildung beim örtlichen Autohändler.

Obwohl sie bis über beide Ohren verliebt war, wollte Kelly dennoch unbedingt ihren College-Abschluss machen. Und Bobby versprach, auf sie zu warten.

Während er auf sie wartete, verdiente er von Anfang an eine Menge Geld – viel mehr als das, was sie als frisch gebackene College-Absolventin verdiente. Wenn Kelly jetzt zurückblickte, erinnerte sie sich an Zeiten, in denen sie von seiner glatten und übertrieben netten Verhaltensweise irritiert gewesen war – seinem lächelnden Auftreten, seiner euphorischen Begeisterung für alles und jeden und den erstaunlichen Summen Geld, die er ausgab. Zuerst machte sie sich Sorgen über sein Verhalten, dann verärgerte es sie zutiefst. Irgendetwas lief ganz furchtbar falsch.

Aber Kelly war bis über beide Ohren verliebt und so heiratete sie Bobby, ungeachtet der lauten Alarmglocken in ihrem Kopf. Ihr frisch gebackenes Eheglück dauerte ein Jahr, dann trat sein wahrer Charakter immer deutlicher zutage, seine geheimen Abhängigkeiten und seine fast paranoide Eifersucht. Der Abwärtsstrudel ihrer Ehe begann sich immer mehr zu drehen.

Am schlimmsten war es für Kelly, dass Bobby sich weigerte, Kinder zu bekommen. Er wollte Kelly ganz für sich allein haben und war der Meinung, dass Kinder nur Unsummen von Geld verschlangen. Als sie trotzdem eines Tages ungeplant schwanger wurde, verlangte er wütend einen Schwangerschaftsabbruch. Das war für Kelly undenkbar und sie lehnte ab – der Anfang vom Ende. Vielleicht hatte Bobbys Alkohol- und Drogenkonsum dazu geführt, dass er seine Arbeit verlor und ausfallend wurde. Zu dem Zeitpunkt, als Emily geboren wurde, lebten Kelly und Bobby seit sechs Monaten getrennt.

Dann, eines Tages nach einer heftigen Auseinandersetzung, tat Bobby das Undenkbare.

Die Polizei fand ihn wenige Tage später in New York City in einem billigen Hotelzimmer, gestorben an einer Überdosis. Von Emily fehlte jede Spur. Wenige, aber ausreichende Beweise bezeugten die unglaubliche Wahrheit: Bobby hatte ihre Tochter an einen Babyhändler verkauft, um sich von dem Geld die Drogen zu kaufen, die seinem Leben ein Ende setzten. Und mit seinem Tod war auch die Spur zu Emily gestorben.

Wenn ich doch nur realisiert hätte, wozu er imstande war, dachte Kelly und wurde sich plötzlich des merkwürdigen Kribbelns in ihren Armen und Beinen bewusst. Vertraut mit den ersten Anzeichen von Verzweiflung, die sie überwältigen wollte, wischte Kelly die Tränen ab und klammerte sich in Gedanken an einen Strohhalm aus Glaube und Zuversicht, um weitermachen zu können.

Sie ging ins Badezimmer und duschte. Sie hoffte, sich irgendwie sammeln zu können, bevor sie zur Arbeit musste. Schließlich schaffte sie es bis zu ihrem Wagen, bevor die Tränen wieder zu fließen begannen. Sie warf ihr Smartphone auf den Beifahrersitz und zog die Autotür zu, umklammerte das Lenkrad und atmete tief ein und aus.

Als sie sich besser fühlte, tupfe sie ihre Augen ab und startete den Wagen. Für einen Moment dachte sie darüber nach, ihre Mutter anzurufen, aber ihre derzeitige Kommunikation war nicht sonderlich erfreulich. Seit jenem Zeitpunkt, als ihre Mutter die Worte ausgesprochen hatte: „Du hast dein Leben zu einem Trümmerfeld verkommen lassen, Kelly, und das alles für eine Tochter, die du wahrscheinlich nie wiedersehen wirst.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“

Ihre Mutter hatte einen Augenblick geschwiegen, dann hatte sie mit etwas weicherer Stimme hinzugefügt: „Was für eine Art Leben würde sie denn führen, wenn sie zu dir nach Hause kommt, nachdem du sie gefunden hast, Liebes?“

Die Frage ihrer Mutter verfolgte Kelly noch immer und so, wie sie sich heute fühlte, wollte sie auf keinen Fall einen weiteren derartigen Vortrag hören.

Also was nun?, überlegte sie und fühlte sich einsam.

Kontaktiere Melody.

Und bevor sie noch weiter darüber nachdenken und das Für und Wider abwägen konnte, hatte sie schon eine Nachricht an Melodys alte Nummer geschickt: Können wir uns irgendwann treffen?

Ihr Smartphone vibrierte und signalisierte damit den Eingang einer neuen Nachricht.

Melody: Ich bin so froh, dass du dich gemeldet hast, Kel! Ja! Sag einfach wo und wann.

