Geschichte kompakt

Herausgegeben von

Kai Brodersen, Martin Kintzinger,

Uwe Puschner, Volker Reinhardt

 

Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert:
Uwe Puschner

 

Berater für den Bereich 19./20. Jahrhundert:
Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze

Rolf-Dieter Müller

Der Zweite Weltkrieg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

ISBN 978-3-534-26646-3

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Die Entfesselung des Krieges

1. Ursachen und Voraussetzungen

2. Der Angriff auf Polen

3. Die Ausweitung des Krieges

4. Vom Sitzkrieg zum Blitzkrieg

II. Der „Krieg der Fabriken“

1. Die deutsche Kriegswirtschaft

2. Der „Ernährungskrieg“

3. Rüstung, Technik und Wissenschaft

4. Die Mobilisierung für den totalen Krieg

III. Die Soldaten

1. Die Landstreitkräfte

2. Die Luftstreitkräfte

3. Die Seestreitkräfte

4. Kriegserfahrungen

5. Verwundung und Tod

6. Verweigerung und Widerstand

7. Gefangenschaft und Heimkehr

IV. Kriegsschauplätze

1. Die Kampfführung der Wehrmacht an der Ostfront

2. Der Mehrfrontenkrieg der Alliierten

V. Heimatfront

1. Die Gesellschaft im Krieg

2. Das Kriegsbild

3. Die kulturelle Dimension des Krieges

VI. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Folgen

1. Das Kriegsende im Frühjahr 1945

2. Die Kapitulation Japans

3. Von der Potsdamer Friedensordnung zum Kalten Krieg

4. Die Erinnerung an die größte Katastrophe im 20. Jahrhundert

Karten

Literatur

Personenregister

Geschichte kompakt

 

In der Geschichte, wie auch sonst,
dürfen Ursachen nicht postuliert werden,
man muss sie suchen
. (Marc Bloch)

 

Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.

Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.

Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.

 

Kai Brodersen
Martin Kintzinger
Uwe Puschner
Volker Reinhardt

Einleitung

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann 1914 ein kriegerisches Zeitalter, das 1920 mit dem Friedensvertrag von Versailles nur für wenige Jahre unterbrochen worden ist. Die folgenden zwei Jahrzehnte galten als „Zwischenkriegszeit“, in der es nicht gelungen ist, eine stabile Friedensordnung in Europa zu errichten. Der vergangene und der erwartete künftige Krieg prägten das politische Denken und Handeln. Die einstigen Verlierer sannen auf Revision der Ergebnisse des Weltenbrandes, den Siegern gelang es nicht, ihre Vorherrschaft dauerhaft zu festigen und einer Versöhnung die Hand zu reichen.

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Adolf Hitler, Politisches Testament, 29. April 1945

Aus: Ueberschär/Müller, Deutschland am Abgrund, S.166

 

Seit ich 1914 als Freiwilliger meine bescheidene Kraft im ersten, dem Reich aufgezwungenen Weltkrieg einsetzte, sind nunmehr über dreißig Jahre vergangen.

Das Zeitalter der Weltkriege der

Der Zweite Weltkrieg wurde von jenen Kräften entfesselt, die nun bewusst und mit militärischen Mitteln erneut die Kräfteverhältnisse in Europa und Welt in Frage stellten. Das Ergebnis war das gewaltigste und blutigste Ringen der Weltgeschichte, das mit dem Einsatz der Atombombe im August 1945 und dem Untergang der faschistischen Mächte endete. Die Epoche der Weltkriege mündete in ein neues Zeitalter, in dem die Gefahr eines Dritten Weltkrieges zwar höchst virulent gewesen ist; aber im sogenannten Kalten Krieg gelang es der westlichen Welt durch ihre Abschreckungspolitik, das Sowjetimperium, das im Zeitalter der Weltkriege seinen Aufstieg erlebt hatte, mit friedlichen Mitteln zur Implosion zu bringen. Der innere Zusammenhang beider Weltkriege ist besonders für die Deutschen prägend gewesen. Ihre Staatsführung trug Mitverantwortung für die Auslösung des Ersten Weltkriegs und die Hauptverantwortung für die Entfesselung des Zweiten.

Die meisten Deutschen haben die beiden Kriege in der irrigen Auffassung mitgetragen, der Krieg sei dem Reich aufgezwungen worden. Die anfängliche Euphorie wich bald einer tiefen Apathie. Geführt und erlitten wurden die Kriege maßgeblich von den Jahrgängen, die vor 1900 geboren worden waren, als das Kaiserreich seine glänzendsten Jahre erlebte. Die ehemals jungen Soldaten und Offiziere von 1914 traten zu Hunderttausenden 1939 wieder an. Des Kaisers junge Stabsoffiziere waren nun vielfach die Generale des „Führers“. Ihre Söhne standen in den Reihen der jugendlichen Soldaten, die wieder zu Hunderttausenden auf dem Schlachtfeld geopfert worden sind. Die fast völlige Auslöschung des Jahrgangs 1920 (41,1 Prozent Todesfälle) ist dafür symptomatisch.

Kriegsschuld

Mit dem Begriff der „Entfesselung“ des Zweiten Weltkriegs wird deutlich, dass es anders als 1914 im Jahre 1939 eine Macht gegeben hat, die fest entschlossen gewesen ist, durch Krieg die europäischen Grenzen zu verändern und dazu auch die Eröffnung eines Weltkrieges zu riskieren. Der deutsche Diktator Adolf Hitler wollte endlich „schlagen“ und sein politisches Lebensziel verwirklichen: die Schaffung eines „Großgermanischen Reiches deutscher Nation“. Es ging ihm also um mehr als die Revision von Versailles, seine erfolgreichste politische Parole, die ihm die Gefolgschaft der Deutschen und die Zustimmung anderer Nationen sicherte. Neben der Kriegsschuldfrage ist auch der Kriegscharakter eindeutig geklärt. Der Begriff des „rassenideologischen Vernichtungskrieges“ kennzeichnet den einzigartigen Versuch der Nationalsozialisten, die Weltordnung umzustürzen und ihr „Drittes Reich“ für die nächsten tausend Jahre zur weltbeherrschenden Vormacht aufsteigen zu lassen.

