Christian J. Meier
Wie winzige Technik unser Leben verändert
2. Auflage
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2., aktualisierte Auflage 2015
© 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
1. Auflage 2014
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Lektorat: Beatrix Föllner, Nettetal
Satz: TypoGraphik Anette Klinge, Gelnhausen
Einbandabbildung: fotolia.com; © koya979, © satori, © Lonely, © Sebastian Kaulitzki
Einbandgestaltung: Christian Hahn, Frankfurt a. M.
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-3186-1
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3187-8
eBook (epub): 978-3-8062-3188-5
Für Simone
Vorwort
Teil I
Wie das Kleine neuen Nutzen und gleichzeitig Riskantes schafft
Kapitel 1
Einzelne Moleküle als Baumaterial: Was ist Nanotechnologie?
Kapitel 2
Sonnencremes, Abwassersanierung und Krebstherapie: Was können die derzeitigen Nanotechnologien?
Kapitel 3
Fahrstuhl zu den Sternen und der Supercomputer im Smartphone: Welche Chancen bieten künftige Generationen der Nanotechnologien?
Kapitel 4
Asbest-ähnliche Nanofasern und ins Gehirn eindringende Nanopartikel: Welche Risiken bergen heutige Nanotechnologien?
Kapitel 5
Alles fressende künstliche Bakterien und Roboter mit überlegenen Gehirnen: Welche Gefahren könnten künftige Generationen der Nanotechnologien bringen?
Teil II
Die Vernebelung der Nanowelt: Wie Unternehmen, Forscher, Medien, Umweltschützer und Politiker die Öffentlichkeit in Sachen »Nano« für dumm verkaufen
Kapitel 6
Die Billionisierer: Das (gezinkte) Gewicht der Nanotechnologien in Forschungslabors, Industriehallen und Behörden
Kapitel 7
Missbrauchte Gütesiegel und unterschlagene Nanopartikel: Unseriöse Nanotechnologie-Kommunikation von Unternehmen
Kapitel 8
Herbeiexperimentierte Giftigkeit: Wie Forscher sich in der Nanorisikoforschung profilieren
Kapitel 9
Die Jagd nach der drastischen Schlagzeile: Wie Redakteure »Nano« mal zum Schimpfwort runter- und mal zur Wundertechnik raufschreiben
Kapitel 10
Mobbing einer Zukunftstechnik: Wie Umweltschützer aus den Nanotechnologien ein Feindbild à la Gentechnologie konstruieren
Kapitel 11
Ignoranz auf höchster Ebene: Wie Politiker den Nanonebel wabern lassen
Schlusswort
Der gelichtete Nebel oder warum eine ehrliche Debatte über Nanotechnologien so wichtig ist und wie Sie daran teilnehmen können
Anmerkungen
Register
»Früher haben wir mit ›nano‹ geworben«, sagte Stefan Bill vom hessischen Schmierstoffhersteller Rewitec auf einer Nanotechnologie-Tagung in Berlin Ende 2012. Doch dann habe das Unternehmen einen Großauftrag verloren, weil der potenzielle Kunde erfahren habe, dass das Schmiermittel Nanopartikel enthält. Dabei bringen gerade die Nanopartikel einen entscheidenden Vorteil: Sie glätten die aneinander reibenden Flächen, etwa in den Lagern von Windkraftrotoren, verringern somit den Verschleiß und verlängern die Lebensdauer.
Eine ähnliche Geschichte erzählte Verena Holzapfel1 vom Centrum für Angewandte Nanotechnologie (CAN) in Hamburg auf der gleichen Tagung. Das Unternehmen entwickelt unter anderem Nanopartikel für die Kosmetikindustrie, die z.B. eine antibakterielle Wirkung haben. Im Vorfeld einer neuen Kosmetikverordnung der EU geriet CAN in eine Zwickmühle. Das Gesetz, 2013 in Kraft getreten, verlangt von den Herstellern eine entsprechende Kennzeichnung auf der Packung, wenn ein Inhaltsstoff in Form von Nanopartikeln vorliegt. »Kosmetik-Hersteller wollen aber nicht, dass – ›Nano‹ auf der Packung steht«, sagte Holzapfel. Daher verlangten die Hersteller von CAN, die Zusatzpartikel größer herzustellen, mit einem Durchmesser von mehr als 100 Nanometern, ab dem Partikel laut der Verordnung nicht mehr als Nanopartikel gelten. Zwar muss dann nicht »Nano« auf der Packung stehen. Doch es geht auch die Wirksamkeit der Partikel z.B. als antibakterieller Stoff oder UV-Schutz weitgehend verloren.
Die Beispiele zeigen: Unternehmen verzichten lieber auf nanotechnologische Funktionen, als sich als Nutzer der Nanotechnologien zu outen. Wie konnte es im High-Tech-Land Deutschland zu einer solchen Ablehnung von Technologien kommen? »Die Medien sind schuld«, hört man es aus Unternehmerkreisen oft. Mit alarmistischen Berichten über Kohlenstoff-Nanoröhrchen, die ähnlich wirken wie Asbest, oder über Nanopartikel, die angeblich die Lungen chinesischer Lackiererinnen geschädigt haben, hätten sie eine Angst vor »Nano« in den Köpfen der Menschen erzeugt, die Vorsilbe »Nano«, die eigentlich nicht mehr bedeutet als »winzig klein«, zu einer Art Unwort gemacht.
Doch die Medienschelte greift viel zu kurz. Der Befund ist krasser: Die Versuche aller Beteiligten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Verbraucherschützer und Medien, der Öffentlichkeit zu erklären, was Nanotechnologien sind, alle »Nano-Dialoge«, »Nano-Ausstellungen«, der »Nano-Truck«, Pressemitteilungen, Vorträge, Werbung, Produktbeschreibungen etc. pp, sind bislang weitgehend gescheitert. Sie haben es nicht geschafft, zu vermitteln, dass »Nano« nicht gleich »Nano« ist, dass Nanopartikel eben nicht in Sippenhaft genommen werden können, nur weil eine von schier unendlich vielen Nanopartikel-Arten im Tierversuch eine asbestähnliche Wirkung, oder eine andere Entzündungen in den Lungen von Versuchsratten gezeigt hat. Sie haben es nicht geschafft zu vermitteln, dass Nanotechnologien mehr bedeuten als in Cremes oder Lacke gemischte Nanopartikel, dass eben auch viel komplexere Strukturen mit Nanometer-Genauigkeit gefertigt werden, zum Beispiel winzige Schalter auf modernen Computerchips, Leuchtdioden, Reaktorkämmerchen, die im Körper Antibiotika herstellen, Nano-Frachtcontainer mit einer Art biologischem Zahlenschloss, die Anti-Krebsmittel nur an Krebszellen abgeben und somit Nebenwirkungen des Mittels minimieren.