Dankbar schlich sich ein breites Lächeln auf Kellys Gesicht.

* * *

Jack entdeckte Nattie bei den Schaukeln. Laura saß auf der Schaukel neben ihr und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Natties Beine baumelten in der Luft und ihre Haare schleiften fast über dem Boden, als sie sich zurücklehnte, um Schwung zu holen.

Als er winkte, entdeckte Laura ihn. Auf der Bank in der Nähe der Schaukel sah er ihren großen blauen Beutel liegen und setzte sich daneben, um von diesem günstigen Platz aus die Szenerie zu betrachten und ein paar Schnappschüsse zu machen.

Es war bereits später Nachmittag, aber es war dennoch wärmer, als die Wettervorhersage angekündigt hatte. Kein Wölkchen war in Sicht. Der Park war gefüllt mit Kindern, außer Rand und Band vor Begeisterung über den Sommer, während der Fußweg um den Park herum von ein paar vereinzelten Joggern und Fußgängern mit ihren Hunden bevölkert wurde.

Als Nattie des Schaukelns müde war, beugte sich Laura zu ihr hinüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf Nattie sich aufgeregt umdrehte, Jack auf der Bank entdeckte und heftig zu winken begann, bevor sie zur Rutsche flitzte.

Anscheinend etwas außer Atem kam Laura zu Jack hinüber und setzte sich neben ihn auf die Bank. „Es war wirklich kein Scherz. Es ist unglaublich schwül!“ Sie lächelte, rückte ihre Kapp gerade und holte aus den Tiefen ihrer Tasche eine Häkelarbeit hervor. Flink begann sie eine Schlaufe an die andere zu reihen, während sie immer wieder aufblickte, um nach Nattie zu sehen.

Jack erzählte währenddessen von seinen Plänen für den Sommer und musste insbesondere bei dem Bericht von Natties aktueller Liste mit Aktivitäten schmunzeln, wobei diese Liste im Lauf der kommenden Wochen mit Sicherheit noch einige Änderungen erfahren würde.

„Eiscreme steht ganz oben, nicht wahr, egal was das Thema der Liste ist“, sagte Laura lachend. Dann fragte sie ihn nach dem Treffen in der Schule. Jack berichtete die wesentlichen Punkte, ließ jedoch die Diskussion über Lauras Rolle in Natties Leben unerwähnt. Er hielt einen Moment inne und dachte darüber nach, ihr Natties Familienzeichnung zu zeigen. Er war gespannt, wie Laura darauf reagieren würde.

Bei einem unerwarteten Rufen aus Richtung des Spielplatzes richtete sich die Aufmerksamkeit von beiden jedoch schlagartig auf Nattie.

Nattie hielt inne, sah, dass beide zu ihr hinüberblickten, stemmte ihre Hände in die Hüften und warf ihnen einen Blick zu, als wolle sie sagen: „Was ist denn los?“

Laura winkte und Jack lächelte.

Nattie war ein intuitives Kind. Sie hatte ein besonderes Talent dafür, Situationen zu erfassen, Gefühle wahrzunehmen und zwei und zwei zusammenzuzählen. Und wie alle aufgeweckten Achtjährigen verfügte sie über einen Vorrat an verrückten Ideen, inklusive überschäumenden Höhenflügen der Fantasie; sie konnte aber gleichzeitig mit äußerst tiefsinnigen und einfühlsamen Überlegungen überraschen.

„Also … ich vermute, Nattie macht gerade ihren Abschluss als Heiratsvermittlerin“, wagte Jack sich erneut an das Thema heran.

Laura blickte ihn an und biss sich auf die Lippe. „Es ist nicht zu übersehen. In gewisser Weise fühle ich mich geschmeichelt, dass sie mich so sehr mag.“ Sie lachte leise, während sie ihre Häkelarbeit fortsetzte. „Aber gleichzeitig macht es mir Sorgen.“

„Vielleicht wächst sie aus der ganzen Sache heraus.“ Jacks Antwort für jede Situation, in der sie sich Mut zusprechen mussten.

„Ja, vielleicht“, murmelte Laura.

Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander. Dann und wann hielt Nattie kurz inne, um Laura anzugrinsen und von ihr ein warmes Lächeln zurückzubekommen. Es war für Jack tröstlich zu sehen, wie Nattie sich verhielt, sie beim Spielen zu beobachten und wie sie von der sanften Laura bestätigt und beeinflusst wurde.

Jack versuchte, optimistisch an Natties Zukunft zu denken. Sein kleines Mädchen würde gut zurechtkommen, wenn sie Lauras Bereitschaft zu harter Arbeit als Vorbild nahm, ihr höfliches Benehmen und ihre Freundlichkeit gegenüber allen Menschen. Und ihren Glauben an Gott, fügte er in Gedanken hinzu.

Durch einen kräftigen Schlag auf die Schulter wurde er jäh aus seinen Überlegungen gerissen.