Das Bündnis der Demokratien

Es war also im Vergleich zum Ersten Weltkrieg eine Absage an das traditionelle Ringen von Imperien und Großmächten, das im Zweiten Weltkrieg die Kriegführung der meisten deutschen Verbündeten, also hauptsächlich des faschistischen Italiens und des japanischen Kaiserreiches, bestimmte. Gegen diese unbegrenzte Herausforderung setzte sich die Anti-Hitler-Koalition zur Wehr, die durch die Einbeziehung der UdSSR ein ungewöhnliches Bündnis der demokratischen Staaten mit dem totalitären Sowjetregime darstellte. In der Phase des europäischen Krieges bis Ende 1941 hatte es Hitler erreicht, dass sein Krieg globale Ausmaße erhielt. Insbesondere durch die Einbeziehung des pazifischen Kriegsschauplatzes entwickelte sich der Krieg zum Weltkrieg. Er entwickelte sich zudem auf vielen Gebieten zu einem totalen Krieg, der über das Maß des Ersten Weltkriegs hinausging, bis zu einer fast völligen Enthegung der Gewalt mit etwa 60 Millionen Toten, in der Mehrzahl Zivilisten.

Überwindung der sowjetischen Geschichtspropaganda

Die historische Forschung ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg für Jahrzehnte von nationalen Geschichtsbildern geprägt gewesen. Sie wurden in der Zeit des Kalten Kriegs bis 1989 zudem vom ideologischen Gegensatz zwischen Ost und West bestimmt. Die sowjetkommunistische Geschichtspropaganda mit ihren Verfälschungen (Hitler-Stalin-Pakt) und Lügen (Katyn) hat die Geschichtsforschung lange Zeit instrumentalisiert und für teilweise heftige Kontroversen gesorgt. Erst die Wende nach 1990 hat den Weg zu einer Annäherung der Standpunkte und zu einer gesamteuropäischen Perspektive geöffnet. Die unterschiedliche Entwicklung der Weltkriegsforschung in beiden deutschen Staaten konnte überwunden werden.

Historisierung

Die Schwerpunkte des historischen Interesses haben sich von der ursprünglich engeren militär- und diplomatiegeschichtlichen Ausrichtung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auf wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Dimensionen des Krieges erweitert. In jüngster Zeit gewinnen durch neue Quellen und methodische Ansätze die militärischen Aspekte neue Beachtung. Der „Krieg des kleinen Mannes“ ist durch die Auswertung von Ego-Dokumenten wie Feldpostbriefen, Tagebüchern und Abhörprotokollen von Kriegsgefangenen stärker ins Bewusstsein gerückt. Die Historisierung des Zweiten Weltkriegs ist so weit vorangeschritten, dass es notwendig erscheint, einer jüngeren Generation, die den Krieg nur vom Bildschirm kennt, die Möglichkeit zu geben, besser zu verstehen, was Krieg für den Einzelnen bedeuten kann.

Überblick

Nach der notwendigen Darstellung der Ursachen des Zweiten Weltkriegs und seiner ersten europäischen Phase, der Zeit der sogenannten „Blitzkriege“, werden – abweichend von herkömmlichen chronologischen Darstellungen – in zwei systematischen Abschnitten die wesentlichen Voraussetzungen für die Kriegführung analysiert. Der „Krieg der Fabriken“ schuf die materiellen Bedingungen und Begrenzungen, die allgemeine Wehrpflicht die Rekrutierung der gesamten erwachsenen, männlichen Bevölkerung. Mehr als 50 Millionen Soldaten führten den Krieg und entschieden über seinen Ausgang. Ihre Lebenswelt ist für das Verständnis des Zweiten Weltkriegs von entscheidender Bedeutung. Die Abschnitte über die verschiedenen Kriegsschauplätze demonstrieren diese Einsicht. Weil der Krieg alle Lebensbereiche erfasste und nur durch die Mobilisierung aller Kräfte der Nationen geführt werden konnte, kommt der „Heimatfront“ eine hervorzuhebende Bedeutung zu. Abschließend verdient das Kriegsende mit seinen Folgen ausführliche Beachtung. Hier wie bei den meisten anderen Kapiteln liegt der Schwerpunkt der Darstellung im deutschen Bereich, denn Deutschland bildete den Motor des Zweiten Weltkriegs.

I. Die Entfesselung des Krieges

1. Ursachen und Voraussetzungen

Hitler bedeutet Krieg – diese Erkenntnis hatten 1933 nur wenige Deutsche, als der Führer der NSDAP von Reichspräsident Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde. Der rasante Aufstieg der rechtsextremen Partei seit 1929 war hauptsächlich der Weltwirtschaftskrise geschuldet, die in Deutschland zur Massenarbeitslosigkeit führte. Die Mehrheit der Wähler verlor das Vertrauen in die demokratischen Parteien und die Funktionsfähigkeit der Weimarer Republik. Sie setzte ihre Hoffnung auf ein autoritäres Regime mit einem starken Mann an der Spitze, der versprach, Arbeitsplätze zu schaffen und Deutschland wieder zu einer geachteten Großmacht zu machen.

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Hitlers erste Ansprache vor den Befehlshabern der Reichswehr am 3. Februar 1933

Aus: Jacobsen/Dollinger, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 1, S. 30.

 

Aufbau der Wehrmacht wichtigste Voraussetzung für Erreichung des Ziels: Wiedererringung der politischen Macht. Allgemeine Wehrpflicht muss wiederkommen.

Wie soll politische Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Vielleicht Erkämpfung neuer Exportmöglichkeiten, vielleicht – und wohl besser – Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung. Sicher, dass erst mit politischer Macht und Kampf jetzige wirtschaftliche Zustände geändert werden können.

Hitler will Krieg um Weltvorherrschaft

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg war von den meisten Deutschen nicht angenommen worden. Das Friedensdiktat von Versailles akzeptierten auch die demokratischen Parteien letztlich nicht. Doch setzten sie auf Verhandlungen, um einzelne Bestimmungen zu revidieren und vor allem die Belastung durch gewaltige Reparationszahlungen zu mindern. Hitler ließ keinen Zweifel daran, dass er mit allen Mitteln den „Wiederaufstieg“ des Reiches anstreben werde. Die Schwäche Deutschlands bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten zwang ihn allerdings dazu, vorerst zurückhaltend aufzutreten und sein Hauptziel, die Auslösung eines rassenideologischen Krieges um die Weltvorherrschaft, zu verschleiern. Seine Friedensparolen und vor allem seine Profilierung als Bollwerk gegen den Bolschewismus verschafften ihm Popularität im In- und Ausland.