Umfragen belegen, dass der Mann auf der Straße herzlich wenig von all dem weiß. »Nano«, das ist etwas, das er jedenfalls nicht auf seinen Körper schmieren oder in Lebensmitteln haben möchte. Als eine große technologische Chance, die Elektronik noch leistungsfähiger, Medizin präventiver und nebenwirkungsärmer oder Konsum ökologisch verträglicher machen kann, nimmt er die Nanotechnologie offenbar nicht wahr. Obwohl es nanotechnologische Produkte, die solche Leistungen, zumindest ansatzweise erbringen, schon gibt.
Die Kommunikation über Nanotechnologien funktioniert also nicht. Der wichtigste Grund dafür: Die verschiedenen Interessengruppen haben »Nano« jahrelang lediglich als Werbe-Label benutzt: Firmen, um damit einen technologischen Vorsprung zu suggerieren, Forscher, um bei Geldgebern Fördermittel locker zu machen und bei Redakteuren von Fachzeitschriften Aufmerksamkeit zu erregen. Bei Verbraucher- und Umweltschützern wiederum dient »Nano« als ein kampagnentaugliches Warnlabel – also ebenfalls als Werbe-Silben für die eigene Sache. Die Medien spielen in dem Zirkus eine eher passive Rolle. Sie geben meist unkommentiert wieder, was Wissenschaftler und Wirtschaftsleute ihnen über Nanotechnologie erzählen. Es resultiert ein eher langweiliger Verlautbarungsjournalismus, der vor allem den Werbezwecken der O-Ton-Geber dient.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Otto Normalverbraucher sich nicht angesprochen fühlt – er ist es auch nicht. Er nimmt Nanotechnologien nicht als etwas für ihn Wichtiges wahr, nicht als etwas, das für die Gesellschaft als Ganzes relevant ist. Auch für die Politik bleiben Nanotechnologien somit ein Randthema, denn es bringt weder Wählerstimmen noch kostet es welche, wenn man sich mit dem Thema auseinandersetzt.
Aus dem Gesagten beantwortet sich die Frage »Warum dieses Buch?« fast von selbst. Es herrscht ein Mangel an neutraler Information über Nanotechnologien, die der gezielten Desinformation von interessierten Seiten ein Gegengewicht zur Seite stellt. Ich will dazu beitragen, dieses Manko zu beheben. Daher will dieses Buch in zwei Teilen über zweierlei aufklären: erstens über Chancen und mögliche Risiken heutiger und künftiger Nanotechnologien und zweitens über die Art und Weise wie die verschiedenen Spieler der Nanotechnologieszene das Volk für dumm verkaufen und warum sie das tun.
Ziel ist es, zum Anstoßen einer gesellschaftlichen Debatte über Nanotechnologien beizutragen. Die ist nötig, da Nanotechnologien sowohl große Chancen als auch potenziell große Risiken bergen. Die zu diskutierenden Fragen sind vielfältig, denn »Nano« ist weder ein pauschaler Warnhinweis, noch ist es ein Symbol für eine Wundertechnik. Die Realität ist komplexer und ein High-Tech-Land kann es sich nicht leisten, tatenlos den Grabenkämpfen zwischen den Schwarz-Weiß-Malern zuzuschauen.
Für welche Anwendungen der Nanotechnologien akzeptieren wir die damit verbundenen potenziellen oder bekannten Risiken und für welche nicht? Brauchen wir Teddybären, die mit antibakteriell wirkendem Nanosilber beschichtet sind, brauchen wir Nanosilber-haltige Wandfarben, obwohl trockene Wände kaum Bakterien beherbergen, wenn es gleichzeitig Hinweise dafür gibt, dass Nanosilber umweltschädlich ist? Die meisten Menschen würden das verneinen. Aber die Frage, ob ein dank Nanotechnologien fast nebenwirkungsfreies Krebsmedikament sinnvoll ist, würden die meisten Menschen als eher rhetorisch einstufen. Im Fall der Nanotechnologien gibt es kein schwarzweiß. Manche nanotechnologische Anwendungen haben einen eher marginalen Nutzen, der einem großen potenziellen Schaden gegenüber steht. Bei anderen ist der Nutzen so groß, dass eine möglicherweise schädliche Wirkung in Kauf genommen wird. Eine differenzierte Debatte ist wichtig.
Machen wir uns also auf zu einer faszinierenden Reise durch die Möglichkeiten und Gefahren eines Technologiefeldes, das oft als »Technologie des 21. Jahrhunderts« bezeichnet wird. Viel Spaß beim Lesen wünscht
Christian J. Meier
Darmstadt, im Juli 2013
In den Warenregalen sind Nanotechnologien längst angekommen: Sonnencremes mit Nanopartikeln als UV-Schutz, gegen Schweißgeruch eingesetzte Silbernanopartikel in Textilien, wenige Nanometer kleine elektronische Schaltelemente in Computerchips, oder dank extrem feiner Rauigkeit selbstreinigende Oberflächen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Doch die Nanotechnologien sollen nicht nur existierende Waren verbessern, sondern ganz neue Möglichkeiten in Medizin, Energiegewinnung und vielen anderen Technik-Bereichen bringen. Mancher kühne Visionär traut den Nanotechnologien gar die Überwindung von Krankheit und Tod zu, oder eine »Verbesserung« des Menschen hin zu einer Art Natur-Technik-Mischwesen mit verbesserter Wahrnehmung und Denkfähigkeit.
Während die Risiken heutiger Nanotechnologien vor allem in der Giftigkeit von nanotechnologischen Werkstoffen gesehen werden, könnten künftige Generationen der Nanotechnologien die Debatten um medizinische Ethik und Datenschutz anheizen, militärische Rüstungsabkommen gefährden oder am Ende gar die Frage aufwerfen, worin das Menschsein besteht und wie weit man es technisch manipulieren sollte.
Im ersten Teil des Buches werden Sie erfahren, was Nanotechnologien sind, was sie heute, in naher, sowie in fernerer Zukunft können und können werden, und worin konkrete sowie mögliche Risiken von Nanotechnologien bestehen, in Gegenwart sowie in Zukunft.