„Hier steckst du also!“, rief San hinter ihm. Seine Schwester sauste um die Bank herum, heute in weißen Caprihosen, einem ärmellosen limettengrünen Top und Designer-Tennisschuhen.

Wie immer mit einem Gespür für das richtige Verhalten in einer Situation, stand Laura auf. „Bitte entschuldigt mich. Ich lasse euch zwei allein.“

Jack wollte widersprechen, aber San kam ihm zuvor. „Danke, Laura.“

Während Laura über den Spielplatz zu Nattie hinüberging, setzte sich San auf ihren Platz auf der Bank und verschränkte ihre Arme. Ihr Lächeln verwandelte sich in einen Ausdruck der Bestürzung. „Wie kann sie bei der Hitze nur solche Kleidung tragen?“

Jack räusperte sich. San verstand den Hinweis und seufzte laut.

„Also, was gibt es, Schwesterherz?“, fragte Jack nach einigen Augenblicken und brach das Schweigen.

„Die Sonne, der Mond … und die Sterne“, erwiderte San, während ihre Augen verfolgten, wie Nattie aus dem Sandkasten direkt in Lauras Arme sprang.

Als sie an sich heruntersah, wurde San durch den Anblick ihrer Schuhe abgelenkt, sodass sie einen Fuß erst nach rechts und dann nach links drehte, um ihn besser betrachten zu können. Ihr kurzes braunes Haar war dick und glänzend, die ordentlich gezupften Augenbrauen bildeten einen eleganten Rahmen für die intensiv blickenden braunen Augen. Ihr Gesicht war gleichmäßig in einem zarten Elfenbeinton gebräunt. Besonders auffallend war die markante Nase – nicht groß, eher hoheitsvoll. Überhaupt musste Jack beim Anblick seiner Schwester häufig an Gemälde von stolzen italienischen Contessen denken, ungeachtet der Tatsache, dass ihre familiären Wurzeln in Schottland lagen, da ihr Urgroßvater damals von Glasgow emigriert war.

Jack machte ihre Bewegungen nach und unterzog seine eigenen Turnschuhe einer ähnlichen Überprüfung, indem er sie in die Luft streckte. Lachend verdrehte San ihre Augen.

„Was ist?“

„Schuhe sind der ultimative Maßstab für Modebewusstsein, Jack. Du brauchst wirklich eine Frau – wenn schon nicht aus anderen Gründen, dann unbedingt, um deine Garderobe auf Vordermann zu bringen.“

Jack wackelte mit seinen Füßen. „Aber diese hier sind doch gerade erst eingelaufen.“

„Sie sehen aber kaputt aus.“ San deutete vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger. „Sag mal, war Nattie mit dabei, als du sie gekauft hast?“

„Sie war fünf.“

„Du hast dir diese Schuhe vor drei Jahren gekauft?“

„Mindestens.“

San runzelte die Stirn. „Hast du Laura nach ihrer Meinung gefragt?“

Jack schüttelte den Kopf und musste bei der Vorstellung, wie Laura seine Schuhe begutachtete, unwillkürlich grinsen, woraufhin San missbilligend knurrte. „Es ist ziemlich beunruhigend, wenn ein amisches Kindermädchen einen besseren Modegeschmack hat als ihr englischer Boss!“

„Dann sollte ich sie vielleicht heiraten“, lachte Jack.

Sans Lächeln gefror. „Darüber solltest du keine Witze machen, Jack. Es ist schlimm genug, dass sie Nattie diesen seltsamen deutschen Dialekt – oder was auch immer das sein soll – beigebracht hat.“

„San“, mahnte Jack. „Du hast versprochen …“

„Okay, okay. Es tut mir leid.“ Sie seufzte und wechselte geschickt das Thema, indem sie nach dem Treffen in der Schule fragte.

Jack bestätigte mit seinem Bericht an San, was sie eigentlich schon wussten: Natties abnehmende Sozialkompetenz und ihre Fixierung auf Listen, Filme und Kuscheltiere. Natties Zeichnung verschwieg er jedoch, weil er San nicht noch mehr Munition liefern wollte. Aber seine Schwester mit dem Riecher für Dramen witterte bei seinen ausweichenden Antworten, dass noch mehr dahintersteckte.

„Soll ich Karen Jones einmal selbst anrufen?“, fragte San.

Karen? Jack zuckte zusammen.

San lehnte sich zurück. „Ich habe sie bei der Schwester meiner Freundin Misha getroffen, deren Freundin Jenny sie über ihre Nachbarin Sally kennt.“

Jack schüttelte den Kopf. San brachte es fertig, sogar extrem extrovertierte Menschen wie Mauerblümchen aussehen zu lassen. Sie brachte das Netz in das Netzwerk hinein. Und im Gegensatz zu ihren sozialen Fähigkeiten im Umgang mit Erwachsenen und ihrer Hingabe für Nattie verfügte San nur über ein Minimum an Geduld im Umgang mit Kindern im Allgemeinen. „Ich habe Mamas Worte in meinem Kopf“, hatte sie einmal zu ihm gesagt, „dass ich möglicherweise einmal mein eigenes Kind erwürge.“

San hatte die scharfe Zunge ihrer Mutter geerbt und kombinierte diese mit einem aufbrausenden Temperament und wenig Geduld für Menschen, die das austesten wollten. Wehe dem Kind – und dem Mann –, die Sans Weg kreuzten. Dessen ungeachtet konnte Nattie ihrer Meinung nach einfach nichts falsch machen.