Schaffung der Voraussetzungen

In der Hoffnung auf den Erfolg seines Arbeitsbeschaffungsprogramms nahmen es die Deutschen hin, dass er sofort damit begann, Staat und Gesellschaft neu zu formieren. Seine „Nationale Revolution“ beseitigte die ungeliebte Republik und jegliche Opposition. In schnellen Schritten entwickelte er eine totalitäre Führerdiktatur, beschleunigte die bisher geheime Wiederaufrüstung und sorgte, finanziert durch eine schleichende Staatsverschuldung, für eine beachtliche wirtschaftliche Erholung. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und eine wachsende Zahl von Rüstungsbauten sicherten einerseits die Zustimmung in der Bevölkerung und bei den nationalkonservativen Führungseliten; sie schufen andererseits die notwendigen Voraussetzungen für den künftigen Krieg.

Appeasement-Politik bahnt ihm den Weg

Mit geschickten und erfolgreichen außenpolitischen Manövern gelang es Hitler, die „Fesseln von Versailles“ schrittweise zu beseitigen. Die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands, die Wiedereingliederung des Saarlands und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht ermutigten ihn, seinen riskanten Expansionskurs voranzutreiben. Frankreich und Großbritannien setzten ihm keinen nachhaltigen Widerstand entgegen. Innenpolitisch und wirtschaftlich geschwächt, scheuten die Regierungen in Paris und London davor zurück, Hitler notfalls mit militärischen Mitteln in die Schranken zu weisen. Mit ihrer „Appeasement“-Politik hofften sie, den deutschen Diktator innerhalb des bestehenden internationalen Systems halten zu können. Seine aggressive antisowjetische Propaganda schien die Möglichkeit zu eröffnen, die deutschen Ambitionen gegen den Stalinismus zu lenken, der als die größere Bedrohung eingeschätzt wurde.

Hitler beschleunigt Kriegsvorbereitung

So nahmen die Westmächte selbst den „Anschluss“ Österreichs an das Reich hin und fanden sich 1938 bereit, in der von Hitler inszenierten Krise um die Zukunft der Sudetendeutschen mit dem Münchener Abkommen an der Zerschlagung der Tschechoslowakei mitzuwirken. Es war die Zeit der großen außenpolitischen Triumphe des Diktators, der sich ermutigt fühlte, die bereits überhitzte Rüstungskonjunktur in Deutschland weiter anzuheizen. Der militärischen Führungsspitze hatte Hitler befohlen, sich auf die baldige Auslösung von kriegerischen Aktionen einzustellen. Er wollte endlich „schlagen“. Bedenken und die Sorge vor einem Weltkrieg veranlassten Generalstabschef Ludwig Beck zum Rücktritt.

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Rede Hitlers vor der deutschen Presse am 10. November 1938

Aus: Jacobsen/Dollinger, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 1, S. 50.

 

Der Zwang war die Ursache, warum ich jahrelang nur vom Frieden redete. Es war nunmehr notwendig, das deutsche Volk psychologisch allmählich umzustellen und ihm langsam klarzumachen, dass es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen. Dazu war es aber notwendig, nicht etwa nun die Gewalt als solche zu propagieren, sondern es war notwendig, dem deutschen Volk bestimmte außenpolitische Vorgänge so zu beleuchten, dass die innere Stimme des Volkes selbst nach der Gewalt zu schreien begann […] Diese Arbeit hat Monate erfordert, sie wurde planmäßig begonnen, planmäßig fortgeführt, verstärkt. Viele haben sie nicht begriffen, meine Herren; viele waren der Meinung, das sei doch alles etwas übertrieben. Das sind jene überzüchteten Intellektuellen, die keine Ahnung haben, wie man ein Volk letzten Endes zu der Bereitschaft bringt, geradezustehen, auch wenn es zu blitzen und zu donnern beginnt.

Wehrmachtführung beugt sich

Die Opposition in der Heeresführung war in der Krise um das Münchener Abkommen bereit gewesen, im Falle einer Konfrontation mit den Westmächten den Staatsstreich zu wagen. Doch die Unterschriften von Chamberlain und Daladier entzogen ihren Bestrebungen die Grundlage. Außerdem sorgte Hitler in der Blomberg-Fritsch-Affäre für ein Revirement in der Wehrmachtführung und stärkte seine eigene Position als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht. Als Konkurrenz gegenüber der traditionellen Militärelite unterstützte er die Bestrebungen von Heinrich Himmler, seine SS nicht nur als potentielle Bürgerkriegstruppe, sondern als gleichsam vierter Wehrmachtteil zu einer Elitearmee auszubauen. An der Loyalität der Kriegsmarine brauchte Hitler nicht zu zweifeln, ebenso wenig an der nationalsozialistisch geprägten neuen Luftwaffe, deren Oberbefehlshaber Hermann Göring ihm bedingungslos ergeben war und der zum zweiten Mann im Staate aufrückte.

Erste territoriale Annexionen

Mit dem Münchener Abkommen hatten die Westmächte auf Hitlers Versprechen gesetzt, dass er keine weiteren territorialen Ansprüche verfolgen werde. Doch dieser dachte überhaupt nicht daran, seine expansive Politik zu mäßigen. Sofort nach der Besetzung des Sudetenlandes bereitete er Anfang 1939 die Zerschlagung der „Rest-Tschechoslowakei“ vor. Die Slowakei erklärte ihre Selbständigkeit und stellte sich unter den „Schutz“ des Reiches. Unter Kriegsdrohungen gelang es Hitler, die hilflose Tschechei und Prag ohne Widerstand zu besetzen. Litauen beeilte sich, das frühere deutsche Memelgebiet zurückzugeben. Mit der Forderung nach Rückgabe der ehemaligen deutschen Kolonien in Übersee setzte der Diktator Großbritannien unter Druck. Er hoffte darauf, dass ihm London als Alternative den Weg nach Osten freigeben würde.