Was haben ein Schlagbohrer, ein Kochtopf und ein Gartenzwerg gemeinsam? Praktisch nichts, außer dass sie etwa 20 bis 40 Zentimeter groß sind. Niemand würde deswegen auf die Idee kommen, die drei Gegenstände – und alle anderen künstlichen Objekte dieser Größe – unter der Überschrift »Zentimetertechnologie« zusammenzufassen. Eine ähnliche Verrücktheit gibt es dennoch, allerdings in viel kleinerem Maßstab: Sie nennt sich Nanotechnologie. Dieser Begriff umfasst einen ganzen Strauß von Herstellungs- und Messverfahren, neuartigen Materialien und Konsumprodukten, die nur eines gemeinsam haben: Sie kratzen an den Grenzen der Miniaturisierung. Dieses Extrem macht das Längenmaß Nanometer so besonders, dass es als Namensgeber für ein zukunftsträchtiges Technologiefeld dient. Aber was genau hat das Kleine, dass es noch nicht da Gewesenes und womöglich Gefährliches schafft?
Den ersten Nanotechnologen gab es lange, bevor unsere Urahnen durch afrikanische Savannen streiften: die Evolution. Sie schuf Effekte, die auf der Kleinheit der Bausteine von Organen oder Pflanzenteilen beruhen. Mithilfe ultradünner Fasern, winziger Partikel oder Schäufelchen fand die Natur Antworten auf äußerst knifflige Fragen. Nur drei Beispiele: Wie kann ein stabiles und dichtes Gewebe wie die Augenhornhaut transparent sein? Wie schafft es ein Tausendstel Millimeter dünner Spinnenfaden ein schnelles Insekt zu bremsen ohne zu reißen? Oder wie kriegen Geckos es hin, an der Decke zu laufen?
Es lohnt sich, zu betrachten wie die Natur diese harten Nüsse geknackt hat. Denn das erleichtert es, zu verstehen, was Nanotechnologie ist. Also los.
Harte Nuss Nummer eins: die Transparenz der Augenhornhaut. Das Fenster zur Welt hält seine stabile Form dank so genannter Kollagenfibrillen. Diese superdünnen Proteinfasern sind sehr zugfest und somit ein wichtiger Teil des Halte- und Stützapparates des Körpers, sie tragen wesentlich zur Festigkeit von Knochen, Sehnen, Bändern oder der Haut bei. Sie halten auch die Augenhornhaut in der Form einer Linse und ermöglichen die Abbildung der Außenwelt auf die Netzhaut.
Anders als Haut oder Knochen ist die Augenhornhaut aber nicht nur stabil, sondern auch transparent. Hier kommt nun die extreme Kleinheit ins Spiel. Der Abstand zwischen den Kollagenfasern ist sehr klein – kaum größer als 50 Nanometer (siehe Kasten 1, S. 35–39). Mit dieser winzigen Struktur überlistet die Natur ein physikalisches Phänomen namens Beugung. Man kann sich dies so vorstellen: Wenn ein anderer Mensch hinter einem dicken Baumstamm steht, kann man ihn zwar nicht sehen, aber reden hören. Das liegt daran, dass Wellen nur dann um Hindernisse herumlaufen, wenn sie länger sind als deren Abmessungen. Lichtwellen haben 400 bis 700 Nanometer Wellenlänge, können also nicht um den meterdicken Stamm herumlaufen. Schallwellen hingegen haben eine Wellenlänge von mehreren Metern, für sie ist der Baum kein Hindernis.
Die Lichtwellen sind aber deutlich länger als die Abstände der Kollagenfasern in der Augenhornhaut. Sie durchdringen die stabile Hornhaut deswegen ungehindert.
Überschreitet der Abstand eine Grenze, verliert die Augenhornhaut ihre Transparenz. Es gibt Krankheiten, bei denen die Augenhornhaut durch eindringendes Wasser aufquillt. Dadurch vergrößern sich die Abstände der Kollagenfasern voneinander und das Licht wird abgelenkt. Das äußert sich in einer Trübung der Hornhaut, da nur noch ein Teil des Lichtes durchkommt. Die Nanometer zählen also.
Harte Nuss Nummer zwei: die Spinnenseide, ein nur wenige Tausendstel Millimeter dünner Faden, der sich extrem ausdehnen kann und gleichzeitig fünfmal so fest ist wie Stahl. Zwei eigentlich gegensätzliche Materialeigenschaften verschmelzen in der Spinnenseide in einem Material. Die Kombination aus Dehnbarkeit und Reißfestigkeit erlaubt es der Naturfaser, viel Energie aufzunehmen, bevor sie reißt, also etwa den schnellen Flug eines fliegenden Insekts zu bremsen.
In Wirklichkeit liegen eine dehnbare und eine feste Komponente getrennt voneinander in der Spinnenseide vor. Der Seidenfaden ist mit einem Hefeteig vergleichbar, in dem Zuckerwürfel eingebettet sind. Die dehnbare Komponente (der Hefeteig) besteht aus einem Knäuel fadenförmiger Proteine. Fliegt ein Insekt in das Netz, strecken sich diese Proteinfäden, wodurch der gesamte Seidenfaden sich verlängert. Sind die Fäden ausgestreckt, verhindert die feste Komponente das Reißen der Spinnenseide, da sie chemisch mit der weichen Komponente verbunden ist. Der feste Anteil hat eine stärker geordnete Struktur als die dehnbare Komponente: Er besteht aus Proteinfäden, die sich mäanderförmig schlängeln, und so Plättchen bilden. Auf diese Weise begegnet sich der Faden sehr oft selbst, sodass sich die Kräfte zwischen den vielen sich nahekommenden Atomen, aus denen er besteht, zu einer hohen Festigkeit summieren. Viele der Plättchen versammeln sich in der Spinnenseide zu einem etwa 100 Nanometer großen Stapel, den »Zuckerwürfeln«. Ein einzelnes Plättchen hat nur etwa zehn Nanometer Durchmesser. Dass die Plättchen nicht größer sind, hat einen Zweck. Denken Sie an ein Brett mit einer Dicke von einem Zentimeter und einer Breite von zehn Zentimetern und zwanzig Zentimetern Länge. Das lässt sich wesentlich schwerer brechen als ein zwei Meter langes Brett der gleichen Breite und Dicke. Letzteres ist deutlich spröder. Hätten die Protein-Plättchen in der Spinnenseide einen deutlich größeren Durchmesser, sagen wir fünfzig Nanometer, würde das die harte Komponente schwächen und sie spröde werden lassen.
Auch am Beispiel der Spinnenseide sehen wir, dass es auf die Größe ankommt. Diesmal wirkt sich die Größe auf die mechanischen Eigenschaften eines Materials aus, indem es ihm die Sprödigkeit nimmt. Und ein zweiter für Nanotechnologie wichtiger Aspekt wird an der Spinnenseide sichtbar. Weil die »Zuckerwürfel«, also die Bereiche aus den festen Protein-Blättern, nur rund 100 Nanometer groß sind, sind sehr, sehr viele von ihnen sehr fein in der Seide verteilt. Obwohl sie nur etwa 30 Prozent der Masse des Spinnenfadens ausmachen, sind sie durch diese feine Verteilung überall im Faden präsent. Dies ermöglicht, dass die feste und die dehnbare Komponente zu einem Material verschmelzen, das somit auf scheinbar wundersame Weise gegensätzliche Eigenschaften in sich vereint.