In diesem Moment entdeckte Nattie ihre Tante, sprang vom Klettergerüst herunter und rannte zu ihnen hinüber, sodass der Staub und die Holzschnipsel zur Seite flogen. Mit einem Satz lag sie in Sans Armen. „Tante Santa!“

San gab ihr einen Kuss auf die Wange und hielt Natties Hände fest, als diese sich zurücklehnte. „Wo hast du all die Jahre gesteckt, Kleine?“

„Ich habe auf dich gewartet!“, quietsche Nattie und deutete mit einer dramatischen Geste auf Sans Outfit. Sie reckte ihre Arme begeistert in die Luft, als hätte San eben einen Touchdown erzielt. „Du siehst einfach UN-GLAUB-LICH aus, Tante San! Du bist die Fashion-Königin von Wooster. Wenn ich groß bin, will ich auch so aussehen wie du.“

Lachend klatschten Nattie und San ihre Hände aneinander.

Währenddessen blieb Laura rücksichtsvoll in der Nähe der Schaukeln stehen und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab, alles in allem ein Abbild der Bescheidenheit.

„Ich schulde dir einen Ausflug ins Einkaufscenter, oder?“, fragte San, offensichtlich aufgeregt und begeistert über die Erkenntnis, dass am Ende wenigstens eine in ihrer engeren Familie ihre Fähigkeiten zu würdigen wusste.

Nattie klatschte bei der Aussicht in die Hände. Dann, so schnell wie sie gekommen war, rannte sie zurück zu Laura.

San umfasste ein Knie mit ihren Händen. „Bist du bereit für meine schrecklichen Neuigkeiten, Jack?“

Er rieb sich das Kinn.

„Die Zeitung hat mir endlich eine Beförderung angeboten. Diesmal wollen sie mich im Haus haben.“

„Oha.“

„Ich ziehe um, Bruderherz!“, trompetete San laut wie eine Fanfare. „Ich breite meine Flügel aus und lasse den Hühnerstall hinter mir. Ich bin so aufgeregt, dass ich singen könnte. Ja, ja, ja, Jack! Ich steige in ein Flugzeug und gehe nach New York!“

Jack stöhnte. Auch wenn diese Entwicklung zu erwarten gewesen war, hatte er dennoch gehofft, dass er mit seinen Befürchtungen falschlag. „Bitte entschuldige, wenn ich nicht in Begeisterungsstürme ausbreche.“

„Ich weiß, ich weiß. Ich werde Nattie furchtbar vermissen. Und meine Freunde aus der Gemeinde.“ Sie schnüffelte und warf ihm einen verschmitzten Blick zu. „Und dich … vielleicht ein bisschen.“

Er lächelte. „Ich denke, New York ist nicht endlos weit weg.“

„Hey, ich werde ein paarmal im Monat vorbeikommen. Okay?“

Er nickte. In den nächsten Minuten diskutierten sie die genaueren Details und den Zeitpunkt ihres Umzugs – September, in gut drei Monaten.

„Ich habe meinem Chef gesagt, dass ich nicht vor dem Labor-Day-Wochenende1 umziehen kann“, fuhr San fort, „wenn in der Woche danach für Nattie das neue Schuljahr beginnt.“

Jack runzelte die Stirn, dann fiel ihm ein, dass im nächsten Schuljahr der Unterricht später beginnen würde … es hatte irgendetwas zu tun mit dem Bau eines Medienzentrums.

„Ich soll Cassie als leitende Grafikdesignerin ersetzen, sie geht nach Paris.“ San sprach das Wort mit leichtem Missfallen aus. Paris war Sans Lebenstraum.

Jack lachte. „Die Modehauptstadt der Welt. Es ist wirklich schlimm, dass du in New York feststeckst.“

„Eines Tages, Jack. Alles zu seiner Zeit, du wirst es sehen.“ Sie wandte sich ihm zu und beäugte ihn durch die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille. „Also … hast du über Anita nachgedacht? Ich will dich in guten Händen wissen, wenn ich gehe – um genau zu sein, in weiblichen Händen.“

Jack tat ihre Bemerkung mit einem Winken ab. Nattie und San, die beiden Heiratsvermittler in seinem Leben.