Bemühen um ein antisowjetisches Bündnis mit Polen

Bereits 1934 war ihm der Überraschungscoup gelungen, mit Polen einen Nichtangriffsvertrag zu schließen. Der Nachbar im Osten hatte seit dem Ende des Ersten Weltkriegs als Bündnispartner der Siegermacht Frankreich die strategische Umklammerung des Reiches gewährleistet. Zwischen der Weimarer und der polnischen Republik herrschte ein Kalter Krieg. Die Deutschen erkannten den Verlust einiger Ostgebiete nicht an, und die Reichswehr paktierte sogar heimlich mit der verhassten Roten Armee, um im Kriegsfalle Polen in die Zange nehmen zu können. Hitler setzte dagegen auf eine andere Variante. Mit Polen unter dem greisen Marschall Pilsudski und seinen Nachfolgern verbanden ihn die antisowjetische Orientierung und ähnliche territoriale Ambitionen, vor allem gegenüber der Ukraine.

Krieg gegen die UdSSR 1939?

Im Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Armee das Russische Reich militärisch besiegt und den Polen die Wiedererrichtung ihres Staates versprochen. Nach der deutschen Niederlage 1918 im Westen hatten die Polen mit französischer Unterstützung ihre Großmachtambitionen verwirklichen und 1920 die Rote Armee schlagen können. Die Erfahrungen der Jahre 1917–1920 weckten in den dreißiger Jahren angesichts der Isolierung der UdSSR und der militärischen Schwächung des Landes durch Stalins „Säuberungen“ nicht nur bei Hitler die Vorstellung, dass sich bei einer weiteren Erschütterung des Riesenreiches die Möglichkeit eröffnen könnte, das Kernziel seines politischen Programms, den „Lebensraum“-Krieg im Osten, schon sehr früh zu verwirklichen.

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Stalins „Säuberungen“
bezeichnet eine Periode in der sowjetischen Geschichte, in der Stalin massenhaft tatsächliche oder vermeintliche Widersacher und Oppositionelle oder auch nur Unzuverlässige verhaften, durch Schauprozesse verurteilen und hinrichten oder in Zwangsarbeiterlager bringen ließ. Der Höhepunkt lag in der Zeit des „Großen Terrors“ 1936 bis 1938. Die Zahl der Opfer wird auf bis zu 20 Millionen geschätzt. Weil der Diktator glaubte, dass in der Führung der Roten Armee unter General Tuchatschewski, die einige Jahre zuvor noch eng mit der Reichswehr zusammengearbeitet hatte, eine Verschwörung gegen ihn geplant sei, veranstaltete er einen regelrechten Massenmord innerhalb des höheren Offizierskorps. Es wurden 3 von 5 Marschällen, 13 von 15 Armeekommandeuren, alle 16 Politkommissare der Armeen, 25 von 28 Korpskommissaren, alle 11 Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung und 98 von 108 Mitgliedern des Obersten Militärrats getötet.

Voraussetzung für einen Interventionskrieg war, ob passiv oder aktiv, die Mitwirkung Polens sowie ein Eingreifen Japans im Fernen Osten. 1934/35 schien auch eine Beteiligung Großbritanniens nicht völlig ausgeschlossen zu sein. Obwohl die militärischen Mittel des „Dritten Reiches“ zu diesem Zeitpunkt noch sehr begrenzt waren, konnten sie unter solchen Umständen genutzt werden, um sich einen Anteil am russischen „Kuchen“ zu sichern. Ein möglicher militärischer Konflikt mit der UdSSR gehörte jedenfalls seit diesem Zeitpunkt zum Repertoire der geheimen Kriegsplanungen und Studien in der Wehrmacht.

Mit dem Abschluss des Antikominternpaktes war es Hitler gelungen, sich zunächst mit Japan, dann auch mit dem faschistischen Italien auf eine antisowjetische Politik zu verständigen. Beide Großmächte spielten in Hitlers strategischem Konzept gleichzeitig eine wichtige Rolle, da sie die Westmächte im Mittelmeer bzw. in Asien in Schach halten sollten. Wenn die polnische Regierung auch zögerte, der Allianz förmlich beizutreten, weil sie fürchtete, angesichts konkurrierender Ansprüche auf eine Führungsrolle in Südosteuropa allzu sehr in deutsches Fahrwasser zu geraten, so beteiligte sie sich doch 1938 an der Besetzung von Teilen der Tschechoslowakei.

Bis Anfang 1939 glaubte man in Berlin und Rom, sich des „anti-russischen Schützengrabens“ Polen sicher sein zu können. Jetzt, wo die traditionellen „Rollbahnen“ als mögliche Vormarsch- und Nachschubstraßen durch das Baltikum und im Südosten in Richtung Ukraine frei wurden und man die deutschen Kontakte zur ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung ausbaute, bot Hitler den Polen die „Generalbereinigung“ aller bilateralen Probleme, insbesondere die Anerkennung der Grenzen, an. Er forderte allerdings den Wiederanschluss von Danzig, der deutschen Ostseemetropole, die seit dem Versailler Vertrag vom Reich abgetrennt unter der Aufsicht des Völkerbundes stand. Für den Verzicht polnischer Rechte auf Danziger Territorium bot Berlin die Karpato-Ukraine aus dem Bestand der Rest-Tschechoslowakei an.

Polen stellt sich gegen Hitler

In Warschau hatte sich der Wind jedoch gedreht. Dafür sorgten einerseits nationalistische Strömungen, die keinen Fußbreit „polnischen“ Bodens preisgeben wollten, und andererseits der britische und amerikanische Einfluss, der Polen ermutigte, den deutschen Verlockungen zu widerstehen. Die Westmächte hatten ihr Vertrauen gegenüber Hitlers Politik verloren und zeigten sich entschlossen, der Fortsetzung seiner Expansionspolitik mit allen Mitteln Widerstand zu leisten. In Warschau wiederum vertraute man darauf, mit Unterstützung der Westmächte Hitlers Forderungen notfalls auch mit militärischen Mitteln zurückweisen zu können. Im Vertrauen auf die Todfeindschaft zwischen Hitler und Stalin glaubte man sicher zu sein gegenüber der bisher größten Bedrohung aus dem Osten. Das sollte sich als fataler Irrtum erweisen.

Geheimverhandlungen mit Moskau

Als Hitler Mitte März 1939 das „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ errichtete und das Memelgebiet besetzte, antworteten Briten und Franzosen mit einer Garantie-Erklärung für Polen sowie mit dem Beginn von Geheimverhandlungen mit Moskau. Stalin erklärte freilich, er sei nicht bereit, für andere die „Kastanien aus dem Feuer“ zu holen, und eröffnete insgeheim parallele Verhandlungen mit der deutschen Seite. Hitler indessen kündigte das Flottenabkommen von 1935 mit Großbritannien, das ihm Beschränkungen für den Ausbau seiner Kriegsflotte auferlegte, sowie den Nichtangriffspakt mit Polen. Ungarn übernahm die Karpato-Ukraine und trat dem Antikominternpakt bei. Auch Rumänien suchte die Anlehnung an das Reich. Die Front gegenüber der Sowjetunion von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer war damit geschlossen.