Die letzte harte Nuss sind die Füße des Geckos. Manche Arten dieser Reptilienfamilie können kopfüber an der Decke laufen. Wie schaffen sie das? Was die Tiere dazu brauchen ist eine Art Kleber, der bombenfest haftet, sich aber federleicht wieder lösen lässt, da der Gecko ansonsten mit jedem seiner Beinchen nur einen Schritt machen könnte. Wie schon bei der Augenhornhaut und bei der Spinnenseide sollen also hier zwei sich scheinbar ausschließende Eigenschaften miteinander verbunden werden. Und wie schon bei den vorigen Beispielen, zeigt die Lösung, dass es auf die Größe ankommt.
Abbildung 1: Die winzigen Schäufelchen, Spatulae genannt, an den Füßen eines Geckos unter dem Elektronenmikroskop. Der eingefügte Maßstab beträgt 200 Nanometer. Quelle: Stanislav Gorb, Zoologisches Institut, Universität Kiel.
Der Gecko besitzt an seinen Füßchen rund zehn Milliarden Fasern, die sich an ihren Spitzen in extrem feine Härchen aufspalten, von denen jedes einen Durchmesser von 200 Nanometern hat. An ihrer Spitze haben die Härchen eine Verdickung, die an einen Spatel erinnert. Sie haben daher den Fachausdruck Spatulae erhalten (Abb. 1).
Die Spatulae setzen sich beim Laufen auf die Unterlage, etwa Glas. Die Atome an der Spitze jedes einzelnen Härchens und die in der Unterlage ziehen sich durch so genannte van-der-Waals-Kräfte an. Diese Kräfte sind sehr schwach, da sie aber durch die schiere Vielzahl der Spatulae milliardenfach multipliziert werden, reichen sie in der Summe locker aus, um den Geckokörper zu tragen. Der Gecko kann die Verbindung wieder lösen, indem er seine Zehen aufrollt, wodurch sich der Winkel zwischen den spatelförmigen Spitzen der Härchen und der Unterlage ändert und die van-der-Waals-Bindung sich löst.
Was haben die drei geschilderten Naturlösungen gemeinsam? Eigentlich nur die Größe von Bauteilen im Bereich von Nanometern. Und dieser kleinste gemeinsame Nenner – die Größe – zeigt sich auch noch in unterschiedlichen Gestalten: einmal als ein Abstand (von Kollagenfasern), das andere Mal als ein Durchmesser (der aus Proteinfäden gewebten Plättchen) und beim Dritten als die Größe einer winzigen Struktur (der Spatulae).
Aber es sind nicht die Nanometer allein, die zählen. Es kann auch darauf ankommen, wie die Einzelteile angeordnet sind. Die Kollagenfasern in der Augenhornhaut liegen parallel zueinander, wie ein Stapel gefällter Baumstämme. Würden sie wie Spaghetti durcheinanderliegen, wäre sie nicht transparent. In der Nanotechnologie würde man so etwas als »Nanostruktur« bezeichnen, als ein nanometer-genaues Arrangement höchst filigraner Bauteile.
Auch die feine Verteilung der »Zuckerwürfel« in der Spinnenseide, wodurch der weiche Faden zugleich Härte erhält, stellt ein in der Nanotechnologie genutztes Prinzip dar. Wenn Nanotechnologen winzig kleine Teilchen in ein Material, z.B. einen Kunststoff, mischen, dann sprechen sie von einem »Nanokomposit«.
In der Evolution ist »Nano« also nichts Neues: Die Natur nutzt Effekte, die sich aus der Winzigkeit der Bausteine von Organismen ergeben. Aber auch der Mensch gebraucht seit Jahrhunderten den Umstand, dass Kleinheit oft einen Unterschied macht – wenn auch für lange Zeit unbewusst.
Diese, sagen wir, »unbewusste Nanotechnologie« lehrte schon im Mittelalter Kreuzrittern das Fürchten. Die Schwerter ihrer muslimischen Gegner waren schärfer und brachen äußerst selten. Den Damaszener Schwertern fehlte trotz enormer Härte die Sprödigkeit. Sie konnten sich um 90 ° biegen, ohne zu brechen. Ein Grund für die damals unerreichten Eigenschaften der orientalischen Säbel sind so genannte Kohlenstoff-Nanoröhrchen, die Forscher der TU Dresden mit Hilfe eines Elektronenmikroskops in einer der Stahlklingen fanden. Diese nur wenige Nanometer durchmessenden Röhrchen, deren Wand aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoffatomen besteht, haben 30 mal mehr Zugfestigkeit – ein Maß für die Kraft, die nötig ist, um ein Material auseinanderzureißen – als Stahl der gleichen Dicke, obwohl sie wesentlich leichter sind als dieser. Sie werden heute bewusst Kunststoffen beigemischt, um diese stabiler zu machen. Die Damaszener Schmiede waren sich der für sie unsichtbaren Nanoröhrchen freilich nicht bewusst – sie haben wohl durch Probieren verschiedener Rezepte und Verfahren die beispiellose Härte der Waffen erreicht.
Ihr Rezept ist im 18. Jahrhundert verlorengegangen, Wissenschaftler vermuten aber, dass sie eine komplexe Abfolge von Schmieden bei bestimmten Temperaturen und zwischenzeitlicher Abkühlung eingehalten haben und dem Stahl außerdem Holz und Blätter, beides kohlenstoffhaltig, und Metalle wie Vanadium beigemischt haben. Dabei entstand nicht nur die charakteristische Struktur aus hauchdünnen Schichten, auch die Nanoröhrchen bildeten sich durch die beigemischten Stoffe.
Noch früher als die Damaszener Schwerter wurden Nanopartikel aus Gold und Silber genutzt. So färbten bereits die Römer Glas mit Hilfe von rund 70 Nanometer durchmessenden Gold-Nanopartikeln rubinrot. Auch die leuchtend rote Farbe in vielen mittelalterlichen Kirchenfenstern rührt von Nanopartikeln aus Gold her. Freilich hatten die damaligen Handwerker keinen Schimmer, dass sie beim Einschmelzen winziger Goldmengen ins Glas Nanopartikel erzeugten.
Welche Rolle die Kleinheit bei diesen Beispielen »unbewusster« Nanotechnologie spielt erfahren Sie gleich.