San verschränkte ihre Arme und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. „Herr, hilf meinem aufmüpfigen Bruder.“

Dann versanken sie beide in Schweigen und beobachteten, wie Nattie die Rutsche hinunterzischte und begeistert die Arme in die Luft riss. Für einen Moment wirkte ihre Prinzessin vollkommen glücklich, scheinbar ohne irgendwelche Sorgen oder Probleme.

Noch ein Verlust für sie, dachte Jack und erinnerte sich an die Worte der Beratungslehrerin und ihre Aufzählung von Natties Verlusterfahrungen in ihrem bisherigen Leben. Obwohl so viele die enge Bindung von Nattie an ihr Kindermädchen mit Sorge sahen, war Jack angesichts des bevorstehenden Abschieds von seiner Schwester dennoch unglaublich dankbar für Lauras Anwesenheit in ihrem Leben.

1 Labor Day: Dieser Feiertag entspricht dem „Tag der Arbeit“, wie er in Deutschland am 1. Mai gefeiert wird. In den USA wird dieser Feiertag der Arbeiterbewegung am 1. Montag im September begangen.

Kapitel 9

Nach Sans Aufbruch blieben Jack und Laura noch im Park, bis die Mütter damit begannen, ihre Kinder einzusammeln und Jacken, Taschen und Trinkbecher zusammenzupacken. Es war kurz vor fünf, als auch Nattie genug davon hatte, auf den künstlichen Felsen herumzuklettern. Jack las gerade die Nachrichten auf seinem Smartphone und Laura war mit ihrer Häkelarbeit beschäftigt.

Nattie schlug einen Besuch bei ihrem Lieblingsburgerlokal vor, das zwanzig Minuten entfernt war. Jack wandte sich an Laura. „Hättest du Lust mitzukommen?“

Nattie klimperte zur Bekräftigung seiner Frage mit den Wimpern und warf Laura flehende Blicke zu, die die Einladung dankbar annahm.

Sie kletterten zusammen auf die Vorderbank von Jacks Pick-up und Nattie schlängelte sich zwischen Jack und Laura. Auf der Fahrt schnatterte sie vor sich hin und erzählte begeistert eine Geschichte nach der anderen. Als sie den Drive-in erreicht hatten, bestellte Nattie Chicken Nuggets und einen großen Schokoladenshake.

„Gewöhn dich nur nicht zu sehr daran“, mahnte Jack mit erhobenem Zeigefinger. „Das wird der Sommer der grünen Salate.“

„Im Gegensatz zu lila Salat?“, kicherte Nattie und sah zu Laura. „Ab und zu ist Fast Food okay, das sagt sogar Laura.“

Laura gab Nattie einen Rippenstoß. „Mach mich nicht zum Sündenbock, Liebes.“

„Ich sag ja nur.“

Jack bestellte etwas mit Fisch und wandte dann seine Aufmerksamkeit Laura zu.

„Für mich nichts“, erwiderte Laura. „Denki.“

Sofort schüttelte Nattie den Kopf und feuerte eine Salve deitscher Worte in Lauras Richtung ab. Laura schnatterte zurück. Dann seufzte sie und blickte auf die Menütafel. „Nun … vielleicht …“

„Nuggets?“, ermunterte Nattie sie. „Da gibt es jede Menge Soßen dazu: Barbecue, Honig-Senf, Chili, Paprika und am allerbesten Schoko-Malz-Milch.“

„Schoko-Malz?“, murmelte Jack.

Laura lachte leise, mit blitzenden Augen. „Nuggets hören sich schrecklich gut an.“

Nattie jubelte und drängte Jack, von jeder Soße eine Kostprobe zu bestellen. Nachdem sie ihre Bestellung in Empfang genommen hatten, fuhren sie auf die Autobahn in Richtung Apple Creek. Nach einer langen Reihe von malerischen Farmen und kurz bevor die Straße in die Hauptstraße überging, begann der Weg, der zu dem mit Schindeln verkleideten Haus von Lauras Verwandten führte.

Nattie verspeiste genüsslich einen Nugget nach dem anderen und drängte Laura, unbedingt alle Soßen zu probieren, zu denen sie anschließend ihr Urteil abgeben musste.

Als Laura Natties Lieblings-Milchshake-Soße probierte, murmelte sie anerkennend: „Gar nicht schlecht.“

„Jetzt du“, sagte Nattie zu Jack und hielt ihm einen Nugget hin, von dem die Schoko-Malz-Soße tropfte.

Jack öffnete den Mund, kaute widerstrebend und musste schließlich zustimmen. Es schmeckte nicht übel. Um genau zu sein … es war richtig gut.

„Ich hab’s euch doch gesagt“, rief Nattie, klatschte sich mit Laura ab und tauschte einen weiteren Schwall deitscher Sätze mit ihr.