Die Rolle Japans und Italiens

Während es Hitler gelang, am 23. Mai mit dem „Stahlpakt“ Italien durch ein Militärbündnis an sich zu binden, blieb Japan auf Abstand, da es befürchtete, in einen Krieg gegen die Westmächte hineingezogen zu werden. Die Japaner hatten in den letzten Jahren ihre Position in China ausgebaut und waren in der Inneren Mongolei bereits in Kämpfe gegen die Rote Armee verwickelt. Doch das frühere Konzept eines koordinierten Vorgehens gegen die UdSSR schien hinfällig geworden zu sein, weil Hitler gegen seinen bisherigen Partner Polen mobilisierte. Da Briten und Franzosen bereits in Moskau über ein Militärbündnis verhandelten, drohte sowohl die Isolation Japans im Fernen Osten als auch ein Krieg in Europa, dem Deutschland nach dem Stand seiner Vorbereitungen kaum gewachsen sein würde.

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Hitlers Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht für 1939/40 vom 3. April 1939, „Fall Weiß“

Quelle: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, D, VI, Nr. 149, S. 154.

 

Die gegenwärtige Haltung Polens erfordert es, über die bearbeitete ‚Grenzsicherung Ost‘ hinaus die militärischen Vorbereitungen zu treffen, um nötigenfalls jede Bedrohung von dieser Seite für alle Zukunft auszuschließen.

1.) Politische Voraussetzungen und Zielsetzung.

Das deutsche Verhältnis zu Polen bleibt weiterhin von dem Grundsatz bestimmt, Störungen zu vermeiden. Sollte Polen seine bisher auf dem gleichen Grundsatz beruhende Politik gegenüber Deutschland umstellen und eine das Reich bedrohende Haltung einnehmen, so kann ungeachtet des geltenden Vertrages eine endgültige Abrechnung erforderlich werden. Das Ziel ist dann, die polnische Wehrkraft zu zerschlagen und eine den Bedürfnissen der Landesverteidigung entsprechende Lage im Osten zu schaffen. Der Freistaat Danzig wird spätestens mit Beginn des Konfliktes als deutsches Reichsgebiet erklärt.

Die politische Führung sieht es als ihre Aufgabe an, Polen in diesem Fall womöglich zu isolieren, d.h. den Krieg auf Polen zu beschränken.

Eine zunehmend krisenhafte innere Entwicklung in Frankreich und eine daraus folgende Zurückhaltung Englands können eine derartige Lage in nicht zu ferner Zukunft entstehen lassen.

Kriegsplan gegen Polen

Hitler zeigte sich intern jedoch wild entschlossen, an Polen ein Exempel zu statuieren. Es gehe nicht um Danzig, erklärte er, sondern um „Lebensraum im Osten“. In einem geheimen Manöver wurde der Angriff gegen Polen durchgespielt, mit dem die Wehrmacht in kürzester Zeit in Warschau einmarschieren sollte, um sich dann nach Osten zu wenden. Noch rechnete man mit einem Eingreifen der Roten Armee. Der neuerrichtete Westwall müsste dann der Wehrmacht den Rücken freihalten, um nach dem Vorbild von 1920 die sowjetische Armee an der Weichsel schlagen zu können. Hitler war bereit, jedes Risiko einzugehen, ohne zu wissen, dass die britischfranzösisch-sowjetischen Militärverhandlungen in Moskau nicht vorankamen, weil Polen den Russen im Kriegsfall kein Durchmarschrecht einräumen wollte. Stalin musste also befürchten, dass er bei einem deutschen Angriff gegen Warschau die Hauptlast des Kampfes im Osten zu tragen hätte, während sich die Westmächte hinter ihrer Maginot-Linie in Sicherheit wiegen konnten. Die augenblickliche Schwäche der Roten Armee gab Veranlassung, die eigenen Interessen vorsichtig abzuwägen, zumal in der Mongolei die Schlacht gegen die Japaner noch nicht entschieden war.

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Japanisch-Sowjetischer Grenzkonflikt 1938/39
Seit Japan 1931 in der Mandschurei einen Satellitenstaat (Mandschukuo) errichtet hatte, strebten einflussreiche Kräfte in Tokio nach weiteren territorialen Expansionen in China und in Richtung der Mongolei. Bereits Anfang August 1938 war es zu einem kurzen militärischen Schlagabtausch in der Nähe von Wladiwostok gekommen (Schlacht am Chassan-See). Aus einem bewaffneten Zwischenfall an der Grenze zur Mongolei bei Nomohan im Mai 1939 entstand ein ernsthafter Konflikt, bei dem Stalin während einer Waffenruhe schließlich bis zum 22. August starke Kräfte versammelte, um die 6. Japanische Armee in einem Blitzfeldzug niederzuwerfen und zu vernichten. Beteiligt waren insgesamt rund hunderttausend Soldaten. Am 16. September 1939 verständigte man sich auf einen Waffenstillstand und berücksichtigte die bisherige Grenze.

Hitlers Pakt mit Stalin

Hitler erkannte die Chance, Polen zu isolieren und in einer Art von Polizeiaktion niederzuwerfen, um sich dann unter Umständen auch nach Westen wenden zu können. Die NS-Propaganda schürte die anti-polnische Stimmung mit dem Verweis auf tatsächliche oder vermeintliche Repressionen der Polen gegen die Volksdeutschen in den Grenzgebieten. Hitler versuchte die Welt mit einer gewaltigen Militärparade zu seinem 50. Geburtstag am 20. April 1939 zu beeindrucken und griff nach Stalins Angebot, die Verhandlungen über einen neuen Handelsvertrag um die Klärung der gemeinsamen Interessen auszuweiten. Mit einem Handels- und Kreditabkommen verpflichtete sich die UdSSR am 19. August 1939 zu erheblichen Rohstofflieferungen an das Reich. Vier Tage später unterzeichnete Außenminister Ribbentrop in Moskau einen Nichtangriffsvertrag. In einem geheimen Zusatzabkommen teilten Deutschland und Russland Osteuropa in „Einflusszonen“ auf, darunter auch Polen.