Nanotechnologen waren mittelalterliche Schwertschmiede und Glashersteller also nicht. Denn von Nanotechnologie lässt sich erst dann sprechen, wenn der Zusammenhang zwischen dem Effekt – bombenfeste Klingen oder leuchtend rote Farben – und der ultrafeinen Strukturierung des Materials erkannt und für die Technik gezielt anwendbar gemacht wird. Wenn die Nanometer-kleinen Strukturen also nicht nur zufällig entstehen, sondern absichtlich hergestellt werden.
Als einen Nanotechnologie-Gründer sehen manche deshalb den englischen Naturforscher Michael Faraday, obwohl der sicher nie von »Nanotechnologie« gesprochen hat, denn der Begriff entstand erst im ausgehenden 20. Jahrhundert.
Faraday war ein Mann des Experimentes, bekannt für seine fesselnden Vorlesungen an der Royal Institution in London. Im Juni 1858 faszinierte Faraday sein Publikum mit einem Mikroskop, das vergrößerte Bilder an die Wand warf2. »Über die Beziehung zwischen Gold und Licht« hieß die Veranstaltung. Faraday projizierte einen Objektträger mit einer rubinroten Flüssigkeit. Diese hatte er durch die chemische Behandlung eines Goldsalzes erhalten. Sie dürfte sein Publikum erstaunt haben, denn wie die mittelalterlichen Glashersteller wussten auch die Menschen des 19. Jahrhunderts nicht, wie es kam, dass Gold eine rote Farbe annehmen konnte. Faraday konnte es ihnen erklären. Er war der erste, der dem Phänomen auf den Grund gegangen war – mit einem cleveren Experiment. Der findige Forscher hatte einen gebündelten Lichtstrahl auf die Goldflüssigkeit gerichtet. Dieser hinterließ eine von allen Seiten sichtbare, tief rubinrot leuchtende Spur. Faraday schloss daraus, dass das Gold nicht in der Flüssigkeit gelöst war, sondern in Form von Partikeln darin herumschwamm. Denn die Partikel streuen die Lichtwellen, ähnlich wie in der Luft hängende Wassertröpfchen, auch als »Nebel« bekannt, das Licht von Straßenlaternen nach allen Seiten streuen und somit den Lichtkegel der Lampe sichtbar machen. Da aber selbst unter dem Mikroskop keine Partikel zu sehen waren, schloss der Naturforscher, dass es sich eben um sehr, sehr kleine Gold-Teilchen handeln musste, die der Flüssigkeit ihre Farbe gaben.
Es dauerte hundert Jahre, bis ihm Elektronenmikroskope posthum recht gaben. Sie zeigten, dass bei dem von Faraday angewandten Verfahren Gold-Nanopartikel von etwa sechs Nanometern Durchmesser entstehen.
Faradays Gold-Flüssigkeit erregte lange Zeit kaum Aufmerksamkeit, auch in den 50 Jahren nach der elektronenmikroskopischen Untersuchung nicht. Doch dann geschah Erstaunliches: So um das Jahr 2000, verwiesen Wissenschaftler in vielen Arbeiten auf die Vorlesungen Faradays. Zeitlich fällt das mit dem Beginn des Booms des Begriffes »Nanotechnologie« zusammen, über den in Kapitel 6 noch die Rede sein wird.
Was steckte hinter dieser späten Ehre für Faradays Gold? Viele Forscher hatten erkannt, dass Gold-Nanopartikel leistungsstarke Reaktionsbeschleuniger sind, die die chemische Industrie umkrempeln könnten. Das war sehr überraschend, denn Gold galt als chemisch absolut träge. Es will mit anderen Stoffen sozusagen nichts zu tun haben. Ein Goldbarren lässt beispielsweise Sauerstoff- oder Wasserstoffmoleküle (O2 bzw. H2) nicht an seine Oberfläche binden. Gold rostet deshalb nicht; einer der Gründe, warum es für Schmuck oder Zahnfüllungen verwendet wird.
Gold-Nanopartikel benehmen sich völlig anders: Sie binden Sauerstoff- und Wasserstoffmoleküle nicht nur an ihre Oberfläche, sondern helfen ihnen auch noch dabei, sich emsig zu Wasserstoffperoxid zu verknüpfen. Sie wirken quasi als chemische Partnervermittlung, die Stoffe zusammenbringt. Chemiker nennen so ein Kuppler-Material »Katalysator«. Heute wollen Forscher mithilfe von Gold-Nanopartikeln aus Biomasse großtechnische Produkte für die chemische Industrie erzeugen.
Gold ist ein Paradebeispiel dafür, wie sehr es auf die Größe ankommt. Und dafür, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Größenordnungen (unter einer Größenordnung versteht man das »Kilo«, »Zenti«, »Milli«, »Mikro« oder eben »Nano« vor der Längeneinheit »Meter«). Die Größenordnung »Nano« – wir wollen sie im Folgenden als »Nanoskala« bezeichnen (Kasten 1) – entpuppte sich immer mehr als etwas Besonderes. Ob etwa ein Goldkristall einen Zentimeter, einen Millimeter oder einen Mikrometer (Millionstel Meter) misst, ändert nichts an seiner chemischen Trägheit. Aber unterschreitet die Partikelgröße zehn Nanometer, macht das Gold seine bemerkenswerte Wandlung durch und wird zum hoch aktiven Katalysator.
In der Nanoskala verändern sich auch physikalische Eigenschaften dramatisch, beispielsweise der Schmelzpunkt: Der eines Goldbarrens liegt bei 1064 °C, der von 1,5 Nanometer kleinen Gold-Nanopartikeln nur bei 500–600 °C3, also etwa der Hälfte!
Nicht nur Gold ändert seine Eigenschaften, wenn es in Form von Nanopartikeln vorliegt, sondern auch viele andere Stoffe. So absorbieren etwa Nanopartikel aus Titandioxid die besonders hautschädliche UVB-Strahlung der Sonne stärker als größere Titandioxid-Partikel, weshalb sie für Sonnencremes interessant sind4. Zudem streuen Titanoxid-Nanopartikel, die kleiner als 50 Nanometer sind, sichtbares Licht nicht, und zwar aufgrund des gleichen Prinzips, das die Augenhornhaut transparent macht. Sonnencreme mit derart kleinen Nanopartikeln ist transparent und erspart dem Sonnenanbeter den weißen Film auf der Haut.
Von »Nano-Effekten« ist oft die Rede, wenn es um die chemischen und physikalischen Besonderheiten geht, die in der Nanoskala auftreten. Die »Nano-Effekte« sind natürlich interessant für die Industrie, denn sie bringen neue Funktionen. Und die geben etablierten Produkten einen Mehrwert, z.B. Transparenz für die Sonnencreme, Kratzfestigkeit für Brillengläser oder eine Freiheit von Beschlagen für Skibrillen.