Vielleicht sollte ich langsam ihre Sprache sprechen, dachte Jack und bog bei dem vertrauten schwarzen Postkasten, auf dem in großen weißen Buchstaben Peter & Lomie stand, in die Zufahrt ein. Sie folgten der staubigen Straße zu dem weitläufigen Farmhaus, das sich in eine Baumgruppe schmiegte. Das mit weißen Holzschindeln verkleidete Haus mit der einladenden Vordertreppe war umgeben von Blumenbeeten – Stiefmütterchen in allen Farben, Löwenmäulchen und rote und weiße Petunien –, ohne Zweifel Lauras Werk. An der anderen Seite der Straße lagen die Scheune und der Ponystall, daneben stand Lauras repariertes Auto, das ihr Cousin geholt haben musste.

Jack öffnete die Tür seines Wagens und nahm einen tiefen Atemzug. Nattie sprang aus dem Auto und rannte hinüber zum Stall, um gemeinsam mit Laura die neuen Shetlandponys zu besichtigen.

Jack fand die beiden im Inneren des Stalls, wo die kleinen Zwillingsfohlen mit ihren weichen Schnauzen an Natties offenen Handflächen schnupperten. „Wo ist ihre Mutter?“, fragte Nattie in die Stille hinein.

Jack sah zu Laura, die ihm einen mitfühlenden Blick zuwarf.

„Sie ist draußen auf der Weide“, flüsterte Laura, „aber sieh nur, wie gut die beiden allein zurechtkommen!“

* * *

Auf dem Weg zurück nach Wooster war Nattie ungewöhnlich still – Jack vermutete, sie vermisste Laura –, während Jack in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durchspielte, wie er das Gespräch auf Natties Zeichnung lenken konnte.

„Was machen wir heute Abend?“, fragte Nattie, während sie ihre Beine übereinanderschlug und auf den Knien einen Rhythmus zu klopfen begann.

Jack beugte sich hinüber und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Es war Zeit zu reden. „Also … ich war ja heute bei dem Treffen in der Schule“, begann er.

„Um mit meiner Lehrerin zu reden.“

„Und mit deiner Beratungslehrerin.“

Nattie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. „Haben sie nach mir gefragt?“

Jack lachte leise in sich hinein. „Das Lustigste war“, fuhr er fort und bog auf die Autobahn, „sie haben mir zu meiner bevorstehenden Vermählung gratuliert.“

Nattie runzelte die Stirn und drehte sich in Jacks Richtung. „Was ist eine Vermählung?“

„Na ja, eine Hochzeit.“

„Oh.“ Nattie schloss ihre Augen. Ihre Miene veränderte sich, als ob sie mit Schrecken ahnte, was jetzt kommen sollte. Sie wies nach rechts aus dem Fenster. „Ich glaube, der Cousin von meiner Freundin Madison wohnt hier irgendwo. Aber ihr Dad nicht. Nicht mehr.“ Sie schniefte mitfühlend.

Vorsichtig lenkte Jack das Gespräch wieder in die angestrebte Richtung. „Auf jeden Fall hatten deine Lehrerinnen die merkwürdige Vorstellung, dass ich vorhabe, Laura zu heiraten.“

Nattie knabberte an ihrer Lippe.

„Hast du irgendeine Ahnung, wie sie auf diese Idee gekommen sind?“

„Nun … schon irgendwie.“

„Ich glaube, du musst mir einiges erklären, junge Dame.“

„Es ist nicht so schlimm, wie du denkst.“

„Also … das hört sich ziemlich schlimm an.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte sie. Jack konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf zu drehen begannen, während sie ihre Entschuldigung entwarf.

Ein paar Sekunden verstrichen, während sie auf die Straße bogen, die zu ihrem Haus führte. Nattie zeigte wieder nach draußen. „Meine Musiklehrerin, Mrs Adler, wohnt hier drüben …“

„Nattie …“

„Ich denke nach“, sagte sie und seufzte leise. „Ich glaube, ich habe einfach das gemacht, was Jesus mir gesagt hat.“

„Wie bitte?“

„Erinnerst du dich, was uns Pastor Al letzte Woche gesagt hat? Jesus sagt, dass wir beim Beten so fest glauben sollen, als hätten wir das, worum wir bitten, schon bekommen.“

„Hmm.“

„Ich habe mir überlegt, dass ich mich am besten so verhalte, als ob mein Gebet schon erhört wäre. Seit ich dafür bete, dass du Laura heiratest, ergibt das absolut Sinn.“

Strahlend saß Nattie neben Jack, offensichtlich selbst begeistert über ihre hieb- und stichfeste Verteidigung.

„Du bist ein ziemlich schlaues Mädchen.“

Sie nickte. „Das höre ich oft.“

Jack erinnerte sich an die Geschichte von Georg Müller, die er erst vor Kurzem gelesen hatte – einem Mann, der aus dem Glauben gelebt hatte. Jack fragte sich, wie Pastor Müller wohl einer Achtjährigen erklärt hätte, ab welchem Punkt Glaube überheblich wurde. Wann er manipulativ wird. „Das ist nicht die Art und Weise, wie Gott handelt, Liebes.“

„Okay. Ich werde es auf jeden Fall nicht wieder tun“, versprach Nattie und benutzte ihre liebste Den-Kopf-aus-der-Schlinge-ziehen-Formulierung, mit der sie stets jede Diskussion über ihr Fehlverhalten beenden konnte.