Es war die größte denkbare Überraschung, die das Schicksal Polens besiegelte und Hitler die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs ermöglichte. Die wohlwollende Neutralität der UdSSR sicherte alle notwendigen Rohstoffe, um eine Wirtschaftsblockade der Westmächte zu unterlaufen. Außerdem hoffte der Diktator, dass die Verkündung seiner Allianz mit Stalin Frankreich und Großbritannien davon abhalten würde, ihre Verpflichtungen gegenüber Polen zu erfüllen. Ob der Bluff funktionieren würde?

2. Der Angriff auf Polen

Eröffnung des Krieges mit einer Propagandalüge

Im Morgengrauen des 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht das Nachbarland Polen. Vermeintlich ging es um den Schutz der Volksdeutschen und die Beendigung der polnischen Übergriffe und Provokationen. Die SS hatte zuletzt einen angeblichen Überfall von Polen auf den deutschen Radiosender Gleiwitz inszeniert. Dahinter verbarg sich das Bemühen, die Entfesselung des Krieges als Akt der Notwehr zu tarnen und so die eigene Bevölkerung wie auch die Weltöffentlichkeit zu täuschen. Der Eindruck, dass es sich eigentlich nur um eine Art von Polizeiaktion handelte, sollte den Tabubruch, 20 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wieder einen Krieg in Europa zu beginnen, verdecken und den Westmächten einen Vorwand liefern, ihre Verpflichtungen zum Schutz Polens zu suspendieren.

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Hitler in seiner Reichstagsrede am 1. September 1939

Quelle: Reichstagsprotokolle 1939/42/I, S. 48

 

Ein Wort habe ich nie kennengelernt. Es heißt: Kapitulation […] Der Umwelt aber möchte ich versichern: ein November 1918 wird sich niemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen.

Hitler war es aber letztlich gleichgültig, ob man ihm den propagandistischen Vorwand glaubte oder nicht. Der Sieger, so hatte er am 22. August 1939 vor den Oberbefehlshabern ausgeführt, werde später nicht nach der Wahrheit gefragt. Die französische und die britische Regierung ließen sich nicht täuschen. Sie verkündeten die Mobilmachung und richteten ein Ultimatum an Berlin. Hitler glaubte fest daran, mit seinem Vabanquespiel wieder einmal davonkommen zu können. So traf ihn die angekündigte Kriegserklärung der Westmächte am 3. September mit voller Wucht.

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Paul Schmidt, Hitlers Chefdolmetscher, berichtet, wie er am 3. September 1939 in der Reichskanzlei die britische Kriegserklärung übersetzte

Aus: Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne 1923–45, S. 473f.

 

Als ich geendet hatte, herrschte völlige Stille […] Wie versteinert saß Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, wie es später behauptet wurde, er tobte auch nicht, wie es wieder andere wissen wollten. Er saß völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster stehen geblieben war. „Was nun?“, fragte Hitler seinen Außenminister mit einem wütenden Blick in den Augen, als wolle er zum Ausdruck bringen, dass ihn Ribbentrop über die Reaktion der Engländer falsch informiert habe. Ribbentrop erwiderte mit leiser Stimme: „Ich nehme an, dass die Franzosen uns in der nächsten Stunde ein gleichlautendes Ultimatum überreichen werden“ […] Göring dreht sich zu mir um und sagte: „Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann möge uns der Himmel gnädig sein!“

Unerwarteter Zweifrontenkrieg

Umso mehr kam es darauf an, die Kampfhandlungen auf polnischem Gebiet rasch zu beenden, jeden Widerstand rücksichtslos zu brechen und die Bildung einer Untergrundbewegung in Polen nach historischen Vorbildern zu verhindern. Dadurch wurde die Wehrmacht frei, um durch einen Aufmarsch an der Westgrenze die an sich kritische Zweifrontensituation zu entschärfen und vielleicht doch noch eine Verständigung mit den Westmächten zu erreichen. Es hatte ein europäischer Krieg begonnen, der sofort globale Konsequenzen zeigte (Kriegserklärung der britischen Dominions und Kolonien). Da aber die beiden Flügelmächte USA und UdSSR neutral blieben, gewann dieser Krieg militärisch noch keine weltweiten Dimensionen.

Wehrmacht ist zum Weltkrieg nicht gerüstet

Eine „Blitzkriegs-Armee“ war die Wehrmacht zu diesem Zeitpunkt nicht. Deutschland hatte 4,6 Millionen Mann mobilisiert. Von den 103 Divisionen des Feldheeres sicherte knapp die Hälfte (43 Infanteriedivisionen) die Westgrenze, gestützt auf den notdürftig vollendeten Westwall mit seinen Bunkerlinien, die vom Saargebiet bis zur Schweizer Grenze reichten. Für die Risikophase von etwa vier Wochen waren 55 Großverbände, darunter alle 4 Panzerdivisionen, im Osten gebunden. Die französische Armee hatte etwa gleich starke Kräfte mobilisiert (5 Millionen Mann mit 94 Divisionen), die in der Deckung der gigantischen Maginot-Linie aufmarschierten. Ihre Schlagkraft war nicht geringer als die deutsche, doch fehlte es in Paris an der Entschlossenheit, der Wehrmacht entgegenzutreten. Mit dem Eintreffen des britischen Expeditionskorps wurden weitere 400.000 Mann gegen die Deutschen in Stellung gebracht, ein Drittel der in Großbritannien 1939 mobilisierten Kräfte (1,3 Millionen Mann). Polen schickte ebenfalls 1,3 Millionen Mann ins Feld.

Die britische Stärke lag in der Flotte. Gegen ihre 15 Schlachtschiffe (plus 7 französische) konnte die deutsche Kriegsmarine unter der Führung des Großadmirals Erich Raeder lediglich 2 Schlachtschiffe einsetzen. Selbst auf dem Sektor der U-Boote bestand auf Seiten der Alliierten eine Überzahl. Diese hatten vor Görings Luftwaffe einen übertriebenen Respekt, was vom Zahlenverhältnis her aber nicht gerechtfertigt war (4093 Frontflugzeuge gegen 3195 auf britisch-französischer Seite). Angesichts der fieberhaften Rüstungsbemühungen der Westmächte, die von amerikanischer Seite unterstützt wurden, war in diesem Bereich zudem eine rasche Verbesserung zu erwarten.