Im Folgenden wollen wir erkunden, warum die Nanoskala so besonders ist und wie das Erkennen und Verstehen eines Nanoeffektes zu dessen technischer Nutzung führen kann. Wie also aus einem der Nanoskala eigenen Phänomenen Nanotechnologie wird.
Ein wichtiger Grund für das Anderssein der Nanoskala ist die riesige Oberfläche, die beim Zerteilen eines Materials in immer kleinere Partikel entsteht. Zur Veranschaulichung: Spaltet man einen Würfel von einem Zentimeter Kantenlänge mit der Oberfläche eines Zuckertütchens in Würfelchen von 1,25 Millimeter Kantenlänge, erhält man 512 Partikel, die zusammen die Oberfläche einer Spielkarte haben. Teilt man weiter, bis Würfelchen mit einem Nanometer Kantenlänge entstehen, ergeben sich eine Trilliarde Teilchen, deren gemeinsame Oberfläche einem Fußballfeld entspricht. Die Masse des Materials ändert sich dabei nicht.
Durch diese regelrechte Explosion der Oberfläche beim Zerkleinern verschieben sich gewissermaßen die Mehrheitsverhältnisse unter den Atomen, aus denen der zerkleinerte Stoff besteht: Jene Atome, die an den Oberflächen sitzen, werden von einer Randgruppe zu einer wesentlichen Partei. Bei einem Nanopartikel mit 20 Nanometern Durchmesser sitzen bereits 10 Prozent der Atome an der Oberfläche, bei einem Partikel mit nur einem Nanometer Durchmesser sind es 99 Prozent – die Oberfläche hat hier fast die absolute Macht übernommen (Abb. 2).
Weil die Oberflächenatome nun die Mehrheit besitzen, werden ihre Eigenschaften bestimmend für die Eigenschaften des Stoffes insgesamt. Beispielsweise erniedrigt sich der Schmelzpunkt dramatisch. Beim Schmelzen lösen sich die chemischen Bindungen, die einen Festkörper, etwa einen Goldkristall, zusammenhalten. Die Atome an der Oberfläche lösen sich am leichtesten aus dem Kristall, da sie wie ein Gnu, das am Rande seiner Herde steht, nur zur Hälfte von gleichartigen Atomen umgeben sind und deshalb durch weniger chemische Bindungen mit den Nachbar-Atomen im Stoffverband festgehalten werden als Atome im Innern des Kristalls.
Abbildung 2: Anteil der Atome an der Oberfläche in Abhängigkeit von der Größe eines Nanopartikels. Quelle: Auffan, M. et al.: Nature Nanotechnology 4, 634–641 (2009).
Der relativ simple Nano-Effekt der riesigen Oberfläche – der Fachterminus lautet »spezifische Oberfläche (Kasten 1, S. 37) – wird längst technisch genutzt und zwar in vielen Anwendungsbereichen. Etwa bei Autokatalysatoren, die Nanopartikel aus Platin enthalten, dadurch eine größere Katalysator-Oberfläche gewinnen und effizienter arbeiten. Weniger als zwei Gramm Platin-Nanopartikel im Autokatalysator verfügen über mehr als 200 Quadratmeter Oberfläche, an der Abgase reagieren können.
Auch die Kratzfestigkeit von Lacken wird durch den Effekt der großen spezifischen Oberfläche erzeugt. Dem Kunststoff, der die Lackschicht bildet, werden Siliziumdioxid-Nanopartikel zugesetzt. Dadurch entsteht Kratzfestigkeit wie folgt. Ein Kunststoff ist ein Netzwerk aus kettenförmigen Molekülen. Um die Siliziumdioxid-Partikel herum bildet sich ein weniger dichtmaschiges Netzwerk als im Rest des Lackes. Der Lack um das Partikel herum verhält sich daher wie ein Schwamm, der nach einer Belastung, die ansonsten zu einem Kratzer geführt hätte zurückfedert.
Dieser Mechanismus, der die Elastizität des Lackes erhöht, würde auch mit größeren Siliziumdioxid-Partikeln funktionieren. Doch da sich der Schwamm an der Grenzfläche zwischen Partikel und dem Kunststoff bildet, gewinnt der Effekt an Wirksamkeit, wenn diese Grenzfläche möglichst groß ist und sie wächst eben mit der Oberfläche der Siliziumdioxid-Partikel, und die wird bei der Nutzung von Nanopartikeln extrem riesig. Ergebnis: Ein Zusatz von nur zwei Gewichtsprozent Siliziumdioxid-Nanopartikeln führt zu einem großen Gewinn an Kratzfestigkeit. Der Autolack glänzt dann auch noch nach Jahren fast wie am ersten Tag, weil winzige Kratzerchen, die die Oberfläche matt erscheinen lassen, verhindert werden.
Die Kratzfestigkeit von Lacken ist nur ein Beispiel eines Prinzips, das sich aus der riesigen spezifischen Oberfläche von Nanopartikeln, oder allgemeiner gesagt, von Nanomaterialien (Kasten 1), ergibt: Mischt man Nanomaterialien in ein anderes Material, so kann man diesem neue Eigenschaften verleihen und somit gewissermaßen Zwitter-Materialien schaffen, die in sich widersprechende Eigenschaften vereinen. Wir haben das schon bei der Spinnenseide gesehen, die gleichzeitig dehnbar und dennoch mehr als stahlhart ist, sowie bei den Damaszener Schwertern, die extrem hart waren, ohne spröde zu sein. Das hat damit zu tun, dass die Nanomaterialien sich sehr fein im Material verteilen lassen. Mischt man Partikel mit 1000 Nanometer Durchmesser – also Teilchen, die deutlich größer sind als Nanopartikel – in einen Kunststoff, dann liegen die einzelnen Partikel mehr als 2000 Nanometer auseinander5. 20 Nanometer kleine Partikel haben aber nur einen Abstand von 45 Nanometern voneinander. Letztere durchdringen den Kunststoff also viel dichter, sind gewissermaßen allgegenwärtig, verschmelzen quasi mit dem Gastmaterial zur Einheit.
Nanotechnologie nutzt diesen Effekt zum Beispiel, um Folien elektrisch leitfähig zu machen. Dazu mischt man Kohlenstoff-Nanoröhrchen, die Strom sehr gut leiten, in den Kunststoff. Die Röhrchen bilden ein durchgängiges Netzwerk, das elektrostatische Ladungen ableitet, aber die Transparenz der Folie nicht beeinträchtigt, da die Nanoröhrchen so extrem dünn sind und das Netzwerk somit unsichtbar bleibt. Folien, die sich nicht elektrostatisch aufladen, werden zum Verpacken von elektronischen Bauteilen gebraucht.