„Wirklich nicht?“

Wie um ihre Worte zu besiegeln, hielt Nattie beide Hände nach oben, zwei Finger zum Peace-Zeichen in die Luft gestreckt, ein Versprechen ohne Einschränkungen.

Jack seufzte. Okay, dachte er. Schwamm drüber.

Er erinnerte sich an ein Gespräch zwischen Laura und Nattie über das Beten, das er zufällig mitgehört hatte. Nattie hatte Laura eine Frage gestellt und Laura hatte in ihrer gewohnt bedachten Art geantwortet: „Gott kann uns das geben, worum wir bitten, aber er gibt uns keinen Charakter. Charakter ist etwas, was wir Gott schenken. Unser Charakter, unsere Persönlichkeit wird durch den Glauben geformt und durch Beharrlichkeit und dadurch, dass wir das Richtige tun.“

„Ist wieder alles okay? Bist du nicht mehr sauer?“, fragte Nattie.

„Ja“, murmelte Jack und strich ihr über den Kopf.

„Gut“, antwortete sie.

* * *

Später am Abend drehten Nattie und die anderen Kinder aus der Nachbarschaft mit ihren Fahrrädern eine Runde nach der anderen um den Block, „um nachzusehen, ob irgendetwas Interessantes passiert“. Dann, etwa um die Zeit, als die Dämmerung einsetzte, breiteten Jack und Nattie eine Plastikdecke auf dem Esstisch aus und verbrachten eine entspannte Stunde beim Töpfern.

Begleitet von Musik formte Jack seine Version von Aladins Wunderlampe, während Nattie an ihrem Modell von Rapunzels Turm arbeitete. Jack war zuerst fertig, erhielt einen anerkennenden Blick und beobachtete dann Nattie, die so hoch konzentriert und vollkommen in ihre Tätigkeit vertieft an dem Dach des Erkers arbeitete, dass ihre Zungenspitze aus dem Mundwinkel lugte.

Als sie ihr Meisterstück beendet hatte, lehnten sie sich zurück und bewunderten das Kunstwerk gebührend. Jack ignorierte den Gedanken an das, was San bei dem Anblick möglicherweise gesagt hätte: „Ist sie dafür nicht schon zu alt?“ Ihm war das egal. Nattie war am glücklichsten, wenn sie sich kreativ betätigen konnte. Er drängte sie nicht zu irgendwelchen Beschäftigungen, die für Kinder ihres Alters angemessener waren, nur weil San gerne wollte, dass ihre Nichte erwachsen wurde.

Als es Zeit wurde, ins Bett zu gehen, stellte Nattie wieder Fragen zu ihrer leiblichen Mutter. „Vermisst sie mich? Würde sie mich wiedererkennen?“

Jack tat sein Bestes, um ihre Fragen zu beantworten, aber am Ende weinte Nattie. Ihr Gesicht schien zu zerfließen, als ihre Unterlippe zu zittern begann. Jack hielt sie im Arm, bis ihre Schluchzer weniger wurden, und als sie das Nachtgebet sprachen, griff sie nach seiner Hand und drückte sie fest.

In Anbetracht dieser Entwicklung behielt Jack Sans bevorstehenden Umzug vorsichtshalber für sich. Einmal Weinen pro Abend war einmal zu viel, für jeden von ihnen.

Bevor er das Licht ausknipste, tauschte Nattie Felicia, das Einhorn, gegen Whiskers aus, die struppige Katze mit den unglaublich blauen Augen, in deren Inneren ein versteckter Motor leise brummte. „Whiskers spricht nicht viel“, schnüffelte Nattie. „Aber sie schnurrt. Und manchmal ist das alles, was man braucht. Stimmt’s?“

Wieder unten im Wohnzimmer schaltete Jack die Nachrichten im Fernsehen an, während er einige Zahlen durchging. Irgendwann lehnte er sich zurück, um sich zu entspannen, aber er musste immer wieder an Natties Zeichnung denken. Irgendetwas an dem Bild nagte an ihm und ließ ihn nicht los.

Während der Werbung ging er in sein Arbeitszimmer und holte das Bild aus dem Umschlag. Erneut fielen ihm die gelben Strahlen auf, die von Natties freudestrahlendem Gesicht ausgingen.

Kinder finden einen Weg, um uns zu sagen, was sie brauchen“, hatte die Beratungslehrerin gesagt.

In dicken, mit Buntstift gemalten Buchstaben stand unter dem Bild: Dad und Momund ich. Jack war so abgelenkt gewesen von dem Mom unter dem Bild, dass er das Dad vollkommen übersehen hatte.