Westmächte opfern Polen

Um ihre Kräfte für den zu erwartenden Zusammenstoß mit der Wehrmacht zu erhalten, entschlossen sich die Alliierten, entgegen ihrer Zusage an die Polen keinen massiven Angriff gegen den deutschen Westwall zu führen. Die tapfer kämpfende, technisch aber hoffnungslos veraltete polnische Armee wartete vergeblich auf die versprochene Entlastung aus dem Westen. Ihr Defensivkonzept einer linearen Rundumverteidigung erwies sich als illusionär. Nur wenigen Truppen gelang es, sich hinhaltend kämpfend auf das Zentrum, die Festung Warschau, durchzuschlagen. Hier wollte man sich behaupten, bis ein alliierter Angriff im Westen die Deutschen zum Abzug ihrer stärksten Verbände zwingen würde. Doch stattdessen fiel ab 17. September die Rote Armee den Polen in den Rücken.

Warschau kapitulierte nach mehr als zweiwöchiger Belagerung am 27. September, nachdem schwere Luftangriffe den Widerstandswillen der Verteidiger gebrochen hatten. Am 6. Oktober ergaben sich die letzten Truppenteile. Etwa 90.000 Mann konnten über Rumänien ausweichen und schlossen sich den französischen Streitkräften an. Sie bildeten den Kern einer neuen Armee, die von der polnischen Exilregierung unter General Władyslaw Sikorski in London aufgestellt wurde.

Die Roten Armee sichert Stalins Beute

Die in Ostpolen dislozierten Reservearmeen gerieten zumeist in sowjetische Gefangenschaft. Lange hatte Berlin Stalin zum Eingreifen gedrängt, um eigene Truppen für die Verlegung nach Westen freizubekommen. Als die Rote Armee mit dem Einmarsch in jene Gebiete begann, die Hitler Stalin als sowjetisches „Interessengebiet“ zugesichert hatte, tolerierten die Westmächte diesen Schritt, obwohl sie im März den Bestand Polens garantiert hatten. Sie wollten es nicht riskieren, durch eine Kriegserklärung an das verhasste Stalin-Regime ihre strategische Position noch weiter zu verschlechtern. Das „unnatürliche“ Bündnis zwischen Hitler und Stalin konnte nicht von langer Dauer sein.

Stalin zögerte nun nicht mehr, sondern wollte Schritt für Schritt auch andere Nachbarstaaten unterwerfen, die ihm Hitler ausgeliefert hatte. Unter massivem diplomatischem Druck zwang er die baltischen Republiken, der Einrichtung von sowjetischen Stützpunkten zuzustimmen. Dann wandte er sich gegen Finnland, das sich seinen Gebietsforderungen in Karelien verweigerte. Im finnisch-sowjetischen Winterkrieg erlitt die weit überlegene Rote Armee, die hier 1,2 Millionen Mann mit 3000 Panzern einsetzte, schwere Verluste gegen die rund 200.000 finnischen Soldaten. Nur mit Mühe konnte Moskau der finnischen Regierung unter Marschall Mannerheim am 13. März 1940 einen Annexionsfrieden aufzwingen. Finnland verlor 10 Prozent seines Territoriums und musste 400.000 Flüchtlinge aus Karelien aufnehmen.

Das Schicksal Polens blieb nicht lange unklar. Erneute Verhandlungen Ribbentrops in Moskau führten am 28. September 1939 zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag. In verschiedenen Zusatzprotokollen, Briefen und Erklärungen wurden weitere Gebietsfragen und politische Probleme geklärt. Die Diktatoren teilten Polen gleichmäßig untereinander auf.

Massenmord und sowjetisches Okkupationsregime

Das härteste Schicksal erlebten zunächst die Menschen im sowjetischen Besatzungsgebiet. Die Sowjetisierung wurde als Klassenkampf organisiert, dem die bürgerlichen Eliten, vorwiegend polnischer Nationalität, zum Opfer fielen. Weil auch Stalin keine offizielle Kriegserklärung ausgesprochen hatte, wurden die entwaffneten polnischen Soldaten als Verbrecher behandelt und in Straflager deportiert. Offiziere, Geistliche, Gutsherren und andere „Klassenfeinde“ ermordete der NKVD. Katyn wurde später zum symbolischen Ort für diesen Massenmord, den die sowjetische Propaganda 50 Jahre lang leugnete. Die Gräber waren bereits 1943 von den Deutschen entdeckt und für ihre Propaganda genutzt worden. Erst das Ende des Sowjetimperiums machte den Weg für die Wahrheit seit 1990 frei.

NS-Rassenpolitik und Annexion polnischer Gebiete

Im Zuge der territorialen Umgestaltung wurden die 1919 abgetrennten preußischen Gebietsteile dem Reich wieder einverleibt. Zusammen mit weiteren polnischen Westprovinzen bildeten sie die „eingegliederten Ostgebiete“. Den größten Zusammenschluss stellte der neue Gau Wartheland dar, der als Vorreiter für die geplante Germanisierung galt. Aus diesen annektierten Gebieten sollte die polnische Bevölkerung in verschiedenen Wellen zwangsweise vertrieben werden. Teile wurden „eingedeutscht“ und durch volksdeutsche Umsiedler verstärkt, die nach den Absprachen mit Stalin aus dessen Einflussbereich auswandern durften. Es war der Beginn einer planmäßigen Siedlungspolitik, für die das besetzte Polen zum Experimentierfeld wurde. Obwohl die Besatzungspolitik der Nationalsozialisten klaren ideologischen Vorgaben folgte, blieb sie stets widersprüchlich und wurde in den unterschiedlichen Territorien mit teils erheblichen internen Konflikten umgesetzt.

Zentralpolen wurde als „Beuteland“ betrachtet und als „Generalgouvernement“ dem Reich angegliedert. Die Regierung unter Hans Frank mit Sitz in Krakau übernahm die Aufgabe, die polnische Kultur und Nationalität zu verdrängen, die durch die Deportationen aus den annektierten Gebieten rasch wachsende Bevölkerung auf einem unteren Lebensstandard zu halten und als Sklavenarbeiter dem Reich zur Verfügung zu stellen. Gleich nach Kriegsbeginn hatte die SS begonnen, polnische Führungskräfte und Aktivisten zu ermorden sowie unsystematische Pogrome und Massentötungen an der jüdischen Bevölkerung durchzuführen. Solange es eine starke Militärverwaltung im Lande gab, kam es wiederholt zu Protesten von Befehlshabern und Soldaten. Die Heeresführung ließ sich aber von Hitler abweisen und hielt sich auffällig zurück.