Die zuletzt besprochenen Nano-Effekte ergeben sich nur indirekt aus der geringen Größe von Nanopartikeln, da es eigentlich die große spezifische Oberfläche ist, die die Funktion erzeugt. Andere technisch nutzbare Nano-Effekte hingegen resultieren direkt aus der extrem geringen Größe. Zur Illustration kommt nun endlich die Erklärung, warum Gold-Nanopartikel eine rubinrote Farbe erzeugen. Licht ist eine Welle, deren variierende Stärke die Elektronen im Innern des Goldpartikels hin- und her treibt. Da die Elektronen synchron hin- und herwandern, verhalten sie sich wie ein Einzelobjekt: ähnlich wie ein Tiger, der im Käfig hin- und herläuft. Der Tiger wechselt umso öfter die Richtung, je kleiner der Käfig ist. Anders gesagt: je kleiner der Käfig, desto größer die Frequenz, mit der das Tier die Richtung wechselt. Das ist im Goldpartikel ähnlich: wegen dessen Kleinheit ist die Frequenz besonders hoch. Sie entspricht bei Gold-Teilchen von wenigen Nanometern Durchmesser etwa der Frequenz, mit der grünes Licht schwingt. Also wird grünes Licht absorbiert, rotes Licht hingegen reflektiert, weswegen das Partikel rot erscheint.
Die Größe kann sich nicht nur auf die Wechselwirkung zwischen Licht und einem Nanomaterial auswirken, sondern auf eine ganze Reihe von physikalischen Eigenschaften, wie etwa die Härte. Die Härte von Metallen hängt ab von der Größe der winzigen Metall-Körnchen, aus denen sich jedes Stück Metall zusammensetzt. Je nach Metall gibt es eine Größe, unterhalb derer die Körnchen sich nicht mehr verformen können6. Gelingt es, die Körnchen soweit zu verkleinern – etwa durch kontrolliertes Abkühlen oder eine gezielte Wärmebehandlung –, kommen sie dem theoretisch möglichen Maximalwert der Härte und Bruchfestigkeit nahe. Bei vielen Metallen liegt diese Grenze bei einer Partikelgröße von etwa 20 Nanometern.
Auch auf die Kristallform wirkt sich eine sehr geringe Partikelgröße von weniger als etwa 30 Nanometern aus – was nicht ohne Konsequenzen bleibt. Ein Nanopartikel ist selten perfekt rund, sondern die meisten haben Ecken und Kanten wie ein geschliffener Diamant. Wenn die Partikelgröße abnimmt, können sich die Anordnung der Atome im Partikel und damit die Form des Nano-Kristalles ändern.
Ein Beispiel dafür ist das Mineral Titandioxid, das als Weißpigment für Wand- und Fassadenfarben oder als UV-Filter in Sonnencremes eingesetzt wird. Ähnlich wie Kohlenstoff mit seinen höchst unterschiedlichen Kristallformen, dem weichen Graphit und dem harten Diamant, gibt es auch beim Titandioxid zwei Kristallformen, die Anatas und Rutil heißen. Die Anatas-Form ist gefragt, weil sie in Verbindung mit Sonnenlicht Luftschadstoffe zu harmlosen Verbindungen abbauen kann. Titandioxid-Nanopartikel besitzen einen größeren Anteil an Anatas, was sie zu einem attraktiven Zusatz für luftreinigende Fassadenfarben macht.
Dass Nanopartikel eine bestimmte Kristallform bevorzugen, ist ein Nano-Effekt, der sich anhand von Seifenblasen veranschaulichen lässt: Deren Oberfläche verhält sich wie eine gespannte Folie. Diese Oberflächenspannung setzt das Innere der Blase unter Druck. Der Druck ist bei kleinen Blasen größer als bei großen. Verbinden sich eine große und eine kleine Seifenblase, bläst die kleinere die größere auf und verschwindet in dieser. Auch Nanopartikel besitzen eine Oberflächenspannung, die mit abnehmender Größe wächst. Der aus ihr resultierende Druck im Innern der Partikel ist wegen deren Kleinheit enorm, er entspricht etwa dem Wasserdruck im Marianengraben, mit elf Kilometern die größte Meerestiefe. Kein Wunder, dass dieser Druck locker reicht, um die Kristallform zu verändern.
Es gibt also nicht nur einen Grund, warum die Nanogröße Materialien verändert und besondere Phänomene hervorbringt. Unterschiedliche Nano-Effekte haben unterschiedliche physikalische Ursachen. Es gibt aber ein grundlegendes Prinzip, das viele Nano-Effekte erklärt. Es hat damit zu tun, dass die Nanoskala an die Grenzen der Kleinheit stößt. Viel kleiner können Objekte nicht sein. Ein Vergleich soll das illustrieren: Eine Fliege ist riesig, verglichen mit den kleinsten Bausteinen aus denen alle Dinge – Telefone, Autos oder Steine – bestehen: den Atomen. Sie denken vielleicht, eine Million Atome seien viele Atome. Mitnichten, es sind lächerlich wenige. Eine Million Atome enthält eine einzige Fliege für jede Sekunde, die seit dem Aussterben der Dinosaurier vergangen ist7! Eine Zahl an Atomen, die sich nicht in Worte fassen lässt. Verglichen damit bestehen Nanopartikel aus sehr wenigen Atomen. Eines von Faradays Gold-Nanopartikeln ist im Vergleich zur Fliege etwa so groß wie diese Fliege verglichen mit dem Matterhorn. Es besteht aus rund 50.000 Atomen. Es gibt noch kleinere Nanopartikel, die aus wenigen hundert Atomen bestehen.
Nanotechnologie operiert also mit Objekten, die kaum größer sind als einzelne Atome oder Moleküle. Das hat eine faszinierende Konsequenz: Da Atome und Moleküle den Gesetzen der Quantenphysik gehorchen und die Nanoskala nur wenig über der Größe einzelner Atome oder Moleküle beginnt (ein Atom hat typischerweise einen Durchmesser von etwa 0,1 Nanometern), wirken sich diese oft bizarr anmutenden Gesetze auf viele Nanomaterialien aus. Nanotechnologie kann sich also die Gesetze der Quantenmechanik nutzbar machen.
Eines dieser Gesetze hat der dänische Physiker Niels Bohr vor gut 100 Jahren postuliert. Ein Atom besteht aus einem Atomkern aus Protonen und Neutronen, der von Elektronen umkreist wird. Die Elektronen können dabei aber nicht jede beliebige Energie annehmen, gerade so als könnte ein Kettenkarussell sich nur mit ein paar festgelegten Geschwindigkeiten drehen und müsste übergangslos von dem einen Tempo zum anderen springen. Der Ausdruck »Quantensprung« beschreibt dieses, sich der Vorstellungskraft entziehende, aber reale Phänomen.