In der ersten Zeit nach dem Tod seines Bruders und seiner Schwägerin war die kleine Nattie untröstlich gewesen und hatte bitterlich nach ihrer Mama und ihrem Papa geweint. Während Laura für Nattie einen unglaublichen Trost bot, zögerte Jack, irgendetwas zu verändern, was Nattie noch mehr aus der Fassung bringen könnte. Auf keinen Fall wollte er zu früh in die Fußstapfen seines Bruders treten, sodass er einfach Onkel Jack blieb. Ist es möglicherweise an der Zeit, das zu ändern?

Jack stieg die Stufen nach oben und lauschte leise an Natties Tür, ob sie möglicherweise schon eingeschlafen war.

„Tra-ri-ra!“, hörte er aus dem Inneren des Zimmers. „Ich kann hören, dass du da bist!“

Jack riss die Tür auf und schaltete das Licht ein. Nattie kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen. Grinsend schützte sie ihr Gesicht mit einer Hand gegen die Helligkeit und blickte zu ihm hinauf.

„Weil du immer noch wach bist“, begann Jack und setzte sich auf die Bettkante, „können wir ja vielleicht miteinander reden.“

Nattie setzte sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und war offensichtlich sehr dankbar für den willkommenen Aufschub der lästigen Pflicht des Schlafens. „Ich mag es zu reden, wenn ich keinen Ärger habe.“ Sie zog ein Gesicht. „Warte mal – oder hab ich etwa wieder Ärger?“

„Du hast überhaupt keinen Ärger, kleine Krabbe.“

„Okay. Halten wir diesen Punkt fest.“ Nattie stützte ihre Ellbogen auf die Knie und legte ihr Gesicht in die Hände.

„Ich habe über etwas nachgedacht, Liebes.“

Nattie runzelte nachdenklich die Stirn und griff so seine eigene ernste Miene auf.

„Du weißt, wie sehr ich deinen Dad geliebt habe – meinen großen Bruder Danny. Und als du damals mein kleines Mädchen geworden bist, wollte ich die Erinnerung an ihn gerne bewahren und lebendig halten. Ich dachte, es wäre nicht richtig, seinen Platz einzunehmen.“

„Ich erinnere mich nur noch wenig an meinen Dad.“

„Und das ist der Grund, warum ich denke, dass es an der Zeit ist …“ Jack zögerte, als er Natties brennendem Blick begegnete. Umgeben von bunten Disney-Postern und unter Prinzessin Arielles prüfenden großen Augen schluckte er hart.

Wie gewöhnlich war Nattie ihm bereits zwei Schritte voraus. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. „Also … wie wäre es, wenn ich dich Dad nenne?“

„Das war es, was ich überlegt habe.“

„Abgemacht!“, sagte Nattie und streckte ihre Hand aus, um Jacks Hand zu schütteln, was sie dann auch wirklich taten. Angemessen und ganz offiziell. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Wieder runzelte Nattie die Stirn. „Also muss ich jetzt wieder schlafen?“

„Ja, du Clown.“

„Wollen wir denn nicht feiern?“

„Wie?“

Sie warf ihm einen frustrierten Blick zu.

„Wie wäre es mit einem Cookie?“

Unter der Bedingung, dass der Cookie von Eiscreme begleitet wurde, stimmte Nattie Jacks Vorschlag zu, denn für sie war nichts wirklich feierlich ohne das kalte Zeug.

Als Nattie zum zweiten Mal ins Bett gesteckt worden war, ging Jack wieder nach unten, um die Lichter auszuschalten.

Er hatte sich gerade in seinem Lieblingssessel niedergelassen, als sein Telefon klingelte. Es war Diane, seine Nachbarin.

„Ich wollte eigentlich nicht mehr so spät anrufen, aber ich habe gesehen, dass bei dir noch Licht brennt.“

„Kein Problem.“ Dann hörte er zu, als sie den Grund ihres Anrufs erklärte: Craigs und Dianes bevorstehenden ersten Hochzeitstag.

„Herzlichen Glückwunsch!“, sagte Jack. Er war überrascht, wie schnell ein Jahr vergangen war.

„Das ist auch der Grund, weshalb ich anrufe“, fuhr Diane fort. „Ich habe ein besonderes Anliegen, aber bitte fühl dich frei abzulehnen.“

Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit.

„Ich habe meinem Mann ein neues Geländemotorrad gekauft – einen Crosser.“

„Im Ernst!“, sagte Jack, der nur mit Mühe seine Bewunderung verbarg.

Diane senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Und ich muss es irgendwo verstecken.“

Oh Mann, dachte Jack.

Nachdem er noch einige Zeit mit wachsender Faszination und – um ehrlich zu sein – auch mit etwas Neid zugehört hatte, beendete Jack das Gespräch, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Flur im oberen Stockwerk wahrnahm.

„Hey Dad!“, rief Nattie herunter.

Für einen Moment war er vollkommen verblüfft. Ja, das bin ich. „Was gibt’s, Süße?“

„Nichts“, sagte sie grinsend. „Ich wollte bloß sehen, ob es funktioniert.“