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Generaloberst Johannes Blaskowitz, Oberbefehlshaber Ost, in einer Denkschrift zur militärpolitischen Lage vom 6. Februar 1940

Aus: Klemp, Freispruch für das „Mord-Bataillon“, S. 120.

 

Der schlimmste Schaden jedoch, der dem deutschen Volkskörper aus den augenblicklichen Zuständen erwachsen wird, ist die maßlose Verrohung und sittliche Verkommenheit, die sich in kürzester Zeit unter wertvollem deutschen Menschenmaterial wie eine Seuche ausbreiten wird. Wenn hohe Amtspersonen der SS und Polizei Gewalttaten verlangen und sie in der Öffentlichkeit belobigen, dann regiert in kürzester Zeit nur noch der Gewalttätige. Überraschend schnell finden sich Gleichgesinnte und charakterlich Angekränkelte zusammen, um, wie es in Polen der Fall ist, ihre tierischen und pathologischen Instinkte auszutoben. Es besteht kaum noch Möglichkeit, sie im Zaum zu halten, denn sie müssen sich mit Recht von Amtswegen autorisiert und zu jeder Grausamkeit berechtigt fühlen.

Stalin unterstützt Hitlers Kriegführung

Für die deutsche Kriegführung wurde Polen zu einer wichtigen Drehscheibe, zunächst als Rückendeckung für den Aufmarsch gegen Frankreich, dann ein Jahr später gegen die UdSSR. Im Winter 1939/40 trafen die ersten sowjetischen Hilfslieferungen ein. Stalin war bereit, mit großen Mengen an Getreide, Mineralöl und anderen kriegswichtigen Rohstoffen die deutsche Kriegführung zu unterstützen. Großzügige Kredite wurden im Rahmen eines neuen Handelsvertrags gewährt, der Deutschland im Gegenzug dazu verpflichtete, durch die Lieferung modernster Rüstungstechnologie und Anlagen die sowjetische Aufrüstung zu fördern. So intensivierte die UdSSR die Partnerschaft mit dem Reich, obwohl sie offiziell neutral blieb.

3. Die Ausweitung des Krieges

Kriegspläne der Westmächte

Die Westmächte richteten sich derweil auf den deutschen Angriff ein. Sie vertrauten auf den Schutz der Maginot-Linie und wollten an der Peripherie aktiv werden. So trafen sie Vorbereitungen, ein Hilfskorps für die Finnen notfalls auch ohne Zustimmung der betroffenen Regierungen in Norwegen landen und durch Nordschweden marschieren zu lassen. Damit wäre zugleich Hitler von dieser lebenswichtigen Rohstoffregion abgeschnitten und der Blockadering enger gezogen. Parallel dazu wurden auch Luftangriffe auf die Ölquellen des Kaukasus erwogen, um eine Offensive der Wehrmacht mit sowjetischem Treibstoff zu erschweren.

Wie in Paris verschärften sich auch in London die internen Gegensätze. Churchill forderte als Erster Lord der Admiralität mehr Kompetenzen und eine aktivere Kriegführung gegen Deutschland. Sein Plan, vor Narvik Minensperren zu legen und damit die deutschen Frachter zu treffen, die über den eisfreien Hafen im Winter schwedisches Eisenerz abholten, fand Zustimmung. In Berlin beobachtete die Marineführung die Entwicklung mit Besorgnis. Sie war selbst daran interessiert, ihre Operationsbasis nach Norden auszudehnen und damit die Nord- und Ostsee besser kontrollieren zu können. Nordeuropa zählte in den Planungen für eine deutsche „Großraumwirtschaft“ ohnehin zu den unverzichtbaren Positionen, so wie auch Hitlers Visionen eines „Großgermanischen Reiches“ wie selbstverständlich die „wertvollen“ nordgermanischen „Blutsquellen“ umfassten.

Ausgreifen nach Norwegen

Hitler setzte General Nikolaus v. Falkenhorst ein, um mit einem Sonderstab ein mögliches Eingreifen vorzubereiten. Das Unternehmen erhielt den Decknamen „Weserübung“. Die schwierigen geographischen und klimatischen Verhältnisse erzwangen eine sorgfältige Planung. Die Hauptkräfte stellte die Kriegsmarine, die alle verfügbaren Einheiten einzusetzen bereit war. Heer und Luftwaffe blieben auf die bevorstehende Offensive gegen Westeuropa konzentriert. Am 7. April begann der deutsche Flottenaufmarsch, der ein hohes Risiko barg. Der von der Sowjetunion begrüßte Coup gelang im ersten Teil. Mit Beginn der Landungen am 9. April in Norwegen und angesichts drohender Luftangriffe beschloss die dänische Regierung, keinen Widerstand zu leisten. Die Besetzung des Landes und die Demobilisierung seiner Armee vollzogen sich ohne Reibungen. Hitler entsandte einen „Reichsbevollmächtigen“ nach Kopenhagen, der von einem Wehrmachtbefehlshaber unterstützt dafür sorgte, dass sich Dänemark in den deutschen Machtbereich einfügte und seine Ressourcen dem Reich zur Verfügung stellte.

Auf eine ähnliche Entwicklung hoffte man in Berlin auch im Hinblick auf Norwegen. Doch Regierung, Parlament und König zogen sich ins Landesinnere zurück und organisierten den militärischen Widerstand. Die Briten besetzten unterdessen die dänischen Färöer-Inseln, später auch Island, gewannen so eine bessere Kontrolle des Nordatlantiks, verpassten aber mit ihrer Homefleet den deutschen Hauptverband. Sie landeten ihrerseits Truppen in der Nähe von Drontheim, in Namsos und Andalsnes. Die Deutschen stießen auf schnell wachsende Schwierigkeiten. Der Vormarsch im Landesinneren verlangsamte sich, und die Kriegsmarine erlitt in Seegefechten schwere Verluste. Sie verlor vor Narvik fast alle ihre Zerstörer (10 von 14), außerdem sanken 3 Kreuzer und 9 Transportschiffe.

Drohende deutsche Niederlage in Narwik