Die Energiestufen bestimmen, welche Lichtwellenlängen ein Atom absorbiert oder emittiert. Denn die Energie einer Lichtwelle hängt von ihrer Wellenlänge ab, weshalb ein Atom nur Wellenlängen absorbiert bzw. emittiert, die der Energiedifferenz zwischen zwei Energiestufen entspricht. Bei Atomen unterschiedlicher Elemente unterscheiden sich die Energiestufen, die die Elektronen besetzen können und damit die absorbierten und emittierten Wellenlängen. Natrium zum Beispiel leuchtet gelb, wie sich anhand gelb leuchtender Straßenleuchten, die Natriumdampflampen enthalten, beobachten lässt.
Nanopartikel, die aus Halbleitern bestehen – Halbleiter sind jenes Mittelding aus Leiter und Isolator, das sich in jedem Computerchip findet – verhalten sich Atomen recht ähnlich: Die Elektronen in ihrem Innern können nur bestimmte Energiestufen besetzen. Der Witz ist nun, dass die Größe dieser Nanopartikel bestimmt, wie groß die Energiestufen sind. Somit lassen sich durch Vergrößern oder Verkleinern der Teilchen die Farben, die sie aussenden, steuern. Daher sieht es wie ein Regenbogen aus, wenn Forscher Halbleiter-Nanopartikel – auch »Quantenpunkte« genannt – unterschiedlicher Größe in Flüssigkeiten lösen, Gläser davon nebeneinander aufstellen und sie mit UV-Licht beleuchten: Jede einzelne Lösung gibt die Energie des UV-Lichtes in Form jener Wellenlänge wieder ab, die ihrer Größe entspricht. Quantenpunkte lassen sich wegen ihrer Kleinheit für extrem dünne Farbdisplays nutzen, die keine Hintergrundbeleuchtung mehr benötigen, wie koreanische Forscher 2011 in ihrem Labor demonstrierten8. Erste Flachbildfernseher mit Quantenpunkten zeigen reinere Farben als herkömmliche Displays, da rote Quantenpunkte wirklich nur rotes Licht emittieren, während rot leuchtende Flüssigkristalle, wie sie heute in Displays genutzt werden, auch Spuren anderer Farben aussenden.
Abbildung 3: Zeichnung eines Kohlenstoff-Nanoröhrchens. Quelle: istockphoto.com.
Die Quantenphysik ist es auch, die Kohlenstoff-Nanoröhrchen (englisch: carbon nanotubes, abgekürzt: CNT) zu einem der faszinierendsten Materialien überhaupt macht. Die CNT zeigen eine einzigartige Kombination von Eigenschaften, wie sie sonst kein Material mitbringt. Um die Gründe hierfür besser zu verstehen, soll ihr Aufbau skizziert werden (Abb. 3). Eine Bleistiftmine besteht aus Graphit. Dieses wiederum ist quasi ein Stapel von sehr, sehr dünnen Kohlenstoff-Schichten, Graphen genannt. Genau gesagt ist Graphen nur so dick wie ein Kohlenstoff-Atom: Es besteht aus einer einzelnen Schicht von Kohlenstoff-Atomen. Im Graphen bilden die Kohlenstoff-Atome ein bienenwabenförmiges Muster. Rollt man das Graphen wie ein Blatt Papier zu einer winzigen Röhre von gut einem Nanometer Durchmesser auf, entsteht ein CNT.
Die Atome halten felsenfest zusammen, denn sie sind durch so genannte kovalente Bindungen miteinander verknüpft – die stärkste Form der chemischen Bindung. Das ganze CNT bildet eine Einheit, es ist quasi ein einziges Molekül. Und als solches wird es von den Gesetzen der Quantenphysik regiert.
Da das CNT eine Einheit darstellt, gibt es keine Schwachstellen, an denen es brechen könnte, bevor die Belastungsgrenze der vielen kovalenten Bindungen erreicht ist. CNTs unterschiedlichen Durchmessers stecken oft ineinander wie die Glieder einer Teleskopstange, was diese so genannten mehrwandigen Kohlenstoff-Nanoröhrchen (engl. multiwalled carbon nanotubes, kurz: MWCNT) noch stärker macht. Würde ein Stahldraht von nur einem Quadratmillimeter Durchmesser, also ein haardünner Draht, die gleiche Zugfestigkeit wie ein MWCNT besitzen, dann könnte er eine Last von mehr als sechs Tonnen tragen, ohne zu reißen9. Die Röhrchen werden wegen ihrer Festigkeit Materialien zugemischt, um diese stabiler zu machen, zum Beispiel Surfbrettern oder Tennisschlägern.
Die festen Bindungen sorgen auch dafür, dass CNTs Wärme sehr gut leiten, mehr als doppelt so gut wie Diamant, dem besten natürlich vorkommenden Wärmeleiter. Wärme ist nichts anderes als eine ungeordnete Zitterbewegung der Atome. Da die kovalenten Bindungen sehr steif sind, übertragen sie solche Zitterbewegungen sehr schnell zwischen den Kohlenstoff-Atomen, die Wärme breitet sich somit rasant über das gesamte CNT aus.
Die Quantenphysik macht sich besonders bemerkbar bei der elektrischen Leitfähigkeit von CNT. CNTs sind sozusagen elektrische Zwitter: Je nach Durchmesser und dem Winkel, in dem das Graphen-Blatt zusammengerollt ist, sind sie Halbleiter oder Metalle, d.h. ihre Leitfähigkeit für Strom unterscheidet sich stark. Manche CNTs leiten Strom besser, also mit weniger elektrischem Widerstand, als Kupfer. Sie sind nämlich derart schmal, dass Elektronen nicht von ihrer geradlinigen Bahn abgelenkt werden können. In Metallen hingegen werden sie von Unregelmäßigkeiten im Kristallaufbau des Metalls oft abgelenkt und vollführen einen Zick-Zack-Kurs, der die Leitfähigkeit herabsetzt. Das CNT ist sozusagen eine frisch asphaltierte Straße für die Ladungsträger und nicht ein Feldweg voller Schlaglöcher.
CNT gelten wegen dieser und anderer einzigartigen elektrischen Eigenschaften als wichtige Bauteile in zukünftigen Computerchips (Kapitel 3). Wegen der guten elektrischen Leitfähigkeit der CNTs lassen sich Transistoren sehr schnell ein- und ausschalten, was im Prinzip CNTs enthaltende Computerchips viel leistungsfähiger machen könnte als heutige Chips. Auch ihre anderen Eigenschaften sollen technisch genutzt werden oder werden es bereits, wie wir noch sehen werden.